DER SOMMER DER TOTEN - Michael T. Hinkemeyer - E-Book

DER SOMMER DER TOTEN E-Book

Michael T. Hinkemeyer

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Beschreibung

Katie Ellenwood ist nach Hause zurückgekehrt, in ein abgelegenes Landstädtchen, wo sich seit hundert Jahren nicht viel verändert hat. Aber Katie fühlt sich zu Hause nicht mehr wohl. Sie hat Angst.

Aus welchem Grund werfen ihr die Stadtbewohner diese eigenartigen Blicke zu? Warum macht der Priester so rätselhafte Andeutungen in der Predigt, und warum lässt er sämtliche Kreuze aus der Kirche entfernen?

Die Sommersonnenwende ist nahe. Die Menschen von den umliegenden Höfen strömen in die Stadt. Wie in jedem Jahr wollen sie das große Fest feiern – jenes Fest, in dessen Verlauf Katie die grauenvolle Wahrheit erfahren soll...

Der Roman Der Sommer der Toten des US-amerikanischen Autors Michael T. Hinkemeyer (erstmals im Jahr 1976 veröffentlicht) gilt als Klassiker des modernen Horrors und erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Reihe APEX HORROR.

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Veröffentlichungsjahr: 2019

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Ähnliche


 

 

 

 

 

MICHAEL T. HINKEMEYER

 

Der Sommer der Toten

 

 

 

 

Roman

 

 

Apex Horror, Band 24

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DER SOMMER DER TOTEN 

Donnerstag, 17. Juni, abends 

Freitagmorgen, 18. Juni 

Freitag, nachmittags 

Freitagabend 

Samstagmorgen, 19. Juni 

Samstagnachmittag 

Samstagabend 

Sonntagmorgen, 20. Juni 

Sonntagnachmittag 

Sonntagabend 

Montagmorgen, 21. Juni 

Dienstag, 22. Juni 

Dienstagabend 

Mittwochmorgen, 23. Juni 

 

Das Buch

 

 

Katie Ellenwood ist nach Hause zurückgekehrt, in ein abgelegenes Landstädtchen, wo sich seit hundert Jahren nicht viel verändert hat. Aber Katie fühlt sich zu Hause nicht mehr wohl. Sie hat Angst.

Aus welchem Grund werfen ihr die Stadtbewohner diese eigenartigen Blicke zu? Warum macht der Priester so rätselhafte Andeutungen in der Predigt, und warum lässt er sämtliche Kreuze aus der Kirche entfernen?

Die Sommersonnenwende ist nahe. Die Menschen von den umliegenden Höfen strömen in die Stadt. Wie in jedem Jahr wollen sie das große Fest feiern – jenes Fest, in dessen Verlauf Katie die grauenvolle Wahrheit erfahren soll...

 

Der Roman Der Sommer der Toten des US-amerikanischen Autors Michael T. Hinkemeyer (erstmals im Jahr 1976 veröffentlicht) gilt als Klassiker des modernen Horrors und erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Reihe APEX HORROR. 

DER SOMMER DER TOTEN

 

 

 

 

 

  Die Sommersonnenwende wird als jener Zeitpunkt im Jahresablauf definiert, an dem die Sonne den vom Äquator aus nördlichsten Punkt ihrer Bahn erreicht. Dieses Ereignis tritt um den 22. Juni ein, der daher in der nördlichen Hemisphäre der längste Tag ist.

 

 

In Britannien und anderen Teilen Europas feierten Anhänger des Sonnenkultes in vorchristlicher Zeit die Sommersonnenwende, indem sie riesige Freudenfeuer auf den höchsten Gipfeln entzündeten. Sie wollten sich damit die Sonne geneigt machen, sie zum Verweilen bewegen, um sich IHRES Lichtes immer und ewig erfreuen zu können.

 

The Runes of Wonder:

A Compendium of Myth and Speculation

- Sir Nigel Trevor-Smythe,

London, 1922

 

 

 

 

 

 

  Donnerstag, 17. Juni, abends

 

 

 

1.

 

 

Über Otto Ronskys Land - jenem Stück Land am Ufer des Fox Lake, das einst Papa gehört hatte - ging die Sonne unter, als man Mama nach Hause brachte, gefangen in ihrem gelähmten Leib wie in einer »Eisernen Jungfrau«. Nur ihre Augen bewegten sich und flatterten. Katie ängstigte sich.

»...noch etwa drei Fuß, langsam jetzt...«, gab Papa dem Fahrer des Krankenwagens Anweisung, der mit einem Arm den Wagen lenkte, dabei den Kopf aus dem Fenster reckte und rücklings an die Tür des Farmerhauses heranfuhr.

»Reicht...reicht«, sagte Papa, »...und jetzt halt!« Der Fahrer, ein junger Mann, der sehr unsicher wirkte, trat eine Spur zu fest auf die Bremse. Das Fahrzeug machte einen Ruck. Mama sagte nichts - aber sie war dazu auch nicht imstande.

Papa bedachte den Fahrer mit einem vorwurfsvollen Blick, drehte sich um und verscheuchte Old Robert mit einem Fußtritt von der Verandatreppe, ohne ihn dabei wirklich zu treffen - nur ein Umstoßen mit dem Stiefel war es. Old Robert kannte diesen Vorgang. Er landete auf dem Rücken und streckte alle viere von sich. Dann strampelte er ein wenig, kam sofort wieder auf die Beine, wedelte mit dem räudigen Schwanz und sah drein, als hätte er das Ganze ungemein genossen.

David, der auf der Veranda stand, warf Katie einen missbilligenden Blick zu: Dein Alter ist immer noch derselbe. Papa schenkte niemandem Beachtung. Er ging ans Heck des Fahrzeuges, schlug mit der flachen Hand darauf. Papa würde bald die Sechzig hinter sich haben, ünd das sah man ihm auch an, aber er verfügte noch immer über Bärenkräfte. In der Gemeinde tat sich nichts ohne sein Wissen und wenig, wozu er nicht mit Rat und Tat beigetragen hätte.

