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Im Tal der Könige treiben Grabräuber ihr Unwesen, und die Obrigkeit hat alle Hände voll zu tun, diesen Frevlern Einhalt zu gebieten. Zumindest offiziell. Denn unter der Hand stecken Aufseher, Priester und wohlhabende Kunden der Hehlerware natürlich mit den Verbrechern unter einer Decke und verdienen selbst ganz gut mit an den gestohlenen Kleinodien. Dumm nur, wenn aufgeweckte junge Burschen mit einem Streich dieses Kartenhaus beinahe zum Einsturz bringen, denn dann droht jedem Beteiligten – kleinen Gaunern wie angesehenen Priestern und Beamten gleichermaßen – ein grausamer Tod auf dem Pfahl. Jutta Ahrens’ Roman handelt im Milieu der kleinen Leute im alten Ägypten. Er soll ein kleiner Vorgeschmack und eine Einstimmung in den großen Echnaton-Roman mit dem Titel "ATON" sein. Dort kommen dann wieder Pharaonen, Würdenträger und Hohepriester zu ihrem Recht.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Der Mann betrat einen dunklen Raum, in den sich Tageslicht niemals verirrte. Die kahlen Mauern strahlten Kälte aus. Einige Öllampen warfen ihren trüben Schein auf einen steinernen Altar, auf dem zehn bemalte Sethfiguren aus gelbem Ton einen Kreis bildeten. Die Köpfe mit den aufgestellten rechteckigen Ohren und der gekrümmten Schnauze saßen auf menschenähnlichen Körpern. Jede Figur stand auf einem Sockel und war handtellergroß.
Der Besucher zog eine Wachspuppe unter seinem Umhang hervor. Sie war plump und hässlich, aber das Ankh-Zeichen um ihren Hals war aus Gold und mit kleinen Lapislazulisplittern besetzt. Er legte die Puppe in den Kreis auf einen Rost. Dann streckte er die Hände wie segnend aus und murmelte:
Dein Vater zeugte dich mit einem Fluch.Deine Mutter gebar dich in der Finsternis.Dein Ka wurde nie geboren.Er schläft verborgen in einer Krokodilshaut.Wenn er erwacht, wird er zu Rauch.Wenn er erwacht, wird er zu Staub.Sein Name ist Mencheres.Dreifach wird sein Name gebannt.Nicht ich bin es, der ihn auslöscht.Der große Verschlinger ist es, der ihn frisst.
»Noch zwei Tage bis zum vollen Mond«, murmelte er. Dann verhüllte er sein Haupt und verließ den Ort so geräuschlos, wie er gekommen war.
Die Person, die jetzt aus einer Nische heraustrat, bemerkte er nicht. Sie ging zum Altar, nahm eine der Figuren fort und tauschte sie gegen eine andere aus. Auch das Ankh-Zeichen der Puppe nahm sie an sich und legte ihr ein neues um, das sich nicht von dem ersten unterschied.
Zwei Tage später kam der Mann mit dem Umhang zurück. Er hatte jetzt eine Fackel dabei. Unter den Rost stellte er vier Öllampen. »Nun ist alles so, wie es sein soll«, sagte er und zündete die Lampen an. Eine Weile blieb er stehen und sah zu, wie das Wachs der Puppe langsam schmolz, auf den Altar tropfte und sich ausbreitete, bis es die Sockel der Figuren erreichte. Der Rauch strömte einen üblen Geruch aus und füllte bald den ganzen Raum. Der Mann begann zu husten und hielt sich einen Ärmel des Umhangs vor das Gesicht. Doch darunter lächelte er zufrieden. Seth war kein Gott, den man mit Wohlgerüchen erfreute.
Er wartete, bis die Puppe vollständig geschmolzen war. Nur das Ankh-Zeichen war auf dem Gitter zurückgeblieben. Er nahm es an sich, löschte die Lampen und entfernte sich.
»Still! Leise! Er kommt!«
Jeden Morgen um diese Zeit begab sich der junge Priester Ahmose in den Schrein des Month, um vor ihm wohlriechende Kräuter zu verbrennen, ihn mit Nahrung zu versorgen und Lampenöl nachzufüllen.
Immer wenn Userhet, der gestrenge Sklavenmeister, nicht aufpasste, nutzten die beiden Sklavinnen Sadeh und Tairin den Augenblick, um auf Ahmose zu warten, wie er mit gesammelter Miene und wohl abgemessenen Schritten den Säulengang herabkam, die erforderlichen Gaben würdevoll vor sich hertragend. Denn der Sohn des Vorlesepriesters Amen-Ra wurde nicht grundlos der schöne Ahmose genannt.
Die beiden Frauen hatten sich hinter einer Säule versteckt, aber Tuscheln und Kichern verrieten ihre Anwesenheit.
Ahmose wusste ohnedies, dass die albernen Dinger wieder hinter der Säule standen; es kümmerte ihn nicht. Unbeirrt ging er seinen Weg. Auf seiner nackten Brust funkelte ein goldenes Amulett, das die geflügelte Maat darstellte. Der knielange Rock war fleckenlos, sein Kopf kahl geschoren, was die Blicke unwillkürlich auf seine dunklen, mit schwarzer Schminke umrandeten Augen lenkte. Es ging ein Feuer von ihnen aus, und nicht nur Männer von niedrigem Rang wichen ihnen scheu aus.
»Heute sieht er wieder einmal göttlich aus«, seufzte Tairin. »Und wie er läuft – so geschmeidig wie ein Leopard.«
»Vorgestern bin ich ihm mitten auf dem Tempelvorplatz begegnet«, flüsterte Sadeh. »Ich kam von einem Besuch bei meinem Onkel und hatte das hübsche grüne Kleid an und trug kein Kopftuch. Da hat er meine langen Zöpfe gesehen.«
»Und?«
»Ich habe ihn einfach angelächelt, als sei ich eine Vornehme.«
»Oh, und was hat er getan?«
»Nichts. Gar nichts. Er hat mich nicht beachtet, so als sei ich gar nicht vorhanden.«
»Das will doch nichts heißen. Als Priester muss er sich schließlich benehmen.«
Sadeh kicherte. »Vielleicht ist er auch nur schüchtern.«
Sie starrten ihm nach, bis er in einer Tür verschwand.
Eine polternde Männerstimme holte sie in die Wirklichkeit zurück. »Was lungert ihr hier herum? Habt ihr nichts zu tun?«
Wie ein Baum stand der breitschultrige Nubier vor ihnen. Sie entschuldigten sich stotternd und beeilten sich, ihren Pflichten nachzukommen. Userhet stemmte die Hände in die Hüften und sah ihnen kopfschüttelnd nach. Dann verzog sich seine strenge Miene zu einem Grinsen. Er wusste, was die beiden Frauen hertrieb, und wenn er sie frühmorgens nicht bei der Arbeit fand, traf er sie mit Sicherheit im Säulengang an. Gewöhnlich ließ er keine Unachtsamkeit durchgehen, aber dieser Ahmose verfügte tatsächlich über einen verboten starken Reiz, und gegen solche Triebe waren nicht einmal die Götter gefeit.
Die Mittagshitze war drückend, die Luft schwer vom Dunst der Garküchen und dem aufgewirbelten Staub unzähliger geschäftiger Menschen. Von den Marktständen erscholl das Geschrei der Händler, und aus der Fäulnis herabgefallener Früchte stiegen Fliegenschwärme auf. Ahmose war heiß unter seiner Perücke, sein weißes Gewand wies Schweißflecken auf, und die Sandalen waren mit rötlichem Staub bedeckt.
Er war auf dem Weg zu Rechmire, einem wohlhabenden Kaufmann, der Handelsbeziehungen zu Kusch pflegte und mit Erlaubnis des Pharaos Geschäfte mit Edelhölzern und Elfenbein tätigte. Amen-Ra hatte ihm einen größeren Kredit gewährt, doch der Termin der Rückzahlung war bereits zwei Wochen überschritten, und er hatte auch keine Nachricht von Rechmire erhalten. Deshalb hatte er seinen Sohn geschickt, um ihn erst einmal höflich an seine Verpflichtungen zu erinnern. Rechmire war ein langjähriger Geschäftspartner, außerdem ein einflussreicher Mann; dem schickte man keinen Büttel.
Sein Haus lag etwas außerhalb, und Ahmose musste die ganze Stadt durchqueren. Er war nicht zum ersten Mal in der Stadt, aber jedesmal verlor er sich im Gewirr der Gassen. In den schmalen Durchgängen drängten sich die Stände der Barbiere, Bäcker und Wäscher. Er wich mit Körben beladenen Eseln aus und Betrunkenen, die aus Bierhäusern torkelten. Es war unmöglich, hier seine Würde zu behalten. Er vermied es jedoch, eine Sänfte zu mieten, denn die Bewohner sparten nicht mit Schmähungen und bewarfen die Sänften mit faulem Obst, wenn sie sich durch die Menge drängten.
Immer wieder fächerte er sich Kühlung zu. Als er in eine weitere Gasse bog, stieß er mit einem dürren Mann zusammen, der einen Korb auf dem Rücken trug. Zotteliges Haar hing ihm über gewaltige Ohrmuscheln, und unter den Stirnfransen blinzelten kleine runde Augen ihn an.
»Kannst du nicht aufpassen?«, herrschte Ahmose ihn an. »Aus dem Weg, du Pavian! Und entschuldige dich gefälligst, wenn du einen Priester umrennst.«
Der Mann grunzte und wollte seinen Weg fortsetzen, doch Ahmose packte ihn an der Schulter. »Wie war das? Ich habe nichts gehört.«
Der Mann ließ einen Speichelfaden von der Unterlippe hängen und griff sich an den Kopf. »Dummer Khem! Nicht schlagen. Khem ist gut.«
»Was gibt es denn?«, mischte sich jetzt ein zweiter Mann ein. Sein Rock war aus grobem Leinen, wie ihn Arbeiter trugen. Er schulterte ebenfalls einen Korb, und wie sein Begleiter war er mit rötlichem Wüstenstaub bedeckt. Unter seinem fleckigen Kopftuch lugten ein paar schwarze Locken hervor.
