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Ein Roman gegen jede Mutlosigkeit! In England zu Beginn des 19. Jahrhunderts kannten viele Menschen Krieg nur aus der Zeitung, es sei denn, man war Soldat: Der junge Major, Edward Langley, Sohn des Duke of Lancashire, erlebt die Rückkehr in die Heimat als seine schwerste Lebensprüfung. Nach Napoleons endgültiger Vertreibung bindet ein Ehevertrag ihn an Isabell, die eigenwillige Tochter des Earl of Bute, die jegliches Kriegstreiben ablehnt. Starke Männer? Nur Maulhelden - da ist sich Isabell sicher - ziehen in den Krieg und brechen leichtfertig Gottes Gebot: Du sollst nicht töten! Doch das Böse lauert nicht nur im Krieg! Die Ereignisse ihres Lebens verwehren Edward und Isabell den Rückgriff auf Konventionen und fordern ihnen Entscheidungen ab, um den Frieden im Herzen zu finden, der das bloße Überleben erst lebenswert macht. Denn nach vielen Jahren des Krieges und des Wandels in Europa, schien nichts mehr als gegeben ... Diese eindringliche Erzählung lässt uns die Fragen unserer Zeit in einem historischen Rahmen erleben. In drei Romanen, drei Soldaten und ihre Familien. Eine Geschichte von Sehnsucht und der Suche nach Frieden. Dies ist der erste.
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Seitenzahl: 862
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Meiner Familie
Danke Sascha
für alle,
deren wahre Geschichte
Teil dieses Romans ist
Danke Ruthann
Prolog
1. Kinder vom Lande
2. Helden
3. Freundschaft und Bruderschaft
4. Aufmerksamkeit und Liebe
5. Die erste Saison
6. Kadettenschule
7. Abschiede
8. Hausgäste
9. Der Widerspenstigen Werbung
10. Gefallene Engel
11. Romeo oder die Lust zu lieben
12. Maskeraden
13. Höllenqualen
14. Warum
15. Atem der Hölle
16. Erzengel Gabriel
17. Fallensteller
18. Heimatsuche
19. Von unüberwindlicher Abneigung
20. Der nichts dem Zufall überlässt
21. Heimkehr
22. Feuerprobe
23. Eigene Maßstäbe
24. Geborgenheit
25. Gefangene Seelen
26. Duelle
27. Sich lieben und ehren
28. Fegefeuer
29. Der höchste Preis
Personen
Über den Krieg der Menschen und den Frieden im Herzen...
Festland, 1809
“Im Krieg, Männer, zählt allein, schnell die richtige Entscheidung zu treffen! Selten gibt es einen zweiten Versuch! Ihr braucht die Klarheit jedes Gedankens. Vergesst wer ihr jenseits des Schlachtfelds seid, hier allein zählt euer Handeln. Jeder Atemzug, volle Konzentration, ein Ziel: den Feind entschlossen und hart treffen, die Oberhand gewinnen, überleben … dann werden wir wieder zu den Menschen, die wir sein wollen!”
Der junge Major Edward Langley sah aus dem Augenwinkel wie sein Adjutant Billingham kurz zustimmend die Augenlider gesenkt hatte. Es war Zeit, im Tal vor ihnen liefen die ersten Verbände der Infanterie aufeinander zu. Die Unruhe seiner Männer war einer konzentrierten Anspannung gewichen, er gab das Zeichen, dass sie schweigend aufschließen. Von seinem Pferd beobachtete er das Kampfgeschehen einen weiteren Moment.
“Miller, mit sechs Mann aufklären“, kommandierte Edward mit fester Stimme und wies mit dem linken Arm hinüber zu einer Baumgruppe, die ihnen die Sicht nahm. Wieder starrte er kurz ins Tal, dann zu der Grünung, in der er Bewegung glaubte wahrzunehmen. ‘Bedrohung‘, durchzuckte ihn der Gedanke. Das Getöse der Schlacht im Tal trübte bereits die Sinne seines Pferdes.
“Mir nach”, brüllte er und mit schussbereiten Gewehren wandten sich seine Männer im Laufschritt dem Gehölz zu. In ihrem Zug riss eine Kanonenkugel ein mächtiges Loch, Erde, Ausrüstung und Teile von Kameraden stoben durch die Luft. Schüsse aus der Flanke trafen ihre Aufstellung und unter Kampfgeschrei rannten sie dem Feind entgegen.
Für Edward galt es, den Anführer der feindlichen Soldaten zu stellen. Billingham an seiner Seite ritt mit gezogenen Pistolen. Fiel der Befehlsgeber, rettete das vielen das Leben. Sein Pferd setzte über Dickicht und schnell gewöhnten sich ihre Augen an das Dämmerlicht, in dem die feindlichen Uniformen deutlich ihre Ziele markierten.
Er müsste noch tiefer in das Wäldchen vordringen. Ein dumpfer Schlag gegen die Brust warf ihn zurück. Er sah die Zügel aus seinen Fingern gleiten und spürte, wie er nach vorn kippte, kopfüber gegen die Mähne seines Pferdes. Die schwarze Mähne seines Pferdes, durch das er so gerne seine Hand hatte streifen lassen, war für den weiteren Ritt sein einziger Halt. Seine linke Hand wurde immer schwächer, während der rechte Arm nutzlos hinunterhing. Er konnte nicht mehr atmen und alles wurde schwärzer um ihn.
Er spürte wie sein Pferd nicht länger dem Druck seiner Schenkel gehorchte, es wollte ihn retten. An diesem Tag, an dem er niemanden mehr retten würde, an dem es kein Wiedersehen mit seinen Männern geben würde, kein erschöpftes Lächeln mehr unter den Überlebenden. Seine rechte Hand, die er nicht mehr spürte, würde nie mehr anerkennend auf der Schulter seiner Getreuen ruhen. Der Trab seines Pferdes zwang ihn zu atmen.
‘Er würde nicht siegen’, blitzte durch seine schwächer werdenden Gedanken. Er zwang sich mit letzter Kraft, die Stiefel aus dem Reitgeschirr zu lösen. In einem Bachbett kam sein schwerer Körper krachend zu liegen, das Wasser, das ihn umlief, weckte ein letztes Mal seine Lebensgeister. Krieg war nur etwas für Sieger. Jeder Einsatz hatte ihn aufmerksamer und kühner gemacht. Nur der Sieg rechtfertigte Verluste, die niemand verstand, der nicht dabei gewesen war. Um die Unschuldigen zu schützen, gaben die Tapferen ihr Leben hin. So sicher wie die Erde um die Sonne kreist. Diesmal würde er nicht siegen.
Schwarze Stiefel knirschten neben ihm im Kiesbett. Es war vorbei, keine Kraft mehr fühlend dankte Edward der Dunkelheit, die ihn vollends umfing.
Kennhill, Wiltshire, England 1810
Ein schöner Sommertag neigte sich seinem Ende zu. Die warme Sonne hatte die Terrasse aufgeheizt, auf der sich nun zwei große Hunde wohlig räkelten. Gewohnt unauffällig und leise hatten die Gärtner des Anwesens Kennhill angefangen, die in massigen Tontöpfen stehenden Blumenarrangements und Stechpalmen zu wässern, noch bevor die Dämmerung hereinbrach. Das Leben hier in Wiltshire war bestimmt von seiner reichhaltigen Natur, deren Wahrnehmung und Pflege. Nach einem Tag an der frischen Luft war es eine lieb gewonnene Angewohnheit für Lady Evelyn Stuart, Countess of Bute, in den späten Nachmittagsstunden, die ihre beiden Kinder Peter und Isabell meist für einen Ausritt zu Freunden oder anderen Abenteuern nutzten, sich in ihrem Privatsalon zu sammeln. Sie wollte bereit sein, wenn die Kinder, die eigentlich keine mehr waren, ungestüm über sie herfallen würden, um die Mutter an ihren Gedankenwelten teilhaben zu lassen. Sie liebte diese Kinder über alles und genoss das unbekümmerte Leben, das ihr Mann Lawrence ihnen hier auf dem Lande ermöglichte.
Ihr Blick fiel auf den Brief ihrer geschätzten Freundin Lady Hendrika, die als Duchess of Osford ein engagiertes, gesellschaftliches Leben führte. Bereits die ersten Zeilen, die sie im scheidenden Sonnenlicht überflogen hatte, bestätigten Lady Evelyn in dem sicheren Gefühl, dass das Glück, das sie hier auf Kennhill empfand, unweigerlich mit der Zurückgezogenheit, die sie pflegte, zusammenhing. Denn in der Welt, das wusste sie sehr wohl, sah es anders aus! Nach vielen Jahren des Krieges und der Vertreibung in Europa, schien nichts mehr als natürlich gegeben und die Frage, wie die eigenen Kinder sich einmal in der sich wandelnden Welt zurechtfinden sollen, verdrängte sie am liebsten.
... Sicher ist es nur der Verlust meines geliebten Gatten Cecil im letzten Jahr, der mich so empfindlich werden lässt. Doch manchmal, liebste Evelyn, weiß ich wirklich nicht, wie ich meinen drei Töchtern noch Zuversicht für die Zukunft vermitteln soll. Seit Napoleon die Kontinentalsperre verhängt hat, scheint der Sog der Schlachtfelder auf unsere jungen Männer nicht abzureißen.
Anastasia, meine Älteste, ist siebzehn und beseelt vom Wunsch, bald zu heiraten. Doch wie und mit wem? Angesichts der Kriegslage in Portugal und des beklagenswerten Gesundheitszustands unseres Königshauses werde ich sie nicht debütieren lassen, auch wenn es ihr größter Wunsch ist. Ich begründe es ihr gegenüber mehr mit der Trauer um ihren Vater, denn wenn wir nach der Weltlage gingen, könnten wir bald kein Mädchen Englands mehr vermählen. Während unsere tapfersten Männer ihr Leben für unsere Zukunft geben, droht uns das Regency Bill mit einem Verschwender und Nichtsnutz als Regent. Ich frage mich, was wir überhaupt noch von der Zukunft erwarten dürfen.
