Der Sommer der Sternschnuppen - Mary Simses - E-Book
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Der Sommer der Sternschnuppen E-Book

Mary Simses

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Beschreibung

Manchmal liegt der Weg zum Glück in der Vergangenheit

Grace Hammond liebt Ordnung über alles. Als sie ihren Job, ihren Freund und auch noch ihre Wohnung verliert, kehrt sie kurzerhand nach Dorset zurück, in die charmante Kleinstadt an der Küste Connecticuts, in der sie aufwuchs. Hier gibt es den besten Apfelkuchen der Welt, einen weiten Himmel voller Sternschnuppen – und die Ruhe, in der Grace hofft herauszufinden, wie es mit ihrem Leben weitergehen soll. Doch schon bald holt sie etwas ein, was sie für immer vergessen wollte. Denn in Dorset erlitt Grace einen Verlust, den sie nie verwunden hat. Und hier verliebte sie sich einst in Peter Brooks. Als Grace nun erfährt, dass er ebenfalls zurück in der Stadt ist, treffen Vergangenheit und Gegenwart aufeinander ...

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Seitenzahl: 536

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Buch

Grace Hammond liebt Ordnung über alles. Als sie ihren Job, ihren Freund und auch noch ihre Wohnung verliert, kehrt sie kurzerhand nach Dorset zurück, in die charmante Kleinstadt an der Küste Connecticuts, in der sie aufwuchs. Hier gibt es den besten Apfelkuchen der Welt, einen weiten Himmel voller Sternschnuppen – und die Ruhe, in der Grace herauszufinden hofft, wie es mit ihrem Leben weitergehen soll. Doch schon bald holt sie etwas ein, was sie für immer vergessen wollte. Denn in Dorset erlitt Grace einen Verlust, den sie nie verwunden hat. Und hier verliebte sie sich einst in Peter Brooks. Als Grace nun erfährt, dass er ebenfalls zurück in der Stadt ist, treffen Vergangenheit und Gegenwart aufeinander …

Autorin

Mary Simses studierte Journalismus und Jura. Sie arbeitete zunächst als Anwältin und gab sich nur nach Feierabend ihrer Leidenschaft für das Schreiben hin. Ihr Debütroman Der Sommer der Blaubeeren war in Deutschland ein Nummer-1-Bestseller und begeisterte über eine halbe Million Leserinnen. Gemeinsam mit ihrer Tochter und ihrem Mann, mit dem sie eine Anwaltskanzlei betreibt, lebt Mary Simses im Süden Floridas.

Von Mary Simses bereits erschienen

Der Sommer der Blaubeeren

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Mary Simses

Der Sommer der Sternschnuppen

Roman

Deutsch von Ivana Marinovic

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »The Rules of Love and Grammar« bei Little, Brown and Company, New York.

Copyright der Originalausgabe © 2016 by Mary Simses

This edition published by arrangement with Little, Brown and Company, New York, New York, USA. All rights reserved.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2016 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Susann Rehlein

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign

Umschlagmotive: Shutterstock.com

NG · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-16925-1V003

www.blanvalet.de

Für Rebecca Tucker Holliman,meine Kindheitsfreundin und liebste Detektivin(oder waren wir doch Spioninnen?)und John Frederick Sutton,meinen Englischlehrer aus der Neunten,der mich in meiner Liebe zum Wort bestärkte.

Vergiss nicht, die Erde ist ungefähr fünftausend Millionen Jahre alt, mindestens. Wer kann es sich da schon leisten, in der Vergangenheit zu leben.

HAROLD PINTER

1

Ein Nomen ist eine Person, ein Ort oder ein Ding.

Ein Unglück kommt meistens zu dritt.

Ich werde von lautem Gehämmer auf dem Dach wach, und für einen Moment weiß ich nicht, wo ich bin. Ich blicke auf die weiße Bettdecke, die zarten Rosenknospen auf der Tapete, den Krug aus meergrünem mattiertem Glas auf der Kommode, und da fällt mir wieder ein, dass ich nicht in meiner Wohnung in Manhattan bin. Ich bin in meinem alten Jugendzimmer in Dorset, Connecticut, in einem Bett mit einer für meinen Geschmack viel zu harten Matratze.

Es ist Donnerstag, und wenn es ein normaler Donnerstag wäre, wäre ich gerade dabei aufzustehen und mich für die Arbeit fertig zu machen. Aber mein Arbeitsplatz der vergangenen vier Jahre wurde letzten Freitag im Zuge einer betrieblichen Umstrukturierung abgeschafft. Wenn es ein normaler Donnerstag wäre, würde ich mich darauf freuen, das Wochenende mit Scott zu verbringen, vielleicht in den Hamptons. Aber Scott ist auch weg. Er hat sich von mir entliebt und in eine Anwaltsgehilfin aus seinem Büro verliebt – eine weitere Umstrukturierung. Ich sollte eigentlich in meiner Wohnung sitzen und meine Wunden lecken, aber nicht einmal das kann ich. Gestern kam aufgrund eines Wasserschadens ein gutes Stück von der Decke runter, und ich musste die Wohnung räumen, wahrscheinlich für drei ganze Wochen. Also bin ich jetzt hier – arbeitslos, wohnungslos und Single. Alles, was ich vom Leben noch will, ist, den Rest meiner Tage verschlafen. Doch irgendwer prügelt auf das Dach ein.

Ich gehe über die Hintertreppe nach unten in die Küche, wo die kupfernen Töpfe und Pfannen über der Kochinsel hängen und das blau-weiße Staffordshire-Porzellan meiner Mutter in der Eckvitrine glänzt. Durch die Fensterfront sehe ich den weitläufigen Rasen, der sanft zu den Felsen und den buschigen Riedgräsern hin abfällt. Das Wasser des Long Island Sound blitzt und funkelt in der Sonne, und eine salzige Brise kommt durchs Fliegengitter. Ein einsamer Kajakfahrer gleitet vorbei und zieht rhythmisch sein Paddel durch die Wellen.

»Ist jemand da?«

Das Haus ist leer.

Ich werfe einen Blick auf die hölzerne Arbeitsplatte, wo sich das übliche Durcheinander aus Zeitungen, Magazinen und ungeöffneter Post stapelt. Am Toaster lehnt eine Notiz von Mom, in ihrer ausladenden, nach links geneigten Architektinnenhandschrift: Grace, bin schon los, will noch die Blumen und die Torte bestellen. Wir sehen uns nach der Arbeit. Die Blumen und die Torte sind für die Feier zum 65. Geburtstag meines Vaters, die hier in zwei Wochen stattfindet, und so wie es aussieht, wird es ein Großereignis.

Das Hämmern geht unterdessen weiter und treibt mich über die knarrenden alten Kieferndielen zum Vordereingang. Ein kleiner Stapel Bücher thront unten auf dem Treppengeländer, wo der Handlauf aus Mahagoni in einem geschnitzten Wirbel endet. Wallace Stevens, W. H. Auden, E. E. Cummings, Emily Dickinson. Dad gibt diesen Sommer offenbar wieder seinen Meisterkurs in Moderner Lyrik.

Jedes Jahr schwört er, dass es sein letztes an der Universität sein wird, aber dann lässt er sich doch wieder breitschlagen. Ich glaube nicht, dass die Uni ihn je wird gehen lassen. Schon vor fünf Jahren gab es ein Riesentheater, als er seine Stelle als Leiter des Instituts für Englische Philologie aufgeben und wieder ganz normal als Professor arbeiten wollte. Angesichts der schockierten Reaktionen hätte man meinen können, er hätte verkündet, einen Stripclub eröffnen zu wollen.

Der Junimorgen draußen ist warm, und als ich über den Rasen laufe, sind meine Fußsohlen feucht vom Tau. Die Luft riecht nach Seetang, Austern und Miesmuscheln, der typische Geruch der Küste Neuenglands.

Zwei Männer mit Werkzeuggürteln um die Hüften stehen auf dem Dach. »Entschuldigung!«, rufe ich hoch. Sie spähen zu mir runter, und mir fällt ein, dass ich noch nicht einmal mein Haar gebürstet habe. Ich winke verhalten.

»Hey«, grüßt der kleinere der beiden, winkt zurück und reibt sich über den Bart.

Ich zurre den Gürtel meines Morgenrocks fester. »Was machen Sie da? Das Dach neu decken?«

Er legt seinen Stapel Schindeln ab. »Ganz genau. Ich bin ehrlich gesagt überrascht, dass es das alte Ding noch nicht runtergeweht hat.«

Ich blicke auf meine Uhr. »Ist Ihnen klar, dass es erst acht Uhr dreißig ist? Ist das nicht etwas früh?«

Die Männer blicken einander an. »Ähm, nun ja, wir fangen immer um acht an«, sagt der Größere der beiden und stopft sich sein grünes T-Shirt hinten in die Hose.

Womöglich würde ich mich in einer perfekten Welt, in der ich immer noch einen Job und einen Freund und, nicht zu vergessen, ein Dach über dem Kopf hätte, nicht so anstellen. Aber hier und heute will ich einfach nur schlafen.

»Tut mir leid, falls wir Sie geweckt haben«, sagt der mit dem grünen Shirt. Er starrt die Hosenbeine meines Pyjamas an und grinst. »Was haben Sie da eigentlich auf der Hose? Hunde?«

Ich blicke an mir herab. »Nein, das sind Rentiere. Und Weihnachtsmänner.« Ich schiebe die Hände in die Taschen meines Morgenrocks. »Ich pflege den Geist von Weihnachten eben gerne das ganze Jahr über.« Ich werde jetzt nicht erklären, wie ich praktisch nur mit dem, was ich am Leib hatte, aus meiner Wohnung gerannt und hergefahren bin, und wie glücklich ich mich schätzen kann, dass ich diesen Pyjama überhaupt hier hatte.