»Was geht es dich an?« Ahmose musterte verächtlich den unsauberen Lendenschurz und die aus Schilf geflochtenen abgetragenen Sandalen. »Wer bist du überhaupt?«
»Ich bin Ardan. Nur ein Hinweis, wenn es erlaubt ist: Mein Freund ist kein Pavian.«
Ahmose wischte sich den Schweiß von der Stirn. Eine öffentliche Auseinandersetzung hatte ihm gerade noch gefehlt. »Nein? Warum sieht er dann aus wie ein Pavian?«
Ardan grinste. »Findest du das wirklich?«
In Ahmose kam Ärger hoch. Er war es gewohnt, dass man ihm scheu auswich, doch dieser unverschämte Kerl ließ es auf einen Streit ankommen.
»Allerdings. Sogar wie ein besonders hässlicher.«
Ardan kam ihm einen Schritt näher. »Du findest Paviane also hässlich und das, obwohl er Thots heiliges Tier ist? Welch ein Frevel aus dem Mund eines Priesters!«
»Werde nicht unverschämt, du Straßenbengel!«
Ardan verringerte den Abstand. In seinen Augen war etwas Hartes und Wildes. »Meinst du das wirklich ernst?«
Ahmose schüttelte den Kopf und wich einen Schritt zurück. Womöglich war der Mann ein Gauner oder gar ein Totschläger und mit seinem schwachsinnigen Freund auf Diebestour. Sie maßen sich schweigend mit Blicken.
Ardan bewegte sich zuerst. »Gehn wir, Khem!«, sagte er betont gelangweilt. »Von einem Priester können wir keine Höflichkeit erwarten.«
Ahmose war wütend auf alles. Auf die Hitze, den Staub, den Auftrag, die Ausdünstungen von Mensch und Tier und vor allem auf sich selbst, dass er sich so hatte gehen lassen. Aber Widerworte vom gewöhnlichen Volk war er nicht gewohnt. »Halt! Was habt ihr beide da in euren Körben?«
»Das geht dich nichts an, du bist nicht Chanuka.«
Chanuka war der Hauptmann der Medjai. Ahmose sah sich um. Die nubischen Ordnungshüter, waren meistens in Rufweite. Da entdeckte er auch schon einen, der an der Mauer lehnte und einem hübschen Mädchen nachsah. Er winkte ihn heran; der Mann packte schnell seinen Speer und näherte sich im Laufschritt.
»Was gibt es, Herr?«
Ahmose wies auf Ardan und den Dürren. »Diese Männer haben sich verdächtig benommen. Ich möchte, dass du ihre Körbe durchsuchst.«
»Ja, Herr.« Der Nubier befahl den beiden, ihre Körbe abzusetzen und zu öffnen. Sie gehorchten. Ardan lehnte mit verschränkten Armen an einer Hauswand, sein Begleiter ließ die Arme hängen und starrte dümmlich vor sich hin.
In den Körben befanden sich in Palmblätter eingewickelte Tier- und Götterfiguren aus bemaltem Ton. Bei ihrem Anblick glitt ein zufriedenes Lächeln über Ahmoses Gesicht. Da hatte er doch im Vorübergehen Diebe enttarnt.
Der Nubier betrachtete nachdenklich die Tierfiguren.
»Worauf wartest du?«, fuhr Ahmose den Medjai an. »Nimm diese beiden Männer fest!«
Ardan trat einen Schritt vor. »Nicht so schnell, mein Freund. Diese Figuren gehören meinem Vater. Er hat sie im Auftrag ehrbarer Kunden angefertigt, und wir sind dabei, sie auszuliefern.«
Der Nubier stützte sich auf seinen Speer und nickte. »Es stimmt. Sein Vater ist Meister Nuhem, ein Steinschneider und Goldschmied. Seine Werkstatt hat er in der Zedernholzgasse. Er arbeitet manchmal auch für den Amuntempel. Vielleicht hast du seinen Namen schon gehört.«
Nuhem? Der Name war Ahmose aus den Akten bekannt, die er verwaltete. Ja, es stimmte. Ein Nuhem stand mit dem Tempel in Geschäftsbeziehung. Gewöhnlich wurden die benötigten Gegenstände in tempeleigenen Werkstätten angefertigt, doch es kam vor, dass eine Bestellung besonders eilig war oder aus gewissen Gründen geheim bleiben sollte.
Ahmose nickte mürrisch. »Ich habe von Nuhem gehört. Du bist sein Sohn?«
Ardan legte den Kopf in den Nacken. »Mit deiner gütigen Erlaubnis, so verhält es sich. Und nun möchten wir unseren Weg gern fortsetzen. Unsere Kunden warten.«
Ahmose kniff die Lippen zusammen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als die beiden gehen zu lassen. Um die Sache näher zu überprüfen, fehlten ihm Zeit und Lust. Er hatte sich ohnehin schon zu lange in dieser stickigen Gasse aufgehalten und sich unnötigerweise auf einen Wortwechsel eingelassen. Gewöhnlich vermied er grobe Ausdrücke. Seine Lehrer hatten ihm beigebracht, dass nur ein ungebildeter Mensch sie benutzte, um sich durchzusetzen.
Mit einer kurzen Kopfbewegung schickte er den Medjai fort. Schließlich hatte er noch einen Auftrag zu erfüllen, und er hoffte, dass Rechmire ihn wie üblich mit einem Becher kühlen Shedehweins bewirten würde. Allein der Gedanke an dessen schattige Laube beflügelte ihn und ließ ihn schneller ausschreiten.
Khem schulterte seinen Korb und wischte sich die schweißverklebten Haare aus der Stirn. »Bei Bes, das ist noch einmal gutgegangen. Wieso musstest du dich bei der Ware, die wir bei uns haben, ausgerechnet mit einem Priester anlegen? Ich spiele ja gern den Blöden, aber du bist es tatsächlich.«
»Ach was! Solchen Leuten musst du die Stirn bieten. Du siehst ja, ich habe ihn ganz schön blamiert.« Ardan sah dem Priester nach. »So ein selbstgefälliger Kerl, der schon zum Frühstück heilige Papyri frisst, dabei ist er blind wie ein frisch geworfener Welpe. Der Himmel mag mich beschützen vor Skorpionen und Priestern.«
Khem verdrehte die Augen. »Schon gut, Ardan! Du musst dich nicht bemühen.«
Ardan blieb stehen. »Sag mal, du König aller Paviane, wie hast du das jetzt gemeint?«
Khem sah ihn unschuldig an. »Ich habe doch gar nichts gesagt. Komm! Dass du ihm immer noch nachstarrst, liegt sicher an der lähmenden Hitze.« Er wies auf eine schmale Treppe, die auf die Dächer führte und von dort in ein anderes Viertel. »Gehen wir hier entlang. Der Welpe könnte es sich überlegen und uns verfolgen lassen.«
Meister Nuhem arbeitete mit fünf Gehilfen in einer Gemeinschaftswerkstatt, die für die einfacheren Leute Gebrauchsgegenstände des Alltags, aber auch Schmuck und Figuren für den Hausaltar anfertigte. Sie war zur Straßenseite hin offen. Auf einem Verkaufstisch waren allerhand Gebrauchsgüter wie Krüge, Schalen und Lampen für die Laufkundschaft aufgereiht. Daneben gab es Figuren aus bemaltem Ton, die auch für die Ärmeren erschwinglich waren.
Ardan und Khem vermieden es jedoch, das Haus durch die Werkstatt zu betreten. Sie benutzten einen Nebeneingang, durchquerten den Hof, wo sich auch die Wohnräume und Magazine befanden, und stiegen eine schmale Treppe hinunter, die in das Gewölbe unterhalb des Hauses führte. Dort bewahrte Nuhem kostbare Materialien wie Gold, Edelsteine, Alabaster und Elfenbein in verschlossenen Truhen auf, die er manchmal von den Tempeln, aber auch von reichen Privatleuten erhielt, die nicht wollten, dass ihre Bestellung bekannt wurde. So durften nur königliche und Tempelwerkstätten Grabbeigaben wie Särge oder Mumienmasken herstellen und wurden dabei streng kontrolliert. Mancher wollte das umgehen. Zum einen, weil diese Werkstätten unverschämte Preise hatten, zum anderen, weil dort Regeln galten, die ihnen nicht passten.
Natürlich war Nuhem die Herstellung dieser Dinge verboten, und wie alle Geschäfte in Ägypten wurde auch er von Beamten kontrolliert. Aber wo es Reichtum zu verteilen gab und dafür Gesetze umgangen werden mussten, blühte auch die Bestechung.
Ardan und Khem verstauten die Gegenstände aus ihren Körben in einer Truhe. Die Tonfiguren waren nur Tarnung gewesen. Darunter hatten sie die wertvolleren Sachen versteckt, die aus Grabbeigaben im Tal des Westens stammten. Nachdem Ardan die Truhe sorgfältig verschlossen hatte, stiegen sie wieder hinauf. Einem Sklaven, der über den Hof lief, rief Ardan zu: »Sag meinem Vater, wir sind wieder da. Ich warte im Arbeitszimmer auf ihn. Und bring uns einen riesigen Krug Bier.«
Kurze Zeit später erschien Nuhem. Er war ein massiger Mann mit wachen Augen und einem harten Zug um die Mundwinkel. Bekleidet war er mit einem speckigen Lederschurz und Ledersandalen. Er streifte das Kopftuch ab und wusch seine schmutzigen Hände in der Wasserschüssel, die der Sklave ohne nachzufragen bereitgestellt hatte. Dann nahm er wortlos den Bierkrug und schenkte sich ein.