Nur durch den Einfluss meines Schwagers James im Außenministerium konnte unser geliebter Neffe Edward heimgeholt werden. Vier Monate dauerte es, bis er, schwer verwundet, liegend nach Richmond gebracht werden konnte. Sein Land hätte ihn in einem dreckigen Lazarett verenden lassen, während unsere Schiffe Handelsexpeditionen nach Brasilien eskortieren. Schon nach Vimiero vor drei Jahren konnte Edward sich nicht daheim erholen, denn damals brachte das schändliche Abkommen von Cintra die französische Armee samt Waffen und Beute wohlbehalten zurück. Welch eine Schmach für uns Angehörige. Verzeih mir die Gotteslästerung, aber ich hoffte, die Unterzeichner würden nie wieder heimkehren.
Noch immer habe ich wenig Hoffnung, Edward ins Leben zurückzuführen. Der Geruch von Tod und Verwesung liegt über ihm. Ist er wach, ist er in sich gekehrt, gezeichnet vom Grauen des Gemetzels. Sein einziger Gedanke ist, dass er General Wellesley nicht mehr dienen kann. Den Tod fürchtet er nicht, und er ist doch erst vierundzwanzig …
Wie ungewohnt verzweifelt ihre sonst immer so couragierte, weltgewandte Freundin klang. Sicher lag es an dem beängstigenden Zustand Edwards, denn die Sorge um das Wohl ihres Neffens hätte der Duchess nicht mehr am Herzen liegen können, wäre er ihr Erstgeborener. Die Schicksalsschläge des Lebens schienen Lady Hendrika normalerweise kaum zu erschüttern. Lady Evelyn konnte sich noch erinnern, dass die Duchess diese des Öfteren als ‘die Farben des gesamten Gemäldes’ beschrieben hatte. Sie schätzte die ältere Freundin sehr, die leider schon so früh Witwe geworden war und ihr Leben mit den drei heranwachsenden Töchtern allein souverän zu meistern wusste. Es wäre für Lady Evelyn selbst unvorstellbar, ihren Mann zu verlieren und mit ihm jede Gewissheit, wie ihr Leben ohne ihn weitergehen würde. Tatsächlich verfügte Lady Hendrika über einen der seltenen Adelstitel, die über die weibliche Linie der Familie weitergegeben wurden und musste daher nicht den Rückschritt auf den Witwenteil fürchten, wie es jeder anderen Frau eines Aristokraten nach dem Tod des Ehemannes bevorstand. Die Duchess konnte ihre angesehene Stellung in der Gesellschaft wahren und fortentwickeln, bis sie selbst einmal ihren Titel nach ihrem Tod an ihre älteste Tochter weitergeben würde.
Die Briefe Lady Hendrikas, die das Jahr in London, Bath oder ihrer nur wenig von London entfernten Residenz Berryhill verbrachte, waren für Lady Evelyn ihr sorgsam gepflegtes Fenster zur großartigen Welt der Persönlichkeiten und Meinungen. Sie selbst mied jede politische Kontroverse und auch die heftig geführte Debatte um die Katholikenemanzipation überblätterte sie schnell, wenn sie einmal die Zeitungen ihres Mannes Lawrence zur Hand nahm.
Es blieb nicht aus, dass der fortschreitende Unfriede in der Welt auch sie bedrückte, doch was konnte sie als Frau dagegen schon verrichten? Lady Evelyn fürchtete Politik und Religion als die Saat, die die Seele nie mehr zur Ruhe kommen ließ. Sie selbst musste früh erfahren, dass das Leben von Frauen naturgemäß schon schwer genug war, auch wenn Ehemänner ihrer Kreise immer verständiger wurden und ihre Frauen zu schonen suchten.
Nicht nur ihre engste Freundin Tessy, die Edward geboren hatte, verstarb im Kindbett, als der kleine Sohn gerade einmal vier Jahre alt gewesen war. Als Mädchen im Haus ihres Vaters hatte Lady Evelyn selbst jahrelang eine Verwandte pflegen müssen, die selten wach und stets verwirrt, sich niemals mehr von einem schweren Kindbettfieber erholt hatte. Mit dieser Erinnerung in ihrem Herzen war sie dankbar, dass Tessy in dieser wohl schwersten Nacht ihres Lebens Erlösung gefunden hatte und zu ihrem Schöpfer zurückkehren durfte, statt ewiges Leiden zu erdulden.
Nie würde sie den Anblick des kleinen Edwards vergessen, als er bei der Beerdigung seiner Mutter neben der riesigen Gestalt seines Vaters, Frederick Langeley, dem mächtigen Duke of Lancashire, so gar nicht an diesen Ort des Abschieds zu passen schien. Er war so schön, zwar bleich mit fahlem Blick und dennoch so unverkennbar Tessys Ebenbild. Er war ihr Vermächtnis, ihr Andenken, ihre größte Liebe und Hoffnung, wie sie in seinem Beisein gerne gescherzt hatte. Als ihre schwesterngleiche Freundin starb, hatte Lady Evelyn trotz ihrer Ehe mit Lawrence selbst noch keine Kinder und so fühlte sie sich, der geliebten Vertrauten entrissen, völlig verloren in dieser Welt. Als sie sich kaum vom Anblick des Sarges lösen konnte, der mit wohl bemessenen Schritten in die Familiengruft hinab getragen wurde, war Lady Hendrika zu der jüngeren Frau getreten. Als Tessys Schwägerin hatte sie Evelyn die Freundschaft angeboten, die sie seither sorgsam pflegten. Es tat ihr immer gut, von dem inzwischen erwachsenen Sohn Tessys zu lesen, auch wenn es seit Edwards Eintritt ins Militär zumeist traurige Berichte aus Europa waren.
Die Familie Lady Hendrikas war reich und konnte viel geben. Sie alle waren sehr großzügige und pflichtbewusste Menschen. Dennoch war es erstaunlich gewesen, dass der Duke seinen ältesten Sohn mit gerade neunzehn Jahren zum Militär gehen ließ, ihm ein Offizierspatent kaufte, um ihn nur wenig später mit dem damals aus Indien bekannten Kommandeur Wellesley und dreizehntausend Mann zur Invasion Portugals zu entlassen. Inzwischen war Lady Hendrikas geliebter Neffe trotz seiner jungen Jahre schon ein erfahrener Kriegsheld, der der Familie neuen Ruhm einbrachte. Doch war der Preis nicht viel zu hoch? Warum konnte England nicht in Ruhe leben?
Ein tiefes Seufzen entrang sich ihrer Kehle. Wieder einmal wurde Lady Evelyn bewusst, wie glücklich sie es in ihrem eigenen Leben angetroffen hatte. Als junges Mädchen hatte sie keine romantischen Ideen gepflegt. Ihre viel ältere Schwester Elizabeth hatte aus Liebe geheiratet, die ihr aber kein Glück gebracht hatte. Evelyn war noch ein Mädchen gewesen, das die schwesterliche Flucht aus dem Elternhaus nicht verstanden hatte. Bis heute war sie dankbar für ihr eigenes Schicksal, das sie an den warmherzigen, großzügigen Earl of Bute gebunden hatte. Sie lebten in angenehmer Entfernung zur Metropole London auf einem kleinen Landsitz in Wiltshire, umgeben von Natur und freundlichen Nachbarn. Ihr älterer Mann bevorzugte dieses zurückgezogene Leben. Es war Lady Evelyns tiefstes Bedürfnis, ihrem Gemahl die Freundin und Gefährtin zu sein, die ein Mann sich im Leben wünschen konnte. Niemals verspürte sie das Drängen, sich in mehr gleichaltriger Gesellschaft zu bewegen. Stattdessen war sie mit den wenigen, aber wertvollen Freundschaften, die sie pflegten, zufrieden. Ihre Kinder wuchsen in der engen Gemeinschaft mit den Nachbarskindern des Earl of Lansdown auf, der nur eine gute Meile entfernt ein reiches und wohl bekanntes Gut unterhielt.
Der Wind trug das Gelächter ihrer ausgelassenen Kinder durch die halb geöffnete Terrassentüre in den kleinen Salon, in dem sie ihre Nachmittagsstunden zu verbringen pflegte. Sie ließ den Brief von Lady Hendrika sinken und erhob sich, um Isabell und Peter herbeieilen zu sehen.
“Ich bin schneller, ich bin schneller!”, rief die lebhafte Isabell aufgeregt und sprang dabei mit gerafften Röcken über die gepflegten Blumenrabatte. Ihr zwei Jahre älterer Bruder Peter pfiff im Laufen auf zwei Fingern. Alarmiert erhoben sich seine zwei Hunde von ihren sonnigen Flecken auf der Terrasse und stoben den um die Wette rennenden Jugendlichen entgegen.
“Nein, nein, Arnold und Bernold”, keuchte Isabell und stürzte rücklings mitsamt den Hunden die ersten Treppenstufen zur Terrasse wieder hinunter, während Peter zuerst die Terrasse erreichte und triumphierend in die Höhe sprang. Lady Evelyn konnte nicht anders, als über den Anblick herzhaft zu lachen.
“Erster!”, rief Peter gegen das Gebell der Hunde. “Ich bin Erster. Ich hab’s Dir gezeigt!”
“Ha, ich war die Erste mit den Pferden und ich wäre auch die Erste auf der Terrasse gewesen!”, erwiderte Isabell außer Atem und kraulte den Hunden vergnügt den Bauch.
“Niemals!”, rief Peter neckend und stemmte sich zufrieden die Arme in die Seiten.
“Dafür lieben mich deine Hunde jetzt mehr als dich”, zankte Isabell und kämpfte sich zwischen den riesigen Tieren vom Boden hoch. Die Countess trat zu ihrem Sohn auf die Terrasse hinaus und legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm.
