Der Sommer, in dem es zu schneien begann - Lucy Clarke - E-Book
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Der Sommer, in dem es zu schneien begann E-Book

Lucy Clarke

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Beschreibung

Abrupter und schmerzhafter kann das Schicksal kaum zuschlagen: Als Eva nur wenige Monate nach der Hochzeit ihren Mann durch einen Unfall auf See verliert, erstarrt sie vor Schmerz und Entsetzen. Ihr gerade erst begonnenes Leben als glückliche Ehefrau soll schon zu Ende sein? Eva fühlt sich völlig allein in ihrer Trauer und reist kurzerhand nach Tasmanien, um Trost bei Jacksons Angehörigen zu finden. Doch so bezaubernd die australische Insel ist, so abweisend verhält sich Jacksons Familie. Warum nur wollen sein Vater und sein Bruder partout nicht über ihn sprechen? Auf Eva warten schockierende Wahrheiten, die sie zu einem schicksalhaften Sommer in der Vergangenheit führen - dem Sommer, in dem es zu schneien begann.

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Übersetzung aus dem Englischen von Claudia Franz

Die englische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »A Single Breath« bei HarperCollins UK, London.

ISBN 978-3-492-96931-4

November 2015

© by Lucy Clarke 2014

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015

Covergestaltung und Artwork: Lena Kleiner/Favoritbuero, München

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Jackson zieht sich die Mütze über die Ohren und wirft noch einen Blick auf Eva, die sich im Bett zusammengerollt hat, die Bettdecke unter das Kinn gestopft. Mit geschlossenen Augen murmelt sie schläfrig etwas vor sich hin. Geh nicht, soll das heißen.

Aber er muss gehen. Er kann nicht neben ihr liegen, wenn er sich so fühlt wie in diesem Moment. Seit Stunden liegt er schon wach, starrt in die leere Dunkelheit und zermartert sich das Gehirn, weil er an seine Entscheidungen und ihre Folgen denken muss. Er muss raus aus diesem Haus, muss den kalten Winterwind im Gesicht spüren.

Zuvor aber hebt er die Bettdecke noch einmal an, gerade genug, um Evas nackte Schulter freizulegen. Er berührt sie mit den Lippen und atmet den Duft der schlafwarmen Haut ein. Schließlich deckt er sie wieder zu, nimmt seine Angelausrüstung und geht.

Der Strand liegt menschenleer im Dämmerlicht. Es ist einer dieser englischen Tage, an die er sich immer noch nicht gewöhnt hat, weil es nie richtig hell wird und im Haus von morgens bis abends das Licht brennt. Er läuft in den Wind und lässt die Schultern kreisen, um sich warm zu halten.

Als er zu der Stelle kommt, wo sich die Felsen ins Meer hineinziehen, bleibt er stehen. Er beobachtet, wie die Wellen auf die Klippe zurollen und sich in einer Explosion von weißem Schaum brechen. Nach einer Abfolge besonders heftiger Wellen klettert er hinauf und eilt von einem Felsen zum nächsten, um das äußerste Ende der Formation zu erreichen. An dieser Stelle werden die Fische anbeißen, da die Strömung dort am stärksten ist. Die Leichtfüßigkeit verdankt er seiner Kindheit in Tasmanien, wo er barfuß über die Felsenkliffs gelaufen ist, um sich dann von oben herab ins Meer zu stürzen, jubelnd und kreischend, bis das Wasser ihn verschlang.

Bevor die nächsten Brecher heranrollen, hat er das Ende der Klippe erreicht. Die Felsen hinter ihm verschwinden im aufspritzenden Schaum. Starke Böen lösen Gischt von den Wellenrücken und durchsetzen die Luft mit Feuchtigkeit. Er dreht sich vom Wind weg, hockt sich hin und öffnet seinen Angelkasten. Verdammt, wenn er doch nur Handschuhe angezogen hätte. Hier draußen ist es schneidend kalt. Eisige Gischt spritzt ihm in den Nacken. Seine Finger sind so taub, dass er einen Köder fallen lässt und ihn zwischen den Felsen wieder herausfischen muss. Beim zweiten Versuch gelingt es ihm schließlich, den Köder auf dem Haken zu befestigen.

Dann wirft er die Leine aus. Die Bewegung, die etwas so Vertrautes und Beruhigendes hat, verfehlt an diesem Morgen ihre Wirkung, zu sehr ähneln seine Gedanken dem Meer, das trostlos unter dem wütenden Himmel brodelt. Als er auf dem Felsen steht und sein Körper allmählich vor Kälte erstarrt, beschleicht ihn das Gefühl, dass es nicht mehr lange dauern kann, bis alles ans Licht kommt. Es ist, als würde er sich Schicht um Schicht häuten, bis nichts mehr zu sehen sein wird als die spitzen Knochen der Person, die er in Wahrheit ist.

Beim Vibrieren seines Handys schreckt er zusammen. Mit einer Hand hält er die Angel fest, während er mit der anderen in der Manteltasche kramt. Das wird Eva sein. Schnell schiebt er die finsteren, zerstörerischen Gedanken beiseite. Sein Gesicht entspannt sich, als er sich den Klang der schläfrigen Stimme vorstellt, mit der sie ihn bitten wird, ins Bett zurückzukommen.

Genau das wird er tun, denkt er, und alles andere einfach vergessen. Wenn er sich beeilt, kann er in zehn Minuten bei ihr sein. Er wird ins warme Bett zurückschlüpfen, sich an ihren zusammengerollten Körper schmiegen und begreifen, dass dies die Wirklichkeit ist.