»Na, schaffen wir sie raus«, wies er den Fahrer und dessen Helfer an. Die beiden kletterten daraufhin aus dem Krankenwagen. Sie kamen aus St. Cloud, aus der Stadt, und Papa machte sich nicht viel aus Stadtleuten.

David öffnete Katie die Haustür, gemeinsam stiegen sie die Verandastufen hinunter. Die Hecktür des Krankenwagens schwang auf, der Helfer öffnete eine Metallsperre und ließ die Bahre vorgleiten. Mamas Augen waren angsterfüllt.

»Katrin«, sagte Papa mit einem Kopfnicken als Begrüßung zu seiner Frau. Für ihn beinahe überschwänglich.

Katie beugte sich nieder und küsste ihre Mutter auf die Lippen. Sie fühlte dabei die Hilflosigkeit des gelähmten Körpers und sah in den flehenden Blicken das Entsetzen der Wortlosigkeit.

»Oh, Mama...«, setzte sie an und konnte vor Tränen nicht weitersprechen.

»Katie...«, beruhigte David sie.

Doch der Arm, der sie sachte wegdrängte, gehört ihrem Vater. Sie presste sich an ihn.

»Schaffen wir sie erst ins Haus«, sagte Ben Jasper. »Zum Weinen ist später auch noch Zeit.«

Old Bens Lippen berührten die langen dunklen Haare seiner Tochter so flüchtig, dass ein zufälliger Beobachter es als optische Täuschung eingestuft hätte. Dann verhärteten sich seine Züge wieder, und die Sichelnarbe auf der linken Wange spannte sich. »David, halte die Verandatür auf«, befahl er seinem Schwiegersohn.

Seine Stimme war fest. Er war ganz und gar beherrscht. Wie immer.

 

 

 

2.

 

 

Knapp vierundzwanzig Stunden zuvor hatte Katie eine Nachricht erhalten, die früher oder später fast jeder erhält. Eine Generation ist abgetreten oder im Begriff, die Welt zu verlassen.

Es war kurz nach dem Abendbrot. Katie und David hatten sich wegen des geplanten Babys aufgezogen, hatten darüber ganz unbefangen und nicht mehr so nervös wie früher geplaudert. Die Ärzte waren sicher, dass es diesen Monat klappen würde. Katie hatte eben das Geschirr abgeräumt, damit ihr Mann auf dem Tisch an seinem Plädoyer arbeiten konnte. Sie waren schon fast drei Jahre verheiratet, aber David hatte sein Jura-Studium eben erst abgeschlossen, und ihre Wohnung in Minneapolis war noch nicht bezogen.

»In unserer Firma gibt es Leute, die in meinem Alter bereits Teilhaber sind«, meinte er unzufrieden.

»Zweiunddreißig ist doch kein Alter«, hatte sie entgegnet. »Und du bist besser als die anderen - du wirst sie einholen.«

»Ja, aber wenn ich mich nicht so mühsam durchs Studium hätte kämpfen müssen, wäre ich schon viel weiter.«

Sie hatte ihn trösten wollen, doch da hatte das Telefon geklingelt.

»Katherine«, sagte der Mann am Telefon. Er fragte nicht, er sagte es einfach.

Sie erkannte die Stimme ihres Vaters, noch ehe er ihren vollen Namen aussprach, und sie war sofort beunruhigt. Er rief sonst nie an.

»Was gibt es?«

Die böse Vorahnung musste an ihrem Tonfall zu hören gewesen sein. David sah jäh auf, den Schreiber über dem gelben Schreibpapier haltend.

»Deine Mama ist erkrankt.«

Eine kümmerliche Erklärung, ohne Gefühl, obwohl er Mama noch Zuneigung entgegenbrachte. Und dazu der steife Ausdruck »erkrankt«.

»Was gibt es?«, fragte sie noch mal. Ihre Gedanken überstürzten sich ziellos. David stand auf und legte den Arm um sie. »Was ist?«, flüsterte er. Sie schüttelte, selbst in Ungewissheit, den Kopf.

»Sieht nach Schlaganfall aus«, äußerte Papa in seiner lakonischen Art. Sie konnte sich ihn genau vorstellen, halb gebeugt während des Sprechens, graumeliert, hausgemachter schartiger Haarschnitt, ständig nach unten gezogene Mundwinkel. »Vor einer Woche wird es gewesen sein. Stimmt, letzten Freitag.«

»Letzten Freitag! Papa! Warum hast du so lange zugewartet, ehe du... ist sie...?«

»Sie hat es überlebt. Am ganzen Körper gelähmt. Und dann, nun ja, wir haben dich seit fast drei Jahren nicht mehr gesehen, Katherine«, sagte er in seiner gedehnten Sprechweise. Kein Vorwurf, nur eine Feststellung. »Außerdem habe ich das Telefon sperren lassen. Ich rufe vom Wagonwheel an.«

Das war der Gemischtwarenladen in St. Alazara, Katies und Davids Heimatdorf, weit oben im Norden. Neben der Tür war das öffentliche Telefon. Sie konnte ihren Vater dort stehen sehen, hochgewachsen, gebeugt, an die Tür gelehnt. Jedes Mal, wenn jemand herein wollte, musste er ausweichen. Und Hercules Rasmussen, der Ladenbesitzer, lauschte und spähte ängstlich hinter dem hölzernen Ladentisch hervor.

»Was ist?«, flüsterte David drängend. Katie drückte seine Hand.