»Ach so«, sagt er. »Gute Idee.«

»Und? Wird das hier länger dauern?«, will ich wissen.

Der bärtige Mann wirft einen prüfenden Blick auf das Dach. »Zwei Wochen, vielleicht länger, kommt aufs Wetter an.«

Ich werde mir Ohrstöpsel kaufen müssen. »Dann lasse ich Sie mal lieber weiterarbeiten.«

Zurück in der Küche, gehe ich wütend die Post durch, miste den Müll aus und sortiere den Rest in ordentlichen Stapeln – Einladungen, Rechnungen, Zeitschriften. Ordnung hat etwas so Tröstliches an sich. Die Arbeitsplatte sieht schon viel aufgeräumter aus. Ich sammle die Papierschnipsel auf – Abholscheine für die Reinigung, Klebezettel mit Telefonnummern drauf und einen Briefumschlag, auf dem mein Vater einen Satz notiert hat, wahrscheinlich den Vers eines Gedichts. Sie lässt sie hinter sich zurück.

Ich wende mich einem kleinen Stapel Fotos zu. Das Bild ganz oben zeigt eine Hütte, deren Holz zu einem matten Kastanienbraun verwittert ist. Auf einem anderen ist das Innere zu sehen, eine Leiter führt zum Heuboden hinauf. Neben den Fotos liegt eine handgefertigte Zeichnung der Hütte – eine kleine illustrative Veranschaulichung von Mom. Jemand muss sie beauftragt haben, den Raum zu einem Künstleratelier umzugestalten. Sie hat einige Fenster hinzugefügt, und der Großteil des Obergeschosses ist verschwunden, wodurch das Licht ungehindert einfallen und die schrullige Gestalt beleuchten kann, die sie neben eine Staffelei gezeichnet hat. Dieses kleine Detail, das so typisch ist für Mom, entlockt mir ein Lächeln.

Der verbliebene Teil des Heubodens scheint gerade die richtige Größe zu haben, um einen Schlafboden oder eine Leseecke zu beherbergen. Meine Mutter hat auch dort oben ein Fenster eingefügt und die Leiter durch eine Treppe ersetzt. Unweigerlich frage ich mich, ob diese kleine Galerie nicht ein Schrein für meine Schwester Renny ist, die es immer geliebt hat, sich irgendwo mit einem Buch zu verkriechen.

Es klingelt an der Tür, und ich lege die Zeichnung beiseite. Als ich durch den Flur eile, kann ich durch das Fenster den roten Jeep von Cluny sehen, meiner besten Freundin seit unserem ersten Schultag. Sie lebt immer noch in Dorset, mit ihrem Ehemann, ihren zwei kleinen Töchtern und sechs adoptierten Haustieren – drei Hunde, zwei Katzen und ein Kanarienvogel.

»Grace!«, begrüßt sie mich mit einem breiten Lächeln.

Ich ziehe sie in die Eingangshalle und drücke sie an mich. »Es ist so schön, dich zu sehen. Ich hab dich erst später erwartet.«

»Ich weiß, aber mein Termin in der Druckerei wurde auf heute Nachmittag verschoben. Wir gehen die Probedrucke für die neuen Karten durch.«

Cluny gestaltet und vertreibt Glückwunschkarten mit Tusche- oder Aquarellzeichnungen von Hunden und Katzen und allerlei anderen Tieren, die so Dinge tun wie Kerzen auf Geburtstagstorten ausblasen, Segelboote steuern, Cocktails auf Partys schlürfen oder am Meer entspannen. Ich bin extrem stolz auf ihren Erfolg und dass die Karten mittlerweile in Geschenkboutiquen im ganzen Land verkauft werden.

»Und da ich heute Morgen Zeit hatte, habe ich gedacht, ich komme vorbei und schaue, ob du schon wach bist«, sagt sie.

Ich lehne mich gegen die Chippendale-Kommode. »Oh, und wie ich wach bin. Die Dachdecker haben mich geweckt. Die haben Nagelpistolen, die sind so laut wie Kalaschnikows. Und sie werden noch mindestens zwei Wochen bleiben.«

»Mach dir keine Sorgen«, sagt sie. »Wir haben sowieso einiges vor. Du wirst jeden Tag außer Haus sein.«

»Ich will aber nicht außer Haus sein. Ich will niemanden sehen. Ich will daheimbleiben und schlafen.«

»Wie bitte? Jetzt, wo du endlich mal länger als einen Tag da bist! Wie viele Jahre ist es her, dass du so richtig zu Besuch warst? Ich kann mich nicht einmal daran erinnern.« Sie streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, und ihre Stimme wird sanfter. »Du bist jetzt hier, das ist gut, aber du kannst dich nicht die ganze Zeit einigeln.«

»Ich hab jedes Recht mich einzuigeln. Erst verliere ich meinen Job, dann lässt Scott mich sitzen, und dann kracht mir noch die halbe Zimmerdecke runter.« Ich merke, dass ich gleich losheule. »Ich will einfach nur Winterschlaf halten.« Ich drehe mich um und gehe zurück in die Küche.

»Grace, du wirst eine andere Stelle als Korrekturleserin bekommen. Und du wirst …«

»Ich habe nicht Korrektur gelesen«, sage ich und bleibe stehen. »Ich habe computergenerierte Übersetzungen überarbeitet und die Fehler berichtigt. Das ist viel komplizierter als Korrektur lesen.«

Sie legt ihre Hand auf meinen Arm und sieht mich entschuldigend an. »Tut mir leid. Du weißt doch, ich kann mir das nie merken.«

»Ist schon in Ordnung. Das geht allen so.«

»Jedenfalls wirst du einen neuen Job finden.«

Ich wünschte, ich könnte so optimistisch sein. Ich weiß nicht einmal, wo ich ansetzen soll. »Es fällt mir momentan schwer, überhaupt über einen Job nachzudenken. Ich bin so wütend auf Scott. Wie konnte er mir das antun? Wir waren kurz davor, unseren ersten Jahrestag zu feiern. Wir haben Pläne geschmiedet, wollten diesen Herbst nach Italien fliegen. Italien! Und dann erzählt er mir von dieser Elena, der Anwaltsgehilfin aus seinem Büro.«

Cluny bedenkt mich mit einem mütterlichen Blick und folgt mir in die Küche. »Grace, das bedeutet nur, dass er nicht der Richtige für dich war.«

»Sieht ganz so aus.« Ich wende mich ab und wische mir über die Augen. »Oh Mann, ich will einfach nur wieder ins Bett.«

Sie setzt sich an den Tisch. »Du kannst nicht zurück ins Bett. Du kannst nicht die ganze Zeit sinnlos hier rumhängen, in deinem …« Sie hebt die Augenbrauen und wedelt abfällig in Richtung meiner Beine. »… deinem Weihnachtspyjama.«

»Ich kann mir einen anderen Pyjama besorgen.«

Sie sieht mich entnervt an. »Darum geht es doch nicht.«

Ich greife nach der Kaffeekanne, in der noch ein, zwei Tassen sein müssten. »Willst du was davon ab?«

»Ein Schlückchen«, erwidert sie.

Ich fülle eine halbe Tasse für sie und eine halbe für mich, öffne den Gefrierschrank und inspiziere die Pappbecher mit Eiscreme, die sich wie Silos aneinanderreihen: Chocolate Chip, Mint Chocolate Chip, Cookie Crunch, Banana Swirl, Strawberry Cheesecake.

»Na, hast du auch genügend Eis vorrätig?« Cluny beginnt damit, die Packungen zu zählen.

»Entschuldige mal, aber wusstest du, dass Desserts rückwärts buchstabiert stressed ergibt? Eis ist für gestresste Leute wie mich.«

»Im Ernst?« Sie schreibt die Buchstaben in die Luft. Dann lächelt sie. »Du hast recht.«

Ich greife nach dem Cookie-Crunch-Becher und setze mich ihr gegenüber an den Tisch. »Naturbelassen«, lese ich auf dem Etikett und gönne mir den ersten Löffel. »Das würde dir schmecken.« Als ich jedoch die Packung umdrehe, bemerke ich, dass das Komma zwischen Madisonund Wisconsin in der Firmenanschrift vergessen wurde. Manchmal kann ich mich selbst nicht ausstehen.

»Ich hab hier etwas, das dich aufmuntern wird«, sagt Cluny, während ich mir einen weiteren Löffel Eis in den Mund schiebe. »Hörst du mir zu?« Ihre grünen Augen funkeln.

»Ja, ich höre dir zu.«

»Du wirst nicht glauben, wer auf dem Titelblatt der Review ist.« Sie zieht eine zusammengefaltete Zeitung aus ihrer Handtasche. »Rate«, fordert sie mich auf.

»Ich denke nach«, sage ich und schaufele mir Eis auf den Löffel. »Teddy McRandell?«

Cluny lacht. »Nächster Versuch.«

Ich lege den Löffel auf dem Tisch ab und setze mich aufrecht hin. »Sag’s mir einfach. Ich hasse es, wenn du das tust.«

»Wenn ich was tue?«, erwidert sie und hält die Zeitung hinter ihren Rücken.