Als er den Anruf annimmt, ist es allerdings nicht Evas Stimme, die er hört.

Als Eva das schützende Land verlässt, schlägt ihr erbarmungslos der Wind entgegen und bläst ihr die Haare aus dem Gesicht. Sie drückt die Thermoskanne mit dem Kaffee an die Brust. Sandwolken fegen die Küste entlang und treiben ein Knäuel aus Angelschnüren vor sich her.

Eine Frau kommt ihr entgegen. Der Wind presst den violetten Mantel in ihren Rücken, und ihr Gesicht verschwindet in der mit Pelz verkleideten Kapuze. Eva wünschte, sie hätte auch an eine Kopfbedeckung gedacht. Sie hatte ganz vergessen, wie rau das Klima an der Küste sein konnte. In London schützen die Gebäude vor den Unbilden des Wetters, das man ohnehin meist nur vom Fenster aus erlebt.

Jackson und sie waren gestern Abend zum Geburtstag ihrer Mutter nach Dorset gekommen. Der Aufbruch war hektisch gewesen. Eva war im Krankenhaus aufgehalten worden, weil sie noch einen Fötus dazu anregen musste, sich in die Schädellage zu drehen, hatte es aber trotzdem geschafft, das Geschenk für ihre Mutter einzupacken und das Geschirr vom Frühstück zu spülen. Jackson war noch später gekommen, erschöpft von einer Sitzung, die sich ewig hingezogen hatte. Die ganze Woche war so gewesen: Sie hatten zu verschiedenen Zeiten etwas Essbares in sich hineingestopft, hatten die Spannungen von der Arbeit mit heimgebracht und waren zu spät und zu erschöpft ins Bett gefallen, um sich noch unterhalten zu wollen. Jetzt genießt sie es, dass sie ein ganzes Wochenende haben, um einfach zur Ruhe zu kommen.

Vor ihr tauchen die Felsen auf, wo Jackson angeln wird, gewaltige, düstere Brocken, die direkt ins Meer hineinragen. Eva fragt sich, ob er schon etwas gefangen hat. Es hatte gerade erst zu dämmern angefangen, als sie gespürt hatte, wie die Matratze nachgibt und Jackson aus dem Bett schlüpft. Sie hatte gehört, wie er in seine Jeans steigt, einen Pullover überstreift und den Reißverschluss seines Mantels zuzieht. Dann hatte er sich über das Bett gebeugt und ihr einen Kuss auf die nackte Schulter gedrückt. Sie hatte die Augen gerade weit genug geöffnet, um sehen zu können, wie er zur Tür hinausgeht, die rote Mütze weit über die Ohren gezogen.

Direkt hinter den Felsen sieht sie ein Boot aufblitzen. Im nächsten Moment ist es schon wieder in einem Wellental verschwunden, und sie denkt, dass die Wetterverhältnisse zu schlecht sind, um aufs Meer hinauszufahren. Sie blinzelt in den Wind und sieht, wie das Boot von einer Welle wieder emporgehoben wird: ein orangefarbenes Rettungsboot. Sie fragt sich, ob es einen Unfall gegeben hat. Und kaum hat sie diesen Gedanken gefasst, spürt sie, wie sich ein gewisses Unbehagen in ihrem Körper ausbreitet.

In ihrer Kindheit, als ihr Vater noch gelebt hatte, waren sie im Sommer jeden Morgen zum Baden an diesen Strand gekommen. Ihr Vater war auf dem Rücken geschwommen und mit ausladenden Bewegungen seiner langen, knochigen Arme durch das Wasser gepflügt. Eva hatte diese Strandpartien geliebt. Das Wasser war ruhig gewesen, und die frühe Morgensonne hatte auf der Wasseroberfläche geglänzt. Heute hat das Meer etwas Dunkles, Abweisendes.

Sie sucht die Felsen nach Jackson ab, und der Wind treibt ihr die Tränen in die Augen. Er muss dort sein; an dieser Stelle angelt er immer, wenn sie bei ihrer Mutter sind. Im Moment wird das Einheitsgrau von Meer und Himmel allerdings nur von dem Rettungsboot durchbrochen. Obwohl sie sich sagt, dass es vielleicht nur ein Übungseinsatz ist, fängt sie an, sofort loszurennen.

Die Thermoskanne schlägt ihr gegen die Hüfte, ihre Stiefel wirbeln Sand auf, und sie atmet hektisch. Sie fühlt sich durch die vielen Kleidungsschichten eingeengt – die Jeans klemmt an den Knien, und die Mantelknöpfe drücken ihr aufs Brustbein.

Als sie die Stelle erreicht, wo die Klippe beginnt, steht schon ein Dutzend Leute dort herum. Sie mustert die Gruppe und lässt den Blick dann über die Felsen schweifen, wo die Wellen anbranden und weiße Gischt in den zerrissenen Himmel jagen. Schwerer Salzgeruch liegt in der Luft.

Von Jackson ist nichts zu sehen.

Eva eilt zu einem Mann, der fast in seiner Öljacke verschwindet. Der Wind zerzaust seine stahlgrauen Augenbrauen. »Wieso ist da ein Rettungsboot?«, fragt sie und gibt sich Mühe, sich ihre Panik nicht anmerken zu lassen.

»Jemand wurde von den Felsen heruntergespült.«

»Wer?«, fragt sie aufgeregt.