»Das Telefon sperren lassen?«, fragte sie laut. »Warum?...Ach, unwichtig! Was ist mit Mama?«

»Kann ich nicht sagen«, sagte Papa. »Ich weiß es nicht. Doc Bates weiß auch nichts.«

»Doc Bates behandelt Mama?«

»Einen besseren haben wir hier nicht«, sagte Papa mit einem leisen Hauch von Abwehr, »für uns war er an die fünfzig Jahre gut genug.«

»Aber Papa!«

»Ich komme letzten Freitag nach Hause wie immer, so um die Abendbrotzeit. Hatte draußen die Letzten Vierzig kurz inspiziert. Da lag sie auf dem Boden, bewusstlos. Sie wand sich, deine Mama. Ich rief Doc Bates und Reverend Mauslocher, wegen der Sterbesakramente, du weißt...«

»Papa, wo ist Mama jetzt?«

»In St. Cloud, im Krankenhaus. Morgen bringt man sie nach Hause.«

»Bist du sicher, dass es gut für sie ist?«

»Deswegen rufe ich dich an.«

Er redete weiter, und Katie hörte zu.

»Eine Sekunde«, sagte sie. »Ich werde David fragen.«

Sie drehte sich zu ihm um.

»Wie schlimm steht es?«, fragte er.

»Oh, David...« Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. »Sie... sie ist völlig gelähmt und kann nicht sprechen. Papa möchte, dass ich...«

Sie brach zusammen und klammerte sich an ihn. Er nahm den Hörer auf.

»Katie regt sich schrecklich auf, Mr. Jasper. David hier. Würden Sie...«

»Ich weiß, wer dran ist«, klang es schleppend und unfreundlich durch das Telefon. »Und jetzt geben Sie mir wieder Katie.«

Nur mit Mühe zügelte David sein aufbrausendes Temperament. »Was wollen Sie?«, fragte er. Hoffentlich hatte es energisch geklungen. Bei dem Alten war nur mit Festigkeit etwas zu erreichen, wenn überhaupt. Und er wollte seiner Schwiegermutter, die seinen Ehrgeiz immer ermuntert und ihn nie geringschätzig behandelt hatte, beistehen.

Katie klammerte sich an ihren Mann und hörte nicht auf zu schluchzen.

Oben im Norden, im Wagonwheel, überlegte Ben Jasper einen Augenblick. Mit widerwilligem Schnaufen in der Stimme raffte er sich zu einem Entschluss auf.

»Ich möchte Katie bitten, dass sie eine Zeitlang herkommt«, sagte er. »Damit sie ihre Mutter pflegt. Wird das gehen?«

Sein Ton war von leichtem Widerstreben gefärbt. Landleute bitten nur höchst ungern um etwas, und Ben hasste es, von seinem Schwiegersohn etwas zu erbitten.

»Natürlich«, sagte David. »Morgen bin ich bis drei am Gericht in Hennepin, aber gleich nachher fahren wir...«

»Ganz, wie es euch passt.«

»Wir kommen. Spätnachmittags oder am frühen Abend...«

»Warte«, sagte Katie und fuhr sich über die Augen. »Ich möchte ihm etwas sagen.«

Sie nahm den Hörer. »Papa? Papa, bist du noch dran? Wir kommen. Natürlich kommen wir. Aber sieh zu, dass du auch Aggie Jensen bekommst. Wirst du es versuchen?«

Schweigen am anderen Ende.

Katie wusste, dass ihr Vater die alte Schwedin nicht ausstehen konnte, die in einem der halb Dutzend Häuschen, die ihr am Ufer des Fox Lake gehörten, wohnte. »Klatschbase« und »Wichtigtuerin« waren noch die mildesten Bezeichnungen, die er für sie auf Lager hatte. Doch Aggie war hilfsbereit allen gegenüber. Und besonders gut konnte sie mit Kranken umgehen.

»Papa?«

»Na gut«, gab ihr Vater nach.

»Noch etwas, Papa. Hol aus der Stadt einen Arzt.«

»Doc Bates ist tadellos. Wir sehen uns morgen.«

Dann legte er auf.

Katie stand da und hielt den stummen Hörer in der Hand. Sie war nahe daran, wieder loszuheulen.

»Wird schon wieder gut«, beruhigte David sie.

»Aber...gelähmt...arme Mama...«

David führte sie zur Couch. Er setzte sich neben sie und hielt sie zärtlich in den Armen.

»Diese Schlaganfälle gehen sehr oft ganz zurück«, erklärte er zuversichtlich. »Vielleicht ist es kein hoffnungsloser Fall. Das Gehirn ist ein strapazierfähiges Organ. Der menschliche Körper kann einiges verkraften.«

»Aber Mama...«

Katie fühlte eine starke Verbundenheit mit ihrer Mutter, der sie so stark ähnelte, und deren Name ihrem eigenen glich. Das Leben ihrer Mutter war nicht einfach gewesen. Norwegisches Einwanderermädchen. Frau eines Farmers im rauen Norden von Minnesota, ängstlich Tieren gegenüber, misstrauisch gegen die harten, groben Menschen. Weder kräftig noch allzu tapfer. Und Katrin hatte nicht nur darunter zu leiden gehabt, dass sie eine Tochter statt des von Ben ersehnten Sohnes bekam - das einzige Kind, das sie bekommen konnte, wie es sich herausstellen sollte -, sondern auch darunter, dass sie mitansehen musste, wie diese Tochter, Katie, der Liebling ihres Vaters wurde.

»Sieh mal, vielleicht schaffe ich es, morgen vom Gericht früher wegzukommen. Es besteht immerhin die Chance, dass der Fall vertagt wird und nicht zur Verhandlung kommt. Und du wirst dich auch besser fühlen, wenn du erst oben bist und helfen kannst.«

»Aber es hört sich so schrecklich an. Und warum musste es passieren? Mama ist doch erst acht- oder neunundfünfzig.«

»Du hast sie seit drei Jahren nicht gesehen, und das alles war für sie sicher eine Belastung. Wir wissen ja gar nicht, was da oben passiert ist.«

Aber sie wussten es nur zu gut.

»Wenn wir bloß nicht geheiratet hätten und weggezogen wären...«, fing Katie an. Mehr brauchte sie gar nicht zu sagen. Sie hatten das Thema hundertmal besprochen.