»Wenn du mich zwingst rumzuraten. Schon als wir Kinder waren, hast du das gemacht, als wir Detektivinnen werden wollten. Immer wenn du einen Hinweis gefunden hattest, hast du mich gezwungen zu erraten, was es war.«

»Spioninnen.«

»Was?«

»Wir wollten Spioninnen werden, nicht Detektivinnen.«

»Nein, ich wollte Detektivin werden, du Spionin. Und jetzt zeig mir endlich, was du mir zeigen willst.«

Sie zieht die Zeitung hervor und schlägt sie auf. »Lies.« Sie deutet auf die Bildunterschrift unter einem Foto.

Regiestar zurück in der alten Heimat

Peter Brooks, 33, Regisseur dreier erfolgreicher Liebeskomödien, darunter Paris Love Letter, ist nach 17 Jahren nach Dorset zurückgekehrt, um hier Szenen für seinen neuesten Film zu drehen. Brooks bleibt voraussichtlich zwei Wochen in seiner Heimatstadt.

Ich starre den Mann auf dem Foto an, das gewellte braune Haar, die blauen Augen, das Lächeln, das mir förmlich vom Titelblatt entgegenspringt, und mein Herz setzt für einen Moment aus. Okay, es ist Peter. Ich schaue mir das Bild genauer an, und prompt stecke ich wieder in meinem smaragdgrünen Highschool-Ballkleid. Ich befinde mich im Dorset Jachtklub, 17 Jahre zuvor, es ist Mai, und wir sind in der zehnten Klasse. Während die Band ein Cover von Shania Twains und Bryan Whites Duett From This Moment On singt, tanzen Peter und ich eng umschlungen miteinander. Seine Arme liegen auf meinem Rücken, und ich spüre seinen warmen Atem an meinem Hals. Ich schließe die Augen und lehne mich an seine Brust, alles wirkt so unwirklich. Das ist nicht derselbe Peter, mit dem ich seit drei Jahren befreundet bin. Dies hier ist ein neuer Peter, der mich seit heute mit anderen Augen sieht. Und hier sind wir nun und tanzen. Und es ist magisch.

Ich blicke von der Zeitung auf.

Cluny lächelt. »Dein alter Highschool-Schwarm und angesagter Hollywood-Regisseur ist wieder in der Stadt. Also, was denkst du?«

»Ich denke, dass wir eine unglaubliche Nacht hatten – einen Tanz, einen Kuss –, aber es war eine sehr kurze Romanze.«

»Vielleicht, aber davor wart ihr sehr lange befreundet. Und es heißt doch, Romanzen, die aus einer Freundschaft erwachsen, sind die besten.«

Ich mustere das Foto, Peters warme, freundliche Augen, die mir entgegenblicken. »Hm. Heißt es so?«

»Weißt du, der Teil mit der Romanze hätte länger angedauert, wenn das Unglück nicht passiert wäre.« Bei den letzten Worten muss sie schlucken und wird leise, und ich weiß, woran sie denkt. »Du hast alle seine Filme gesehen, oder?«

»Ja, alle drei.«

»Ich auch«, sagt Cluny. »Paris Love Letter hat mir am besten gefallen.« Sie greift nach den Kaffeetassen. »Ich mach uns den mal warm.« Sie geht zur Mikrowelle und sieht den Tassen dabei zu, wie sie sich auf der Glasplatte drehen. »Er war schon immer ein Filmfreak. So wie du. Erinnerst du dich noch, wie er uns immer ins Kino geschmuggelt hat? Er hat eine Eintrittskarte gekauft, ist reingegangen und hat uns dann durch den Seiteneingang reingelassen.« Sie reicht mir meinen Kaffee. »Gott, war der süß.«

Bei dieser Erinnerung muss ich lachen. »Ich kann nicht glauben, dass man uns nie erwischt hat.« Ich weiß, dass das albern ist, aber als das Kino in Dorset vor ein paar Jahren schließen musste, kam ich nicht umhin, mich zu fragen, ob es wegen Kindern wie uns pleitegegangen war, die sich jahrelang umsonst reingeschlichen hatten.

Cluny lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück und verschränkt grinsend die Arme. »Das ist ja wohl mehr als ein Zufall.«

»Was ist mehr als ein Zufall?«

Sie deutet auf die Zeitung. »Peter wieder hier. Du wieder hier. Zur selben Zeit.«

»Dann sind wir eben zur selben Zeit in Dorset. Komm mir jetzt nicht mit irgendwelchem Karma-Hokuspokus. So ungewöhnlich ist das nun auch wieder nicht.«

»Machst du Witze? Die Chancen stehen eins zu einer Million. Das hier ist aus einem guten Grund passiert. Du warst verrückt nach ihm, und er war verrückt nach dir. Du musst dich mit ihm treffen. Das ist allemal besser, als hier alleine herumzusitzen und kübelweise Eis in dich reinzustopfen.« Sie beäugt die Eispackung, als würde sie sie am liebsten beschlagnahmen.

Ich ziehe die Packung vorsichtshalber näher an mich heran. »Das ist doch lächerlich. Ich wüsste nicht einmal, was ich zu ihm sagen sollte. Der Zug ist abgefahren. Das Ganze ist eine Ewigkeit her.« Ich schnappe mir den Löffel.

»Ach, komm schon«, sagt sie. »Wenn es um die Liebe geht, spielt die Zeit keine Rolle.« Sie legt sich die Hand aufs Herz.

»Wo hast du das denn her? Aus einem deiner Louise-Hay-Esoterik-Ratgeber?«

»Nein, das hast du immer gesagt, damals in der Highschool. Weißt du noch?«

Ich deute mit dem Löffel in ihre Richtung. »Tja, du solltest nicht auf alles hören, was ich sage. Außerdem glaube ich nicht, dass es eine gute Idee wäre, Peter wiederzusehen. Du weißt doch, wie wir damals auseinandergegangen sind.« Cluny will schon widersprechen, aber ich schneide ihr das Wort ab. »Hör zu, meine Wohnung wird erst in drei Wochen wieder bewohnbar sein. Während ich also hier festsitze, habe ich vor zu schlafen, ungesundes Zeug in mich reinzufuttern, Schmonzetten zu lesen, den Geburtstag von meinem Dad zu feiern und für eine kleine Weile zu vergessen, dass mein Leben eine Komplettkatastrophe ist.«

»Grace, komm schon, wir reden hier von Peter. Früher haben wir sogar Renny bestochen, damit sie uns in der Stadt herumfährt, um ihn aufzuspüren. So verrückt warst du nach ihm, erinnerst du dich noch?«

Ich erinnere mich. Natürlich erinnere ich mich.

»Übrigens«, fügt sie hinzu, »würde man das heutzutage unter Stalking verbuchen und uns verhaften.«

»Ja, die verderben einem auch jeden Spaß.«

Cluny beugt sich vor und sagt eindringlich: »Das wird dich auf andere Gedanken bringen, dich ablenken von Scott, deinem Job und deiner Wohnung. Außerdem fände ich es schön, Peter wiederzusehen und zu hören, was er die ganze Zeit getrieben hat. Es ist ja so aufregend, dass er wieder hier ist.« Ich kann ihren Blick auf mir spüren. »Und jetzt sag mir nicht, du hättest nie über ihn nachgedacht.«

Natürlich hat sie recht. Lange bevor sein Name in Zeitschriften oder Blogs aufzutauchen begann, habe ich an ihn gedacht. Wenn im Fernsehen Der Pferdeflüsterer lief, dachte ich an den Abend zurück, als wir ins Kino von Dorset gegangen waren und den Film von unserem Lieblingsplatz auf der Galerie aus angeschaut hatten. Oder ich saß in einem Diner und hörte, wie jemand einen Kaffee-Milchshake bestellte, und prompt erinnerte ich mich an den Nachmittag im Sugar Bowl, als wir so viele Kaffee-Milchshakes getrunken hatten, dass wir beide nicht schlafen konnten und völlig aufgekratzt die ganze Nacht miteinander telefonierten. Oder im Radio lief Clair de Lune, und ich musste an den Tag denken, als ich Peter in der leeren Schulaula hatte Klavier spielen hören.

Cluny sieht mich wissend an. »Ja. Das habe ich mir gedacht.«

Ich schüttle den Kopf. »So einfach ist das nicht. Natürlich hab ich an ihn gedacht. Aber ich bin seit Ewigkeiten über ihn hinweg. Das musste ich auch. Du weißt das.«

»Wir sollten ihn treffen«, sagt sie. »Wir werden herausfinden, wo er wohnt. Das wird so wie damals, als wir Kinder waren.«

»Willst du deine Detektivtasche hervorkramen?«

Sie seufzt. »Ich wünschte, ich hätte sie noch. Weißt du noch, was für tolle Sachen wir da reingetan haben? Pinzetten? Taschentücher?«

»Und diese riesengroße Lupe aus dem Schreibwarenladen?«

»Von dem Verkäufer, der so schlimm Schuppen hatte.«

»Weißt du noch, wie wir diese kleinen schwarzen Notizbücher gekauft haben?«, frage ich. »Um verdächtige Hinweise zu notieren?«

»Gott, damals war so ziemlich alles verdächtig. So wie in der fünften Klasse, als du dachtest, der Mann und die Frau, die am anderen Ende eurer Straße lebten, wären Bankräuber, die sich vor der Polizei versteckten.«

»Na ja, die sahen aber auch verdächtig aus«, sage ich und verspüre immer noch den Drang, mich zu rechtfertigen. »Komm schon, diese Frau mit ihren komischen Hüten und den Sonnenbrillen. Sie hat ständig eine Sonnenbrille getragen.«

»Sie hatte ein Augenleiden.«

»Trotzdem.« Ich winke ab. »Und was ist mit ihrem Mann? Er war immer so zugeknöpft.«

»Grace, die beiden waren Lehrer im Ruhestand und um die achtzig.«

»Ach so, das heißt, Lehrer im Ruhestand um die achtzig können keine Kriminellen sein?«

Sie beäugt mich skeptisch. »Außerdem saß der Mann im Rollstuhl.«

»Ja, schon, aber er war ziemlich schnell in dem Ding.«

»Ich sage dir, woran ich mich noch erinnere.« Ein verschlagenes Grinsen huscht über ihr Gesicht. »Wie du an ihrer Tür geklingelt und behauptet hast, du würdest Spenden fürs Rote Kreuz sammeln.«

Das hatte ich ganz vergessen. »Oh Gott, stimmt. Damit ich einen Blick ins Haus werfen konnte, ob da irgendwo gestohlenes Geld herumlag. Ich dachte, sie hätten vielleicht einen Safe.«

»Und sie haben dir geglaubt. Sie haben dir sogar zehn Dollar gegeben.« Selbst jetzt ist ihre Stimme voller Ehrfurcht.