»Angeblich ein Fischer.«

Im ersten Moment ist sie erleichtert, weil sie weiß, dass ihr Mann kein Fischer ist: Er ist dreißig Jahre alt und arbeitet in der Marketingabteilung einer Getränkefirma. Dann aber hört sie den Mann sagen: »Offenbar ein junger Mann. Vielleicht hat er ja bessere Chancen, im eiskalten Wasser zu überleben.«

Eva fühlt die Luft aus ihren Lungen entweichen, als würde ihr jemand den Brustkorb eindrücken. Sie lässt die Thermoskanne fallen, holt ihr Handy aus der Tasche und reißt sich die Handschuhe von den Fingern. Die sind starr vor Kälte, aber sie dreht sich mit dem Rücken in den Wind und wählt Jacksons Nummer.

Das Handy ans Ohr gepresst, tritt sie auf der Stelle und wartet, dass er abnimmt.

»Hallo, hier ist Jackson«, meldet sich die Mailbox. Evas Herz stockt.

Nachdem sie das Handy wieder in die Tasche gesteckt hat, stolpert sie zu den Felsen hinüber. Ein großes, rotes Schild warnt: NICHT BETRETEN. LEBENSGEFAHR. Der Schal flattert hinter ihr her, als sie über die nassen Felsen klettert, den heulenden Wind in den Ohren. Ihr Atem geht stoßweise. Finstere Ahnungen quälen sie und verwirren ihr den Verstand. Sie sagt sich, dass sie sich ausschließlich darauf konzentrieren sollte, wo sie ihre Füße hinsetzt. Schritt für Schritt kämpft sie sich vorwärts.

Irgendetwas Farbiges erregt ihre Aufmerksamkeit. Vorsichtig steigt sie über die mit Seepocken verkrusteten Felsen, bis sie nahe genug ist, um es erkennen zu können.

Eingeklemmt zwischen zwei Felsen steht ein offener Angelkasten aus grünem Plastik. Eva erkennt ihn sofort: Sie hat ihn Jackson letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt, damit er die Köder und Gewichte, die sich in seiner Nachttischschublade angesammelt hatten, verstauen kann. Jetzt steht Salzwasser in den Fächern, in denen wie tote Fische zwei leuchtend blaue Köder treiben.

Mit ohrenbetäubendem Lärm bricht sich eine Welle an der Klippe. Eisige Gischt trifft auf Evas Wange. Sie fällt auf die Knie und klammert sich mit tauben Fingern an den Fels.

»Hallo!«, ruft jemand. »Kommen Sie sofort zurück.«

Sie kann aber nicht zurück, sie kann sich nicht einmal umdrehen. Sie ist vollkommen erstarrt, und die Angst liegt ihr wie ein Bleiklumpen im Magen. Langsam sickert die Feuchtigkeit durch ihren Schal.

Sekunden später spürt sie den Druck einer Hand auf ihrer Schulter. Ein Polizist steht vor ihr, nimmt sie am Arm und will sie hochziehen. »Hier ist es zu gefährlich«, schreit er, um den Wind zu übertönen.

Sie schüttelt ihn ab. »Mein Mann!« Sie stößt die Worte einzeln hervor. »Er war angeln! Hier an dieser Stelle!«

Der Polizist starrt auf sie hinab. An seinem Unterkiefer befindet sich eine Stelle mit dunklen Bartstoppeln, nicht größer als ein Daumenabdruck. Er muss sie übersehen haben, als er sich am Morgen rasiert hat. In seinen Gesichtszügen scheint sich Angst zu spiegeln, als er sagt: »Okay, okay. Lassen Sie uns an den Strand zurückkehren.«

Er packt sie am Arm und hilft ihr auf. Evas Beine zittern, als sie zusammen über die nassen Felsen klettern. Der Polizist blickt immer wieder über die Schulter und hält nach Wellen Ausschau.

Als sie den Strand erreichen, schaut er sie an. »Ihr Ehemann hat heute Morgen hier geangelt?«

Sie nickt. »Sein Angelkasten … er steht auf den Felsen.«

Der Polizist schaut sie lange an, reglos. »Man hat uns vorhin gemeldet, dass ein Angler ins Meer gespült wurde.«

Ihre Stimme ist leise. »War er es?«

»Das können wir noch nicht mit Sicherheit sagen.« Er verstummt. »Klingt aber fast so, als wäre es möglich, ja.«

Ihr Mund füllt sich mit Speichel, und sie dreht sich weg. Das graugrüne Meer scheint von mächtigen Strömungen beherrscht, als sie es nach Jackson absucht. »Wann?«

»Vor ungefähr zwanzig Minuten. Ein Ehepaar hat angerufen.«

Sie dreht sich um und folgt seinem Blick zu einem Mann und einer Frau mittleren Alters, beide in dunkelblauen Parkas. Zu ihren Füßen liegt ein Golden Retriever. »Waren sie es? Haben die beiden ihn gesehen?«

Als er nickt, ist Eva schon auf dem Weg.