Peter pfiff nur leise durch die Zähne und seine Hunde mit den einst von Isabell ersonnenen seltsamen Namen hörten sofort auf, die Schwester abzulecken. Die gut dressierten Wachhunde trotteten widerwillig zu ihrem Herrchen zurück und legten sich nach dieser kleinen Abwechselung wieder genüsslich auf die warmen Terrassensteine.
“Dein Benehmen ist wenig damenhaft, Isabell Stuart”, rief Lady Evelyn mit strengem Tonfall zu ihrer derangierten Tochter. “Du findest sicher auch andere Wege, deinem Bruder deine Freude über seine Heimkehr auszudrücken! Ohne ihn beim Reiten zu schlagen! Oder ihm seine Hunde abspenstig zu machen!”
Peter hatte die indirekte Schelte in seine Richtung wohl verstanden und sprang die Treppen hinab, um Isabell hinaufzuhelfen. Isabell strich sich die Röcke glatt und setzte ein unschuldiges Lächeln auf. Sie war einfach nur glücklich, wenn ihr Bruder für ein Wochenende von der Schule in Eton nach Hause zu Besuch kam.
“Kommt bitte herein, Kinder”, sagte Lady Evelyn freundlich, “ich möchte euch aus dem Brief von Lady Hendrika vorlesen.”
Im Umwenden sah sie noch, wie Isabell ihren Bruder in die Seite stieß und er sie daraufhin am Pferdeschwanz festhielt. Seufzend ignorierte sie beides. Isabell war erst dreizehn und sie vermisste ihren älteren Bruder Peter doch mehr, als Lady Evelyn dies erwartet hätte. Lady Evelyn hatte nur diese zwei Kinder und als Peter vor wenigen Jahren damit anfing, zur See fahren zu wollen, da er unbedingt Indien sehen wollte, bemerkte sie zum ersten Mal, wie sehr sie die Gesellschaft ihrer Kinder für sich selbst vereinnahmt hatte. Der Gedanke, ihren halbwüchsigen Sohn bei der Marine anheuern zu lassen, hatte sie bis ins Mark erschüttert und so konnte Lady Evelyn ihrem Mann nicht genug danken, dass er Peter dies unnachgiebig zu verbieten gewusst hatte. Sicher war es richtig, Peter mit Andrew Berks, dem ältesten Sohn der Nachbarn, auf die gute Schule gehen zu lassen, doch seither war das Leben für seine jüngere Schwester Isabell auf dem elterlichen Besitz Kennhill doch recht langweilig geworden. Peter, der sich bemühte, seiner Mutter sein gutes Benehmen vorzuführen, geleitete Isabell, wie es sich für einen Gentleman gehörte, in den Salon und setzte sich zu ihr auf das samtbezogene Stilsofa, ohne deren Röcke dabei zu berühren. Lady Evelyn verbot sich jedes Schmunzeln auf so viel Etikette und begann, den unruhigen Geistern aus dem Brief in ihrer Hand vorzulesen.
Einige Passagen über die Kriegslage in Europa und die Schwierigkeiten Lady Hendrikas, ihren verletzten Neffen Edward aus Spanien nach Hause bringen zu lassen, überging sie dabei tunlichst.
… aus den oben dargelegten Gründen plane ich dieses große Fest auf unserer Residenz Berryhill zum Ende des Trauerjahres. Ich hoffe auch, Anastasia damit ein wenig auszusöhnen. Es wäre mir eine besondere Freude, Dich, liebste Freundin, mit den Kindern bereits zu Beginn von Peters Ferien zu uns einzuladen. Da Edward nicht in der Lage sein wird, seine Auszeichnung in London entgegenzunehmen, hat sein Oberkommandant Wesley, der nun neu benannte Baron Douro of Wellesley selbst zugesagt, Edward die Ritterehrung der Krone zu überreichen. Die Tanzdarbietung der Mädchen ist eine kleine Abwechslung, die der Situation nicht unangemessen wäre, uns aber etwas Erheiterung angesichts dieser düsteren Tage bietet ...
“Edward der ‘Held’ wird zum Ritter erhoben?”, rief Peter enthusiastisch.
“Edward der Meuchelmörder!”, murmelte Isabell mürrisch. Mit einem mitleidigen Blick auf seine geknickte Schwester rückte sich Peter auf dem Sofa zurecht und wendete sich, jede höfliche Zurückhaltung vergessend, eindringlich an seine Mutter.
“Natürlich will ich zu gerne nach Richmond und dort Edwards Ehrenauszeichnung erleben, liebste Mutter”, beteuerte Peter ehrlich, “aber es kann doch nicht dein Ernst sein, dass Isabell mit diesen dummen Gänsen tanzen soll?” “Nun, Peter, wie du dir vielleicht vorstellen kannst”, erwiderte Lady Evelyn streng, “hält Lady Hendrika ihre Töchter keineswegs für ‘dumme Gänse’!”
“Natürlich nicht”, sagte Peter verlegen. “Entschuldige bitte, Mutter.”
“Ich finde, es ist eine große Ehre für Isabell, dass Lady Hendrika überhaupt erwägt, dass meine Tochter trotz ihres ungestümen Temperamentes eine fabelhafte Ergänzung für die Ballett-Choreographie sei”, erklärte Lady Evelyn mit einem wohlwollenden Lächeln. “Hinsichtlich unserer langjährigen Freundschaft ist es mir eine Freude der Duchess bei der Ausrichtung dieses besonderen Festes behilflich zu sein. Ich erwarte von uns allen, dass wir ihr entgegengebrachtes Vertrauen mit den größten Anstrengungen unserseits zu beantworten wissen!”
Schweigen breitete sich in dem kleinen Salon der Countess aus, während die Abendsonne den eigentlich blauen Salon leicht grünlich färbte.
“Nicht wahr, meine Tochter?”, fragte Lady Evelyn leicht ungeduldig.
“Ich soll für einen Haufen von Mördern tanzen, Mama?”, fragte Isabell gedehnt. Sie konnte sich noch lebhaft an ihre erste Begegnung mit einem Uniformierten erinnern.
Es war auf der Beerdigung Isabells Großvaters vor drei Jahren gewesen. Lady Evelyn hatte damals freundlicherweise auch die Nachbarkinder Andrew und Betty mit nach London genommen, um nach der Trauerfeierlichkeit gemeinsam die Attraktionen der Stadt für einige Tage genießen zu können. Man hatte auf Lady Hendrikas Einladung hin in ihrer großen Stadtresidenz Osford House gewohnt, da der Earl of Bute selbst kein Haus in der Stadt unterhielt. Lady Hendrika hatte selbst drei Töchter, die jedoch keinen Gefallen an den stürmischen Kindern vom Lande finden konnten.
Als die steife, katholische Trauerfeier für den Großvater, den die Kinder kaum gekannt hatten, zu Ende war, stoben sie ungeduldig in die herrliche Sonne hinaus, die diesen herbstlichen Tag erwärmt hatte. Es dauerte nicht lange und es kam zu einem neuen Streit zwischen der zwölfjährigen, korpulenten Betty und Lady Hendrikas ältester, damals vierzehnjährigen Tochter Anastasia, deren jüngere Schwestern Franziska und Josephine mit einfielen, das Mädchen vom Lande wegen ihrer Ungeschicktheit zu verhöhnen.
“Dafür können wir aber länger auf zwei Händen laufen”, mischte sich Isabell in die Auseinandersetzung kampflustig ein und schubste die zarte Josephine beiseite.
Isabell war sich mit ihren zehn Jahren sicher, man müsste diesen besserwisserischen Mädchen nur einmal ihre Grenzen zeigen.
Die umherstehenden Gäste der Beerdigung staunten nicht schlecht, als Isabell und Betty unter den beherzten Anfeuerungen ihrer älteren Brüder auf den Händen über die Wiese neben der Kapelle liefen. Die weißen Strümpfe der Mädchen leuchteten in der Sonne und ihre Röcke fielen ihnen so vor die Gesichter, dass sie kaum sehen konnten, wohin sie liefen.
Auch der junge, verletzte Offizier Edward betrachtete auf seine Krücke gestützt amüsiert die einzigartige Darbietung.
Wehmut erfasste ihn bei der lebensfrohen Natürlichkeit dieser Kinder, die so gar nicht in das Londoner Stadtbild passten. Nach dem frühen Tod seiner Mutter war er selbst wie ein Einzelkind nur in der Gesellschaft seines Hauslehrers aufgewachsen, da seine Geschwister von der zweiten Frau seines Vaters wesentlich jünger waren. Erst im Internat hatte er Freunde gefunden und so imponierte ihm der zur Schau gestellte Zusammenhalt dieser Kinder ungemein. Er hatte in seinen Ferien stets viel Zeit im Hause seiner Tante Hendrika verbracht und verstand die Abneigung der fremden Kinder gegen die hohen Erwartungen seiner jungen, nervtötenden Cousinen.
Betty kam gerade ins Wanken und verlor ihr Gleichgewicht, als der dickliche Geistliche, der zuvor die Trauerrede gehalten hatte, angelaufen kam und dem Treiben ein jähes Ende bereitete. Er nahm einen Ast von der Wiese und riss Isabell von den Händen, um ihr auf der Stelle den Stock überzuziehen, während Betty erschrocken aufkreischte.
“Warte nur”, keuchte der Diakon Samuel Preston zornig, “du kommst als nächste dran!”
So schnell Edward mit seiner Krücke vorankam, eilte er auf ihn zu und griff nach dem Stock, als Preston zum nächsten Schlag ausholte.
“Die Kinder unterstehen wohl kaum Ihrer Obhut, dass Sie sie zu züchtigen hätten, Sir!”, wies Edward den überraschten Mann scharf an, ohne den Stock freizugeben. Preston war sprachlos und sein Blick erfasste die aufmerksam gewordenen Umstehenden. Es geziemte sich in seiner Position kaum, einem so genannten ‘Helden’, der für das Vaterland gekämpft hatte, öffentlich zu widersprechen und so erhob er sich ohne Isabell loszulassen.