Ich hebe die Hand wie zum Gelübde. »Die ich, wie ich hinzufügen darf, umgehend dem echten Roten Kreuz überantwortet habe.«

»Ja … Nachdem du den Geldschein auf der Suche nach Fingerabdrücken mit irgendwas eingepinselt hast.«

»Nun«, entgegne ich, »ein Detektiv muss tun, was ein Detektiv tun muss.«

Draußen klimpern die Windspiele, und eine Böe lässt die blühenden Zweige der Hortensie gegen das Fliegengitter schlagen. Ich verspüre einen Anflug von Wehmut und bin ein bisschen traurig, diese Zeit in meinem Leben verloren zu haben, als der kleinste Funken Fantasie einen ganzen Sommertag erhellen konnte.

»Ich glaube, wir waren tolle Detektivinnen«, sagt Cluny. Einen Moment ist sie still, dann fügt sie hinzu: »Wir könnten unsere Fähigkeiten wiederaufleben lassen, um Peter ausfindig zu machen.«

»Cluny, er ist verheiratet, das habe ich schon vor Jahren gelesen. Und wahrscheinlich hat er zwei entzückende Kinder.« Alle haben Kinder. Warum nicht auch Peter?

»Er war verheiratet«, entgegnet sie. »Aber nicht mehr. Er ist geschieden.«

»Er ist geschieden?«

Clunys Augen leuchten auf, als sie den Funken Interesse bemerkt. »Jaaaaa«, flüstert sie verschwörerisch.

»Vergiss es«, sage ich und fange mich wieder. »Ich werde nichts dergleichen tun. Ich will einfach nur in Ruhe daheimbleiben.«

Sie seufzt. »Ich weiß. In deinem Weihnachtsmannpyjama.«

»Ja.«

»Und Eis essen.«

»Warum denn nicht?«

»Ganz wie du meinst, Grace. Aber nur damit du es weißt, Cookie Crunch ist eine Art Einstiegsdroge. Sie führt zu Coffee Toffee und Chocolate Chunk Chip und all den anderen Abarten, die noch viel gefährlicher sind. Du begibst dich auf sehr dünnes Eis.«

»Schon gut, aber sag mir noch eins.« Ich hebe die Zeitung hoch und zeige auf das Foto. »Woher weißt du mit Sicherheit, dass er geschieden ist?«

Sie zwinkert. »Google, Baby. Woher denn sonst?« Sie wackelt mit den Fingern, als würde sie tippen. »Und ja, ich habe diese Informationen auf mehreren Websites gegengeprüft. Allesamt sehr verlässlich.« Sie hebt eine Augenbraue. »Wo wir schon dabei sind, hast du eigentlich eine Ahnung, wie viele Resultate aufploppen, wenn man Peter Brooks Regisseur googelt?«

Ich nehme einen Schluck Kaffee. »Fünfhundertzwölftausend, so um den Dreh.«

Cluny neigt den Kopf und sieht mich lange und eindringlich an. »Ach, das weißt du also?«

Verdammt, sie hätte echt Spionin werden sollen.

Sie verengt die Augen zu Schlitzen. »Ich hol dich morgen früh um zehn ab. Staub schon mal deine Detektivtasche ab.«

2

Präpositionen verweisen häufig auf das Verhältnis zwischen zwei Nomen.

Es ist nie gut, ein Fahrrad in einer feuchten Garage unterzustellen.

Am nächsten Morgen wache ich natürlich in aller Herrgottsfrühe zum Klang von Nagelpistolen auf. Mom ist bereits auf dem Weg zur Arbeit, aber sie hat wieder eine Nachricht in der Küche hinterlassen. Obwohl es noch zwei Wochen bis zur Geburtstagsfeier sind, hat sie es mir überlassen, ihre To-do-Liste schon mal in Angriff zu nehmen. Erste Aufgabe: in der Garage die Kühlboxen suchen. Einfacher gesagt als getan. Meine Eltern sind genetisch nicht dazu konditioniert, Dinge wegzuwerfen.

Ich gehe durch die Küchentür über den Rasen zur Garage, wo ich mir einen ersten Überblick verschaffe. Dads blauer Chrysler und mein alter gelber VW-Käfer parken auf zweien der drei Stellplätze. Davor Milliarden Dinge, von denen sich meine Eltern nicht trennen können. Es sieht aus, als wäre eine Flutwelle an Land gerollt und hätte sich wieder zurückgezogen und dabei Trümmer und Schutt zurückgelassen – ein verrosteter Boiler, ein Motorrad ohne Motor, zwei rosa Porzellanlampen mit ausgefransten Drähten, ein Mahagonitisch mit nur drei Beinen und einem Baseballschläger als Prothese, alte Autoreifen, Tennisschläger, Gartengerätschaften, eine Mikrowelle ohne Tür, Farbeimer mit der Aufschrift Versailler Blau und zwei Stapel Kühlboxen mit Klappdeckel. Diese Garage ist unser familieneigenes Bermudadreieck.

Ich schaffe es, mir einen Weg zu den Kühlboxen zu bahnen, doch als ich die Box ganz oben vom Stapel nehme, entdecke ich dahinter etwas, bei dessen Anblick sich mir die Brust zuschnürt. Es ist Rennys altes Rennrad.

Obwohl der einst kirschrote Rahmen mit Staub und Schmutz bedeckt ist, kann ich immer noch Teile der Aufschrift SchwinnParamount erkennen. Die Reifen sind platt und rissig, und das hellere Material der Reifenflanken blättert ab. Die Speichen, einst silbrig glänzend, sind dunkelgrau und fleckig, und die Kette ist ummantelt mit Rost. Die Klingel mit der blauen Emailleblume, die Renny so liebte, ist auch noch am Lenker, aber als ich an dem kleinen Hebel ziehe, ist nur ein Knirschen zu hören.

Ich erinnere mich noch an den Sommer, als Renny und ich uns die Fahrräder kauften; sie war zwölf, und ich war zehn. Nachdem wir wochenlang Tag für Tag im Schaufenster des örtlichen Fahrradhändlers die verschiedenen Modelle studiert hatten, hatte ich mich für ein nagelneues Raleigh Mercury entschieden, weiß mit orange-grauen Applikationen. Renny hatte das Schwinn Paramount ins Auge gefasst, obwohl es gebraucht war. Wir betraten den Laden, die Jacken- und Hosentaschen voller Geld, das wir mit Babysitten, Gassigehen, Unkrautjäten und Fensterputzen zusammengespart hatten, einschließlich des Betrags, den unsere Eltern beigesteuert hatten, und verließen ihn mit den Fahrrädern. Ich werde nie vergessen, wie stolz und erwachsen wir uns fühlten, weil wir unseren ersten größeren Kauf alleine getätigt hatten.

Jetzt betrachte ich das Schwinn und kann Renny vor mir sehen, wie sie sich tief über den Lenker beugte und trotzig mit ihren langen Beinen in die Pedale trat, wahrscheinlich zum Klang eines depressiv-pubertären Tori-Amos-Songs in ihrem Kopf. Ihr braunes Haar flatterte dann wie wild hinter ihr her, während sie einen Hügel hinuntersauste und vor mir um die nächste Ecke bog.

Wenn morgens die Sonne schien, sagte sie oft: Komm, wir drehen eine Runde. Dann füllten wir unsere Wasserflaschen, verstauten Sandwiches und Obst in unseren Körben und kamen nicht vor Einbruch der Dunkelheit zurück. Normalerweise hatten wir ein bestimmtes Ziel im Kopf – das Haus einer Freundin, den Strand oder den Bootsbedarfsladen und das Hafenbecken. Aber manchmal war es auch der Ort, der uns fand.

Eines Samstags, ich war dreizehn, fuhren wir zu Miller’s Orchards, einer Farm in Dorset, auf der seit über hundert Jahren Äpfel angebaut wurden. Wir kauften uns im Marktladen Käse, Knabberzeug und Saft und spazierten dann in die Apfelgärten, wo die Bäume in langen Reihen Hunderte Morgen Land bedecken und ihre Äste der Sonne entgegenstrecken. Während wir picknickten, fing der Himmel an zu grollen und verfärbte sich violett, und noch bevor wir den Parkplatz erreichen konnten, fing es an zu schütten.