Der Hund wedelt aufgeregt mit dem Schwanz, als sie näher kommt. »Sie haben meinen Mann gesehen! Er hat hier geangelt!«

»Ihren Mann?«, fragt die Frau, und ihr schmales Gesicht verdüstert sich. »Wir haben ihn gesehen, ja. Es tut mir leid …«

»Was ist denn passiert?«

Die Frau fummelt an ihrem Schal herum, als sie sagt: »Wir haben ihn angeln sehen, als wir vorhin hier vorbeigekommen sind.« Sie wirft ihrem Ehemann einen Blick zu. »Du hast noch gesagt, dass das ziemlich gefährlich aussieht, bei diesem Wellengang, nicht wahr?«

Er nickt. »Als wir dann kehrtgemacht haben und zurückkamen, sahen wir, dass er ins Meer gespült worden war. Er war im Wasser.«

»Wir haben die Küstenwache angerufen«, fügt die Frau hinzu. »Wir haben versucht, ihn im Blick zu behalten, bis jemand kommt, aber … irgendwann haben wir ihn aus den Augen verloren.«

Sie müssen sich irren, denkt Eva, das kann nicht Jackson gewesen sein. »Der Mann, den Sie gesehen haben – was hatte er an?«

»Was er anhatte?«, wiederholt die Frau. »Dunkle Sachen, glaube ich. Und eine Mütze«, sagt sie und tippt sich an den Hinterkopf. »Eine rote Mütze.«

Später kommt Evas Mutter. Sie legt Eva eine Decke um die Schultern und streift ihr eine flauschige Mütze über das kurze Haar. Leise erkundigt sie sich, wie lange er schon im Wasser sei und was die Küstenwache gesagt habe.

Eva beobachtet das Rettungsboot bei seiner Suche. Es scheint ein Quadrat ins Wasser zu malen, erweitert dann den Aktionsradius und beschreibt immer größere Quadrate, bis es so weit draußen ist, dass Eva sich fragt, ob Jackson überhaupt so weit hinausgeschwommen sein kann.

An die eisigen Klauen des Meeres möchte sie auf gar keinen Fall denken, daher wärmt sie sich an der Erinnerung, wie Jackson letzten Monat nach ihrer Spätschicht überraschend im Krankenhaus aufgetaucht war, eine Tüte mit ihrem Lieblingskleid und ihren goldfarbenen High Heels in der Hand. Sie solle sich umziehen, hatte er gesagt, er werde sie ausführen.

Sie war begeistert gewesen, als sie in den Umkleideraum ging und ihren Kittel gegen das schwarze Seidenkleid eintauschte. Sie legte ein wenig Lippenstift auf und kämmte ihr dunkles Haar zurück. Die anderen Hebammen raunten und pfiffen, als sie herauskam und sich schwungvoll um ihre eigene Achse drehte.

Jackson fuhr mit ihr zu einer Bluesbar im Londoner Norden, die nur mit Kerzen beleuchtet war. Eva spürte den vibrierenden Rhythmus des Kontrabasses direkt in der Brust, lehnte den Kopf an Jacksons Schulter und ließ sich völlig von der Atmosphäre aufsaugen. Die Anstrengungen des Tages verflüchtigten sich. Sie tranken Cocktails, die sie sich nicht leisten konnten, und Eva bekam Blasen an den Fersen, als sie in ihren High Heels tanzte, aber das war ihr egal. Sie liebte Jackson für seine Gabe, einen ganz normalen Tag zu verzaubern.

Das Brummen eines Hubschraubers der Küstenwache drängt sich in Evas Gedanken. Das Meer wird von den Rotoren aufgewühlt. Die rot-weiße Bemalung leuchtet und strahlt vor den finsteren Wolken fast so etwas wie Optimismus aus. Durch die wachsende Menge der Schaulustigen läuft ein Schauder der Erwartung.

Der Polizist steht ganz allein da und reibt sich die Hände, um sich warm zu halten. Gelegentlich krächzt sein Funkgerät, und er hebt es an den Mund. Eva schaut immer wieder zu ihm hinüber und sucht nach Anzeichen dafür, wie dieser Tag enden wird.

Die meiste Zeit schweigen sie und lauschen auf die Wellen, die sich brechen und weiße Gischt an den Felsen aufschäumen lassen. Ihre Mutter hält ihre Hand und flüstert gelegentlich: »Nun mach schon, Jackson, nun mach schon.«

Als das letzte Tageslicht schwindet, hört Eva das Funkgerät krächzen. Sie dreht sich um und beobachtet, wie der Polizist es an den Mund hält und etwas hineinspricht. Dann schaut er aufs Meer hinaus, nickt ernst und lässt das Funkgerät wieder sinken.

Langsam kommt er auf Eva zu. Sie schüttelt den Kopf und denkt: Sag’s nicht!

»Es tut mir leid, aber die Küstenwache hat die Suche eingestellt.«

Ihre behandschuhten Finger klammern sich an den Schal. »Das können sie nicht machen.«

»Das Rettungsboot hat fast keinen Treibstoff mehr, und für den Hubschrauber ist es mittlerweile zu dunkel. Tut mir leid.«

»Mein Mann ist aber noch da draußen.«

»Die Küstenwache hat ihre Entscheidung getroffen.«

»Aber er wird die Nacht nicht überleben.«

Der Polizist starrt auf den Sand zu seinen Füßen.

Sie spürt die Hand ihrer Mutter an ihrer Taille. So fest packt sie zu, als wollte sie versuchen, den Schmerz aus ihrer Tochter herauszuziehen.

»Er ist da draußen«, sagt Eva noch einmal, entzieht sich der Umklammerung und taumelt über den Strand. In der Ferne sieht man die Lichter vom Kai. Sie hört ihre Mutter rufen, aber sie dreht sich nicht um. Sie weiß genau, was sie zu tun hat.

Jackson ist ihr Mann, und sie wird ihn nicht aufgeben.

Der Fischer springt soeben auf den Kai, als Eva ihn anspricht. »Ist das Ihr Boot?«

»Ja«, sagt er misstrauisch.

Sie holt Luft. »Sie müssen mich aufs Meer hinausfahren. Ich bezahle Sie dafür.«

»Dieses Boot wird heute bestimmt nicht mehr auslaufen, Schätzchen.«

»Mein Ehemann wurde heute Morgen von den Felsen gespült«, sagt sie.