“Sie standen etwas im Hintergrund”, erwiderte Preston mürrisch. “Ich hatte nicht bemerkt, dass Sie diese Brut des Teufels beaufsichtigen.” Kalter Zorn stieg in Edward auf, als er Preston seine Finger um Isabells Handgelenk pressen sah, dass die Knöchel weiß hervortraten.
“Lassen Sie das Mädchen einfach los”, sagte Edward ruhig in die eingetretene Stille hinein. Ärgerlich beschwerte sich Preston über die gottlose Unzüchtigkeit, mit der die Mädchen ihre Unterwäsche zur Schau gestellt hätten. Mit einem letzten bedeutungsvollen Blick auf Prestons Malteserkreuz am Kragen beugte sich Edward zu Isabell und schaute sie eindringlich an.
“Hat er dir wehgetan?”, verlangte der fremde Offizier zu wissen. Noch nie hatte Isabell ein so schönes, ebenmäßiges Männergesicht gesehen. Mit seinen dunklen Haaren und seinen klaren blauen Augen, die nun ernst auf sie gerichtet waren, war sich Isabell sicher, den Erzengel Gabriel vor sich zu haben, von dem der Pfarrer am Sonntag gelegentlich sprach.
“Hat er dir wehgetan?”, fragte Edward etwas sanfter, denn er bemerkte die weit aufgerissenen Augen des kleinen Mädchens.
“Nee, der doch nicht”, sagte Isabell trotzig und rieb sich schnell die Tränen von den Wangen, “das Grass piekst halt immer so in die Finger und dann tränen von ganz alleine meine Augen etwas. Aber da haben die da drüben ja keine Ahnung von!”
“Ach so”, nickte Edward verständig mit einem Seitenblick auf seine entsetzten Cousinen.
“Lässt die Gören einfach ihre Schöße zum Himmel recken”, eiferte der bloßgestellte Diakon immer noch in Hörweite.
“Wie heißt du denn?”, fragte Edward nun die verängstigte Betty, die sich nur zu gerne in die schützende Aura des freundlichen Soldaten begab.
“Ich heiße Betty, aber Isi kann besser auf den Händen laufen als ich. Sie kann auch besser reiten und auf Bäume klettern als ihr da!”, führte Betty mit dem Stolz der Älteren aus und streckte den Cousinen die Zunge heraus. Isabell kicherte.
Plötzlich warfen die Jungen Edward um und zielten mit Stöcken auf ihn.
“Peng, du bist tot”, rief Peter aufgeregt.
‘Nur Kinder!’, schoss es Edward im Fallen durch den Kopf, während die Sonne ihn blendete.
“Schlechte Deckung, Soldat!”, rief Andrew triumphierend.
Isabell hatte bestürzt gesehen, wie Edward sich erschreckt hatte, und bemühte sich ihm aufzuhelfen. Der große uniformierte Mann lag am Boden und war blass vor Schmerzen. Mühsam stützte er sich auf die Ellbogen, als seine Cousinen heraneilten.
“Was fällt Euch ein”, rief Anastasia aufgeregt und schubste Andrew mit aller Kraft.
“Unser Cousin ist ein Held!”, rief Franziska fassungslos.
“Den dürft ihr nicht totschießen”, rief die kleine Josephine außer Atem.
Peter ließ sich zu Edward ins Gras nieder.
“Warum bist du denn beim Militär”, fragte der Zwölfjährige mit sachlichem Tonfall, “wenn du gar nicht laufen kannst?” Mit langen Schritten kamen Edwards Adjutant und Bursche angerannt, doch Edward bedeutete ihnen zu warten. “Als ich zum Militär ging”, erklärte Edward ernst, “konnte ich mindestens so gut rennen wie ihr!”
“Und dann hast du einen Unfall gehabt?”, fragte Isabell besorgt.
“Man hat auf ihn geschossen”, verkündete Anastasia eifrig.
“Aber Edwards Regiment hat alle totgemacht!”, sagte Franziska mit Nachdruck. Entsetzt ließ Isabell seinen Arm los.
“Isi versteht nichts vom Krieg”, meinte Andrew trocken.
Edward ließ sich von seinen Leuten aufhelfen.
“Und jetzt kannst du nie wieder auf Bäume klettern?”, versuchte Isabell das Ausmaß Edwards Unglück zu verstehen.
“Das heilt schon wieder”, zwinkerte er ihr zu.
Peter bemerkte als Erster das Herannahen von Lady Hendrika mit seiner Mutter. Wenige Schritte hinter ihnen folgte Elizabeth Preston, Lady Evelyns Schwester.
“Hoffentlich werden Sie recht bald wieder gesund, Herr Offizier”, sagte Peter schnell.
“Offizier? Ich denke, er ist Soldat”, meinte Isabell verwirrt und schaute ratlos zwischen Edward und ihrem Bruder hin und her.
“Die hat keine Ahnung”, versicherte Andrew nochmals.
“Diesen Kindern ist nichts heilig”, murrte Elizabeth.
“Entschuldigen Sie bitte, Edward, die Kinder haben es nicht böse gemeint. Ich versuche, sie so lange wie möglich von all dem fernzuhalten!” Liebevoll strich Lady Evelyn der kleinen Isabell über den Kopf und Edward verneigte sich höflich. “Das kann ich Ihnen nicht verdenken, Mylady”, sagte er liebenswürdig.
“Wie soll ich dich zurück nach Spanien lassen, wenn du noch nicht mal den paar Kindern gewachsen bist”, schüttelte die Duchess lachend den Kopf.
“Kommt bitte, lasst uns zum Leichenschmaus gehen”, schlug Lady Evelyn vor, der die allgemeine Aufmerksamkeit viel unangenehmer war, als sie sich anmerken lassen wollte. Entschlossen hakte sie sich bei Lady Hendrika und Elizabeth unter, die steif stehen geblieben war.
“Ach, erinnerst du dich doch noch”, fragte Elizabeth spitz, “dass wir hier alle auf einer Beerdigung sind?”
“Ich bitte dich, Elizabeth”, lächelte Lady Evelyn nachsichtig, “niemand kann um unseren Vater trauern, höchstens vielleicht dein Mann Samuel. Kommt, lasst uns gehen!”
Damals hatte Isabell überhaupt noch nie von Krieg, Militär und Soldaten gehört gehabt. Inzwischen verstand sie mehr davon und fand die Vorstellung in ein fremdes Land zu reisen, um andere junge Männer zu töten, egal aus welchem Grunde, einfach nur abstoßend und barbarisch. Am meisten ärgerte sie sich darüber, dass sie für eine unbestimmte Zeit in diesem Edward ihren Retter gesehen hatte. Ein Held in schimmernder Rüstung, der herangeeilt war, um sie aus dem Ungemach zu befreien, wie man es aus Kindermärchen kannte. Wie leicht sie sich hatte blenden lassen und wie eingebildet sich diese Männer gaben, die in ihren Uniformen glaubten, die Gesetze der Vorsehung so einfach mit Füßen treten zu dürfen. ‘Du sollst nicht töten’ war eines der zehn Gebote und zumindest diese wenigen Regeln sollte ein Mensch von Anstand doch berücksichtigen können!
“Isabell, du forderst meine Geduld heraus”, sagte Lady Evelyn energisch und sah ihre Tochter streng an.
“Es stimmt, Mama”, erwiderte Isabell mit beleidigtem Gesichtsausdruck, “Anastasia und ihre Schwestern lassen keine Gelegenheit aus, sich über mich lustig zu machen!”
“Dann wirst du ihnen zeigen, dass die Tochter des Earl of Bute sich vor nichts zu fürchten braucht”, meinte Lady Evelyn vielsagend.
“Du meinst, ich traue mich nicht?”, fragte Isabell empört und saß mit einem Schlag kerzengerade. Lady Evelyn lächelte sanft. Sie wusste, dass sie bei Isabell den richtigen Nerv getroffen hatte. “Mama, wenn es dir wichtig ist, ergänze ich die Choreographie”, sagte Isabell leise und ohne Begeisterung, “aber nur dir zuliebe!”
“Das reicht mir schon”, lächelte Lady Evelyn zufrieden, “morgen früh schreibe ich Lady Hendrika, dass wir uns alle sehr freuen!” Die Hunde setzten mit einem Mal bellend durch den Lesesalon und bevor Peter sie zurückhalten konnte, war das Unglück aus der Halle zu hören.
“Verflucht, ihr Ausgeburten, ahha!”
“Aus, aus!”, rief der Butler entsetzt.
Die Geräusche ließen Böses ahnen, doch als Lady Evelyn und die aufgeschreckten Kinder die Halle erreichten, lag Lawrence Stuart, der Earl of Bute, bereits sehr gewöhnlich am Boden.
“Vater, oh Vater, habt Geduld!” Peter eilte um seinen Vater herum und hielt die Hunde von ihm zurück. “Sie wollten dir nur mitteilen, dass ich im Hause bin.”
“Ja”, seufzte der Vater tief, “so etwas Ähnliches habe ich ihrem Bellen entnommen.” Der Butler hatte dem Earl aufgeholfen und Isabell reichte ihrem Vater schnell seinen edel verzierten Gehstock.
“Vater, verzeiht”, bat Peter betroffen, “ich werde sie sofort in die Ställe bringen!”
“Halt ein, mein Junge”, hielt ihn der Earl zurück, “nun lass dich mal anschauen. Ich freue mich, dich zu sehen, Peter!”
“Guten Abend, Lawrence”, sagte Lady Evelyn lächelnd und beeilte sich zu erklären, “ich bin froh, dass du dir nicht ernsthaft wehgetan hast. Ich habe den Kindern schon tausendmal gesagt, dass die Hunde nicht ins Haus dürfen, und dieses Mal konnten wir gar nicht … “
“Schon gut, meine Liebste”, sagte Lawrence traurig lächelnd und strich seiner immer noch schönen Frau über die Wange. Nur zu gerne wäre er seinen Kindern der enthusiastische Vater gewesen, der ihre Leidenschaften mit ihnen teilen könnte, doch so war es eben nicht. Als wesentlich älterer Mann war er einfach nur dankbar, dass er Evelyn diesen Lebensinhalt hatte schenken können.