Wir rannten in den Marktladen, und die Frau an der Kasse gab uns jeweils einen großen schwarzen Plastikmüllsack zum Überziehen. Sie schnitt Löcher für den Hals und die Arme hinein. Die Heimfahrt war irre, der Regen prasselte auf unsere Köpfe ein, rann uns über die Haare und in die Augen. Die Müllsäcke flatterten im Wind, und das Wasser der Pfützen spritzte hoch und durchnässte uns bis auf die Knochen, aber wir lachten und kreischten den ganzen Weg lang. Wenn ich an Renny denke, denke ich oft an jenen Tag zurück. Ich betrachte ihn als eine Art Hochwassermarke unserer Beziehung, denn danach fingen die Dinge an, sich zu verändern.

Ich räume die restlichen Kühlboxen beiseite und starre das Fahrrad an. Ich dachte, meine Mutter hätte es vor Jahren dem Wohltätigkeitsladen gespendet, als ich ihr sagte, sie könne mein Raleigh hinbringen. Ich hebe es auf, als würde ich einen Patienten in kritischem Zustand bewegen, und trage es nach draußen.

»Hast du ernsthaft vor, damit zu fahren?«, fragt Cluny, als wir das Schwinn hinten in ihren Jeep hieven und die Heckklappe schließen.

Ich bin mir nicht sicher, was ich mit dem Rad machen werde. Es ist Jahre her, dass ich auf einem gesessen habe, außer man zählt die Dinger im Fitnessstudio mit, und selbst auf die bin ich nicht allzu oft gestiegen.

Ich lasse mich auf dem Beifahrersitz nieder. »Ich weiß nicht. Im Moment will ich nur, dass jemand es saubermacht und wieder auf Vordermann bringt.« Mir tut in der Seele weh, wie es aussieht.

Cluny schaltet das Radio ein – irgendein Sender, der Musik mit Windspielen, Flöten und dem Wellenrauschen spielt, Gedudel, das man normalerweise im Massagesalon hört. Der Kies knirscht unter den Reifen, und der Traumfänger am Rückspiegel schwingt hin und her, während wir die Auffahrt hochfahren, an deren Ende der grüne Briefkasten steht, gefolgt von einem verblichenen Schild mit der Aufschrift: Privatgrund. Betreten verbo. Das ten ist schon vor Jahren abgefallen.

Cluny biegt auf die Straße, und wir lassen die kleine Landzunge hinter uns, die von den Leuten Hammond’s Point genannt wird, da das Anwesen seit drei Generationen im Besitz der Familie meines Vaters ist. Die Straße schlängelt sich an der Küste entlang, und eine brackige Brise fegt durch die Fenster. Die meisten Gebäude in der Nachbarschaft sind Kolonialstilbauten oder Farmhäuser, viele davon aus dem neunzehnten Jahrhundert, so wie unseres. Auf den Rasenflächen alte, kräftige Eichen und Ahornbäume, die schon Generationen von Kindern an ihren Ästen schaukeln und an ihren Stämmen haben hochkrabbeln sehen.

Als wir uns von der Meerenge abwenden, geht es die nächsten Meilen die sanften Hügel auf und ab, die vom dichten Sommergrün und dem schwachen Duft nach Heckenkirschen überzogen werden. Ich erinnere mich, wie Mom, als wir Kinder waren, kleine Zweige abschnitt und sie für Renny und mich in Marmeladengläser steckte, wo die weiß-gelben Blüten wie kleine Glöckchen herumbaumelten und unsere Zimmer mit ihrem Duft erfüllten.

Wir folgen der Straße um die weiße, mit Schindeln bedeckte presbyterianische Kirche herum.

»Endlich haben sie einen neuen Kirchturm aufgestellt«, bemerke ich. Der alte wurde vor einigen Jahren durch ein Feuer zerstört, und die Gemeinde musste erst Geld für die Erneuerung sammeln.

»Ich finde, er sieht gut aus«, sagt Cluny.

Mir hat der alte besser gefallen, aber ich sage nichts. Der neue Turm sieht einen Tick zu modern aus, und ich frage mich, ob er überhaupt aus Holz ist oder ob die Schindeln aus irgendeinem synthetischen, feuerbeständigen Material gegossen sind.

Auf der Wallach’s Road kommen wir an einem antiken roten Haus mit Holzfassade vorbei, das einst eine Tanzschule war und nun das Bellagio, ein italienisches Restaurant, beherbergt. Ich denke an all die Pliés und Relevés, die ich in dieser Schule gemacht habe, als ich sieben und acht war und versuchte, Ballett zu lernen. Jetzt sitzen Leute drin, die Pizza und Hähnchen Marsala essen.

Wir fahren an einem Dreiergrüppchen viktorianischer Häuser vorbei, die den Antiquitätenladen, den Lebensmittelmarkt und die Eisenwarenhandlung Sage beherbergen. Die Häuschen mit ihren lebkuchenartig verzierten Veranden sitzen ein Stück zurückgesetzt aneinandergekuschelt da.

Cluny sieht zu mir und grinst. »Hat dein Dad in letzter Zeit wieder was bei Sage gekauft?«

»Nein, Gott sei Dank nicht. Zumindest glaube ich das. Mom hat ziemlich ein Auge drauf.«

Die Eisenwarenhandlung gehört zu den Lieblingsläden meines Vaters, und das obwohl er immer ein eher schwieriges Verhältnis zu Werkzeugen hatte. Zu seinem eigenen Schutz hat Mom daher schon vor Jahren verfügt, dass er nur reingehen und schauen darf, aber nichts kaufen – damit er sich nicht wieder verletzt. Eines Sommers, als ich neun war, hatte er nämlich beschlossen, ein Vogelhaus zu bauen, aber nicht aus einem Bausatz. Er ging zu Sage und kaufte sich einen Haufen Werkzeug, holte Bretter und kam dann nach Hause, um sich prompt mit der Säge in die Hand zu schneiden, was mit einundzwanzig Stichen im Finger und einer Predigt über den sicheren Umgang mit Werkzeug seitens des Unfallarztes endete.

Heutzutage geht er nur noch hin, um zu stöbern. Er mag es, Hammer, Bohrmaschinen und Lötkolben in die Hand zu nehmen; Packungen mit Schraubenschlüssel-Sets zu öffnen und ihr elegantes, silbrig glänzendes Design zu bewundern; Feilen, Fräser und Fliesenschneider zu begutachten und mit den Verkäufern über Stecker und Tacker zu plaudern. Ich habe ihn dort ein paar Mal erwischt, sehnsuchtsvoll über Aufbewahrungsboxen und Werkbänke gebeugt. Er hat sogar schon Gedichte über den Laden geschrieben. In Feuereifer, das durch den Zwischenfall mit der Säge inspiriert wurde, geht es darum zu wissen, wann man Vorsicht walten lassen muss und wann man die Zügel schießen lassen kann, und die feine Grenze dazwischen.

Wir halten kurz am Hafen, wo Cluny und Greg ihr Motorboot haben. Ein halbes Dutzend Boote gleiten vorüber, in die tieferen Gewässer des Sunds, ihre Motoren gurgeln mit leisen, kehligen Stimmen. Auf der anderen Seite der Meerenge erheben sich alte, stattliche Häuser mit Dachgauben und Giebeln und filigranen Verandageländern über weitläufigen grünen Rasenflächen, die bis zur Ufermauer hinabreichen. Ich folge Cluny in den Hickory-Bluff-Store, wo sich offenbar das Sortiment aus Bootsausrüstungen und Strandzubehör nicht geändert hat. Während sie ein Austernmesser kauft, spähe ich in eine Mahagonikiste mit staubigem Glasdeckel und freue mich zu sehen, dass immer noch Süßigkeiten drin sind. Ich erinnere mich daran, wie ich mit Renny hier immer M&Ms und Snickers kaufte und wie wir sie danach draußen auf dem Kai aßen und dabei unsere Füße ins Wasser baumeln ließen. Ohne nachzuschauen, weiß ich, dass es auch noch den Kühlschrank mit Getränken an der Wand ganz hinten gibt sowie einen Nebenraum, wo sie Köder verkaufen. Es tröstet mich, dass alles beim Alten ist.

Als wir jedoch in die Innenstadt hineinfahren, sieht das schon anders aus. Ich bemerke sofort die neue Markise über dem Sugar Bowl, dem Diner, wo alle Jugendlichen während unserer Highschool-Zeit abhingen.

»Wann haben sie denn die Markise angebracht?«, frage ich und deute auf das gelbe Gebäude mit den pinkfarbenen Geranien in den Blumenkästen.

»Ich weiß nicht mehr«, sagt Cluny und wirft einen kurzen Blick drauf. »Im Frühling vielleicht. Ich finde, das Blau-Weiß macht sich gut.«

Ich frage mich, was an dem Gelb-Weiß verkehrt war.

Wir kommen an einem Kinderklamottenladen vorbei, der aufgemacht haben muss, nachdem ich im vergangenen Herbst das letzte Mal in der Stadt war. Ich versuche, mich daran zu erinnern, was für ein Geschäft vorher drin war, aber es will mir nicht einfallen.

Cluny parkt, und wir zerren Rennys Fahrrad aus dem Jeep und schieben es langsam den Bürgersteig entlang zum Bike Peddler. Glöckchengebimmel ertönt, als ich die Tür öffne. Fahrräder in verschiedensten Farben, Modellen und Größen, von Dreirädern bis hin zu Tandems, lehnen in Ständern auf dem Boden und hängen von der Decke. Radlerbekleidung, Helme, Wasserflaschen, Körbe, Klingeln und anderes Zubehör drängen sich auf jedem noch so kleinen Fleckchen, und der Geruch nach Gummi liegt in der Luft.