»Ihr Ehemann? Um Gottes willen! Davon habe ich im Radio gehört.«

Sie tritt an ihm vorbei und springt in das Boot, als würde sie das Kommando übernehmen.

»He, hören Sie …«

»Kennen Sie die Strömungsverhältnisse und die Gezeiten hier?«, fragt sie, in dem Bemühen, sachlich zu klingen und sich auf die praktischen Details zu konzentrieren.

»Natürlich, aber ich kann nicht …«

»Bitte«, sagt sie und dreht sich zu ihm um. Lange machen ihre Nerven nicht mehr mit. »Sie müssen mir helfen!«

Sobald sie das offene Meer erreichen, rollt und schlingert das Boot auf den Wellen. Eva klammert sich an der Bordwand fest. Ihre Finger schmerzen vor Kälte, aber sie denkt nicht weiter darüber nach. Würde sie zugeben, dass ihre Füße taub und die Temperaturen derartig gesunken sind, dass sie unentwegt zittert, müsste sie sich auch eingestehen, dass Jackson keine Überlebenschance hat.

Die Klippe erhebt sich wie tief hängender Nebel aus dem Wasser. Als sie sich nähern, stellt der Fischer den Motor ab und schreit über den Wind hinweg: »Wir werden uns jetzt von der Strömung treiben lassen.«

Dann tritt er zu ihr, eine gelbe Öljacke in der Hand. »Hier, ziehen Sie die über Ihre Rettungsweste.«

Das Material ist schwer und kalt, und die langen Ärmel kratzen an der geröteten Haut am Handgelenk, wo ihre Handschuhe enden. Sie schaut an sich hinab und sieht, dass sich auf Brusthöhe eine breite Blutspur über die Jacke zieht.

»Das ist nur Fischblut«, sagt er, als er ihren Blick bemerkt.

Eva schaut sich an Bord um und sieht überall Hummerkörbe und schwere, mit Seegras durchzogene Netze herumliegen. Ein paar Lampen brennen, aber die sind bei Weitem nicht hell genug. »Haben Sie eine Taschenlampe?«

»Ja.« Er klappt den Deckel einer Holzbank hoch und holt eine schwere Taschenlampe mit einem Glasvorsatz in Tellergröße heraus. Die reicht er Eva, die sie mit beiden Händen festhalten muss. Nachdem sie die Lampe angeschaltet hat, richtet sie den Lichtstrahl auf das schwarze Wasser. Er ist so hell, dass sie ein paarmal blinzeln muss, bevor sie sich daran gewöhnt hat.

Er holt eine zweite, kleinere Taschenlampe heraus und beginnt ebenfalls, das Wasser abzusuchen. Während sie dahintreiben, rollen schwarze Wellen in den Lichtkegel hinein, fast wie Körper, die an die Oberfläche kommen und dann wieder untergehen.

»Angelt Ihr Ehemann oft?«

Ehemann. Das Wort klingt immer noch neu und aufregend. Sie sind noch keine zehn Monate verheiratet, und wenn ihr Blick auf den Ehering fällt, stockt ihr vor Freude der Atem. »Wir leben in London, deshalb kann er nicht so oft angeln gehen, wie er möchte. Als Junge hat er es oft getan. Er kommt aus Tasmanien.«

»Wo ist das?«

Sie vergisst immer, dass die Menschen nicht viel über Tasmanien wissen. »Das ist eine Insel südöstlich von Australien, auf der Höhe von Melbourne. Sie gehört zu Australien.«

Als sie auf das tiefschwarze Wasser blickt, kehren ihre Gedanken zu den Vorkommnissen des Tages zurück. Sie stellt sich vor, wie Jackson mit seiner Angelausrüstung am Strand entlanggegangen ist. War er vielleicht noch nicht ganz wach, weil er am Abend zuvor zu viel getrunken hat? Hat er wohl daran denken müssen, dass sie noch im warmen Bett liegt? Oder daran, wie sie sich in der Nacht geliebt hatten? Gab es einen Moment, in dem er am liebsten kehrtgemacht und sich in die Wärme des Bettes und an ihre Seite zurückgestohlen hätte? Sie stellt sich vor, wie er auf den Felsen steht, mit klammen Fingern Köder aufzieht und den Angeleimer zurechtrückt. Sie stellt sich den ersten Wurf vor, den sanften Ruck an der Angelrute. Die Brandung ist gut für den Fisch, da sie ihn ständig in Bewegung hält, hat er ihr mal erklärt.

Von Fischen versteht er etwas. Sein Vater ist zehn Jahre lang mit einem eigenen Boot ausgelaufen, um Krebse zu fangen, und Jackson selbst hat Meeresbiologie studiert. In London gibt es nicht viel Verwendung für Meeresbiologen, aber er sagt immer, seine Sehnsucht nach dem Meer sei gestillt, wenn sie gelegentlich zu ihrer Mutter an die Küste führen. In Tasmanien hatte er einen alten Meereskajak besessen, mit dem er durch die einsamen Buchten und Flussmündungen gepaddelt war, eine Angelrute am Heck befestigt. Sie liebt die Geschichten, wie er an Bergen und wilden Küsten vorbeigekommen war und sich am Lagerfeuer den selbst gefangenen Fisch gegrillt hatte.

Ein lautes Klatschen ist zu hören, und Eva hält den Atem an.

Die Taschenlampe ist ihr aus den Fingern geglitten und versinkt nun mit einem unheimlichen Leuchten im dunklen Wasser. »Nein! Nein …«

Sie will danach greifen, will mit ihren Händen im Meer herumwühlen, aber plötzlich beginnt das Licht zu flackern und erlischt dann.

