Der Sommer, in dem meine Geschwister ihr Hirn wiederfanden - Alexandra Fischer-Hunold - E-Book

Der Sommer, in dem meine Geschwister ihr Hirn wiederfanden E-Book

Alexandra Fischer-Hunold

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Beschreibung

Superreich, total verwöhnt und im Dauerstreit – das sind die Schmittke-Geschwister. Doch das war nicht immer so: Auf Papas Schrottplatz, ohne viel Geld, aber mit viel Liebe und Fantasie gefiel es der wissbegierigen Chantel tausendmal besser. Jetzt interessiert sich Schwester Mandy nur noch für ihre Follower, und Bruder Jerome ist zum protzigen Ekel geworden. Als die drei bei einer Kreuzfahrt mit der elterlichen Luxusyacht über Bord gehen und auf der Insel der Aussteiger-Familie Hansen stranden, steht ihnen der aufregendste Sommer ihres Lebens bevor! Ein herrlich schräges Inselabenteuer zum laut Lachen und in die Ferne träumen

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Alexandra Fischer-Hunold

Der Sommer, in dem meine Geschwister ihr Hirn wiederfanden

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Inhalt

Herzlich willkommen im Leben [...]»Wer ist dafür?« Im [...]Ausblick auf das nächste Abenteuer der Schmittke-Geschwister

Herzlich willkommen im Leben der Chantel-Shakira Schmittke. Also: in meinem Leben. Zu der Zeit, von der ich erzählen will, war da einiges aus den Fugen geraten. Auch wenn mein Name damit ganz und gar nichts zu tun hat, muss ich von Anfang an etwas Wichtiges klarstellen: Ich hasse ihn, meinen Namen. Also, auf Schmittke lasse ich nichts kommen. Aber Chantel-Shakira …? Echt jetzt?

Wenn ich bei meiner Taufe schon hätte sprechen können, dann hätte ich laut gerufen: Nein, bloß nicht Chantel-Shakira! Und wahrscheinlich wäre es mir noch wichtig gewesen hinzuzufügen: Marie, das ist ein schöner Name!

Aber zurück zu der Schieflage. Um zu erklären, was bei uns los war, lege ich wohl am besten mit jenem Sommertag los, als es nicht mehr zu leugnen war: Meine Familie hatte jegliche Bodenhaftung verloren, und ich war die Einzige, die noch normal tickte.

In meinem Buch war ich gerade an dieser unglaublich spannenden Stelle über den Urknall angekommen, als es auch in unserem Park knallte.

Jeromes dämlicher Sportwagen hatte mal wieder eine Fehlzündung. Vollständig heißt mein Bruder Jerome-Pascal, und im Gegensatz zu mir hat er bestimmt noch nie einen Gedanken an seinen Namen verschwendet. Wir sind nur ein Jahr auseinander – in diesem besonderen Sommer war Jerome dreizehn, und ich war zwölf.

Früher waren wir ein Herz und eine Seele, wie man so schön sagt. Da haben wir nächtelang durch mein Teleskop weit entfernte Sterne und Planeten beobachtet und darüber gerätselt, ob es da oben irgendwo Leben gibt. Zusammen haben wir nonstop die Gegend erkundet oder Zeugs ausprobiert, und meistens war Mandy auch dabei. Mandy-Grace, um genau zu sein. Sie ist unsere große Schwester. In dem Sommer, von dem ich hier berichten will, war sie fünfzehn, fast sechzehn sogar. Sie hat mir mal erzählt, dass ich meinen Namen ändern lassen kann, sobald ich achtzehn bin. Auch wenn sie partout nicht verstehen will, was ich gegen ihn habe. Im Gegensatz zu mir ist sie mit ihrem Namen schon immer sehr zufrieden gewesen.

Okay, das sind also meine Geschwister.

Früher, als meine Familie noch normal war, wohnten wir auf unserem Schrottplatz in Köln-Porz in einem wirklich winzigen Haus direkt neben einer windschiefen Wellblechhütte –  das war das Büro meines Vaters –, auch wenn »Büro« maßlos übertrieben ist. Wenn es regnete, hatte Papa alle Hände voll damit zu tun, Eimer und Schüsseln in seiner Hütte zu verteilen, um das Wasser aufzufangen, das durch das undichte Dach tropfte. Im Sommer dagegen verwandelte sich sein Office in den reinsten Backofen, so dass Papa immer schwitzte wie ein Bär, wenn er in Unterhemd und Boxershorts über seinen Akten brütete.

An der Wellblechhütte hing ein Schild: Karl-Heinz Schmittke – Schrott. Metalle. Recycling. Entsorgung.

Karl-Heinz Schmittke ist mein Vater, meine Mutter heißt Gloria und ist eigentlich gelernte Kosmetikerin. Als Papa dann so richtig ins Schrottgeschäft einstieg, besuchte sie Abend für Abend Kurse an der Volkshochschule, um sich in Buchführung, Excel, Word und was man eben sonst noch so alles im Büro braucht, fit zu machen. Kaum hatte sie das alles gelernt, räumte Papa für sie nur allzu gern den Schreibtisch. Das alles ist lange her, leider viel zu lange, wenn einer meine Meinung hören möchte.