»Ich bin froh, dass ihr heil zurück seid. Hat es sich denn gelohnt?«
»Das will ich meinen«, sagte Ardan, der seine schwarzen Locken der Hitze wegen aufgebunden hatte. Er zählte an den Fingern ab: »Eine goldene Anubisfigur, fünf Uschebtis aus Fayence, zwei geflügelte Horusplaketten aus Gold und Lapislazuli, zwei Schalen aus grünem Glas, zwei Bronzespiegel, mehrere Kämme aus Elfenbein, eine Schulterkette aus Fayenceperlen, acht Udjat- und fünf Ankh-Amulette.« Er sah Khem an. »Habe ich etwas vergessen?«
Khem, Sohn eines Schmieds, wohnte in Set-Maat, dem Ort der Weltordnung, und war, wie alle Bewohner dort, ein Diener an der Stätte der Wahrheit, doch sie selbst nannten ihn nur Pa Demi – das Dorf. Es lag unterhalb eines Felsmassivs im Tal des Westens, Wasets großer Nekropole, und war eine Künstler-, Handwerker- und Arbeitersiedlung. Hier lebten an die hundertzwanzig Familien, die für die Pharaonen und adeligen Personen großartige Felsengräber bauten und ausstatteten.
Das Dorf besaß sogar seine eigene Ortsgöttin: Meretseger, die das Schweigen liebt. Sie galt als das Auge des Re und schaute von einer pyramidenförmige Bergspitze, die sich hinter dem Dorf erhob, auf seine Bewohner hinab. Sie strafte Arbeiter, die Verbrechen begingen, mit Schlangen- und Skorpionbissen, ließ aber Gnade walten bei denen, die bereuten.
Da die Lage der Gräber höchster Geheimhaltung unterlag und sich in ihnen unvorstellbare Schätze befanden, bestand für die Bewohner Residenzpflicht. Pa Demi war von einer Mauer umgeben. Die Bewohner durften das Dorf nur mit der Erlaubnis eines Vorgesetzten verlassen, und auch der Zutritt von außen war streng geregelt. Zwei Tore bewachten den Zugang Tag und Nacht.
Khem war einer der Torwächter. Außerdem gehörte er zu einer Gruppe, die sich mit Grabraub befasste, wobei ihm die Wächtertätigkeit sehr dienlich war. Ardan sorgte dafür, dass die Schätze sicher nach Waset kamen, und Nuhems Gewölbe diente als Zwischenlager.
»Nein, das war alles.«
»Ein kleines Vermögen«, nickte Nuhem. »Weshalb war die Beute diesmal reichlicher als sonst?«
»Es gab zwei Begräbnisse kurz hintereinander«, sagte Khem. »Es handelte sich um Djehuti, Aufseher des Kornspeichers, und Nebamun, Haushofmeister der königlichen Gemahlin.«
Nuhem nickte, als sei damit alles erklärt. Natürlich wusste er, was in Pa Demi vor sich ging und wie Khem an die Kleinodien kam, denn Chaemhat, Nekropolenschreiber und höchster Beamter in Pa Demi, war selbst ein Dieb. Wie überall, wo Verbote herrschen, hatten die Menschen auch hier nach Wegen gesucht, sie zu umgehen. Ein Tunnel führte unter der Mauer hindurch; sein Ausgang lag in der Wüste, versteckt zwischen Felsen. Obwohl die Dorfpolizei in unregelmäßigen Abständen die Häuser durchsuchte, hatte sie ihn noch nicht gefunden, weil der Zugang sich unter Chaemhats Haus befand.
»Nun, Khem! Du dürftest mittlerweile ein reicher Mann sein.«
Khem seufzte. »Mitnichten. Vom Erlös bleibt mir nur ein Teil. Wächter und Vorarbeiter müssen bestochen werden und andere, deren Namen ich lieber nicht nenne. Außerdem gebe ich viel für die Armen.«
Ardan rollte mit den Augen.
»Was kannst du in Pa Demi mit dem Reichtum anfangen?«, fuhr Nuhem fort. »Soviel ich weiß, werdet ihr vom Schatzhaus und den Magazinen des Hofes mit allem Nötigen versorgt.«
»Das stimmt, aber ich sorge vor, denn ich will das Dorf eines Tages für immer verlassen.«
»Warum? Ich hörte, dass man die Arbeiter dort hätschelt wie fette Katzen.«
»Aber mich nicht. Du weißt, ich gehöre nicht zu den Bauhandwerkern. Mein Vater ist ein Schmied, der die Werkzeuge, Hämmer und Meißel repariert, wenn sie stumpf geworden sind. Aber ich eigne mich nicht für solche Arbeit. In einer Schmiede ist es heiß, schmutzig und laut. Es war mein Glück, dass mich Chaemhat angesprochen hat, ob ich nicht Torwächter werden will.«
»Um die Tore etwas durchlässiger zu machen, was?«
Khem grinste. »Ich bin nicht der Einzige, der für Chaemhat arbeitet.«
Nuhem lachte. »Ich weiß. Manchmal denkt man, es sei leicht verdientes Geld, aber auf den Pfählen am Blutkanal faulen die Leichen derer, die sich zu lange auf ihr Glück verlassen haben. Auf sie wartet kein Leben nach dem Tod, ihre Namen sind vergessen, ihre Kas verweht.«
Er warf einen Blick auf seinen Sohn. »Ich hoffe, du bist vorsichtig bei dem, was du tust. Mir wäre es lieber, du würdest deine Finger davon lassen.«
Ardan blies sich eine widerspenstige Locke aus dem Gesicht. »Ich kann auf mich aufpassen.«
Khem räusperte sich und schaute zur Decke.
Nuhem legte beide Arme auf den Tisch und beugte sich vor. »Na gut. Und wo befindet sich die Ware jetzt? Seid ihr sie losgeworden?«
Ardan zögerte. »Wir waren gar nicht am Hafen. In den Gassen hat es einen Zwischenfall gegeben. Wir konnten das nicht riskieren. Wir haben die Sachen unten in einer der Truhen versteckt.«
»Was? Das Raubgut ist wieder in meinem Haus?«
»Beruhige dich. Es ist doch nicht das erste Mal, dass wir hier etwas zwischenlagern mussten.«
»Aber diesmal handelt es sich um eine große Lieferung, das scheucht sie auf. Du weißt, dass Werkstätten wie diese hier als erste durchsucht werden. Chaemhat soll sich zukünftig ein anderes Versteck suchen.«
»Die Werkstatt ist bisher nur einmal und sehr flüchtig in Augenschein genommen worden, und eben das verdanken wir Chaemhat.«
Nuhem schüttelte grimmig den Kopf. »Er soll gehen und andere beschützen. Das könnt ihr ihm sagen, wenn ihr ihn trefft.«
»Es wird ihn nicht beeindrucken. Er hat sich diese Werkstatt nicht ohne Grund ausgesucht, Vater.«
»Was willst du denn damit sagen?«
»Du zweigst Material für andere Zwecke ab.«
»Das ist ganz etwas anderes und stimmt so nicht. Amen-Ra lässt mir hin und wieder einen Sonderposten Material zukommen, der in den Tempellisten nicht erscheint. Er verkauft dann die angefertigten Gegenstände an spezielle Kunden. Vom Verkaufserlös behalte ich einen Anteil.«
Das war nicht die ganze Wahrheit. Nuhem stellte auch billige Kopien aus Ton her, die man auf den ersten Blick nicht vom Original unterscheiden konnte. Sie wurden dann während der Prozession der Grablegung ausgetauscht. Nur sehr wenige beherrschten diese Kunst. In jungen Jahren hatte er sich von anderen dazu überreden lassen, um seine Werkstatt aufzubauen. Inzwischen trat Chaemhat nur noch selten an ihn heran, denn seit man einige Fälle aufgedeckt hatte, waren die Kontrollen schärfer geworden.