»Es tut mir leid! Ich dachte, ich hätte sie«, sagt sie und klammert sich an die Bordwand, als sie sich hinausbeugt. »Ich habe sie verloren. Jetzt kann ich nichts mehr sehen. Es tut mir leid … ich …«

»Ist nicht schlimm«, sagt der Fischer sanft.

Sie schlingt die Arme um die Brust. Ihre Lippen brennen im eisigen Wind, als sie in die endlose Dunkelheit starrt. »Wie kalt ist es?«, fragt sie leise. »Das Wasser.«

Er atmet tief ein. »Acht, neun Grad vielleicht.«

»Wie lange kann man darin überleben?«

»Schwer zu sagen.« Er zögert. »Höchstens ein paar Stunden, würde ich vermuten.«

Schweigen senkt sich herab. Nur das Knarren der Bootsplanken und das Geräusch, mit dem die Wellen an den Rumpf schlagen, sind zu hören.

Er ist tot, denkt sie. Mein Ehemann ist tot.

Wir hatten nur zwei gemeinsame Jahre, Eva. Das ist nicht genug.

Es gab so viele Dinge, die ich erst jetzt entdeckt habe: dass du mit den Zehen wackelst, wenn du nervös bist; dass du nicht gerade unter einem Reinlichkeitswahn leidest; dass dein Geruchssinn dein wichtigster Sinn ist und du an allem, was du kaufst, erst riechst: an Büchern, an einem neuen Kleid, an der Zellophanhülle einer DVD.

Kürzlich habe ich die empfindliche Stelle in deinen Kniekehlen entdeckt, die ich nur berühren muss, damit du keuchend vor Lachen zusammenbrichst. Kaum zu glauben, dass meine Freunde dich für so besonnen und pragmatisch halten – dabei kannst du dich nicht zum Ausgehen fertig machen, ohne wie eine Verrückte durch die Wohnung zu springen, dir gleichzeitig die Zähne zu putzen und noch einmal schnell aufs Klo zu gehen oder dich schon mal zu schminken, während du noch hektisch ein paar Bissen hinunterschlingst.

Als wir uns zum ersten Mal begegnet sind und du mich mit deinen großen, braunen Augen angeschaut hast, fühlte ich mich, wie ich mich als Kind immer gefühlt habe – unbeschwert, frei und voller Hoffnung.

Wie ich schon sagte, Eva, zwei Jahre mit dir sind nicht genug.

Und doch waren es zwei Jahre, die ich nicht verdient habe.

Eva sitzt auf der Bettkante und starrt wie gelähmt auf das Telefon in ihrer Hand. Sie ist noch im Schlafanzug, obwohl bald schon wieder Abend zu sein scheint. Gelegentlich kommt ihre Mutter die Treppe hoch und drängt sie, irgendetwas zu tun: Geh doch mal duschen. Schnapp ein wenig frische Luft. Ruf Callie an. Eva kommt das alles dermaßen sinnlos vor, dass sie nicht einmal antwortet. Lieber bleibt sie in ihrem Zimmer und wartet darauf, dass Jackson zurückkehrt, sie auf den Mund küsst und mit seinem schönen melodischen Akzent sagt: Sei nicht traurig, mein Schatz, ich bin ja jetzt bei dir.

Vier Tage ist es nun her. Die Küstenwache sagt, dass die Leiche möglicherweise weiter westlich an die Küste gespült werden wird, in der Gegend von Lyme Regis oder Plymouth oder so, wegen der starken Nordostwinde. Eva ist aber noch nicht bereit, an eine Leiche zu denken, die Leiche ihres Ehemanns …

Die rote Mütze, die Jackson getragen hat, wurde mittlerweile gefunden. Eine Polizistin hatte sie ihr kleinlaut überreicht, in einer durchsichtigen Plastiktüte. Eva hatte auf das mit Kondenswasser beschlagene Plastik gestarrt und gedacht, dass es aussah, als würde die Mütze atmen.

Unten sind leise Stimmen zu hören, ihre Mutter begrüßt jemanden. Evas Name fällt, dann der von Jackson. Sie vernimmt das Wort tragisch.

Im Haus hatte es von Besuchern nur so gewimmelt. Eva findet es sonderbar, wie viel Ähnlichkeit Geburt und Tod doch haben: all die Karten auf der Fensterbank, die Blumensträuße, deren Duft sämtliche Räume erfüllt, das Essen in Plastikbehältern, die sich im Kühlschrank stapeln. Dann die gedämpften Stimmen, der gestörte Schlaf, das Wissen, dass es nie wieder so sein wird, wie es mal war.

Sie blinzelt und konzentriert sich auf das Telefon. Eigentlich wollte sie Dirk anrufen, Jacksons Vater. Sie fühlt sich schuldig, weil die Polizei ihn informiert hat und nicht sie selbst. Sie konnte nicht. Sie hatte einfach nicht die richtigen Worte gefunden.

Nun schaut sie auf die Nummer, die sie sich auf dem Handrücken notiert hat, und wählt. Den Hörer ans Ohr gedrückt, lauscht sie auf das unbekannte Signal am anderen Ende und denkt an die räumliche Entfernung, die zwischen ihnen liegt. Sie befinden sich auf entgegengesetzten Seiten der Erdkugel. Dort ist Morgen, hier Abend; dort ist Sommer, hier Winter.