“Wie geht es deinem Freund?”, fragte Evelyn Ihren Mann einfühlsam, als sie trotz der Freude über die Anwesenheit des Sohnes die traurigen Ränder unter seinen Augen sah. Liebevoll nahm sie seine Hand von ihrer Wange und hielt sie fest.
“Schlecht, meine Liebste”, antwortete Lawrence ohne Zurückhaltung. Er wusste, dass er seiner Gattin nichts vorzumachen brauchte, denn sie konnte ihm für gewöhnlich bis auf den Grund seiner Seele schauen.
“Seine Ärzte sind auch nicht in der Lage, seinen Zustand zu verbessern”, fuhr er leise fort, “es stimmt mich so traurig, dass ich gar nicht weiter davon erzählen möchte.” Lord Lawrence drückte seiner Frau die Hand und löste sich von ihr.
“Nun zu dir, Peter”, mit Stolz bemerkte er, dass Peter jedes Mal, das er ihn sah, ein Stück weit erwachsener schien, “was gibt es zu berichten, von deiner famosen Schule?” Er legte seine Hand auf Peters Schulter. Mit der anderen Hand auf seinen Stock gestützt schritten sie gemeinsam auf den Salon zu.
“Ich bringe dann die Hunde in den Stall”, meinte Isabell seufzend. Bislang war es ihr nicht gelungen, durch irgendetwas die Aufmerksamkeit ihres Vaters auf sich zu lenken. Doch sie neidete ihrem geliebten Bruder Vaters Interesse nicht. Sie wollte sich lieber beeilen und dann schnell zurück in den großen Salon kommen, um ebenso Peters Ausführungen über sein Schulleben in Eton zu folgen.
Richmond upon Thames, Sommer 1810
Die Morgenluft war noch angenehm mild und so hatte sich Lady Hendrika mit einigen Briefen, die sie endlich einmal in Ruhe lesen wollte, in die Tiefe des Lustgartens der Residenz Berryhill zurückgezogen. Die Privatsphäre des gelungenen Gartenlabyrinths, das Cecils Onkel wie alles an dieser bemerkenswerten Residenz erdacht hatte, machte dem Ahnen alle Ehre. Oft hatte sich ihr Mann Cecil für wertvolle Momente der Zweisamkeit mit ihr in diesen Teil des Gartens zurückgezogen.
Leise knirschte das Kiesbett am anderen Ende des Lustgartens. Auch an diesem Morgen hatte Lady Hendrika etwas Abstand von ihrem eigenen Haushalt gesucht, doch schien es ihr nun, als wenn jemand sie hier aufzuspüren gedachte.
Heute war ihr achtundvierzigster Geburtstag, aber ohne ihren geliebten Mann, mit den immer anstrengender werdenden Töchtern und einem mehr tot als lebendigen Hausgast stand ihr einfach nicht der Sinn nach einer Feierlichkeit. Ihr von der Reise völlig entkräfteter, verletzter Neffe Edward wäre beinah doch noch unter ihrem Dach verstorben und einen weiteren Todesfall im Hause hätte sie kaum verkraftet.
Ihr verstorbener Cecil war stets lebenslustig und voller verrückter Ideen gewesen. Häufig beflügelt von dem glücklichen Umstand, als Mann für den Titel und seine Weiterführung nicht verantwortlich zu sein, hatte der Duke of Osford ein unkonventionelles Leben bevorzugt. Heute fragte sich Lady Hendrika, ob sie nicht doch mehr Zeit mit ihm allein hätte verbringen können. Ohne den Mann ihres Herzens im Haus fehlte ihr der Dreh- und Angelpunkt ihres wohl organisierten Lebens.
Sie spürte die Trauer um den Geliebten noch so übermächtig, dass ihr weiteres gesellschaftliches Leben als Witwe noch keine Form für sie angenommen hatte. Die schönen Farben und Blumen, die sie umgaben, verschwammen von den Tränen, die sie nicht länger zurückhalten wollte. Die vielfarbigen Löwenmäulchen und Sommerblumen, die eingerahmt von sorgfältig getrimmten Buchsornamenten in der Rotunde ein Kleeblatt bildeten, konnten sie an diesem Nachmittag nicht erfreuen. Zum nunmehr dritten Mal setzte sie an, den Brief von Lady Evelyn zu Ende zu lesen:
… die Kinder sind schon sehr aufgeregt. Vor allem Isabell wird die Luftveränderung sehr gut tun, da sie mir ohne Peter in Kennhill oft verloren vorkommt. Ich führe sie mehr und mehr in Handarbeit und Kunst ein. Dinge zu der ihr bislang leider immer die Ruhe und Geduld fehlten. Sie gibt sich viel Mühe, mir Freude zu bereiten, doch würde sie für ein gewagtes Wettrennen zu Pferde nach wie vor alles stehen und liegen lassen. Aber ich will die kleinen Fortschritte sehen, die mich bestätigen, aus ihr doch noch eine Lady zu machen.
Lord Lawrence kommt unsere Abwesenheit sehr entgegen, da er somit seinen Freund in Berkshire für längere Zeit besuchen kann, ohne die Familie zu vernachlässigen. Dass er sich entschuldigen lässt zu Eurem großen Feste habt Ihr sicher schon erwartet, liebste Freundin, bewahrt Euch anzunehmen, Edwards Ritterwürde oder allein Eure Einladung wären ihm nicht Grund genug. Er scheut auch nach all den Jahren unserer Ehe noch den öffentlichen Auftritt mit mir und glaubt, er hindere mich daran, mich auf einem Fest meinem Alter entsprechend zu amüsieren.
Ihr wisst, wie ich dazu stehe und seine Entscheidung diesbezüglich macht mich nicht froh. Jede Stunde mit ihm zählt für mich und mir ist heut schon bange, wie ein Leben ohne ihn für mich eines Tages aussehen soll …
Lady Hendrika war dankbar für diese Zeilen, die sie daran erinnerten, dass sie nicht die Einzige war, die ihren Mann liebte und vermisste, wenn er nicht um sie war.
Einige Blütenblätter fielen aus heiterem Himmel auf ihre Röcke hinab. Als sie überrascht den Kopf hob, stand ihr lächelnder Schwager Sir James Langley, Cecils jüngerer Bruder, an ihrer Seite. Die ungebrochene Präsenz seiner großen stattlichen Statur sowie sein sonnengegerbtes Gesicht wollten nicht so recht zu einem pensionierten Colonel Mitte fünfzig passen.
“Einmal Soldat, immer Soldat, was?”, meinte sie ihren Schrecken verbergend etwas ungnädig. “Was für ein Glück, dass wir einen Lustgarten haben, wo man so herrlich das Anschleichen einüben kann.”
“Hat dir das Edward verraten?”, fragte Sir James mit einem vergnügten Lächeln.
“Ja”, erwiderte Lady Hendrika steif, “und zwar nicht im Fieber!” Seine strahlend blauen Augen unter den dichten dunkelgrauen Brauen musterten sie amüsiert, bevor er hinter dem Rücken einen abgebrochenen Fliederzweig hervorholte.
“Herzlichen Glückwunsch, liebste Schwägerin”, erfüllte seine warme angenehme Stimme die Rotunde, “du bist noch genauso schön und wundervoll, wie ich dich all die Jahre in Erinnerung hatte. Cecil hätte gewollt, dass ich nach seinem Tode um dich anhalte! Doch leider kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, du hast erst einmal genug von Soldaten?”
“Cecil hätte nie gewollt, dass du ernsthaft um mich wirbst, du Narr”, lachte Lady Hendrika amüsiert auf und würdigte mit einem nachsichtigen Blick die nun zum Sterben verurteilte Fliederrispe, die für James’ alberne Liebeserklärung herhalten musste, “dazu war er viel zu dick und ungelenkig, um zu ertragen, dass sein athletischer Bruder ihm das Mädchen ausspannt.”
“Ich weiß”, gestand Sir James in gespielter Verzweiflung, “als Vater mir das Offizierspatent kaufte, sagte Cecil zum Abschied: ‘Mindestens Indien und vor der Geburt meines ersten Sohnes brauchst du nicht wieder aufzutauchen!’” Lady Hendrika musste über diese maßlose Übertreibung so herzhaft lachen, dass sich die Tränen der Trauer mit denen der Freude vermischten. Als ihre Erheiterung verebbte, nickten sich die beiden Trauernden verständnisvoll zu.
“Ach James! Ich vermisse ihn so”, sagte Lady Hendrika leise, klopfte auf die Bank neben sich, um ihm mit dieser Geste anzuzeigen, sich zu setzen. Sie schwiegen eine Weile.
“Es ist schön, dass Du noch diese Wochen geblieben bist, James”, sagte Lady Hendrika voller aufrichtiger Zuneigung, “ich weiß ja, wie es dich in deinen Norden zurückzieht. Aber ich wüsste nicht, was ich ohne Dich mit diesem trübsinnigen Patienten angefangen hätte.”
“Aber liebste Hendrika, sei nicht ungerecht”, meinte Sir James stirnrunzelnd, “Edward ist noch jung und nun muss er damit zurechtkommen, nie mehr in die Schlacht zurückkehren zu können.”
“In die Schlacht?”, fragte Lady Hendrika ungläubig den Kopf schüttelnd. “Wie viele Schlachten braucht ein Soldat denn, um seine Tapferkeit und sein Pflichtbewusstsein zu beweisen? Muss er sich denn immer wieder allen bietenden Gefahren aussetzen, bis es seine letzte Schlacht gewesen ist?”
“Ja, Hendrika”, antwortete Sir James bestimmt, “wenn du so fragst: Ja! Edward gehört mit Abstand zu den unerschrockensten Soldaten Englands. Er hat nichts in sich, für das er den Tod fürchten würde …”
“Aber das ist ja krank”, rief Lady Hendrika aufgewühlt.