»Der Laden sieht ganz anders aus«, flüstere ich. »Er wirkt viel kleiner.«

»Ich glaube, der alte Besitzer hat das Geschäft verkauft, als wir noch Kinder waren«, sagt Cluny. »Wie hieß er noch gleich? Scooter irgendwas?«

»Dees«, antworte ich, »Scooter Dees.«

Ich schiebe das Fahrrad Richtung Verkaufstresen. Neben mir unterhält ein Mann in dunkelblauem T-Shirt sich mit einer Frau und deren Tochter, aber als ich an ihm vorbeikomme, schaut er mich mit sanften braunen Augen an. »Ich bin gleich bei Ihnen«, sagt er mit einem Lächeln.

Der eine Mundwinkel zieht sich ein klein wenig höher als der andere. Eine dunkelbraune Locke fällt ihm in die Stirn. Er ist knapp über eins achtzig und hat den athletischen Körperbau eines Tennisspielers, schlank und muskulös. Irgendetwas an ihm ist mir vage vertraut, aber ich kann sein Gesicht nicht einordnen. Ich nehme an, er ist in meinem Alter, aber er sieht nicht aus wie jemand, den ich aus der Schule kennen könnte.

Ich lehne das Paramount gegen den Tresen und folge Cluny, die durch den Laden stöbert.

»Greg war letztes Jahr hier«, sagt sie. »Um Fahrräder für die Mädchen zu kaufen.« Sie nimmt einen gelben Reflektor aus einem Korb, sieht ihn sich an und legt ihn wieder zurück. Dann beugt sie sich zu mir und senkt die Stimme. »Ich hab nachgedacht, Grace. Ich weiß, dass du deine Miete zahlen musst und Rechnungen, und ich weiß, dass dir deine Eltern immer aushelfen werden, aber falls du jemals Geld oder sonst etwas brauchen solltest, Greg und ich sind immer für dich da.«

Das erwischt mich völlig unvorbereitet. Ich bin dankbar, aber gleichzeitig ist es mir unangenehm, vor allem, da meine Eltern mir dasselbe Angebot unterbreitet haben. Weiß hier eigentlich jeder etwas, das ich nicht weiß? Werde ich womöglich nie wieder einen Job finden?

»Das ist wirklich nett von dir, Cluny, aber mir geht’s gut. Ich hab bei der Kündigung eine Abfindung kassiert.« Ich erwähne nicht, dass ich einen großen Teil davon schon für Rechnungen ausgegeben habe. »Und ich habe eine ordentliche Summe beiseitegelegt.« Auch das ist eine Lüge, aber ich könnte mir niemals Geld von einer Freundin leihen, vor allem nicht von Cluny. Das sind genau die Sachen, die eine Beziehung zerstören können.

»Oh, ich bin sicher, du kommst klar«, sagt sie einen Tick zu schnell. »Aber falls je was sein sollte, will ich, dass du weißt, dass wir dir helfen werden. Wozu sind Freunde da?«

Ich bedanke mich, schaffe es jedoch nicht, ihr in die Augen zu sehen.

Als wir uns der Kasse nähern, bemerke ich einen Stapel Flyer auf dem Tresen und nehme mir einen.

Dorset radelt für den guten Zweck – Spendenrennen zum Unabhängigkeitstag

Der Bike Peddler und der Landschaftspflegeverband Dorset haben sich für eine tolle Spendenaktion zusammengetan, die am Mittwoch, den 4. Juli, stattfinden wird. Beginnen Sie den Morgen mit einem kotsenlosen Frühstück, und entdecken Sie im Anschluss den wunderschönen Osten Connecticuts per Rad, auf einer Abenteuerroute von 5, 25 oder 50 Meilen …

»Hm.« Ich wühle in meiner Handtasche und hole einen dünnen schwarzen Edding raus. Ich ziehe die Kappe ab und befreie damit den stechenden Geruch von was auch immer sie in diese Eddings tun, damit die Tinte ewig hält. Dann ändere ich die Reihenfolge der Buchstaben, sodass dort korrekt kostenlos steht.

»Was ist denn das?« Cluny blickt über meine Schulter. »Äh, oh … Was tust du da?«

»Das ist ein Flyer für eine Fahrradtour, und da ist ein Tippfehler.« Ich nehme den Stapel vom Tresen.

Cluny greift sich den Edding. »Hey«, flüstert sie. »Du bist hier nicht bei der Arbeit. Vielleicht gefällt es den Leuten nicht, wenn du einfach ihr Zeug korrigierst.« Sie blickt Richtung Tür, wo der Fahrradverkäufer jetzt steht, immer noch in das Gespräch mit der Mutter vertieft.

»Aber wenn ich es gemerkt habe, werden es alle merken. Und es ist nicht richtig.« Ich nehme den Filzstift wieder an mich. »Weißt du, was mir auf den Schreibtisch geflattert ist, an dem Tag, als sie unsere gesamte Abteilung abgeschafft haben?«, frage ich und fahre mit meinen Korrekturen fort. »Eine Tüte mit Chivda. Das ist dieses indische Knabberzeug mit Reisflocken und so Zeug drin. Auf der Tüte stand: Bombay Garden Chivda, so schmeckt der Mann. Kannst du dir das vorstellen? Als wären da gemahlene Menschen drin.«

»Igitt«, sagt Cluny und verzieht das Gesicht.

»Ganz genau. So viel zu computergenerierten Übersetzungen. Ich musste an diesen alten Film denken, Soylent Green, der in der Zukunft spielt und wo die Leute nichts mehr zu essen haben, also ernähren sie sich von gemahlenen Menschen.«

»Hör auf.« Sie hebt die Hand.

»Egal, ich will damit nur sagen, dass es wichtig ist, sich korrekt auszudrücken. Es kann den kleinen, feinen Unterschied ausmachen zwischen: So schmeckt der Mann und Das schmeckt jedermann.« Gerade als ich dabei bin, meinen Stift für den nächsten Flyer zu zücken, höre ich eine Stimme.

»Entschuldigung, was tun Sie da?«

Ich blicke auf. Der Fahrradtyp schaut mich aus seinen braunen Augen an.

»Tschüss, Mitch«, ruft die Mutter, als sie und ihre Tochter den Laden verlassen.

»Ich korrigiere nur die Flyer hier«, erkläre ich. »Sie haben hier einen orthografischen Fehler, das heißt, Sie haben sich wohl vertippt.« Ich lächle.

»Ich weiß, was ein orthografischer Fehler ist, aber unsere Flyer müssen nicht korrigiert werden.« Die Locke hängt ihm immer noch in die Stirn. Ich frage mich, ob er sie überhaupt bemerkt. Er greift nach den Zetteln, aber ich halte sie fest.

»Ich kann die in einer Minute in Ordnung bringen«, sage ich. »Sogar weniger … ich meine schneller. Ich möchte nur helfen.«

Mitch zieht stärker. »Hören Sie auf, an den Flyern rumzumachen.«

»Komm schon, Grace«, drängt Cluny. »Lass uns gehen.«

»Aber sie sind falsch«, beharre ich und packe sie noch fester.

Vielleicht ist es der viele Zucker von dem Cookie-Crunch-Eis, das ich gestern Nacht noch verschlungen habe, aber aus irgendeinem Grund kann ich diese Flyer einfach nicht loslassen. Mitch und ich zerren beide hin und her, bis er so ruckartig daran zieht, dass ich aus dem Gleichgewicht gerate, nach hinten stolpere und gegen ein Fahrrad knalle, das in ein anderes knallt und einen Dominoeffekt auslöst. Innerhalb weniger Sekunden sind bestimmt sechs Räder umgefallen, ich selbst hänge zwischen zweien fest, und einer meiner Sneakers hat sich in den Radspeichen verfangen. »Autsch, mein Rücken!«

Cluny eilt herbei, um die Fahrräder von mir runterzuziehen. »Alles in Ordnung?«

»Ich weiß nicht. Ich glaube schon.« Ich rapple mich vorsichtig auf.

»Hier.« Mitch streckt die Hand aus. »Lassen Sie mich Ihnen helfen.«

»Nein, nein, mir geht’s gut«, erwidere ich. Ich richte mich auf und betrachte das Durcheinander. Der Großteil der Flyer liegt verstreut auf dem Boden, aber ein paar werden immer noch von zwei Ventilatoren herumgewirbelt und flattern munter durch die Luft. »Ich räum das auf«, sage ich hastig und mache mich daran, die Zettel aufzuheben.

Cluny gesellt sich zu mir. »Ja, das machen wir«, pflichtet sie mir bei. »Das haben wir im Handumdrehen aufgesammelt.«

»Nein, nein, vielleicht sollten Sie sich lieber setzen, damit nicht Schlimmeres geschieht«, sagt Mitch. Kurz denke ich, es geht ihm um mein Wohlergehen, aber ganz sicher bin ich mir dann doch nicht. Er fängt einen der Flyer aus der Luft.