»Hättest du es anders gewollt? Es war dein Vater, der sagte, du solltest nicht zurückkommen, falls du mit mir gehen wolltest. Du warst siebenundzwanzig - alt genug, um deine Entscheidungen selbst zu treffen. Und wenn du mich fragst, dein Alter ist ein sonderbarer Mensch. Nicht nur sonderbar, auch...«

»Nicht. Nicht schon wieder.«

Die alte Geschichte. Der empfindliche und aggressive David wollte den alten Ben aus Katies Zuneigung verdrängen. Und er war der Meinung gewesen, er hätte es geschafft, als sie das Dorf verließen. Und Katie mit ihrer unwandelbaren und unausrottbaren Liebe für den Vater ihrer verlorenen Mädchenzeit, einer Liebe, die andauern würde, egal, was kommen mochte. Die drei Jahre der Trennung, die sie mit Leichtigkeit Ben hätte anlasten können - schließlich war er es gewesen, der gesagt hatte Kommt nicht zurück -, wandten sich nun gegen sie und bewirkten, dass sie sich sogar schuldig fühlte, unaufrichtig in ihrer Liebe und nicht anhänglich genug.

»Ach, David, hoffentlich...werfen diese Sorgen nicht meinen Zeitplan über den Haufen... das Baby...«

»Ach was, jetzt mach dir deswegen keine Sorgen«, besänftigte David sie. Er fasste unter ihr Kinn und küsste sie. »Sonst kommst du durcheinander. Die Ärzte haben alles fein säuberlich ausgerechnet. Nächsten Dienstag, den Zweiundzwanzigsten. Das nenne ich ein Datum.«

Und er küsste sie noch einmal.

»Es muss klappen«, sagte sie. »Andernfalls brauchen wir diese Hormonpräparate. Und ich möchte keinesfalls Fünflinge. Nur ein einziges kerngesundes Baby.«

»Jede Wette, dass es ein strammer Junge wird. Würde das deinen Alten nicht glücklich machen?«

»Bitte, nenne ihn nicht meinen Alten«, sagte Katie. Sie machte eine Pause. »Ein Baby, vielleicht ein Junge. Ich fürchte, für Papa kommt es zu spät.«

»Jetzt geht es um unser Leben, nicht seines«, erklärte David. Er sagte es mit einem Anflug von Trotz, so als glaube er selbst nicht recht daran.

 

 

 

3.

 

 

Aggie Jensen schob den alten Küchentisch beiseite, damit sie mit der Tragbahre vorbei konnten. Sie war eine kräftig gebaute Frau in mittleren Jahren. Die großen grünen Augen blickten sanft, leuchtend und klug in die Welt.

»Ich rück ihn einfach... da rüber«, sagte sie in ihrem schwedischen Singsang, den man in den alten Landstädten und Dörfern von Min-niii-soota öfter zu hören bekommt.

Die Krankenwärter trugen Mama ins große Schlafzimmer am Fuß der Treppe. Es ist Tradition in diesen schachtelähnlichen alten Farmhäusern, eine Tradition unter den Menschen der nördlichen Region: Vater und Mutter schlafen unten, Kinder oben. Während sie der Tragbahre folgte, wurde Katie von der traurigen Erinnerung an all jene einsamen Jahre überflutet, im Obergeschoss des Hauses, in dem vier Zimmer darauf warteten, von Kindern bevölkert zu werden, die nie kamen. Irgendetwas war da unten schiefgegangen im Leib ihrer Mutter, und drei Räume hatten niemals eine Wiege gesehen, niemals Spielzeug, Kinderbettchen, Bilder an der Wand...

»Und jetzt versuch mal, dich zu beruhigen, Schätzchen«, riet Aggie ihr. »Du und ich, wir werden deine Mama schon gesundpflegen.«

»Legt sie aufs Bett«, ordnete Ben Jasper an. »Sie, David, Sie packen mit an. Vorsicht.«

Die Wärter stellten die Bahre behutsam neben dem großen Doppelbett ab, hoben die Frau hoch und legten sie aufs Bett, auf die schwere Steppdecke. Mama und Aggie Jensen hatten diese Decke angefertigt, als Katie dreizehn war. Erinnerungen.

»Da, ihre Augen«, rief David plötzlich erschrocken. Übers Bett gebeugt, sahen sie es mit wachsender Verwunderung, die schnell zu Angst wurde. Die Augen der Kranken weiteten sich, wurden groß, angsterfüllt, als wollten sie aus dem Kopf quellen.

Die Krankenwärter waren wie vor den Kopf geschlagen. Katie selbst war entsetzt. Aggie Jensen sah erstaunt drein, David ebenfalls. Nur Ben bewahrte Ruhe.

Jetzt schossen die Augen der Kranken Blicke durch den Raum, hin und her, die Ränder der dunkel werdenden Zimmerdecke entlang, in deren Ecken und Winkel die letzten ersterbenden Sonnenstrahlen fielen.

»Sie sieht aus, als fürchte sie sich vor etwas«, sagte David leise und beklommen.

»Wenn sie uns nur sagen könnte, warum«, flüsterte Aggie und beugte sich tiefer übers Bett.

»Hüte deine Zunge, du alte Närrin«, grollte Ben und streckte seinen kräftigen Arm zwischen Aggie und sein Weib.

»Ich schätze, das wär's wohl für uns, nicht?«, äußerte der Fahrer des Krankenwagens hoffnungsvoll, während er und sein Kollege sich schon bis an die Tür zurückgezogen hatten.

»Das wär's, jawohl«, stieß Ben hervor.

Draußen im Hof fuhr ein Wagen vor. Old Robert ließ gewohnheitsmäßig ein paar Kläffer ertönen. Mehr Energie hatte er nicht mehr.

»Das wird Doc Bates sein«, murmelte Ben. »Er sagte, er wollte vorbeikommen, sobald man sie heimgebracht hätte.«

Papa ging hinaus, um den Arzt zu begrüßen. Die Krankenwärter folgten ihm, sie wollten so schnell wie möglich aus diesem Haus.