Sie hat erst einmal mit Dirk gesprochen, kurz bevor sie und Jackson geheiratet haben. Sie haben sich aber gelegentlich geschrieben, und Eva hat es gefallen, an ruhigen Abenden auf dem Sofa zu sitzen und diese Briefe zu verfassen. Auf Dirks Antworten hat sie sich immer gefreut, da ihr die in krakeliger Handschrift auf Luftpostpapier verfassten Texte einen Einblick in Jacksons Leben in Tasmanien gewährten.

»Ja?«, meldet sich eine mürrische Stimme.

»Dirk?« Sie räuspert sich. »Hier ist Eva, Jacksons Frau.«

Am anderen Ende herrscht Schweigen.

Sie wartet und fragt sich, ob die Verbindung gestört ist. Sie fährt sich mit der Zunge über die Zähne. Ihr Mund fühlt sich trocken und irgendwie geschwollen an.

»Aha«, sagt er schließlich.

»Ich … ich wollte mich die ganze Zeit schon melden … aber, na ja …« Sie fährt sich mit der Hand durch das matte Haar und kratzt sich am Kopf. »Die Polizei hat Sie angerufen, soviel ich weiß.«

»Er ist ertrunken. Das hat man mir mitgeteilt.« Seine Stimme bricht, als er das sagt. »Beim Angeln ertrunken.«

»Er wurde von einer Welle ins Meer gespült.« Sie zögert. »Das Wasser hier ist kalt. Eiskalt. Ein Rettungsboot war da. Und ein Hubschrauber. Sie haben ihn den ganzen Tag gesucht …«

»Hat man die Leiche gefunden?«

»Nein. Nein, noch nicht. Tut mir leid.«

Schweigen tritt ein.

»Man hat die Mütze gefunden, die er getragen hat«, sagt sie, obwohl sie weiß, dass das nicht zählt. Nichts zählt – außer Jackson.

»Aha«, sagt er langsam.

»Es tut mir leid. Ich hätte Sie früher anrufen sollen. Ich hätte das nicht der Polizei überlassen dürfen, aber … ich war einfach … ich bin vollkommen durcheinander.« Sie merkt, dass ihr die Tränen die Kehle verstopfen, und atmet tief durch. »Das fühlt sich alles … so unwirklich an.«

Dirk sagt nichts.

Sie schluckt die Tränen hinunter und braucht einen Moment, um sich zu sammeln. Dann sagt sie: »Es wird eine Beerdigung geben müssen. Oder eher eine Trauerfeier.« Ihre Mutter liegt ihr ständig in den Ohren damit. »Ich weiß noch nicht, wann das sein wird … nach Weihnachten vermutlich. Vielleicht möchten Sie ja kommen?«

»Hm.« Sie hört, wie ein Stuhl über den Fußboden kratzt, dann das Klirren von Glas.

Da Dirk nichts sagt, bricht sie das Schweigen schließlich. »Ich weiß, dass Sie nicht gerne fliegen, aber falls Sie kommen wollen, Sie sind herzlich willkommen. Sie können bei uns wohnen … bei mir«, korrigiert sie sich. Ihre Finger verhaken sich in ihrem Haaransatz, und sie hat das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. All die Worte, die sie sich zurechtgelegt hat, scheinen wie ausgelöscht. »Jacksons Bruder ist auch willkommen. Soviel ich weiß, war sein Verhältnis zu Jackson etwas« – sie sucht nach dem richtigen Wort, aber es fällt ihr nichts Besseres ein – »angespannt.«

»Nein. Nein, ich denke nicht, dass sich das machen lässt.«

Ihre Kehle schnürt sich zusammen. Sie möchte, dass Dirk zusagt. Auch wenn sie ihren Schwiegervater nicht kennt, verbindet sie doch die gemeinsame Liebe zu Jackson, der gemeinsame Verlust. »Bitte«, sagt sie, »denken Sie darüber nach.«

Irgendwie schreitet die Zeit voran. Evas Tage versinken im dichten Nebel der Trauer. Später wird sie sich nur noch an Momentaufnahmen aus dieser Zeit erinnern: ein Tablett mit Essen, das unberührt vor ihrer Tür steht; ein Spaziergang zu den Felsen in der Morgendämmerung, von dem sie durchnässt und zitternd heimkehrt; die orangefarbenen Pollen, die von einem Strauß Lilien auf den Glastisch ihrer Mutter herabgerieselt sind; ihr Finger, der darin herummalt.

Einen Monat später steht sie im Bademantel vor dem großen Spiegel. In einer halben Stunde wird der Wagen kommen, um sie zur Trauerfeier für ihren verstorbenen Ehemann zu bringen. Sie ist neunundzwanzig Jahre alt und Witwe.

»Witwe«, sagt sie zum Spiegel, um das Wort auszuprobieren. »Ich bin Witwe.«

Als sie ihr Spiegelbild aus der Nähe betrachtet, sieht sie eine verhärmte Frau. Die Haut um Nase und Mundwinkel herum ist rötlich und rissig. Zwischen ihren Augenbrauen hat sich eine Falte gebildet, und sie drückt mit den Fingern darauf, um dieses tief eingegrabene Leidenszeichen zu glätten.

Auf der Holztreppe sind Schritte zu hören, das Klirren von Armreifen, die am Geländer entlangschleifen, dann ein energisches Klopfen. Callie, ihre beste Freundin, tritt ein und lässt den Raum mit ihrem Lächeln erstrahlen.

Sie legt ein Kleid aufs Bett, kommt dann zu Eva herüber und schlingt ihr von hinten die Arme um den Körper. Callie ist einen Kopf größer als sie, daher muss sie sich bücken, um das Kinn auf Evas Schulter abzustützen, sodass ihr Gesicht neben dem ihren im Spiegel erscheint.