»Mir geht’s gut«, erwidere ich. »Ich wollte nur behilflich sein.« Ich greife nach einem Flyer, der sich in einem der Ventilatoren verfangen hat und im Sog der Flügel flattert. »Es tut mir wirklich leid.«

Er sieht mich ärgerlich an. »Rennen Sie immer herum und korrigieren, was andere schreiben? Selbst wenn niemand Sie darum gebeten hat?«

»Manchmal geht es ein bisschen mit ihr durch«, erwidert Cluny an meiner Stelle. »Sie hat drei Ausgaben von The Elements of Style.« Sie sieht Mitch erwartungsvoll an, dem der Titel aber nichts zu sagen scheint. »Sie wissen schon, das Standardwerk zur stilsicheren Verwendung der englischen Sprache?«

Er sagt nichts. Stattdessen macht er sich daran, die Fahrräder aufzuheben, die ich umgeworfen habe.

»Ich wollte bestimmt kein Chaos anrichten«, sage ich. Obwohl, wenn ich mich so umschaue, fällt mir auf, dass der Raum schon vor meiner Aktion ziemlich chaotisch ausgesehen haben muss. Cluny und ich machen Anstalten, ihm zu helfen, aber Mitch hebt die Hand und gebietet uns Einhalt.

»Nein, ich mach das schon«, sagt er. »Sie haben wirklich genug getan.«

Ich glaube nicht, dass er das auf die nette Art meint. Ich will Cluny schon vorschlagen, einen anderen Fahrradladen zu suchen, als Mitch das Schwinn Paramount bemerkt, das am Tresen lehnt. »Was ist denn das? Ist das Ihres?«

»Ja«, erwidere ich. »Ein Schwinn.«

»Ich weiß«, sagt er. »Ein Schwinn Paramount.« Er fährt sanft mit der Hand über den Sattel. »Das waren tolle Fahrräder«, fährt er fort, und seine Stimme ist leise, beinahe ehrfürchtig. »Spitzenmodelle für die damalige Zeit. Dieses hier … muss über dreißig Jahre alt sein.«

»Ich würde es gerne reparieren lassen«, sage ich.

Er beugt sich runter, um es genauer in Augenschein zu nehmen. Er inspiziert den Rahmen, und sein Blick wandert über den Dreck auf den Stangen, die Rostflecken auf dem Chrom, die Fitzelchen des Markennamens, die immer noch unter dem Schmutz sichtbar sind. Er schaut sich die Reifen an und fährt mit den Fingern über einige der Speichen. Er nickt, als er die verrostete Kette sieht.

»Das könnte eine Generalüberholung gebrauchen«, sagt er. »Sieht ganz so aus, als hätte man es an einem feuchten Ort abgestellt und dort vergessen.« Er streift ein Stück abblätterndes Leder vom Sattel. »Im Grunde muss alles ersetzt oder repariert werden.« Er sieht zu mir auf. »Aber das kriegen wir hin.«

»Ich habe gehofft, dass Sie das sagen«, erwidere ich.

Mitch richtet sich auf. »Sie sind also nicht nur gekommen, um unsere Flyer zu korrigieren.« Da ist der Hauch eines Lächelns auf seinem Gesicht.

»Nein«, flüstere ich. »Bin ich nicht.«

»Nun, Sie haben hier zwei Optionen«, sagt er. »Wir können es herrichten, indem wir neue Teile verwenden.« Er fährt mit der Hand über die Vorderbremse. »Oder wir restaurieren es und verwenden dafür Originalteile – Weinmann-Carrera-Bremsen, Shimano-Gangschaltung, Brooks-Sattel, das ganze Programm.« Er zupft an dem bröseligen blauen Lenkerband, und kleine Stückchen rieseln zu Boden. »Dann würde das Fahrrad so aussehen wie damals, als Sie es gekauft haben.«

Ich sage ihm nicht, dass nicht ich es gekauft habe, dass es meiner Schwester gehörte. Ich nicke nur. Alles, was ich ursprünglich wollte, war, dass jemand das Fahrrad reinigt und wieder fahrtauglich macht, ich hatte nichts Spezielles damit vor. Aber jetzt blüht förmlich die Vision eines restaurierten Fahrrads mit alten Originalteilen in meinem Herzen auf.

Mitch fährt fort, an dem blauen Lenkerband zu zupfen, bis es schließlich ganz weg ist, und was darunter zum Vorschein kommt, ist ein Abschnitt glänzenden Silbers, eine Vorstellung dessen, wie das Fahrrad aussah, als es Renny gehörte. Und in diesem Augenblick habe ich meine Antwort gefunden.

»Ich würde es gerne restaurieren lassen«, sage ich.

»Ich glaube, Sie werden mit dem Ergebnis glücklich sein«, erwidert er. »Geben Sie mir doch Ihren Namen und Ihre Telefonnummer, und ich rufe Sie an, wenn wir einen Kostenvoranschlag haben.«

Er reicht mir eine Karteikarte, und ich notiere meine Kontaktdaten. Als er die Karte wieder nimmt, hält er sie sich vors Gesicht. »Grace Hammond.«

»Ja«, sage ich und bin auf die üblichen Fragen vorbereitet. »Ja, ich bin mit dem Dichter D.H. Hammond verwandt. Er ist mein Vater. Und nein, ich schreibe selbst keine Gedichte.«

»Gedichte?«, fragt er und schaut verwirrt drein. »Ich wollte nur fragen, welche Vorwahl Sie haben.«

»Oh.« Ich greife nach der Karte und kritzele die fehlenden Ziffern hin.

Die Glöckchen über der Tür bimmeln, und eine großgewachsene, superdünne Frau in Skinny-Jeans und Plateausandalen betritt den Laden. Als sie in Richtung Kasse stolziert kommt, schwingt sie ihre blonde, wallende Mähne über die Schulter.

»Mitchell«, sagt sie mit einem heiseren, gedehnten Südstaatenakzent. »Wie geht’s dir heute, Darling?«

Ihre Stimme kommt mir bekannt vor, und ich versuche, sie einzuordnen, als sie sich zu Cluny umdreht und sie mit einem »Hey, du« begrüßt.

»Hallo, Regan«, antwortet Cluny.

Und da weiß ich wieder ganz genau, wer das ist: Regan Moxley. Ihre Familie kam von Texas nach Dorset, als wir in der Middleschool waren, und Regan sorgte von Anfang an nur für Ärger. In der siebten Klasse erzählte sie Cluny und mir, wir müssten für den Schulausflug zum Naturhistorischen Museum in den Bus mit der Acht steigen, wo es doch in Wirklichkeit der mit der Zwei war; auf die Weise landeten wir mit den kleinen Kindern in der Sesamstraßen-Liveshow. Aber das war noch nichts, verglichen mit der zwölften Klasse, als sie mir meinen Freund Grover Holland ausspannte. Ich hatte bereits gehört, dass sie wieder nach Dorset zurückgezogen war.

»Regan, du erinnerst dich sicher noch an Grace?«, sagt Cluny, die leider nie ihre guten Manieren vergisst. »Von der Highschool?«

Regan tritt zurück, mustert mich von oben bis unten und lächelt schließlich. »Grace. Oh, hi. Ich hab dich gar nicht erkannt.« Ich kann nur Mutmaßungen anstellen, was ihr gerade durch den Kopf geht. So was wie: Du siehst aus, als hättest du ein paar Pfund zugelegt. Auf Regan ist Verlass, wenn es darum geht, die fünf Pfund zu bemerken, die ich ständig loswerden will.

Sie dreht sich zu Mitch um, der hinter dem Verkaufstresen steht und gerade dabei ist, einen Fahrradschlauch aus der Verpackung zu ziehen. »Mitchell, ist mein Mountainbike schon eingetroffen?«, fragt sie und klimpert mit den Wimpern.

»Noch nicht, Regan. Anfang nächster Woche, weißt du doch.«

Sie schürzt die Lippen. »Hm, okay. Dachte nur, ich schau mal rein.« Dann wendet sie sich mir zu. »War dein Haar früher nicht ein paar Nuancen heller, Grace? Fast schon blond? Vielleicht habe ich dich deswegen nicht erkannt. Weißt du, so ein paar Strähnchen würden wirklich für etwas mehr Glanz sorgen.« Sie fährt sich mit der Hand durch ihr Haar. »Du kannst es dir ja mal überlegen.«

»Ich werde darüber nachdenken, Regan.«

Sie mustert noch einen Moment angewidert mein Haar und sagt dann: »Was führt dich nach Dorset, Grace? Besuchst du deine Familie?« Sie schnippt mit den Fingern. »Oh, warte, ich hab gehört, dass demnächst eine große Party für deinen Dad ansteht.«

»Ja, das stimmt.«

»Sieht so aus, als würde ein Haufen Leute hingehen, dabei hab ich meine Einladung noch gar nicht bekommen.« Sie lacht, als hätte sie einen Witz gemacht, aber ich bemerke den ernsten Unterton. Regan mochte es noch nie, ausgeschlossen zu werden, egal wovon.

»Es kommt vor allem Familie«, erwidere ich. »Und ein paar enge Freunde meiner Eltern.«

»Ach so«, sagt sie. »Aber du hast doch bestimmt einen heißen Typen aus New York mitgebracht, oder? Ich hab gehört, du lebst jetzt in der Großstadt.« Sie tritt zu einem blauen Mountainbike, das in einem Ständer lehnt.

»Nein, ich habe niemanden mitgebracht«, erwidere ich und frage mich, warum Regan Moxley es immer noch schafft, mich in die Defensive zu drängen. Ich spähe auf ihre linke Hand, um zu sehen, ob sie einen Ehering trägt. Sie war mit Roger Webber, dem Kapitän der Footballmannschaft, verheiratet, aber ich habe gehört, sie hätten sich schon vor Ewigkeiten scheiden lassen. Zumindest trägt sie keinen Ring.