»Ach, Mama«, rief Katie und beugte sich über die Schwerkranke. »Was ist bloß mit dir passiert?«

»Das kriegen wir heraus«, versprach Aggie leise und mit einem Blick zur Tür, der sicherstellen sollte, dass der alte Ben tatsächlich draußen war.

Auch David beugte sich über die Frau. »Ihre Augen bewegen sich nicht mehr. Ich glaube, sie kann uns verstehen.«

»Und woher sollen wir das wissen?«

»Mutter«, sprach David sie leise an. »Hörst du uns? Wenn ja, dann blinzle mit den Augen.«

Katrins Blick verriet Erleichterung, ja Frohlocken auf diesen Vorschlag hin. Langsam schloss die Kranke die Augen und schlug sie wieder auf. In einen Augenwinkel trat eine Träne und lief ihr über die Wange. Katie wischte sie weg.

»Mama, jetzt sind wir da«, sagte Katie.

Doch da weiteten sich die Augen wieder vor Entsetzen, vor schierem Entsetzen.

Doc Bates blieb in der Tür stehen, trat dann ein, gefolgt von Ben. Der Doktor war ein magerer, stocksteifer Mann mit graumeliertem Haar und einem schmalen, verkniffenen Mund. Er war es gewohnt, dass man ihm Respekt und Gehorsam entgegenbrachte. In St. Alazara galten seine rohen Witze als Quintessenz des Humors, aber Katie hatte ihn insgeheim immer für einen widerlichen Kerl gehalten.

»Na, wie geht es uns jetzt, Katrin?«, sagte der Doktor und stellte seine schwarze Tasche neben dem Krankenbett ab. »War die Heimfahrt angenehm?«

Er beugte sich nieder und sah der Frau in die Augen, die noch immer weit offen standen vor unausgesprochenem Grauen. Ihr flehender Blick sprang von David zu Katie, dann zu Aggie Jensen, als riefe sie um Hilfe. Doc Bates aber schien das weder zu bemerken, noch kümmerte es ihn.

»Ein wenig müde, hm?« stellte er sachlich fest. Er öffnete die schwarze Tasche und bereitete eine Spritze vor.

Katrins Augen flehten noch immer, aber um was?

»Gleich wird's besser«, sagte der Arzt, rieb ihren mageren Arm ab und stach zu. Er drückte die Nadel nieder, und eine trübe Flüssigkeit wurde in die Frau gepumpt.

»Was spritzen Sie ihr da?«, wollte David wissen.

Doc Bates sah verärgert auf.

»Wo haben Sie Medizin studiert?«, knurrte er. »Das ist ein Beruhigungsmittel.«

»Braucht sie es denn?«

Bates schüttelte entrüstet den Kopf. Diese Zweifler!

»Früher hätte mich das keiner gefragt«, knurrte er wieder. »Seht nur, wie es wirkt.«

Und so war es. Mrs. Jaspers Blick wurde trübe, immer dunkler und verschwommener. Es dauerte nicht lange, und die Lider fielen zu, kämpften dagegen an, flatterten, schlossen sich wieder.

»Sehr starkes Zeug«, sagte der Doktor, als wäre er stolz auf das Erreichte.

»Vielleicht ein wenig zu stark«, sagte Aggie Jensen zweifelnd und bedachte ihn mit einem abschätzenden Blick.

»Sie sind hier zum Kochen und Saubermachen«, schnarrte Ben Jasper, »das wäre alles.«

»Ach ja?« schoss Aggie zurück. »Das wüüürde Ihnen gefallen, wennn das alles wäääre, wie?«

Sie begegnete seinem Blick. Und sie alle wussten, was sie meinte. Im Laufe der Zeit hatte Ben alles bis auf die Letzten Vierzig verkaufen müssen, einen kümmerlichen vierzig Morgen großen Rest dessen, was einst eine stolze Dreihundert-Morgen-Farm am Ufer des Fox Lake war. Ben hatte keine Söhne, die ihm helfen konnten, und schließlich hatte das Alter sich seiner bemächtigt. Und so kam es, dass sein Nachbar Otto Ronsky - einst Bens Lohnarbeiter, so bitter der Gedanke daran auch war - nun praktisch den gesamten Uferstreifen besaß mit Ausnahme von Aggies Flecken. Sie hatte dort Sommerhäuser bauen lassen, in denen Urlauber aus St. Cloud, der dreißig Meilen entfernten Stadt, die Ferien verbrachten. Und zahlten. Wenn Ben bloß auf diese Idee gekommen wäre! Otto hatte daran gedacht, geldgierig wie er war. Alle machten Geld, nur der alte Ben nicht.

»Sieht aus, als hättest du dich verkalkuliert«, hatte Otto sich einst gebrüstet. »Man muss wissen, wie man am besten mit der Zeit geht und wie man alles anpackt.«

Er wusste, dass Ben sich im Alter irgendwie über Wasser halten musste und außerdem für eine kranke Frau zu sorgen hatte. Und deshalb hatte er Ben ein Angebot gemacht, ein lächerlich niedriges, für die »Letzten Vierzig«. Otto hatte Ben so gut wie in der Tasche - Otto war bereit.

Auch Aggie schien Ben in der Tasche zu haben, allein durch die Tatsache, dass sie imstande war, dazustehen und ihm Paroli zu bieten.

»Halten Sie den Mund«, wetterte er.

»Papa!« mahnte Katie. David fasste sie an der Hand.

Doc Bates klappte die große schwarze Tasche zu, stand auf und brach damit die Spannung.

»Ich schlage vor, ihr lasst sie schlafen. Am besten, wir lassen sie allein. Aggie, Sie übernehmen die Krankenpflege, ja? Ich sage Ihnen jetzt, was sie braucht.«

Er scheuchte sie zur Tür. Katie ließ sich nicht beirren und gab ihrer Mutter einen letzten zärtlichen Kuss.