“Bitte, bitte”, hob Sir James beschwichtigend die Hände. “Guten Herzens gönnt er seinem jüngeren Bruder Titel und Besitz, während er selbst einfach nur England dienen will. Man könnte denken, das sei edel!”
“Das ist bar jeder Einsicht”, schimpfte Lady Hendrika ärgerlich.
“Ich sehe deine Aufregung, liebste Schwägerin”, lenkte Sir James ein und legte seinen Arm um ihre bebenden Schultern, “nach dem Tod von Cecil im letzten Jahr fürchtest Du nun um Edward.”
“Ich fürchte nun, wie du es ausdrückst, seit fünf Jahren und vier Monaten”, brachte Lady Hendrika hervor und rang mit sich, mehr gefasst zu klingen, “seit dem Tod seiner Mutter war Edward wie ein Sohn für mich! Dass Fredericks mangelndes Verständnis seinen ältesten Sohn ins Militär treiben würde, habe ich niemals kommen sehen. Ich war nicht vorbereitet!” Ihr eigener Zorn gegen den Duke of Lancashire regte sich.
“Nun ist er ja erst einmal wieder hier”, versuchte Sir James seine aufgewühlte Schwägerin zu beruhigen, “und die Heilung schreitet voran. Es war wirklich ein schwieriges Unterfangen, für Edward mit seinem Lungendurchschuss einen Transport zu organisieren, der ihn nicht doch noch umbrachte.”
“Er wird dir ewig zu danken wissen, dass du ihn aus dem Siechenzelt geholt hast”, erklärte Lady Hendrika fest und drückte dankbar Sir James Hand, “und ich auch!”
Der Colonel küsste ihr förmlich den Handrücken und lächelte sie versöhnlich an. “Bis zu den Festlichkeiten verabschiede ich mich nun, liebste Hendrika”, erklärte er in seinem einschmeichelnden Tonfall. “Ich habe für Edward einige Briefe aus London mitgebracht. Er ist gefragt! Unter anderem ein Schreiben vom Premierminister. Ich hoffe sehr, dass sie ihm mit der nächsten Auszeichnung nicht seine Verabschiedung quittieren, das könnte er momentan nur schlecht verkraften!”
“Du verlässt mich doch”, rief Lady Hendrika bestürzt und erhob sich von der unbequem gewordenen Steinbank, “aber du versprichst, zu dem Fest rechtzeitig wieder hier zu sein, nicht wahr James?”
“Die Ballettaufführung meiner Nichten werde ich mir nicht entgehen lassen”, erklärte Sir James schalkhaft, “wenn sie nach ihrem Vater geraten sind, kann das sehr erheiternd werden!”
“Ach James!”, lachte Lady Hendrika kopfschüttelnd und hakte sich bei ihrem unverbesserlichen Schwager unter. Gemeinsam schlenderten sie durch den Garten wieder zur Residenz zurück.
Obwohl Berryhill im vergangenen Jahrhundert mehrfach vom Onkel ihres Mannes in ein Prachtstück englischer Gotik ausgebaut worden war, schien das Schloss mit seinen zwei Flügeln, vielen Hallen und verwinkelten Gängen nicht unbedingt geeignet, um ihren Neffen in dieser Situation komfortabel unterzubringen. Lady Hendrika befand, dass Cecils ehemaliges Arbeitszimmer, eine Bibliothek im Erdgeschoss, wegen seiner Größe und zentralen Lage am leichtesten als Krankenzimmer für Edward, der nur liegen durfte, herzurichten sei. Da es sehr mühsam war, ihn zu waschen und zu betten, hatte Lady Hendrika alle Teppiche, störenden Möbelstücke und Dekorationen entfernen lassen. Aus ihrem Zimmer wurden hingegen zwei bequeme Sessel heruntergebracht, in denen sie einst mit Cecil beim gemeinsamen Kartenspiel und Vorlesen zu sitzen pflegte.
Edwards Adjutant, der Sergeant Jason Billingham, hatte sich nach Sir James’ Erscheinen im Lazarett bis auf weiteres vom Regiment beurlauben lassen und wich, einem Schatten gleich, nicht mehr von Edwards Seite. Lady Hendrika wusste zu Anfang nicht wirklich, was sie von diesem sehr schweigsamen Menschen halten sollte, der, obwohl er nur zwei Jahre älter war als Edward, sein bereits silbern durchzogenes, rotgelocktes Haar mit einem Lederband im Nacken zu bändigen suchte.
Billingham bestand darauf, sein Quartier im gleichen Raum aufzuschlagen, in dem Edward gepflegt wurde. Nach einer Woche aber hatte sich Lady Hendrika so weit durchgesetzt, dass sein Feldbett zugunsten einer Dienstbotenschlafstatt verschwand, die man vor eine nun dauerhaft geschlossene Durchgangstür zur großen Halle setzte. Nachdem einige zusätzlich angebrachte Vorhänge dem Adjutanten ein Mindestmaß an Privatsphäre erlaubten, beruhigte sich die Duchess über den Starrsinn dieses Iren und ließ ihn in seiner aufopfernden Pflege um Edward gewähren. Die Reise war extrem anstrengend für den Schwerverletzten gewesen, so dass man Edward für die Überfahrt mit der ständigen Gabe von Laudanum in einen tiefen Schlaf versetzt hatte. Es waren kräftezehrende Wochen für Sir James, den hartgesottenen Billingham und die involvierten Bediensteten gewesen, das Morphium aus seinem Körper ausschleichen zu lassen und dabei weiteres Fieber sowie Infektionen zu vermeiden.
Nachdem der Colonel einen ehemaligen Regimentsarzt aus seiner Zeit in Indien aus London mitgebracht hatte und dieser anstelle von Dr. Simmons, dem Hausarzt der Duchess, Edwards Behandlung übernommen hatte, zeichneten sich deutliche Heilungserfolge ab. Billingham schien sich mit dem sachlichen Doktor Blanks gut zu verstehen. Seitdem durfte auch Lady Hendrika regelmäßig nach Edward sehen, dessen Missmutigkeit jede gute Seele in die Flucht zu schlagen schien. Vergeblich bemühte sie sich, ihre stets untereinander streitenden Töchter dazu zu bewegen, dem Kranken häufiger vorzulesen und Gesellschaft zu leisten. Meist konnten sich die Mädchen nicht einigen, wer zu welcher Zeit für ihn lesen sollte, oder aber Edwards zynische Kommentare auf die Beiträge, die die Cousinen ihm vortragen wollten, vergällten ihnen den Krankendienst.
Immerzu kreisten Edwards Gedanken um die letzten Momente, bevor er, von der feindlichen Kugel getroffen, vom Pferd geglitten war. Er kannte inzwischen jede Textur der Holzverkleidung in der Bibliothek, die er im Licht der unterschiedlichen Tageszeiten studiert hatte. Unzählige Male hatte er die Buchrücken gezählt, je Regal, je Nische, nach Farben, nach Größe. Die aufgezwungene Untätigkeit raubte ihm den Verstand.
Auf der Hügelkuppe hatten sie die Nachhut gebildet, als ihm etwas am Kampfgeschehen im Tal merkwürdig aufgefallen war. Ohne es formulieren zu können, sandte er Späher in das nahe gelegene Waldstück. Plötzlich war es ihm völlig klar, es fehlten mindestens zwei Reihen der angreifenden Infanterie. Ohne weitere Zeit verstreichen zu lassen, um auf die Rückkehr der Späher zu warten, gab er seinen Leuten den Befehl, zur Flanke auszuscheren, statt in das Tal zu folgen. Eine Kanonenkugel surrte auf die Hügelspitze zu, bevor man den Abschuss überhaupt hören konnte. In dem Chaos, das der Explosion folgte, stürmten sie auf das Wäldchen zu, in dessen Hinterhalt der Feind sich zum Angriff formieren wollte. Im Lazarett hatte man ihm später erklärt, dass England mit seinem Eingreifen die Schlacht im Tal für sich entscheiden konnte, da die Attacke des Feindes aus der Flanke ausblieb. Dennoch hätte er den Angriff anders führen müssen, konzentrierter, ohne das Leben seiner Männer so risikoreich in den zu erwartenden Hinterhalt zu führen.
Ein Bediensteter trat in die Bibliothek und stellte ein Serviertablett mit Suppe vor ihn hin. Jeden Vormittag brachte man ihm Suppe. Wie sehr er die Speise inzwischen verabscheute! Wenn er den Löffel versuchte, an seinen Mund zu führen, blieb ihm nicht aus festzustellen, wie seine Handgelenke immer magerer wurden. Diesmal lag er viel zu tief, um zu essen, aber der Bedienstete des Hauses war schon wieder hinausgegangen.
Seine hohlköpfige Cousine Franziska, die ihm Belanglosigkeiten der Londoner Gesellschaft aus der Zeitung vorlas, wollte einfach nicht aufhören mit ihrem Vortrag und wäre ihm wohl auch keine Hilfe gewesen, sich zum Essen zurechtzusetzen. Billingham saß in einem Sessel vor dem Kamin und schaute nicht in seine Richtung. Der handfeste Ire war stets an seiner Seite und die vielen Pflichten, die er für Edwards Pflege übernahm, waren dem jungen Major mehr als unangenehm. Seine Tante beschäftigte Leibdiener, die das Rasieren und Waschen von ihm übernehmen konnten, aber Billingham war der Einzige, der sich von Edwards Flüchen nicht einschüchtern ließ, wenn man den entkräfteten Patienten unter Schmerzen zu bewegen versuchte.
Edward ekelte der Geruch seines Körpers und der seines Bettes, so dass Billingham in dem großen Haushalt Lady Hendrikas viel häufiger die Wäsche erneuern ließ, als der Arzt dies für nötig befunden hätte. Auch gelang es dem Adjutanten als Einzigem Edwards eingefallene Wangen immer wieder zu rasieren, ohne ihn zu schneiden, was ihm diese Aufgabe zusätzlich eingebracht hatte.