»Dies wird ein schwerer Tag für dich werden«, sagt sie leise. »Aber du wirst das schaffen. Und du wirst auch all die anderen schweren Tage durchstehen. Und irgendwann wird der Tag kommen, an dem es nicht mehr ganz so schwer sein wird. Okay?«

Eva nickt.

Callie holt das Kleid und hält es Eva hin. »Das habe ich in diesem Laden gekauft, den du so magst, in der Nähe von Spitalfields. Wie findest du es? Falls es dir nicht gefällt, ich habe noch zwei andere im Auto.«

Eva zieht den Bademantel aus und schlüpft in das schwere, schwarze, taillierte Kleid. Sie schließt den Reißverschluss an der Seite und betrachtet sich im Spiegel. Es passt wie angegossen.

Callie lächelt. »Du weißt, was Jackson gesagt hätte, nicht wahr?«

Eva nickt. Da schau einer her, mein Schatz! Da schau doch bitte mal einer her! Sie schließt die Augen und verliert sich in der Erinnerung an seine Stimme und an die Vorstellung, wie er sie bei der Hand nimmt, um ihre eigene Achse dreht und leise pfeift.

Callie schaut auf ihre silberne Armbanduhr und sagt: »Der Wagen kommt in zwanzig Minuten. Wenn wir an der Kirche sind, wirst du sofort mit deiner Mutter hineingehen. Ich habe mit dem Priester über die Musik gesprochen. Das hat mich auf andere Gedanken gebracht.«

»Danke.«

Callie drückt ihr die Hand. »Alles in Ordnung?«

Eva versucht zu lächeln, scheitert aber. Ihre Schläfen pochen, und sie fühlt sich innerlich vollkommen leer. »Mir kommt es so vor, als wäre es noch … zu früh.«

»Was meinst du damit?«, fragt Callie sanft.

Eva beißt sich auf die Unterlippe. »Vier Wochen. Haben wir wirklich lange genug gewartet?«

Sie schluckt. Am Morgen der Trauerfeier für den eigenen Ehemann kann man schlecht sagen: Ich warte immer noch darauf, dass er zurückkehrt. Daher sagt sie: »Es ist nur … ich kann mir das nicht vorstellen, Cal. Ein Leben ohne Jackson kann ich mir einfach nicht vorstellen.«

In Tasmanien löst Saul den Sicherheitsgurt und beugt sich vor, die kräftigen Hände auf dem Lenkrad seines Pick-ups verschränkt. Durch die Windschutzscheibe betrachtet er die Aussicht vom Gipfel des Mount Wellington. An klaren Tagen hat man das Gefühl, von hier aus ganz Tasmanien zu sehen, aber an diesem Nachmittag ziehen Wolken auf.

Neben ihm auf dem Beifahrersitz beugt sich sein Vater zur Seite, um einen silbernen Flachmann aus der Anzugjacke zu ziehen. Seine Hände zittern, als er den Deckel abschraubt, dann verbreitet sich der Geruch von Whisky in der Kabine.

»Einen zum Mut machen«, sagt Dirk.

Saul schaut weg und beobachtet die eintreffenden Trauergäste in ihren dunklen Anzügen. Es sind Freunde von Jackson darunter, die Saul schon seit Jahren nicht mehr gesehen hat, Leute aus der Schule oder von der Werft. Den meisten ist er allerdings noch nie in seinem Leben begegnet.

Dirk steckt den Flachmann wieder in die Tasche, schnaubt einmal kräftig und fragt: »Bist du bereit?«

Saul zieht den Schlüssel aus dem Zündschloss und steigt aus. Seine Lunge füllt sich mit der kräftigen Bergluft, und die geliehene Anzugjacke flattert im Wind. Er schließt den obersten Knopf und beugt sich vor, um im staubigen Seitenspiegel seine Krawatte zurechtzurücken.

Als er fertig ist, begeben sie sich zögerlich zu der Gruppe der Trauergäste. »Ein Vater sollte seinen Sohn niemals überleben«, sagt Dirk, schüttelt heftig den Kopf und fügt hinzu: »England! Er hätte niemals dorthin gehen dürfen, verdammt.«

»Wird es dort auch irgendeine Zeremonie geben?«

»Ja. Sie werden eine Trauerfeier abhalten.«

»Wer organisiert das?«

»Seine Frau …«

Saul bleibt stehen. Er schaut seinen Vater an, der plötzlich erstarrt ist und mit offenem Mund dasteht. »Was hast du da gerade gesagt?«

Dirk kneift die Augen zusammen und fährt sich mit seiner kräftigen Hand übers Gesicht.

»Dad?«

Dirk atmet laut und vernehmlich aus. Als er die Augen wieder öffnet, schaut er Saul direkt ins Gesicht. »Wir müssen uns wohl mal unterhalten, mein Sohn.«

Eva steckt den Schlüssel ins Schloss, aber dann zögert sie. Seit Jacksons Tod war sie nicht mehr in ihrer gemeinsamen Wohnung gewesen. Sie war bei ihrer Mutter geblieben, um Weihnachten und die Trauerfeier irgendwie zu überstehen, bevor sie an eine Rückkehr auch nur denken konnte. Vielleicht hätte sie das Angebot ihrer Mutter, sie zu begleiten, doch nicht ablehnen sollen. Eva hatte darauf bestanden, es allein hinter sich zu bringen, aber jetzt erfüllt die Vorstellung sie mit Grauen.

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