»Braves Mädchen«, sagte der Arzt, der sie nicht aus den Augen ließ. Er schien an etwas anderes zu denken, streckte dann die Hand aus und berührte Katies Wange. Und dabei tat sich etwas in seinem Gesicht, etwas huschte darüber hinweg, ein ganz weicher Ausdruck, wie... ja, wie? Er nahm die Hand weg.

»Man hat von dir nicht viel zu sehen bekommen, kleine Dame, fast...«

»Fast drei Jahre«, sagte Katie.

Doc Bates nickte. Er kannte den Grund für diese drei Jahre. Seit drei Jahren war sie die Frau des jungen Dave Ellenwood.

»Schön, dass du wieder da bist. Wirklich. Du weißt gar nicht, wie schön.«

Und dann gab der Arzt Aggie Jensen seine Anweisungen.

»Nur ganz leichte Suppe. Kein Fleisch. Kein Brot. Und die Suppe nur als klare Brühe. Mehrere Tage lang. Ich komme morgen wieder vorbei.«

»Wird diese Diät sie nicht sehr schwächen?«

»Der Körper muss entschlackt werden«, erklärte Bates kurz angebunden.

Aggie blieb misstrauisch. »Na ja...«

»Tun Sie, was ich Ihnen sage. Sie werden doch nicht hergehen und alles vermasseln wollen, hoffe ich. In zwei, drei Tagen, ja dann kann Katrin vielleicht schon mehr zu sich nehmen. Aber jetzt nicht. Katie, du hast ein wachsames Auge auf diese alte Svenska, ja?«

Weder Aggie noch Katie gefiel das, aber Doc Bates war nicht der Mensch, der sich über anderer Leute Empfindlichkeiten den Kopf zerbrach. Er war der Arzt, und man tat gut daran, seinen Anweisungen Folge zu leisten.

Katie nickte, und der Doktor war befriedigt. »Ganz leichte Suppen. Nur leichte Suppen«, wiederholte er sicherheitshalber.

David und Aggie wechselten einen Blick. Da stimmte etwas nicht, signalisierten sie einander. Doch sie wussten noch nicht, was, und wussten nicht, wie sie es herausbekommen sollten.

Ben begleitete den Doktor hinaus an seinen Wagen. Die übrigen folgten und sahen noch, wie der Krankenwagen im Hof wendete, durch die Einfahrt mit großer Geschwindigkeit hinausfuhr, so als seien seine Insassen heilfroh, alles hinter sich zu haben. Das Geräusch rumpelnder Bohlen, als der Krankenwagen über die Brücke fuhr - der Fahrweg führte über eine Wiese und überquerte einen weidenbestandenen Bach -, brachte ein wenig Leben in Old Robert. Er rappelte sich auf, stand wackelig auf seinen altersschwachen Beinen, ein alter lohfarbener Köter mit einer ungewöhnlichen braunen Zeichnung um die Augen, ähnlich einer Maske. Wie ein alter Räuberhauptmann sah er damit aus. Old Robert stieß ein Krächzen aus, das wohl ein Bellen sein sollte. Die Zeiten, da er Autos - geschweige denn Krankenwagen - gejagt hatte, waren längst vorbei.

Mit einem Blick auf den Hund und einem grimmigen Auflachen äußerte Doc Bates: »Nun Ben, sieh dir den gut an. So wird es uns auch bald gehen, wie?«

 

 

 

4.

 

 

Da standen sie nun alle auf dem großen, weitflächigen Hof, einem Flecken Erde, begrenzt vom alten weißen Haus - abblätternder Anstrich, ausgebleichte Schindeln -, von der baufälligen Scheune, die nur noch zur Lagerung von Heuballen diente, von einem sich senkenden Getreidespeicher und von einem Maschinenschuppen, in dem Papa vermutlich aus sentimentalen Gründen die unbenutzten Werkzeuge und Ausrüstungsgegenstände einer verlorenen Zeit aufbewahrte. Da lagen alte Heurechen, Pflüge, eine Harke und ein paar Sensen, von denen die eine vom Haken gefallen war und Papa - damals war er noch ein junger Mann - die Narbe auf der Wange beigebracht hatte. Eine Mähmaschine stand da und ein uralter Heuwender. Verbeultes Gerät verschiedenster Art, ein alter Schwingstock, alte Kummete und zerrissenes Pferdegeschirr, das noch immer schwach nach dem Pferdeschweiß längst vergangener Sommer roch. Papa hatte die neueren Geräte und Maschinen vor mehreren Jahren auf einer Auktion verkauft, damals, als er mit der Landwirtschaft Schluss machte.

Das war Katies Elternhaus, das Haus, in dem sie geboren und aufgewachsen war. Umgeben von einem Windschutz aus Kiefern und Pappeln, unter denen sie unzählige vergessene Spiele gespielt hatte, meist allein und nur manchmal zusammen mit ihrer besten Freundin aus Kindertagen, mit Judy Krause. Im Sommer wuchs das Gras hoch unter dem Hag, eine Zuflucht für Träume, eine Zuflucht vor der Zeit. Und an den Wintermorgen hing der Eismond groß und leuchtend hinter den spröden, windgeplagten Kiefern. Üppige .Felder rollten dahin bis zum Fox Lake, bis zu den Wäldern, Weiden, bis an den Horizont. Heute aber wirkte alles anders, wilder, brütender, erwartungsvoller. Gewiss, Katie war drei Jahre lang fort gewesen, aber das war es nicht. Da war etwas anderes, etwas, das sie nicht genau erkennen konnte.

Sie hatte es zuerst auf der langen Fahrt von Minneapolis her bemerkt, nachmittags mit David. Allmählich. Ein Gefühl, dass etwas Wirkliches und doch nicht Fassbares, etwas nicht Auszudrückendes vorhanden war. Etwas, das nicht in die natürliche Ordnung passen wollte, nicht ganz. Weit hinten an den Grenzen des Bewusstseins hatte eine winzige Membran sich als Vorwarnung bewegt und hatte dann Ruhe gegeben. Die Aufregung der Heimkehr, der Kummer über Mamas Gebrechen, das alles hatte dieses seltsame Gefühl dann aus ihren Gedanken verdrängt.