Billingham schien nun zu ruhen und so führte Edward mühsam den Löffel mit der pürierten Suppe an seinen Mund. Plötzlich kicherte Franziska für ihn unerwartet, da Edward ihr gar nicht zuhörte. Entsetzt starrte er auf den Löffel, dessen Ladung sich unter seinem unkontrollierbaren Zittern über seiner Brust verteilte. “Billingham”, rief Edward matt, doch der Adjutant schien ihn nicht zu hören.
“Ich kann dich füttern, Cousin”, meinte das Mädchen eifrig und knickste unerschrocken vor dem beängstigend abweisenden Gesichtsausdruck des Kranken.
“Gar nichts kannst du”, knurrte Edward und stemmte die Fäuste auf die Matratze, um sich höher aufzusetzen. Franziska stand vor ihm und starrte ihn mit großen Augen an, als der stechende Schmerz aus der rechten Brust ihn unter Stöhnen zur Seite wegbrechen ließ. Das Tablett hob sich und der Teller rutschte, bevor Franziska ihn erreichen konnte. Die heiße Suppe rann durch das dünne Betttuch auf seinen Bauch, seine Hüften hinab. Mit einem Schnauben des Ungemachs ließ sich Edward zurück in die Kissen sinken.
Franziska biss sich verlegen auf die Lippen, da dies bestimmt nicht die Stelle eines Mannes war, dessen aufmerksame Betrachtung oder Hilfestellung sich für eine Fünfzehnjährige geziemte.
“Billingham!”, rief Edward ungehalten und warf den nutzlosen Löffel, den er immer noch in seiner Hand hielt, an die Sitzlehne des Sessels, in dem der Adjutant Ruhe gefunden hatte.
“Ich hole schnell jemand”, bot Franziska an, als sie sah, wie sich der Adjutant mühevoll aus dem Sessel hoch kämpfte und mit einem Blick in Edwards wütende Züge eilig herbei geeilt kam.
“Jawohl, Sir!”, rief der Adjutant und straffte sich.
“Was ist los mit Ihnen?”, schimpfte Edward, den die Suppe mehr und mehr einnässte. “Ich habe wohl geschlafen, Major”, entschuldigte sich Billingham steif und begann sogleich das Tablett und den Teller aus Edwards Bett zu entfernen.
“Bei diesem Gequassel konnten Sie schlafen?”, fragte Edward mürrisch, woraufhin Franziska heftig errötete. “Das hätte ich wohl auch lieber!”
Billingham warf Franziska einen mitfühlenden Blick zu und bat sie leise, den Bediensteten herbeizuholen, der ihm für gewöhnlich beim Umbetten von Edward half.
Mit Tränen der Scham kämpfend, rannte das Mädchen eilig aus dem Zimmer. Unter dem vorwurfsvollen Blick seines Adjutanten senkte Edward betroffen den Kopf. Mit geübten Handgriffen richtete Billingham den Vorgesetzten zum Sitzen auf und entfernte die verschmutzte Wäsche. ‘Schlafen’, dachte Edward bitter. Er wollte nur noch sterben! So wie es die Vorsehung in dieser Schlacht für ihn bestimmt hatte.
Nachdem Lady Hendrika ihre weinende Tochter beruhigt hatte, war sie leise in die Bibliothek getreten, in der nichts mehr an den unerfreulichen Zwischenfall erinnerte. Edward schien zu schlafen, während Billingham auf einem Stuhl nahe dem Krankenbett saß und lächelnd die Zeitungsartikel las, die Franziska mit einem Buntstift angestrichen hatte.
Leise schloss die Duchess die Türe zur Bibliothek von außen und wunderte sich im Fortgehen, ob sie ihren Neffen noch lieben könnte, nachdem nichts mehr von dem, was sie einst an ihm verehrt hatte, nach dieser letzten Verletzung übrig geblieben zu sein schien. Insgeheim bewunderte sie Billingham, dem dies offensichtlich alles nichts ausmachte. Was hatten diese Männer bloß zusammen erlebt, dass sie nun dieses stille, starke Band der Übereinkunft verband.
“Major Langley”, weckte Billingham den Dösenden später am Tage, “ich würde Ihnen gerne aus einigen Briefen aus London vorlesen!”
“Lassen Sie mich in Ruhe, Billingham”, verlangte Edward tonlos. In dem abgedunkelten Zimmer konnte er Billinghams Gesicht nicht erkennen, doch der Adjutant warf den Stapel Briefe, den er in der Hand hielt, auf das Bettende und drehte sich auf dem Absatz herum. Mit wenigen Schritten durchmaß er die Bibliothek und riss energisch die Vorhänge auf.
“Draußen ist es sehr mild, Major”, sagte Billingham bestimmt, scheinbar ohne sich die abweisende Haltung seines Vorgesetzten zu Herzen zu nehmen, “ich schlage vor, Sie verbringen von nun an die späten Nachmittagsstunden auf der Terrasse.”
“Sie sollen mich in Ruhe lassen, Sergeant”, knurrte Edward ärgerlich. Man hatte ihn während des Laudanumentzugs am Bett festgeschnallt und die sehr schmerzhaften, wunden Stellen am Rücken und Gesäß machten ihm das Liegen allein schon unerträglich. Billingham musterte ihn kurz aus der Entfernung und spähte dann wieder hinaus auf die großzügige Sandsteinterrasse, die die gesamte Südseite des Gebäudeflügels umgab.
“Ihr Einverständnis voraussetzend”, fuhr der Adjutant unbekümmert fort, “weise ich die Leute hier an, Pflanzkübel in Springer-Formation vor unser Quartier stellen zu lassen. So werden Sie weiterhin vor unerwünschten Blicken geschützt sein, Major Langley.”
“Billingham!”, stieß Edward drohend aus. Was als Brüllen gemeint war, kam als wenig beeindruckendes Husten aus Edwards Kehle, was ihm zu allem Überfluss eine weitere stechende Pein in der rechten Brust bescherte. Als Edward wieder atmen konnte und die Augen öffnete, stand sein Adjutant unmittelbar vor ihm.
“Jawohl, Major Langley?”, fragte Billingham ruhig.
“Wir sind hier nicht mehr im Krieg, verflucht noch mal”, flüsterte Edward erschöpft, “nennen Sie mich in Teufels Namen nicht mehr Major, Billingham!”
“Wie wünschen Sie denn von mir genannt zu werden”, fragte der Angesprochene verwundert und ein wenig gereizt fuhr er fort, “Lord Langley, Marquess of Lancashire, Mylord?”
“Ach Billingham, alter Freund”, seufzte Edward und sank müde auf sein Kissen zurück, “nenn mich Langley Kanonenfutter, Edward Bajonettfresser, was immer dir in den Sinn kommt!”
Bewegt verharrte der Adjutant vor seinem invaliden Vorgesetzten. Kein Wort wollte über seine Lippen.
“Wenn diese Dummköpfe in London mich ausmustern wollen, ist sowieso alles umsonst gewesen”, murmelte Edward leise, dann fiel er erneut in seinen ruhelosen Schlaf.
Lady Hendrika gestattete Billingham die Arrangements für ihren Neffen auf die Terrasse auszudehnen, bestand dafür jedoch vergeblich darauf, Billingham habe sein eigenes Gästezimmer zu beziehen. Zwar wurde sein Bett aus der Bibliothek entfernt und die Türen zur großen Halle wurden nun tagsüber häufiger aufgestellt. Aber sobald sich die Nacht über Schloss Berryhill legte, hatte der sture Adjutant mit wenigen Handgriffen sein Feldbett in der großen Bibliothek gerichtet und schlief weiterhin in Edwards Rufnähe. Unter einiger Anstrengung, sich ihre Verärgerung nicht anmerken zu lassen, musste Lady Hendrika durch ihre Bediensteten zur Kenntnis nehmen, dass das Bett in dem für Billingham hergerichteten Gästezimmer nicht eine Nacht benutzt wurde.
Die Duchess entschied sich schließlich, den Streit über Billinghams Unterbringung ihrerseits beizulegen, da ihr gleichsam die unendlich erscheinende Geduld, die dieser seltsame Mensch mit ihrem Neffen hatte, tief imponierte. Stattdessen überraschte ihn Lady Hendrika mit der Anfrage, ob sie jemanden seiner Familie oder seines Herzens in das noch freie Gästezimmer einladen dürfte, da er schließlich schon so lange bei Ihnen weile, doch von diesem Heimaturlaub selbst keinen Gebrauch nehmen würde. Von so viel Großmut völlig überrascht blieb dem Soldaten nur, sich freundlich für das Angebot zu bedanken. Ohne ein unnötiges Wort zu verlieren, erklärte er ihr, dass seine Familie in Irland lebe, und seit er für den Eintritt in die Armee seine Konfession preisgegeben hätte, gäbe es dort niemanden mehr, der ihn hier in England besuchen wolle. Ein betretenes Schweigen breitete sich in dem von morgendlichem Sonnenlicht erstrahlenden Frühstückssalon aus. Weniger die Zugehörigkeit zum Adel trennte die aufgeklärten Seelen Großbritanniens zu dieser Zeit als die unfruchtbare Ausgrenzung der Katholiken. Billingham grüßte und verließ dann eilig mit dem Frühstück für sich und Edward den Salon. Um eine passende Erwiderung ringend, schaute Lady Hendrika dem energischen Mann nachdenklich hinterher.
Ohne weitere Rücksicht auf Edwards Unwillen, den Brief von Premierminister Perceval zur Kenntnis zu nehmen, las Billingham an einem der folgenden Nachmittage, während die letzten Strahlen der Abendsonne die Terrasse erhellten, mit ruhiger klarer Stimme eben diesen Brief vor:
... Unserem verehrten Major, Lord Langley, Marquess of Lancashire London, 1810.