Ardan verschränkte die Hände im Nacken. »Amen-Ra oder nicht. Jedenfalls ist es gegen das Gesetz.«
»Und Chaemhat weiß davon? Woher?«
»Chaemhat hat seine Augen und Ohren überall, und das muss so sein, sonst würde er nicht überleben. Er ist brutal, gierig und skrupellos, aber auch klug und kann als einziger in Pa Demi lesen und schreiben.«
»Nicht wahr«, brummte Khem dazwischen. »Ich kann es auch.«
Ardan lachte. »Du zählst nicht. Und es ist besser, wenn du solche Fähigkeiten verschweigst.« Er wandte sich wieder an seinen Vater: »Du siehst, er hat dich in der Hand. Er hat auch mich in der Hand, weil du dich auf die Sache mit Amen-Ra eingelassen hast. So ist es immer. Ob man nur am Honig geschleckt oder tief in den Topf hineingegriffen hat, spielt am Ende keine Rolle. Man ist ein Honigdieb. Du hattest doch gar keine krummen Geschäfte nötig. In ganz Waset kennt man deinen Namen und schätzt deine Arbeit.«
Nuhem schlug wütend auf den Tisch. »Ja glaubst du denn, ich hätte das freiwillig getan? Junge! Du hast keine Ahnung. Hinter jedem gut laufenden Geschäft steht irgendein Priester oder Beamter. Und je höher sein Rang, desto besser fürs Geschäft. Ich kann es mir nicht leisten, Amen-Ra abzuweisen, wenn er mit einer kleinen Bitte an mich herantritt.«
»Ja, Vater. Ich weiß, wie die Dinge laufen. Wir sind solchen Leuten ausgeliefert, die mächtig und einflussreich sind. Wir können das System nicht ändern, aber mit List und Klugheit können wir uns anpassen und unseren Nutzen daraus ziehen. Nicht zuletzt deshalb kam mir Chaemhats Vorschlag, mit Khem zusammenzuarbeiten, gelegen. Denn glaub mir, es ist nicht nur der Gewinn, der mich reizt.«
»Was ist es dann?«
Ardan lächelte schmal. »Das gute Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Ich nehme denen etwas weg, die es nicht mehr brauchen. Dinge, die wir Lebenden besser nutzen können.«
»Wie kannst du so etwas sagen? Es sind Dinge, die sie im nächsten Leben benötigen. Glaubst du denn nicht an ein Leben nach dem Tod in der Duat?«
»Nicht mehr, seit ich Khem und einige seiner Freunde kenne. Die aus Pa Demi wissen mehr als alle Priester zusammen. Sie kennen die Wahrheit, aber sie schweigen, denn das Dorf ist ihre einzige Lebensgrundlage. Niemand weiß, was nach unserem Tod passiert. Es ist jedenfalls noch keiner zurückgekommen, der davon berichten konnte.«
Nuhem spähte zur Tür, ob nicht etwa ein Diener eingetreten war, der das gehört hatte. »Ardan! Sprich niemals so offen darüber, hörst du?«
»Keine Sorge, Vater. Ich bin vorsichtig. Aber du selbst wirst doch nicht glauben, dass die Amulette und Figuren, die du aus Ton oder Ebenholz anfertigst, ein göttliches Ka in sich tragen?«
»Natürlich nicht, das geschieht erst durch deren Erweckung im Tempel. Die Priester laden den Ka ein, sich in der Statue niederzulassen. Man muss sie waschen, kleiden, mit Öl salben und mit Speisen verwöhnen, damit der jeweilige Gott gern in ihnen wohnt.«
»Oh ja, die Priester achten sehr auf Reinlichkeit, dabei übersehen sie den Schmutz in ihren Herzen und kennen keine Gerechtigkeit. Du weißt selbst, was auf ihren Uschebtis geschrieben steht.«
Ardan begann zu zitieren:
»Oh ihr Uschebti! Wenn ich verpflichtet werde, irgendeine Arbeit zu leisten, die im Totenreich getan werden muss oder ich dort zu einer Arbeitsleistung verurteilt werde, dann verpflichte du dich zu dem, was dort getan wird, um die Felder zu bestellen und die Ufer zu bewässern und um den Sand des Ostens und des Westens zu begrünen. ›Ich will es tun – hier bin ich!‹, sollst du sagen.«
Nuhem machte eine ärgerliche Handbewegung. »Diese Worte habe ich schon tausendmal geschrieben oder eingraviert. Was willst du mir damit sagen?«
»Dass eben die, deren Diener wir hier auf Erden sind, auch im Duat noch ihren Reichtum genießen wollen. Sogar dort erwarten sie, dass ihnen eine fleißige Dienerschar zur Verfügung steht, damit sie auf ewig faulenzen und die Bauern und Armen knechten können. Wir, die wir uns diese Uschebtis und kostbaren Grabbeigaben nicht leisten können, sollen ihnen in alle Ewigkeit untertan sein. Wer hier ein Bauer war, wird auch in der Duat ein Bauer sein. Findest du das gerecht?«
Nuhem rieb sich heftig die Nase, um das Entsetzen über die lästerlichen Worte seines Sohnes zu verbergen.
»Und dass Amen-Ra mit den verbotenen Materiallieferungen an dich den Tempel und damit die Götter betrügt, stört dich auch nicht?«
Nuhem brummte etwas Unverständliches. Das Gespräch ging in eine bedenkliche Richtung. »Das muss er mit sich selbst ausmachen. Aber lassen wir dieses Thema. Soweit ich mich erinnere, haben wir es schon des Öfteren vergeblich erörtert. Erzählt mir lieber von diesem Zwischenfall.«
»Ach, das war nur ein lästiger Zusammenstoß.«
»Der euch immerhin veranlasst hat, das Zeug bei mir unterzubringen.«
»Höchstens zwei Tage, damit sich der Staub legt.« Ardan stieß Khem an. »Erzähl doch mal!«
Khem blinzelte. »Willst du wirklich, dass ich das tue? Nun gut. Also, ich marschiere ganz unbesorgt die Sobekgasse entlang, Ardan hinter mir, als mich so ein priesterlicher Rüpel anrempelt. Ich denke noch, Khem, das musst du nicht weiter beachten, doch da nennt der Kerl mich doch einen Pavian, mit dem ich nun wirklich keine Ähnlichkeit habe. Und dann wollte er auch noch, dass ich mich entschuldige, dabei war er es, der mich gestoßen hat. Ich hätte ja nichts gesagt, aber da mischte sich dein Sohn ein. Er hat natürlich gleich bemerkt, dass der Priester umwerfend gut aussah.«
»Absolut lächerlich!«, brauste Ardan auf. »Ich habe mich eingemischt, weil er unhöflich und eingebildet war. Hast du gesehen, wie verächtlich er unsere Kleider gemustert hat?«
»Kanntest du ihn denn?«, fragte Nuhem, ohne auf Khems Bemerkung einzugehen.
»Ich habe den Burschen noch nie gesehen. Und vorgestellt hat er sich auch nicht. Aber wer will schon wissen, wie der Tölpel heißt!«
»Sah er wirklich so gut aus, Khem, oder willst du Ardan nur foppen?«
»Nun …« Khem grinste anzüglich. »Ich treffe viele Leute, und ich muss sie mir wegen meines Gewerbes auch immer genau anschauen, aber jemandem wie diesem Priester bin ich selten begegnet; sowohl was sein Aussehen betraf, als auch seine Hochnäsigkeit. Wer mag schon sagen, was da überwog?«
»Hm, das klingt nicht gut. Da seid ihr womöglich Amen-Ras Sohn begegnet. Man nennt ihn den schönen Ahmose.«
Khem fing an zu kichern.
Ardan verschränkte die Arme. »Beachte ihn nicht, Vater. Ich habe nichts Außergewöhnliches an dem Priester bemerkt, außer dass er sehr unfreundlich war. Er rief denn auch gleich nach einem Medjai, der unsere Körbe durchsuchte. Zum Glück kannte er mich und wusste, dass ich dein Sohn bin. Deshalb hat er sich mit den Figuren, die obenauf lagen, begnügt. Wir konnten ihm versichern, dass du sie angefertigt hast. Der Nubier hatte von Kunstwerken nicht viel Ahnung, und der Priester hatte es zum Glück eilig. Aber wir zogen es dann doch vor, nicht direkt zum Hafen zu gehen.«
»Das war richtig. Aber das darf nicht noch einmal passieren. Ich möchte, dass die Ware so schnell wie möglich mein Haus verlässt. Zwei Tage, dann müsst ihr sie fortschaffen. Wohin wolltet ihr sie bringen?«
»Die Hathor sollte bereits seit einer Woche im Hafen liegen. Djedhor, der Kapitän, arbeitet für Chaemhat.«
»Und sie wird nicht vorher ablegen, weil ihr nicht aufgetaucht seid?«
»Nein, sie bleibt für gewöhnlich zwei, drei Wochen hier, um für die nächste Fahrt überholt zu werden.«
»Lass uns hoffen, dass der Priester keine weiteren Schritte unternommen hat.«
»Der war bemühter, sich den Schweiß aus dem Gesicht zu fächeln, als seine Nase in zeitraubende Angelegenheiten zu stecken, glaub mir. Bitte entschuldige uns jetzt. Wir müssen uns ein wenig ausruhen.«
Nuhem nickte. »Haltet die Augen offen und benehmt euch wie Schatten im Dunklen. Wir dürfen nicht auffallen.«
Vor der Tür boxte Ardan Khem unsanft in die Seite. »Was redest du bloß für ein wirres Zeug vor meinem Vater? Der muss ja glauben, ich sei – ich würde – na, du weißt schon.«
Khem lachte und gab den Hieb zurück. »Du bist ja nur eifersüchtig, dass man dich im Viertel noch nicht den schönen Ardan nennt.«
»Lächerlich! Die beiden Töchter vom Perückenmacher finden mich sehr anziehend. Und da gibt es noch mehr, die ein Auge auf mich geworfen haben. Die Finger beider Hände reichen nicht, um sie aufzuzählen. Aber ich habe Besseres zu tun, als mich um plappernde und kichernde Mädchen zu kümmern.«
Nach seiner Rückkehr aus der Stadt hatte Ahmose erst einmal ein Bad genommen. Die tägliche Reinigung des Körpers war ohnehin Pflicht, doch diesmal verlangte es ihn besonders danach. Sein Gewand war fleckig und durchgeschwitzt. Zudem hatte er seine kostbare Zeit unnötig mit zwei verdächtig aussehende Burschen vertan, was ihm am Ende nicht einmal eine Festnahme eingebracht hatte. Am ärgerlichsten war jedoch, dass sein Gang vergeblich gewesen war. Rechmire hatte ihn wohl mit dem erhofften Granatapfelwein bewirtet, aber was die Rückzahlung des Kredits anging, mit erbärmlichen Ausreden vertröstet, wie sie säumige Zahler stets vorrätig hatten. Seinen Vater würde diese Auskunft nicht erfreuen. Noch schlimmer war, dass er ihn abermals zu Rechmire schicken würde; dann mit der Androhung gerichtlicher Schritte.
Natürlich hätte er auch seinen Schreiber Mohar schicken können, der ihm seit Jahren zur Seite stand und eine Vertrauensstelle besaß, doch der Mann glich einem grauen Schatten, dessen Anwesenheit meist übersehen wurde, und so verhielt er sich auch. Der Mann mochte Amen-Ra als Schreiber gefallen, war jedoch als Schuldeneintreiber völlig ungeeignet. Er wusste schon, weshalb er in solchen Fällen seinen Sohn schickte. Und wenn Ahmose diesmal nicht erfolgreich gewesen war, dann nur, weil sein Vater ihm Feingefühl eingeschärft hatte. Das nächste Mal würde er sich nicht mit dünnen Versprechungen und einem Becher Schedehwein abspeisen lassen.