Regan blickt von dem blauen Fahrrad auf und lässt ihre Finger sanft über den Sattel gleiten. »Ein einsames Mädchen aus der Großstadt.« Sie sieht Mitch an, der eine Bremse in der Hand hält und etwas in einem Block notiert, und schenkt ihm ein Lächeln.

»Eigentlich«, sage ich und trete näher an die Ladentheke, »bin ich nicht einsam. Dieser Herr hier ist meine Begleitung für die Party.« Ich lege meine Hand auf Mitchs Arm.

Mitch sieht mich überrascht an.

Ich grinse. »Wir sind jetzt schon seit vier … oh, nein, fünf Wochen zusammen. Stimmt’s, Mitch?«

»Ich glaube, es sind eher sechs«, sagt er und steigt darauf ein. »Vielleicht sogar sieben. Ich hab den Überblick verloren, es war eine ziemlich stürmische Romanze. Aber trotz der kurzen Zeit habe ich schon das Gefühl, dich wirklich gut zu kennen – deine Interessen, deine liebenswerten kleinen Ticks …« Er blickt zu den Flyern, dann wieder zu mir, und da ist der Hauch eines Lächelns auf seinem Gesicht.

Cluny beißt sich auf die Lippe, und ich kann nur hoffen, dass sie jetzt nicht loslacht.

»Mir geht es genauso, Liebling.«

»Na, wenn das nicht reizend ist«, sagt Regan. »Ich hab gar nicht mitbekommen, dass du mit jemandem zusammen bist, Mitch.«

»Wir wollten es nicht an die große Glocke hängen«, erwidere ich und zwinkere ihm zu. Er zwinkert zurück.

Regan schiebt die Hände in die Gesäßtaschen ihrer Jeans und wendet sich nun Cluny zu. »Ich hab deine Karten im Nutmeg-Markt gesehen, die haben mittlerweile eine richtig große Auswahl. Die Geschäfte müssen ja gut laufen.«

»Ja, es läuft ganz gut«, sagt Cluny. »Danke schön.«

Die Geschäfte laufen eigentlich hervorragend, aber Cluny ist zu bescheiden, um das Regan unter die Nase zu reiben.

»Ich hätte da noch ein paar Ideen für dich«, sagt Regan und nimmt eine Sonnenbrille von einem Aufsteller neben der Kasse. »Für deine Karten … Falls du Interesse hast.«

Cluny wirft mir einen Blick zu, und mir klappt die Kinnlade runter. Was für eine Frechheit! »Oh, na klar«, sagt Cluny. »Danke, Regan. Ich melde mich.«

Regan setzt die Sonnenbrille auf, besieht sich in einem Fahrradspiegel und legt sie dann wieder zurück. »Was ist mit dir, Grace? Was arbeitest du so?«

Oh Gott, die gefürchtete Frage. Ich werde Regan gegenüber bestimmt nicht zugeben, dass ich arbeitslos bin.

»Sie ist Korrekturleserin«, sagt Mitch, bevor ich mir eine Antwort überlegen kann. »Zück dein Elements of Style.«

»Du bist Korrekturleserin? Und ich dachte, du wärst mittlerweile eine große Schriftstellerin. Ich meine, so wie Mr. Palmieri in Englisch immer von dir geschwärmt hat …«

»Ich bin keine Korrekturleserin.«

»Das ist nur ein kleiner Insiderwitz zwischen uns«, wirft Cluny ein.

»Eigentlich überarbeite ich computergenerierte Übersetzungen und berichtige die stilistischen Fehler«, sage ich und stelle mich etwas aufrechter hin.

Regan starrt mich nur an.

»Hier ein kleines Beispiel. Hast du jemals was von Chivda gehört?«

»Chiv…was?« Sie blinzelt ratlos.

»Ich sag nur Soylent Green«, sagt Mitch und greift nach einem Stapel Briefe. Ich kann sein Grinsen sehen.

»Was für Soja?«, fragt Regan.

»Nicht so wichtig«, erwidere ich.

»Was treibst du so, Regan?«, fragt Cluny, und ich danke ihr im Stillen für den Themenwechsel. Ich kann die Antwort kaum abwarten. Das Einzige, was Regan je gut konnte, war Jungs anbaggern.

»Ich? Mir gehört die örtliche Buchhandlung«, antwortet sie und schwingt ihr Haar über die Schulter.

Regan hat eine Buchhandlung? Das kann nicht stimmen! »Dir gehört was?«

»Die Buchhandlung die Straße runter. Früher hieß sie Open Book.«

»Dir gehört das Open Book?« Ich kann es nicht fassen. In der Schule hat sie nie etwas gelesen, außer die Nachhilfeheftchen zur Prüfungsvorbereitung.

Sie zupft den grünen Edelstein an ihrer Halskette zurecht. »Seit ungefähr drei Wochen. Ich habe den Namen geändert in Zwischen den Zeilen.«

»Ein interessanter Name«, erwidere ich. »So viele Konnotationen.«

Ich bin sicher, Regans Vater hat ihr den Laden besorgt. Er hat vor Jahren einen Haufen Kohle gemacht, als er seinen Zeitschriftenverlag verkaufte. Er war der Schöpfer von Tell all und The Source, zwei Klatschblättern, die an den Kassen jedes Supermarkts im Lande herumliegen. Er hat bei dem Deal sechshundert Millionen Dollar Gewinn gemacht und kann es sich leisten, Regan jeden Laden zu kaufen, den sie will … und ihn dann auch am Laufen zu halten.

»Nun, ich muss jetzt los, ins Boot Camp – meine Trainingsstunde fängt gleich an«, sagt sie und blickt kurz in unsere Richtung. »Mitch, hast du mich eigentlich schon für die Radtour angemeldet?«

Er sieht auf, während er einen der Briefumschläge öffnet. »Den mit dem kostenlosen Frühstück?« Er wirft mir einen kurzen Blick zu. »Ja, alles erledigt.«

»Oh, das Gratisfrühstück ist mir egal«, sagt Regan. »Aber hast du mich für den langen Ritt angemeldet? Die fünfzig Meilen? Alles andere ist doch lahm.«

Mitch nickt. »Ja, du stehst auf der Liste. Fünfzig Meilen.«

»Okay, gut.« Sie sieht mich an. »Ich versuche, so viel zu trainieren wie nur möglich. Ich lege Wert darauf, in Form zu bleiben.« Sie wischt ein paar unsichtbare Fussel von ihrer Jeans. »Du solltest auch bei der Spendenaktion mitmachen, Grace. Du kannst ja die Babytour fahren, das sind nur fünf Meilen. Ich meine, falls du die harte Tour nicht schaffst.« Sie zieht einen Lippenstift hervor und zieht ihre Lippen nach.

Babytour? Ich hebe das Kinn. »Oh, na klar mache ich bei der Spendenaktion mit«, sage ich und ignoriere die Tatsache, dass ich seit Jahren nicht mehr auf einem Fahrrad gesessen habe. »Deswegen bin ich hier. Ich lasse mein Rad reparieren, damit es für die lange Strecke in Schuss ist.«

Cluny sieht mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Aber wie schwer kann eine 50-Meilen-Tour schon sein? Ich bin früher oft 50 Meilen gefahren.

»Du fährst bei der langen Tour mit?«, fragt Mitch und zeigt mit einem Stützräderkatalog auf mich. »Die 50 Meilen?«

»Natürlich, Schatz.« Ich drehe mich zum Tresen um und greife nach einem der Flyer, von dem mir meine eigene Korrektur entgegenstarrt. Ich kritzele Name und Kontaktdaten in das Anmeldefeld und stelle schnell einen Scheck über 75 Dollar aus – 75 Dollar, die ich eigentlich nicht ausgeben sollte.

»Das ist ja toll«, sagt Regan. »Ich wusste nicht, dass du Rad fährst.«

Ich setze ein überraschtes Gesicht auf. »Ich? Na klar. Und wie. In Manhattan bin ich die ganze Zeit mit dem Rad unterwegs. Ich liebe es, den Bussen und Taxis auszuweichen. Das gibt dem Ganzen so einen gefährlichen Touch, den kriegt man hier draußen einfach nicht.«

Cluny drängt mich Richtung Tür. »Komm jetzt, ich sollte los. Ich muss noch ein Angebot ausarbeiten.«

Sie will gerade die Türklinke drücken, als Regan sagt: »Mitchell, rate mal, wer neulich in meinen Laden gekommen ist?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fügt sie hinzu: »Peter Brooks, der Filmregisseur!«

»Warte mal«, flüstere ich Cluny zu. Wir drehen uns beide um.

Mitch ist dabei, den nächsten Umschlag zu öffnen, und blickt kaum auf. »Der Regisseur, der gerade in der Stadt ist?«

»Genau der«, sagt Regan, und beugt sich weit über den Tresen, damit er ihre Brüste bewundern kann. »Ich bin mit ihm zur Highschool gegangen.« Sie zwirbelt eine blonde Strähne um den Finger.

»Wirklich«, murmelt Mitch und knüllt ein Stück Papier zusammen.

»Und ob.« Regan inspiziert ihre Fingernägel. »Er ist in den Laden gekommen und hat sich sofort an mich erinnert. Oh, er war ja so ein Herzensbrecher. Hat jedem Mädchen weisgemacht, er wäre in sie verliebt.«

»Die ganze Stadt ist aus dem Häuschen, weil sie diesen Film hier drehen«, brummt Mitch. »Mir persönlich ist das egal.«

»Nun, mir nicht, denn ich kenne Peter. Außerdem sieht er gut aus, der Mann ist echt