Nördlich von Minneapolis erstreckt sich das Land etwa hundert Meilen in rollenden Tälern und Hügeln dahin, bewaldet, durchsetzt mit weiträumigen Flächen Farmlandes, gesprenkelt mit Seen. Die Felder waren saftig grün. Luzerne, Mais, Hafer und Weizen: die zarten Früchte des frühen Juni. Weiter im Norden wurde die Erde leichter, sandiger, und die üppigen Wälder von Ahorn, Pappel und Esche lichteten sich und an ihre Stelle traten vom Wind zersauste Kiefern, die ersten Zeichen dafür, dass das große Waldgebiet Nordamerikas nahe war, das sich unendlich weit nach dem Norden erstreckte, bis zur Hudson Bay, bis zur arktischen Tundra, bis an den Yukon und den Großen Sklavensee.

Hier, im Norden Minnesotas, am Rande dieses Waldgebietes, auf unheilvoll brütendem, mühselig zu bearbeitendem Land lag St. Alazara, das Dorf von Katies Vorfahren. Sie waren längst verblichen - der Dorffriedhof war fast voll -, und auch das Dorf schien im Sterben zu liegen, die Lebenskraft war geschwunden und mit ihr die Hoffnung. Dunkel war es wie das Mittagslicht unter den schweren Kiefern. Die nächste Stadt, St. Cloud, fast eine Stunde entfernt und nur über eine schlechte Straße zu erreichen, hatte ihre beste Zeit auch bereits hinter sich. Es war, als hätte nach Jahren der Ausbeutung der Boden, ja das ganze Land endlich gesagt: Genug!

Das Gefühl, das sie auf der Fahrt hierher überfallen hatte neben David, der stumm hinter dem Steuer des Mustang gesessen hatte, war ähnlich: ein Gefühl des Vergehens, des Absterbens, das Ende einer Zeit. Und das lag nicht nur an ihrer Mutter. Es war mehr. Sie fuhren auf dem alten Highway 52 nordwärts, der einstigen Route der Pelzhändler, der Ochsenkarren. Nachdem sie schließlich die Steigung hinter sich hatten, erreichten sie das Hochland nahe Clearwater. Meilen entfernt, die Bäume spitz überragend, wurde der Kirchturm von St. Alazara sichtbar. Katie verspürte vage Unruhe bei dem Gedanken an den Pfarrer, an Reverend Mauslocher. Sie dachte an die langen Sonntage ihrer Kindheit, seine wilden cholerischen Predigten - eigentlich nichts weiter als pathetisches, schwülstiges Gerede -, Predigten, in denen sie niemals einen Sinn finden konnte.

Mauslocher war schon lange vor Katies Geburt Seelenhirte der Gemeinde gewesen. Er hatte in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts die Nachfolge des alten Reverend Pierce angetreten, der eines Nachts auf dem Heimritt nach einem Krankenbesuch am nördlichen Himmel als Vision ein großes Kreuz aus Weizenähren erblickt hatte. Seitdem hatte diese Vision sein einziges Thema gebildet. Er sah in ihr ein Zeichen, dass St. Alazara und seine Menschen auserwählt, gesegnet und erhoben wären. Bis es dem Bischof in St. Cloud zu bunt wurde und er ihn, eifersüchtig, dass nicht ihm selbst diese Vision zuteil geworden war, kurzerhand als Missionar nach Sansibar versetzte, wo er das reibungslose Funktionieren kirchlicher Bürokratie nicht weiter behindern konnte.

Mauslocher aber hatte seine eigenen Visionen, undeutlichere zwar, aber um nichts weniger seltsame. Seine Predigten waren undurchsichtig, angsteinflößend und drohend, durchsetzt mit seltsamen Verweisen auf Opfer, Erneuerung und verhüllten Anspielungen, sexuell gefärbten Vergleichen wie Brüste der Erde oder Samen in den Schoß der Erde fließen lassen, Hinweisen auf die reichen Lenden von St. Alazara, deren Schoß die Frucht unserer Hoffnung trägt. Katie sah von ferne den Kirchturm und schauderte.

David übersah die Abzweigung, die zum Dorf und zu dem drei Meilen außerhalb gelegenen Anwesen der Jasper führte. Er musste umkehren und zurückfahren.

»Die Hinweistafel ist weg«, sagte Katie. »Vielleicht hat ein Kind sie gemaust.«

»Vielleicht ist sie umgefallen«, murmelte David geringschätzig. »Außerdem ist es doch gleichgültig. Hier braucht niemand zu wissen, wo es langgeht. Hier kommt ohnehin niemand mehr her.«

Die Zufahrt führte zunächst am Friedhof vorüber, einem kleinen,^ aber gepflegten Fleckchen, umgeben von einem alten Eisenzaun, bewacht von dunkel dräuenden Zypressen und ein paar verdorrten, verwitterten Goldkiefern.

»Hier landen alle aus der Gegend«, hatte David einst in einem Moment der Verbitterung gesagt.

Dann kam die Kirche, von den Gründern des Dorfes vor etwa hundert Jahren aus massivem Stein erbaut, mit einem hochauf- ragenden unglaublichen Kirchturm. Präriegotik. Daneben das alte Schulhaus aus roten Ziegeln. Dann Pelsers Bestattungsinstitut, ein gedrungener Bau mit großen, reichverzierten Doppeltüren aus gebeizter Eiche. Ein paar kleine bungalowähnliche Häuser, die in Wirklichkeit wenig mehr als schäbige Bruchbuden waren. Die Tankstelle von Old Willis. Rasmussens Wagonwheel-Laden, mit dem alten ramponierten Rad als Wahrzeichen, und hinter dem Laden das große Rasmussen-Haus, das nur wenige jemals betreten hatten und in dem nun die alte Mrs. Rasmussen auf den Tod wartete. Und natürlich Barneys Wohnwagen, der alte Ford-»Einsatzwagen«, der daneben geparkt war. Barney war der Dorfpolizist. Der Ford ging nur selten auf Fahrt, ebenso Barney - denn wohin hätte man auch fahren sollen?