Nachdem er ein reines Gewand angelegt, seine Augenschminke erneuert und sich ein paar vorwitzige Härchen an Kinn und Armen abgeschabt hatte, begab er sich zu seinem Vater. Amen-Ra war ein schlanker Mann von sehnigem Körperbau und in den besten Jahren. Seine scharf geschnittenen Züge wurden gern mit einem Falkenkopf verglichen, weshalb er bei den anderen Priestern den Spitznamen Horus trug, was ihm sehr schmeichelte.
Als er erfuhr, dass er vorläufig nicht mit einer Rückzahlung rechnen konnte, entblößte er zischend die Zähne. Ein Anzeichen, dass er zutiefst verärgert war. Das war nicht verwunderlich, denn es handelte sich um eine beträchtliche Summe, die er Rechmire in Erwartung eines vorteilhaften Geschäfts mit Ebenholz und Elfenbein aus Kusch geliehen hatte.
»Was denkt sich dieser Gauner von einem Kaufmann? Sein Schiff wurde in Men-nefer aufgehalten, weil es leckgeschlagen war? Ist das meine Schuld? Wenn es denn überhaupt stimmt. Ich könnte mich erkundigen, aber bis ich von dort etwas höre, vergeht mindestens ein Monat. Wann wollte er zahlen, sagtest du?«
»Er bat um eine Frist von weiteren zehn Tagen, aber ich gewann den Eindruck, dass wir uns darauf nicht verlassen können. Er benahm sich allzu gefällig, gestikulierte viel mit den Händen, schmeichelte meiner Erscheinung und verwies immer wieder auf eure lange und innige Freundschaft.«
Amen-Ra lachte verächtlich. »Wie es scheint, bildet er sich darauf allzu viel ein. Nun ja, wir haben es im Guten versucht. In zehn Tagen stehst du wieder vor seiner Tür, und wenn er nicht zahlt, dann lässt du gleich Chanuka kommen und ihn festnehmen.«
Ahmose dachte an die engen, überfüllten Gassen mit ihren beißenden Gerüchen und unterdrückte ein Seufzen. »Ja, Vater.«
»Und lass dich nicht von seiner Frau erweichen. Sie versteht sich auf das Jammern wie ein Klageweib und erwähnt dabei gern ihre drei unmündigen Kinder.«
Ahmose lächelte dünn. »Aber Vater! Eher schmilzt der Schnee auf den Gipfeln des Libanon.«
Ahmose saß an seinem Schreibtisch und überflog die Listen, die ihm Amaru, der Vorsteher der Bäcker, Wäscher und Weber, zur Prüfung dagelassen hatte. Es handelte sich um ihre Zuteilungen an Getreide, Fleisch und Bier. Er war dafür bekannt, dies sehr gewissenhaft zu tun.
Seine Mutter war gestorben, als er noch klein war. Mit fünf Jahren war er in die Tempelschule gekommen. Dort hatte er die heiligen Schriften studiert, umfangreiche Kenntnisse in Astronomie, Astrologie, Mathematik und Medizin erworben und sich scheinbar mühelos einer strengen Zucht unterworfen. Das Lernen war ihm leicht gefallen. Er war ein makelloser Schüler gewesen und hatte die Erwartungen, die man an den Enkel eines Hohepriesters stellte, vollauf erfüllt. Jedermann glaubte, dass er zum Tempel passe wie das Öl zur Lampe.
Er führte Bücher und war Hüter des heiligen Kalenders, in dem Verhaltensmaßregeln für jeden Tag des Jahres niedergelegt waren. Einem jeden war ein Ereignis zugeordnet, nach denen günstige oder ungünstige Folgen zu erwarten waren. Zu seinen Pflichten gehörte es, zu bestimmten Zeiten Besucher zu empfangen, die ihn nach dem erfolgreichsten Tag für ihre Vorhaben fragten.
Außerdem stand er einer Abteilung von Wabpriestern vor. Sie waren zuständig für die Pflege der Kultgeräte und heiligen Gegenstände, hielten den Tempel rein und schminkten und schmückten die Statue der Götter. Ahmose oblag es, sie zu ihren Pflichten anzuhalten. Dabei hatte er darauf zu achten, dass sie während ihrer Arbeit weder lachten noch schwatzten und ihre Blicke gesenkt hielten. In ihren Gesten sollten sie sparsam sein und sich einer jeden bewusst.
Die Vorschriften und Zeremonien wurden von Ahmose sehr sorgfältig befolgt. Manche meinten, verbissen. Beliebt war er nicht, aber von den erfahrenen Priestern wurde er als Vorbild genannt, weil er sowohl die innere als auch die äußere Vollkommenheit eines Gottesdieners schlechthin verkörperte. Man munkelte sogar, dass er eines Tages seinem Großvater Amenemhat nachfolgen werde, der das Amt des zweiten Hohepriesters im Amuntempel versah.
Von Zeit zu Zeit mussten alle Priester eine mehrtägige Reinigungszeremonie vollführen, die läuternd auf ihren inneren Ka wirken sollte. In dieser Zeit fasteten sie und enthielten sich fleischlichen Gelüsten. Das war Ahmose noch nie schwergefallen. Er vermied Berührungen und hielt von anderen stets einen angemessenen Abstand. Bei einigen Prozessionen und Zeremonien musste er, wie andere Priester auch, Tiermasken tragen, die einen bestimmten Gott darstellten. Hinter ihnen fühlte er sich wohl, denn er sah alle, wurde aber selbst nicht gesehen. Doch wenn er die Maske wieder ablegte, kam er sich lächerlich vor. Er hatte nicht nur den anderen etwas vorgemacht, sondern vor allem sich selbst.
Heute konnte er sich nicht so gut wie gewohnt konzentrieren. Er schob die Listen beiseite. Die Begegnung in der Sobekgasse ließ ihm keine Ruhe. Daher befahl er seinem Diener Hori, die Akten von Nuhem dem Steinschneider herauszusuchen.
Nuhem wurde hier als Meister einer großen Werkstatt aufgeführt, in der sich mehrere Handwerker zusammengetan hatten. Der Papyrus enthielt säuberlich aufgelistet alle geschäftlichen Vorgänge, wie Materiallieferungen, Art und Anzahl der gefertigten Gegenstände und die Entlohnung für die Arbeit. Ahmose konnte in den Aufzeichnungen nichts Verdächtiges entdecken. Dieser Ardan schien die Wahrheit gesagt zu haben.
Ärgerlich rollte Ahmose die Liste wieder zusammen. Da hatte er sich schön blamiert. Bestimmt hatten die beiden noch über ihn gelacht. Er sah es vor sich, wie der Schwachsinnige über ihn kicherte, und ballte unwillkürlich die Fäuste vor Zorn. Konnte sich Nuhem keine besseren Diener leisten? Und sein Sohn erst! Wenn der sich nicht wegen dieses Pavians eingemischt hätte …
Ahmose schüttelte sich. Mein Vater hat doch recht, wenn er die einfachen Leute manchmal nicht versteht, dachte er. Sie tun, was ihnen gerade einfällt, kennen keinen geordneten Ablauf und keine Manieren, wollen nicht viel mehr als essen, schlafen und sich vermehren und können nicht über den nächsten Tag hinausdenken.
Das ging ihm durch den Kopf, als er die Schreibbinse packte und sie unwillkürlich in der Faust zerdrückte. Denn ungerufen stiegen Empfindungen in ihm auf, die ihm fremd, aber dennoch willkommen waren. Wenn sie nur nicht ausgerechnet mit Nuhems Sohn zu tun gehabt hätten …
Im Fußboden des Kellergewölbes öffnete sich eine Klappe. Zum Vorschein kam ein runder Kopf mit zerzaustem Haar und großen Ohren. Kleine, flinke Augen huschten in dem dämmerigen Licht einer einsamen Öllampe hin und her, und es hatte den Anschein, als bewegten sich die Ohren wie die Flügel eines Falters, um jedes Geräusch aufzunehmen. Dann folgte der dürre Körper des Mannes.
Khem kletterte aus dem Loch und marschierte zur Tür. Als er sie öffnen wollte, wurde sie schon aufgerissen, und die Gestalt davor füllte den gesamten Rahmen aus: Chaemhat, der Nekropolenschreiber und Besitzer dieses Hauses, hieß Khem nicht gerade freundlich willkommen.
»Na endlich! Wo bist du gewesen? Habe schon gedacht, sie hätten dich geschnappt.«
»Mich doch nicht«, erwiderte Khem forscher, als ihm zumute war, und fuhr sich vergeblich durch das struppige Haar. »Musst du mich so erschrecken? Der Weg durch den Tunnel ist nicht gerade ein Spaziergang. Ich habe Hunger und Durst. Sehr viel Durst.«
Chaemhat musterte Khem verdrießlich. »Ein Bier kannst du haben. Komm herauf! Aber erzähle mir keine Märchen. Ich weiß, dass die Hathor noch nicht aus Men-nefer zurück ist. Das bedeutet, ihr habt das Zeug noch.«
Khem zuckte mit den Schultern »Sie ist noch gar nicht da? Das wusste ich nicht. Wir waren nicht am Hafen. Es gab einen Zwischenfall.«
»Zwischenfälle gefallen mir überhaupt nicht. Komm mit und berichte!«
Khem folgte Chaemhat in eine kleine Kammer, die außer zwei Stühlen und einem Tisch kein Mobiliar enthielt. Es war kein behaglicher Raum, dafür waren die Türbalken so dick, dass kein Lauscher erfuhr, was drinnen gesprochen wurde.