Verehrter Diener unseres Vaterlandes,
auch wenn wir Ihr Opfer für unsere Freiheit sehr bald mit der Ritterschaft zu würdigen gedenken …
“Ich will das nicht hören, Sergeant”, knurrte Edward ärgerlich und wandte sich ab. Man hatte ihn mit seinem fahrbaren Bett nach draußen geschoben und durch das Sitzen über die Tage war sein wunder Rücken bereits wieder gut abgeheilt.
Dennoch fühlte sich Edward bei weitem noch nicht in der Lage dem Ende seiner Soldatenlaufbahn ins Auge zu sehen. Billingham ging um das Bett herum und schaute Edward zum ersten Mal eindringlich und voller Mitleid an.
“Was?”, fragte Edward alarmiert und richtete sich auf.
“Manchmal erfordert es einen Mann, wenn man sich wie die Mäuse verkriechen will”, erklärte Billingham mit fester Stimme und sah Edward unnachgiebig an.
“Das ist von mir”, murrte Edward und zog ungeduldig an der Bettdecke.
“War das denn wirklich alles nur Unsinn?”, fragte der Adjutant mit ernstem Zweifel.
“Warum konnten Sie mich nicht einfach in diesem schlammigen Bach liegen lassen, Billingham”, fragte Edward voll bitterem Vorwurf. “Ich friere heute noch, wenn ich an diese Kälte denke!” Ungeschickt versuchte Edward sich die Decke über die Schulter festzustecken. In seiner ganzen militärischen Laufbahn hatte er nie gefroren. Zwar war es kalt gewesen, besonders in Spanien im Winter, doch nie hatte er diese Kälte gespürt, die ihm seit der letzten Verletzung durch jeden Knochen kroch.
“Vielleicht, weil ich diese Kälte selbst oft genug gespürt habe. Es sei denn ich war mit Ihnen zusammen, Major”, meinte Billingham bedeutungsvoll.
Zwar leise, aber mit Absicht hatte der Adjutant Edwards militärischen Rang ausgesprochen. In den ganzen drei Regimentern, in denen er gedient hatte, war er nicht ein einziges Mal auf einen so umsichtigen und doch leidenschaftlichen Soldaten getroffen. Es war der größte Segen in seinem bis dato wenig glücklichen Leben, diesem unerschütterlichen und dem Leben zugewandten, großzügigen Major als Adjutant zugewiesen worden zu sein. Keinen Vorgesetzten hatte er jemals so fürsorglich im Umgang mit den Mannschaften erlebt wie Edward, ob in der Schlacht oder den unsteten Ruhezeiten dazwischen. Obwohl Major Langley jünger war als er selbst, verkörperte er alles für ihn, was ein Mann im Leben zu erreichen sucht. Trotz aller Bitternis war Billingham noch lange nicht gewillt, die Person, die er einst so verehrt hatte, seinen Verletzungen und seinem alles erstickenden Selbstmitleid zu überlassen.
“Darf ich jetzt weiterlesen?”, fragte Billingham, ohne wirklich eine Antwort abzuwarten. “Das Sonnenlicht lässt nach!”
Mit geübten Händen legte Billingham einen Schal der Duchess um Edwards Schultern und lies sich dann, deutlich keinen weiteren Widerspruch duldend, einnehmend auf das Bettende sinken. Der abendliche Wind hatte bereits aufgefrischt.
... In diesen schwierigen Zeiten wollen und können wir nicht auf hervorragende Soldaten verzichten, die den Strapazen der Schlacht nicht länger gewachsen sind. Seit dem Zusammenbruch der französischen Monarchie erschien es uns notwendig, einen Agentenring mit weitreichenden Befugnissen zu etablieren, um Feinde und schädliche Personen, die in diesen unklaren Zeiten zum Schaden unseres Vaterlandes handeln, Verwirrung stiften oder sich auf unlautere Weise bereichern, ungeachtet ihres Standes und ohne öffentliches Aufsehen zu entfernen.
Bislang lag unser Hauptaugenmerk auf der Verfolgung von Titel- und Besitzdieben sowie der Enteignung von Kriegsgewinnlern. Doch durch die Hinzunahme von Männern Ihres geschätzten Erfahrungshorizontes erhoffen wir uns, den übermächtig scheinenden Feind mit neuen Mitteln zu bekämpfen und das nicht enden wollende Blutvergießen auf dem Kontinent durch gezielte Einzelaktionen einzudämmen.
Hierfür bedarf es Männer mit herausragenden Fähigkeiten aus allen Schichten. Neben Ihrer unerschütterlichen Tapferkeit ist uns besonders Ihre hohe gesellschaftliche Stellung von Bedeutung, um Sie in diplomatische Kreise Europas einzuführen.
Es ist uns eine außerordentliche Ehre, Ihnen für Ihre zukünftige Tätigkeit im Dienst der Krone weitreichende Entscheidungsfreiheit in personeller wie inhaltlicher Hinsicht einzuräumen. Wir hoffen aufrichtig, Sie mit diesem Schreiben von einer Rückmeldung in Ihrem Regiment abzuhalten, und erwarten Sie stattdessen – sobald Ihre Genesung es erlaubt – hier in London.
Alle weiteren Überlegungen erörtern wir gerne persönlich.
Mit den besten Wünschen, ergebenst …
unterzeichnet von Premierminister Spencer Perceval
und dem Lordkanzler für Innere Angelegenheiten, Lord Cummings.
Die Dämmerung tauchte den weitläufigen Garten in sanfte Töne. Keiner der Männer sagte ein Wort. Billingham sah zufrieden, wie sich Edwards Stirn leicht gekräuselt hatte. Sein Blick verriet dem Adjutanten, dass eine Flamme der Hoffnung Edwards düstere Ziellosigkeit zu erhellen suchte. Immer noch schweigend erhob er sich vom Bettende und wies mit einer schlichten Handbewegung den stets in Sichtweite wartenden Bediensteten an, herbeizukommen, um Edward mit ihm zurück in die Bibliothek zu bringen.
Berryhill, Richmond upon Thames, Sommer 1810
Die Sonne stand hoch am Himmel und so nutzte Peter Stuart, der junge Viscount of Bute, die Gelegenheit seinem Nachbarsfreund und Schulkameraden Andrew Berks einen Brief über die Ereignisse der letzten Wochen zu schreiben. Seit Beginn der Sommerferien war er mit seiner Mutter Lady Evelyn und der jüngeren Schwester Isabell auf Schloss Berryhill zu Gast bei Lady Hendrika, der verwitweten Duchess of Osford. Er saß im Empfangszimmer der Gästesuite seiner Mutter und mit gleichmäßigem Schwung ließ Peter die Feder über das hervorragende Papier, das die Duchess ihm großzügig zur Verfügung gestellt hatte, streichen.
Mein lieber Freund Andrew,
ich hoffe sehr, diese Zeilen erreichen Dich, noch bevor ihr die Reise hierher antretet. So sehr ich mich über Euer Kommen freue, war ich doch nicht minder entsetzt, wie diese Einladung zustande kam.
Doch zunächst so viel: Du kannst Dich nur freuen! Der verstorbene Duke verfügte über eine atemberaubende Büchersammlung, die bereits sein ungewöhnlicher Onkel zusammengetragen hatte. Dieser Onkel hat selbst wohl auch geschrieben und ist derjenige, der mit dem uns bekannten Dichter Thomas Gray in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Grand Tour, die Rundreise über den Kontinent startete. Das Schloss jedenfalls, welches er hier auf Strawberry Hill errichten ließ, musst Du gesehen haben. Es kostete selbst Isi einige Tage, sich hier zurechtzufinden, und sei es nur, ohne Hilfe den Frühstücksraum zur angemessenen Stunde zu erreichen. Du glaubst es nicht, bis Du es selbst erlebst!
Wir können hier aufregende Pferderennen veranstalten und werden uns bestens amüsieren. Auch wenn ich Euch, liebe Freunde, vermisst habe, wollte ich doch diesen Sommer hier auf ‘Berryhill’ um keinen Preis in unserem Wiltshire verpasst haben.
Doch nun will ich Dir schreiben, wie es zu dieser nachträglichen Einladung für Dich und Betty kam. Lady Hendrika hat eigens für ihr geplantes Fest im August einen französischen Ballettlehrer engagiert, der mit ihren Töchtern und Isabell eine spezielle Choreographie einüben soll. Zunächst hatte Monsieur Dupont ein Zwischenspiel aus ‘Cosi fan tutte’ von diesem Salzburger Mozart ausgewählt. Dies befand die Duchess aber wegen der süffisanten Ironie auf das Soldatenleben mehr als unpassend für ihre Töchter und sie einigten sich dann auf die Vogelfängerszene aus der ‘Zauberflöte’ desselben Komponisten. Jeden Tag haben die Mädchen zwischen vier und sechs Stunden Ballettunterricht und nähen fleißig an ihren Kostümen. Nicht dass Isabell nicht begabt genug sei, dies alles schnell zu erlernen, aber sie hat sich so über das Ansinnen gegen Mutter empört, dass unsere Mutter in ihrer Verzweifelung Isabell versprechen musste, dass ihr, liebe Freunde, vor dem Eintreffen der ersten Gäste zu Isis Geburtstag hierher kommen dürft. Nun, Dir und Betty, lieber Andrew, kann es ja egal sein, wie die Einladung zustande kam, aber mir war es doch sehr unangenehm, dass der genesende Edward und sein Adjutant auch noch unmittelbare Augenzeugen von diesem spektakulären Streit draußen auf der Terrasse geworden waren.
Stell Dir vor, Edward ist inzwischen Major und bekommt auf Lady Hendrikas Fest die Ritterwürde von unserem Premierminister Lord Spencer Perceval überreicht, da sein Generalkommandant Wesley, der ja inzwischen selbst Baron Douro of Wellesley heißt, nicht rechtzeitig aus Spanien zurück sein wird. Es ist schon traurig, dass unser König Georg die Ritterehrungen nicht mehr selbst vornehmen kann.