Ja, sicher war es das, was ich fühlte, dachte Katie. Hier gibt es kein Ziel. Dieser flüchtige Gedanke tauchte ganz plötzlich auf, als David am verlassenen Baseballplatz vorüberbrauste, wieder hinaus aufs freie Land. Der Zaun an der Grundlinie war in sich zusammengesunken, Unkraut wucherte auf dem inneren Spielfeld und um die Schlägerfelder, Unkraut hatte auch den Wurfkreis überwuchert. Das Dorf hatte einst eine Amateurmannschaft für die Sonntagnachmittagsspiele auf die Beine gestellt. Das war vorbei. Es gab zu wenig Spieler. Die jungen Leute waren fort.

David donnerte die Schotterstraße entlang, und die Farm kam in Sicht, verwilderter als Katie sie in Erinnerung hatte. In der Spätnachmittagssonne schimmerte der Fox Lake. Und drüben, wo der See endete, die großen roten Scheunen und die drei weißen stahlgedeckten Silos von Otto Ronsky. David bremste und bog in die Zufahrt ein. Über die polternde Brücke. Weiden längs des Baches, rotgeflügelte Amseln, Rotkehlchen, Spatzen, Drosseln, Lerchen. Weiter ging es, die von dichten Hecken gesäumte Zufahrt entlang. Sie war wieder daheim, und da war Mama und all das.

Die Sonne beeilte sich nun über der Westweide, den »Letzten Vierzig«, und der Schatten der Scheune legte sich über die Autos im Hof: den uralten Packard von Doc Bates, über Aggies Model T und Papas Vorkriegs-de Soto. Und den starken roten Mustang mit den breiten Reifen, den sich Katie und David zur Feier des bestandenen Examens geleistet hatten.

Jetzt öffnete Doc Bates die Tür des Packards, stellte die schwarze Tasche auf den Sitz und blieb, einen Fuß bereits im Wagen, stehen.

»Ben, ich glaube, es wird alles gutgehen«, sagte er mit einem Blick auf Katie.

Katie hörte ihren Vater etwas murmeln. Es wäre nicht mehr so viel Zeit, oder ähnlich.

»Zeit ist es gerade, was du dafür kriegst«, antwortete der Doktor. »Sieh diese beiden an.«

Er deutet auf Katie und David, nagelte sie mit seinem Knochenfinger fest.

»Wenn sie es miteinander treiben, wie es junge Leute bei jeder Gelegenheit tun, dann erscheint es ihnen wie wenige Minuten. Auch wenn sie tatsächlich eine ganze Stunde lang gerammelt haben.«

Er ließ sein raues, humorloses Lachen ertönen.

Katie errötete. »Sie sind so feinfühlig wie immer«, sagte David und trat verlegen von einem Fuß auf den anderen.

Doc Bates ließ die Hand fallen.

»Die Zeit existiert nicht mehr, wenn du in ihr steckst, stimmt's, junger Mann?«, bohrte Doc Bates weiter. »Und wenn ihr ein paar Stunden getrennt seid, erscheint es euch wie ein ganzer Tag. Oder gar eine Woche. Habe ich Recht, Katie?«, fragte er und entblößte dabei seine ebenmäßigen falschen Zähne.

Katie beherrschte sich mühsam. Sie ekelte sich. Doc Bates schüttelte traurig den Kopf.

»Jaja, Ben, die alten Tage waren großartig, wie?«

»Sie sind ein dreckiger alter Kerl. Jemand muss Ihnen mal ordentlich die Meinung sagen«, schalt Aggie ungehalten.

»Wollte nur zeigen, was ich mit Zeit meine«, sagte er zu Ben. »Es wird gehen.«

»Sie meinen Mama?«, fragte Katie. Falls die Antwort ungünstig ausfallen sollte, wollte sie es gar nicht wissen. Und doch musste sie es wissen. »Wie lange wird es dauern?«

Den Arzt schien die Frage zu überraschen.

»Ach, deine Mutter?«

»Ja, ist denn nicht von ihr die Rede?«

»Ach ja, ja. Natürlich. Mach dir bloß keine Sorgen um deine Mutter. Sie wird ihre Rolle tadellos spielen.«

Ihre Rolle? Was war das? Katie wagte einen erneuten Vorstoß: »Ich möchte bloß wissen, wie lange sie noch zu leben hat.«

Doc Bates dachte nach. »Kann ich nicht sagen.«

Will ich nicht sagen.

Der Packard umrundete den Hof, wirbelte Staub auf. Erstaunlich, Old Robert kläffte ein paarmal und schnappte sogar nach einem sich drehenden Reifen.

»Was ist denn in den gefahren?«, fragte Aggie Jensen verwundert. »So habe ich ihn nicht erlebt, seit sieben, acht Jahren.«

»Wenn Sie nicht schleunigst das Abendbrot auf den Tisch bringen, werde ich noch straffällig«, knurrte Ben Jasper.

 

 

 

5.

 

 

David musste sich mit einem hastigen Sandwich und einer Tasse Kaffee begnügen, weil er Freitagmorgens bei Gericht zu tun hatte und die ganze Strecke nach Minneapolis noch schaffen musste.

»Hoffentlich ist der Verkehr nicht zu arg«, sagte er, als er Katie zum Abschied auf der Veranda umarmte. »Morgen Abend komme ich wieder und bleibe übers Wochenende.«

»Könntest du nicht...?« Katie fühlte sich seltsam alleingelassen.

»Ob ich was könnte?«

»Ach, egal.«

»Nein, sag schon.«