Während Khem sich setzte, holte Chaemhat einen verstaubten Krug aus der Ecke und setzte ihn vor Khem ab. »Er sieht alt aus, aber das Bier ist frisch.« Dann ließ sich der beleibte Mann schnaufend auf den anderen Stuhl fallen. »Was war das für ein Zwischenfall? Muss ich mir Sorgen machen?«
»Überhaupt nicht, nein.« Khem ließ sich erst einmal das Bier schmecken und wischte sich die Lippen. »Er war ganz unbedeutend, aber wir hielten es doch für besser, mit der Ware noch nicht am Hafen aufzutauchen. Wie sich nun herausstellt, wäre unser Weg ohnehin vergeblich gewesen.«
»Ja, die Hathor hätte schon längst hier sein müssen. Ich weiß nicht, was sie aufgehalten hat, aber das werden wir bald erfahren. Und nun zu dir. Was ist passiert? Und wo sind die Sachen jetzt?«
»In Nuhems Keller, verschlossen in einer Truhe. Ich war mit seinem Sohn Ardan unterwegs, als mich dieser tollpatschige Priester umrannte …«
Khem erzählte und Chaemhat hörte mit finsterer Miene zu.
»Das nennst du einen unbedeutenden Zwischenfall, du Tölpel? Ich bin ganz sicher, dass du den Priester angerempelt hast. Zum Glück ist Ardan eine gute Ausrede eingefallen, und der Medjai kannte ihn. Aber das war knapp. Ihr hättet auch im Kerker landen können, und da hättet ihr gesungen wie die Vögelchen.«
»Unser Geschäft ist nun einmal gefährlich, deshalb habe ich immer diesen Glücksbringer bei mir.« Khem wies Chaemhat einen Anhänger in Form des Udjat-Auges vor, das auch Horusauge genannt wurde. »Horus sieht alles und beschützt mich.«
Chaemhat grinste verächtlich. »Dass Horus Grabräuber beschützt, ist mir neu. Besser, du achtest künftig auf den Weg, das würde mich besser schlafen lassen.« Er erhob sich. »Gut, ich weiß jetzt Bescheid. Wir müssen die Ankunft der Hathor abwarten. Bis dahin halten wir still, verstanden?«
»Habe ja recht große Ohren.«
»Hast du den Priester gekannt?«, fragte Chaemhat, als er Khem durch eine Hintertür hinausließ. »Es wäre gut, wenn wir seinen Namen wüssten. Ich habe gute Beziehungen zum Tempel.«
»Ich kannte ihn nicht, aber Nuhem vermutete nach der Beschreibung, dass es sich um Amen-Ras Sohn Ahmose handeln könnte.«
»Ahmose?« Chaemhat stieß einen Fluch aus. »So viel mir bekannt ist, kann man ihm – im Gegensatz zu seinem Vater – keine Unregelmäßigkeiten nachweisen. Ein fleckenloser und, wie es heißt, ehrgeiziger Tugendbold. Das ist nicht gut. Wir müssen die Sache im Auge behalten.«
Rechmire hatte Ahmose gegenüber behauptet, die Hathor sei leckgeschlagen und befinde sich in Men-nefer zur Reparatur. In Wahrheit hatte er keine Nachricht über den Verbleib seines Schiffes. Da konnte alles Mögliche passiert sein, und Nachrichten dauerten nun einmal lange. Er hoffte, dass er innerhalb der Frist, um die er Amen-Ra gebeten hatte, etwas erfahren würde. Vor allem musste er über die Fracht aus Kusch Bescheid wissen. Hatte Djedhor sie bereits ausliefern können? Nur dann würde er Amen-Ra den Kredit zurückzahlen können. War die Ladung jedoch aus irgendeinem Grund verloren gegangen, würde ihn das in erhebliche Zahlungsschwierigkeiten bringen.
Die Fahrten nach Kusch waren außerordentlich ertragreich, aber jede Fahrt barg auch das Risiko eines vollständigen Verlustes. Der trat aber nur ein, wenn das Schiff angegriffen wurde oder sank, und das wiederum geschah äußerst selten. Von irgendwelchen Unwettern hatte man nichts gehört, und Djedhor war ein umsichtiger Kapitän, der sich auf dem Fluss auskannte. Deshalb zerbrach sich Rechmire den Kopf, weshalb er nichts von der Hathor hörte. Seine Laune verschlechterte sich von Tag zu Tag, seiner Frau gegenüber verhielt er sich mürrisch und schweigsam. Sie und die Kinder gingen ihm aus dem Weg.
Zwei Tage nach Ahmoses Besuch wurde ihm die Ankunft eines Boten aus Men-nefer gemeldet. Nein, er sei nicht mit der Hathor gekommen.
Rechmire ging ihm beherrscht, aber angespannt entgegen. Als er den Mann sah, erschrak er. Es war Rufar, der Steuermann. Sein Rock war zerrissen, und er wies einige Schürfwunden auf. Rufar würde keine guten Nachrichten bringen.
»Wie kommt es, dass du so zerschunden bist?«, überfiel ihn Rechmire sofort. »Ist die Hathor von Banditen überfallen worden? Wurde die Ladung geraubt?«
»Nein Herr!« Rufar taumelte vor Erschöpfung, und Rechmire befahl den Dienern, Speisen und Getränke zu bringen und ein Bad zu bereiten. »Setz dich! Es wird dir gleich besser gehen. Doch nun sag, was vorgefallen ist. Lass mein Herz nicht länger in Unruhe hüpfen.«
»Die Hathor wird in Men-nefer festgehalten. Kapitän Djedhor und die Mannschaft wurden festgenommen. Ich konnte mich verstecken und fliehen, und so konnte ich dich rechtzeitig benachrichtigen, aber unterwegs geriet ich ein paar Mal in Schwierigkeiten.«
Rechmire glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. »Was? Festgenommen? Weshalb denn?«
»Das Schiff wurde durchsucht.« Rufar atmete schwer. »Man hat unter den Waren aus Kusch mehrere große Krüge mit kostbaren Grabbeigaben gefunden. Diebesgut.«
»Nein!«, keuchte Rechmire.
»Ja. Leider hat es sich herausgestellt, dass Djedhor sich schon mehrmals als Schmuggler betätigt hat. Er hat gestanden, die verbotene Fracht in Waset an Bord genommen zu haben, aber Namen hat er keine genannt. Daraufhin wurde die gesamte Mannschaft festgenommen. Alle wurden weggeschleppt. Ich konnte unbemerkt über Bord springen und ans Ufer schwimmen. Dort verbarg ich mich zwischen den Felsen. In der Nacht wagte ich mich nach Men-nefer hinein. Ich wollte mehr erfahren, bevor ich die Flucht antrat. Den Gesprächen zwischen Wachleuten entnahm ich, dass Djedhor sich im Kerker das Leben genommen hat.«
»Um der Folter zu entgehen«, ergänzte Rechmire dumpf.
»Möglich. Sennedjem, die rechte Hand des Wesirs Amenhotep, hat sich der Sache persönlich angenommen.«
»Der Sohn unseres Schatzmeisters Merire?«
»Ja.«
»Wie ist denn die Sache aufgekommen? Jemand muss Djedhor an Sennedjem verraten haben.«
»Wahrscheinlich ging es um einen Streit um die Anteile. Die geraubten Gegenstände und die gesamte Ladung aus Kusch wurden jedenfalls beschlagnahmt. Was aus der Mannschaft wurde, weiß ich nicht.«
Rechmires Lippen zitterten. »Man wird sie alle unter der Folter verhören. Auch jene, die unschuldig sind, so wie ich.«
»Ja, Herr, und mir war klar, dass man nun auch dich verdächtigen würde, deshalb kam ich so schnell wie möglich, um dich zu warnen, denn es wird nicht lange dauern, bis man dich hier festnimmt.«
Rechmire hielt sich nur noch mit Mühe aufrecht, er war einer Ohnmacht nahe. »Djedhor!«, stieß er klagend hervor. »Ein Mann, dem ich vertraut habe! Was soll ich jetzt tun? Man wird mir kein Wort glauben, dass ich ahnungslos war. Auf Grabraub steht der Tod. Was soll aus meiner Frau und meinen Kindern werden?«
»Du musst fliehen, Herr. Auf der Stelle. Tu es, bevor es zu spät ist.«
Rechmire starrte ihn an. Da kam seine Frau herein. Sie warf Rufar einen besorgten Blick zu. »Ich hörte, ein Bote sei eingetroffen. Gibt es Nachrichten von der Hathor?«
»Ja«, erwiderte Rechmire dumpf. »Die gibt es. Nimm die Kinder und pack die wichtigsten Sachen zusammen. Wir müssen weg aus Waset. Es ist etwas Furchtbares passiert, ich erkläre es dir später.«
»Aber …«
»Bitte! Nimm es einfach so hin. Wir gehen zu meinem Bruder. Er besitzt Land im Delta. Dort bleiben wir, bis sich die Lage beruhigt hat. Wir nehmen unser kleines Boot.« Er sah Rufar an. »Du hast viel für uns gewagt. Willst du uns begleiten?«
»Ich danke dir, Herr. Ich habe eine Schwester in Nechen, zu der werde ich gehen, aber zuvor habe ich noch etwas in Waset zu erledigen, meine Familie betreffend.«
Rechmire überlegte kurz. »Wenn du willst, kannst du hier so lange in meinem Haus bleiben, bis sich der Rauch verzogen hat, denn ich fürchte, sie werden dich suchen. Regle, was du zu regeln hast. Ich stelle dich der Dienerschaft als entfernten Verwandten vor. Außerdem werde ich veranlassen, dass man dir fünf Deben Gold aushändigt.“
Rufar fiel schluchzend vor ihm auf die Knie. »Das ist sehr großzügig, Herr.«
»Ach was! Es ist das Mindeste, was ich für dich tun kann. Ich wünschte, ich könnte auch für die übrige Mannschaft etwas tun. Ich hoffe, dass sich ihre und meine Unschuld bald herausstellen wird, dann kehre ich zurück.«
Noch drei Tage bis Neumond. Ahmose hatte alle Hände voll zu tun, um die zwölftägigen Feierlichkeiten für das Talfest vorzubereiten. Der Hohepriester hatte ihn nun zum dritten Mal dazu ermächtigt. Es waren die Tage, an denen die Menschen ihrer Toten im Tal des Westens gedachten. Die Familienmitglieder versammelten sich dazu vor den Grabeingängen ihrer verstorbenen Angehörigen, wo sie ein großes Festmahl abhielten und dabei kräftig dem Alkohol zusprachen, denn im Rausch glaubte man sich ihren Seelen näher.
Neben unzähligen Felsengräbern gab es dort auch drei Totentempel früherer Pharaonen, die zu diesem Anlass von Gott Amun aufgesucht wurden. Dazu wurde seine Statue in einer feierlichen Prozession bis an das Nilufer getragen, dort auf eine Barke verfrachtet und zum Westufer gebracht.
Vierzig Priester waren erforderlich, um seinen Schrein zu tragen, in dem die Amunstatue sich verbarg, die keiner zu Gesicht bekommen durfte. Es war eine große Ehre, für diesen Dienst auserwählt zu werden, und jedesmal gab es unterschwellige Rivalitäten um einen Platz an den Tragestangen. Ahmose musste die Eifrigsten ermahnen und sie daran erinnern, dass überschäumender Ehrgeiz nicht mit der Würde eines Priesters zu vereinbaren sei. Und nein, er habe keine Lieblinge und ziehe niemanden vor.
Mitten in so eine Auseinandersetzung platzte sein Vater und wünschte ihn zu sprechen. Allein.
Im Grunde war Ahmose froh über die Unterbrechung. Sie schlugen den Weg zum Teich ein. Er lag in einem mit Bäumen und Blumen bepflanzten Hof, der sich hinter den Wohnhäusern der Priester erstreckte.
»Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht«, begann Amen-Ra, während sie am Teichufer entlanggingen.
Ahmose hielt die Hände auf dem Rücken verschränkt. »Sind die neuen Leinengewänder nicht rechtzeitig geliefert worden?«
»Es geht nicht um das Talfest. Es geht um Rechmire. Es bleibt dir erspart, ihn erneut aufzusuchen.«
»Hat er den Kredit inzwischen zurückgezahlt?«
Amen-Ra runzelte ärgerlich die Stirn. »Nein, und das ist jetzt die schlechte Nachricht: Er ist mitsamt seiner Familie aus Waset geflohen.«
»Geflohen? Doch nicht wegen seiner Schulden?«
»Nein, viel schlimmer.« Amen-Ra wies auf eine Steinbank. »Komm, setzen wir uns.« Er faltete seine Hände im Schoß und schien auf die Enten im Teich zu starren. »Sein Schiff mitsamt der Ladung, die uns einen guten Anteil am Gewinn eingebracht hätte, ist in Men-nefer beschlagnahmt worden. Ich weiß es von einem Ptahpriester aus Men-nefer, der gestern hier eingetroffen ist. Bei einer Untersuchung wurden Gegenstände aus einem Grabraub gefunden. Der Kapitän und die Mannschaft wurden festgenommen. Rechmire muss davon erfahren haben und hat die Flucht ergriffen, bevor man ihn zur Rechenschaft ziehen konnte.«
»Rechmire – ein Grabräuber? Wer hätte das von dem ehrenwerten Kaufmann gedacht? Dann ist der Kredit also verloren?«
»Nicht nur das. Wenn bekannt wird, dass ich ihm Kredit gewährt habe, wird das auch auf mich zurückfallen. Man wird glauben, ich sei in seine schmutzigen Geschäfte verwickelt.«
»Oh, ich hoffe, das wird nicht passieren. Du besitzt einen tadellosen Ruf, und Amenemhat wird dafür sorgen, dass er durch diesen Schandfleck von einem Kaufmann nicht beschädigt wird.«
»Natürlich habe ich mir nicht das Geringste vorzuwerfen, aber schon der Anschein genügt. Du weißt, wer der Ankläger und Ermittler in diesem Fall sein wird.«
Ahmose nickte. »Merire.«
Merire, der Schatzmeister, war seit ewigen Zeiten mit Amen-Ras Vater Amenemhat verfeindet. Sein Vorgesetzter, der Wesir Ptahmose, hatte ihm die Aufsicht über das Handwerkerdorf Pa Demi übertragen. Schon des Öfteren hatte er es mit Grabräubern zu tun gehabt. Er hasste das frevelhafte Gesindel, dem nichts heilig war. Auch die strengen Kontrollen und harten Strafen für die Diebe hatten es nicht verhindern können, dass die Verstorbenen immer wieder um ihr Eigentum im nächsten Leben gebracht wurden.
»Du weißt, dass mein Ruf tadellos bleiben muss, und der Mann lauert geradezu darauf, ihn zu beschmutzen. Wie konnte ich nur so blind sein und Rechmire vertrauen!«
»Dich trifft keine Schuld. Rechmire galt als ehrlicher Mann. Es war weder verboten noch leichtsinnig, ihm einen Kredit für den Handel mit Kusch zu gewähren.«
»Natürlich nicht, aber nun wird man denken, ich wäre auch an seinem anderen Geschäft beteiligt gewesen.«
»Du musst mit Amenemhat darüber sprechen. Falls solche Gerüchte aufkommen, muss er Merire beizeiten konsequent entgegentreten.«
»Ja. Beim Totenfest werde ich wie immer den Sängern voranschreiten. Das muss unbedingt so bleiben. Ich darf nicht ersetzt werden. Das wäre ein sehr schlechtes Zeichen.« Amen-Ra seufzte. »Ich hoffe, dass Rechmire nichts von dem Schmuggel gewusst hat. Sein Kapitän Djedhor ist ein verschlagener Mann. Tüchtig bei seiner Arbeit, aber ich würde ihm zutrauen, das Geschäft auf eigene Rechnung betrieben zu haben. Jedenfalls wird man ihn in Men-nefer verhören. Ich hoffe, dass sich dann Rechmires Unschuld herausstellt.«
»Ich werde Month ein Rauchopfer bringen. Du solltest dir keine Sorgen machen. Merire wird jetzt alles daran setzen, die Grabräuber zu fassen. Er hat ebenfalls einen Ruf zu verlieren und wird wenig Zeit haben, sich um den Kredit zu kümmern, zumal er von dem nichts weiß. Er müsste mich schon auffordern, Einblick in deine geschäftlichen Unterlagen zu erhalten. Dafür gibt es bis jetzt keinen Anlass, und Rechmire kann er nicht befragen.«
»Ja, solange man ihn nicht findet.« Amen-Ra erhob sich. »Wahrscheinlich wird man ihn nicht finden. Leute wie er haben überall im Land Beziehungen. Ich werde mit deinem Großvater reden. Gern tue ich das nicht, denn er hat private Geschäfte mit Leuten außerhalb des Tempels immer abgelehnt.«
»Vielleicht wegen solcher Folgen, die jetzt eingetreten sind«, bemerkte Ahmose kühl, während er seinem Vater folgte.
Pa-Heb, Rechmires Verwalter und Hausmeister, hatte Besuch von Hauptmann Chanuka bekommen. In seiner Begleitung waren zwei Büttel und ein Schreiber. Obwohl Pa-Heb nach der Flucht seines Herrn damit gerechnet hatte, war er sehr aufgeregt. Das durfte er sich aber nicht anmerken lassen, denn ihm waren Besitz und die Dienerschaft anvertraut worden. Nachdem es ihm einigermaßen gelungen war, diese zu beruhigen, empfing er den Hauptmann in Rechmires Arbeitszimmer.
Der Nubier war ein schlanker, sehniger Mann mit harten Augen und einem Mund, der Unbeugsamkeit verriet. Er nahm breitbeinig auf einem Stuhl mit feinen Schnitzereien Platz. Seine beiden Begleiter warteten an der Tür, der Schreiber hockte sich auf den Boden.
»Du weißt, wessen dein Herr beschuldigt wird?«, begann Chanuka, während er mit einem Fliegenwedel spielte.
Pa-Heb bemühte sich, Chanukas Blick standzuhalten. »Ja, aber er ist unschuldig.«
Chanuka lächelte dünn. »Natürlich. Das sind wir ja alle. Dennoch lastet ein schwerer Verdacht auf ihm, zumal er sich der Aufklärung durch Flucht entzogen hat. Rechmire genoss einen guten Ruf, deshalb habe ich den Auftrag, der Angelegenheit vorerst unauffällig nachzugehen. Aber du musst mir die Wahrheit sagen. Ich merke es, wenn du deinen Herrn schützen willst, und glaube mir, deine Lügen werden ihm nicht weiterhelfen.«
»Ich sage die Wahrheit, das schwöre ich bei Amun.«
»Gut. Du sagst, dein Herr sei unschuldig. Bedeutet das, im Haus wusste niemand über den Schmuggel Bescheid? Niemand war eingeweiht?«
»So ist es. Wir alle waren entsetzt, als wir erfuhren, wie schändlich Kapitän Djedhor unseren Herrn hintergangen hatte.«
»Er hat also ganz allein gehandelt?«
»Vielleicht hatte er Helfer, aber niemanden aus diesem Haus.«
»Wie kam es, dass Rechmire von dem Geschehen in Men-nefer erfuhr, bevor die Nachricht von der Beschlagnahme der Hathor beim Wesir eintraf?«
»Einer mit Namen Rufar tauchte hier mit zerrissenen Kleidern und völlig erschöpft auf. Er war Steuermann auf der Hathor. Als die Mannschaft festgenommen wurde, sei es ihm gelungen zu fliehen, und er habe sich sofort auf den Weg gemacht, um unseren Herrn zu warnen.«
»Wo befindet sich dieser Mann jetzt?«
»Mein Herr war ihm sehr dankbar und bot ihm Obdach an, doch er blieb nur zwei Tage, dann war er verschwunden. Nicht, ohne zwei kostbare Vasen und einen vergoldeten Djedpfeiler mitzunehmen.«
»Er war also nur ein Dieb. Dann war vielleicht seine ganze Geschichte erlogen und er selbst ein Komplize des Kapitäns? Rechmire wird zu seinen Verwandten geflohen sein. Weißt du etwas über sie?«
»Seine Familie ist weitläufig, aber genaues weiß ich nicht.«
»Für Rechmire wäre es besser, er würde sich stellen, denn dann kann er seine Unschuld beweisen.«
Pa-Heb senkte den Blick. »Er hatte Angst, dass ihm das nicht gelingen könnte. Er befürchtete, Kapitän Djedhor würde ihn der Mitwisser- oder gar Urheberschaft bezichtigen, um selbst besser dazustehen.«
»Er wird sicher in Men-nefer verhört. Wir warten noch auf die Ergebnisse.«
»Rufar meinte, der Kapitän habe sich im Kerker umgebracht.«
»Hm. Wir werden sehen, ob das stimmt. Vielleicht hat auch jemand nachgeholfen, der nicht wollte, dass die Wahrheit ans Licht kommt.«
»Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Aber mein Herr kann es nicht gewesen sein.«
Chanuka nickte ungeduldig und wandte sich an den Schreiber. »Hast du alles notiert?«
»Ja, Herr.«
»Gut, dann sind wir hier vorerst fertig, aber es wird weiter ermittelt. Es kann sein, dass du noch vorgeladen wirst.«
Pa-Heb wurde blass. »Zum Verhör?«
»Ja. Vielleicht wird der Schatzmeister dich noch einmal befragen, wenn wir Näheres aus Men-nefer hören. Bleib gelassen, noch sehe ich keinen Grund für ein strenges Verhör.«
Ardan stand bei den Gewürzen und turtelte mit der hübschen Händlerin. Ihr helles Lachen schien Bereitschaft anzudeuten, doch ein spöttischer Unterton war unverkennbar. Der schmucke Sohn Nuhems galt als Frauenverführer, der süße Worte wie Honigplätzchen verteilte, aber sie niemals wahr machte.
Als ein beleibter Mann ihm aufdringlich zu nahe rückte, trat er mit einem Knurren zur Seite, doch bevor er seinen Unwillen äußern konnte, zischte der Mann ihm zu: »Wir müssen reden.«
Als Ardan den Mann erkannte, nickte er schnell. Es war Chaemhat, der das Kommando über Pa Demi ausübte und sich nebenbei noch ein hübsches Sümmchen damit verdiente, dass er die Grabräuber, denen er schon lange auf die Schliche gekommen war, nicht anzeigte, sondern von ihnen einen Anteil erpresste. Er gehörte zu den wenigen Leuten, die Pa Demi jederzeit verlassen durften.
»Natürlich. Wo?«
»Gehen wir bei Ranofer ein Bier trinken.«
»Gut.« Ardan schenkte der jungen Frau ein Schulterzucken und folgte Chaemhat. Die Schenke befand sich am Hafen bei den Lagerhäusern und wurde sowohl von einfachen Schiffsleuten als auch von zwielichtigen Gestalten aufgesucht. Chaemhat wurde unterwürfig vom Wirt begrüßt. Das geschah nicht ohne Grund. Wenn sein Bierhaus von lästigen Besuchen der Medjai verschont blieb, hatte er das dem Nekropolenschreiber zu verdanken.
Er eilte beflissen voran und öffnete für seine Besucher eine Kammer, in der sie sich in Ruhe unterhalten konnten. Chaemhat brachte offensichtlich des Öfteren Besuch mit.
Nachdem sie sich mit Bier gestärkt hatten, sagte Chaemhat: »Ich habe Nachrichten von der Hathor. Ich weiß es von Männern, die vorgestern mit der Isis aus Men-nefer angekommen sind. Sie wurde vom Bürgermeister samt ihrer Ladung beschlagnahmt, weil man das Diebesgut aus den Gräbern an Bord gefunden hat.«
Ardan zischte einen Fluch. »Das ist schlimm. Weiß man, was mit dem Kapitän und der Mannschaft passiert ist?«
»Sie wurden festgenommen, mehr weiß ich nicht.«
»Was wissen Djedhors Männer?«
»Nichts, bis auf zwei Leute, die eingeweiht waren und auf die Ware aufgepasst haben.«
»Das sieht nach Verrat aus, meinst du nicht auch?«
»Wenn es so ist, werde ich den Mistkerl finden.« Chaemhat beugte sich etwas vor. »Mir macht vor allem Djedhor Sorgen. Wenn er redet …«
»Ich dachte, du hättest da oben auch deine Leute. Kümmern die sich nicht um ihn?«
»Ich hoffe, dass sie es getan haben, aber die Sache stinkt gewaltig. Wenn der Gestank uns erreicht, müssen wir vorbereitet sein. Leugnen, leugnen und den Verdacht auf andere lenken.«
»Du meinst, auf Unbeteiligte?«
»Ja. Nur sie können nichts verraten, wenn man sie verhört, weil sie nichts wissen.«
»Das wäre aber ein sehr unfreundliches Verfahren und passt mir nicht.«
»Es passt dir nicht, he? Aber dass sie dich wegen Grabraubes aufspießen, das würde dir passen? Was dann mit deinem Vater passieren würde, darüber will ich gar nicht reden.«
»Ich müsste darüber nachdenken.«
»Ja, tu das! Du kanntest das Risiko. Wenn der Kapitän unsere Namen nennt, heißt es, die oder wir.«
»Und wer sind die?«
Chaemhat winkte ab. »Kennst du nicht und muss dich auch nicht interessieren. Auf alle Fälle niemand, um den es schade wäre. – Mach nicht so ein Gesicht! Noch wissen wir nicht, ob wir zu diesem Mittel greifen müssen. Mir wäre es auch lieber, wenn Djedhor – nun ja, wenn er den Mund hielte.«
Ardan knurrte leise, aber er wusste auch keine bessere Lösung. »Dann heißt es jetzt wohl abwarten?«
»Ja. Aber wir sind vorbereitet.«
Das Talfest hatte begonnen. Obwohl man der Toten gedachte, war es ein fröhliches Fest. Die Familien nutzten die Ausflüge, um ausgiebig zu speisen. Einige sangen und tanzten für ihre Verstorbenen oder hatten Musikanten gemietet.
Die Bewohner von Pa Demi hatten ihre eigene Nekropole. Ihre Gräber östlich und westlich des Dorfes waren kaum weniger kostbar und kunstvoll ausgestaltet wie jene hoher Würdenträger, denn wer es verstand, Gräber für Pharaonen zu schaffen, der ließ sich beim eigenen Grab nicht lumpen. Es war ihnen gestattet, sie selbst zu bauen, zu bemalen und auszustatten. Das galt allerdings nur für die Familien, die am Gräberbau beteiligt waren. Für die Sklaven, Diener und andere Hilfskräfte gab es nur die gewöhnlichen Armengräber.
Zum Talfest durften die Bewohner das Dorf verlassen, um die Stätten ihrer Verstorbenen aufzusuchen. Die Arbeiten an den Gräbern wurden eingestellt und in Pa Demi kehrte etwas Ruhe ein.
Chaemhat kamen die zwölf Feiertage gerade recht. In dieser ungewissen Zeit des Wartens auf Nachrichten aus Men-nefer konnte er etwas Ruhe gut gebrauchen. Priester und Beamte waren stark in die Festlichkeiten eingebunden und hatten wenig Zeit, sich um Grabräuber zu kümmern. Chaemhat hatte sich vorgenommen, liegengebliebene Arbeit nachzuholen. Er saß gerade an einem Bericht an den Schatzmeister Merire, mit dem er ihn vom Fortgang der Arbeiten in den letzten Wochen in Kenntnis setzte, als sein Diener ihm eine Vorladung aushändigte. Merire wollte ihn unverzüglich sprechen. Das war ungewöhnlich. In solchen Zeiten blieben die meisten Arbeiten liegen, es sei denn, sie waren unaufschiebbar.
Chaemhat spürte ein ungutes Kribbeln im Nacken. Es konnte sich nur um die Hathor handeln. Der Kapitän hatte geredet! Er hatte Namen genannt. Nun galt es, eiskalte Ruhe zu bewahren. Schließlich war er ein angesehener Mann, der das Amt des Nekropolenschreibers bereits in der dritten Generation ausübte. Man kannte und man schätzte ihn, denn er erledigte seine vielfältigen Aufgaben gründlich und zum Wohle Pa Demis und des Pharaos. Das hatte man ihm wiederholt versichert, und der Pharao hatte ihm für gewissenhafte Pflichterfüllung öffentlich gedankt.
Er kleidete sich in sein bestes Gewand und wies seine Diener an, die Sänfte bereitzumachen. Da die meisten auf dem Fest waren, musste er sich welche vom Nachbarn ausleihen. Der Weg zur Anlegestelle nach Waset dauerte über zwei Stunden und war für einen beleibten Mann wie ihn kein Vergnügen. Er litt unter der Hitze, und der Staub bereitete ihm Atembeschwerden. Wenn er in Waset zu tun hatte, wo er ein weiteres Haus besaß, richtete er es gewöhnlich so ein, dass er mehrere Tage dort blieb, um sich zu erholen. Bei Einladungen in den Palast hatte man ihm sonst einen Wagen geschickt. Es war kein gutes Zeichen, dass Merire ihn diesen Strapazen aussetzte. Andererseits, so sagte sich Chaemhat, wenn man Beweise gegen ihn hätte, wäre er wohl gleich in Fesseln gelegt worden.