Wo war ich in meinem Bericht stehengeblieben? Ach ja, bei Jerome und seinem Sportwagen. Meine Eltern hatten dieses stinkende Teil extra für seinen letzten Geburtstag spezialanfertigen lassen und es ihm mitsamt Rennstrecke geschenkt. Dafür hatten sie gute Gründe: Zum einen besitzt Jerome-Pascal mittlerweile schon alles, was er sich jemals gewünscht hatte: mehrere Handys, einen gigantischen Bildschirm in seinem Wohnzimmer, einen mega Flatscreen in seinem Badezimmer, einen noch größeren in seinem Schlafzimmer, die aller-, aller-, allerneuesten Spielekonsolen (in jedem Zimmer), mehrere Schränke voller Sneakers und Basecaps und … ach … keine Ahnung, was sich sonst noch alles so in seiner Wohnung stapelt. Ja, richtig verstanden. Jedes von uns Kindern hat in Mamas Disney-Märchenschloss seine eigene Wohnung. Mama findet das schick. Ich finde es nur traurig, weil es so schrecklich einsam macht. In unserem neuen Zuhause ist alles ziemlich schnieke, immer so picobello aufgeräumt, dass man denken könnte, hier wohnt gar keiner. Und der Park ist so gepflegt, alle Hecken, Bäume und Rasenflächen so ordentlich zurechtgestutzt, als ob unsere Gärtner mit der Nagelschere zu Werke gehen würden. Vielleicht machen sie das ja auch, keine Ahnung.

Für Abenteuer ist hier kein Platz mehr, nicht so wie auf unserem Schrottplatz damals. Der war nämlich das beste Spielzimmer der ganzen großen weiten Welt gewesen. Dort haben wir mit unserem Hund Bruno herumgetobt und in den alten Autowracks Verstecken gespielt, bis die Sonne unterging. Wir sind durch die tiefsten und breitesten Pfützen geplatscht, so dass unsere Gesichter mit Matsch besprenkelt waren wie Marienkäfer mit Punkten. Wir haben uns als Sherlock Holmes und Dr. Watson auf Spurensuche begeben. Ich war natürlich immer Sherlock, Mandy-Grace war Watson, und Jerome-Pascal fand sich in der Rolle des Bösewichts megacool.

Die Hütte, die wir uns aus altem Holz und vergammelten Planen zusammengezimmert hatten, war einfach nur großartig. Wenn es draußen richtig schüttete, haben Mandy, Jerome und ich uns dort hineingerettet, haben die Köpfe zusammengesteckt und verbranntes Stockbrot geknabbert, während Mandy uns gruselige Geschichten vorgelesen hat. Wenn dann der Regen auf die Plane trommelte, Bruno leise zu unseren Füßen schnarchte und wir uns eng aneinanderschmiegten, dann war ich so glücklich wie ein Mäuschen in seinem Bau.

Aber ich schweife ab – zurück zu Jerome und seinem Rennwagen.

Der zweite Grund für diese Luxuskarre war Mirtha, unser Au-pair-Mädchen (mittlerweile hatten wir für wirklich alles Personal). In Brasilien hatte Mirtha schon studiert, um Lehrerin zu werden, hatte es sich dann aber doch anders überlegt und alles hingeschmissen, um nach Deutschland zu kommen. So war sie bei uns gelandet. Sie war steinalt, bestimmt schon vierundzwanzig.

Na ja, Mirtha meinte jedenfalls, dass Jerome zu wenig an die frische Luft käme, und Bewegung würde ihm auch nicht schaden – man sollte ihn unbedingt von Computer und Spielekonsole weglotsen. Da haben meine Eltern natürlich sofort reagiert.

O Gott! Ich hielt mir die Nase zu. Dieser Benzingestank war ja nicht auszuhalten! Dabei hatte ich mich schon tief in den Schatten der japanischen Zierkirsche verkrochen. Völlig entnervt schlug ich mein Buch zu. Wie sollte ich mich auf Stephen Hawkings komplizierte Gedankengänge konzentrieren, wenn Jerome seinen Motor aufheulen ließ wie einen wütenden Tiger und Mandy-Grace gleichzeitig die Boxen der Außenanlage am Pool voll aufdrehte.

»Mandy-Grace, bitte, schalte das ab. Wir wollen doch das Partizip Perfekt Passiv lernen«, brüllte Mandys Latein-Nachhilfelehrer verzweifelt gegen Shawn Mendes an (in den Mandy total verknallt war). Erwartungsgemäß zuckte meine Schwester mit den Schultern, drehte die Musik aber tatsächlich leiser, bevor sie sich am Beckenrand ausstreckte. »Den Blödsinn brauche ich nicht«, stieß sie zwischen einzelnen Sit-ups hervor. »Oder können Sie sich vielleicht vorstellen, dass Kim Kardashian von diesem Papperlapappzeug je gehört hat?«

Die Kardashians. Schon wieder. Seit einiger Zeit redete Mandy nur davon, dass sie einmal so berühmt und reich werden wollte wie diese grauenvolle Reality-TV-Familie. Und sie war felsenfest davon überzeugt, dass ausreichend Schminke, ihr Handy und dieser blöde Schmollmund, den sie jeden Tag vor dem Spiegel übte, dazu völlig ausreichen würden.

»Kim wer?« Herr Meyer-Korte tat mir echt leid. Wer meiner Schwester etwas beibringen wollte, hatte es wirklich nicht leicht, weil sie alles, was nichts mit Klamotten, Instagram, Luxus oder Schönheit zu tun hatte, für absolut überflüssig hielt.

Ein ungesundes Knattern veranlasste mich, zur Rennstrecke rüberzugucken. Jeromes ferarriroter Sportwagen hopste wie ein Springbock über den Asphalt, bevor aus dem Knattern ein sehr seltsames Röcheln wurde und der Motor mit einem letzten ungesunden Schnaufen erstarb.

Fast gleichzeitig scholl ein gebrülltes »Chan-teeel!« zu mir rüber. Ich sah, wie sich mein Bruder aus der Fahrerkabine stemmte, und konnte beobachten, wie sein Gesicht unter dem Helm vor Wut und Anstrengung rot anlief. Seit die Spielekonsolen in sein Leben getreten waren, hatte er tüchtig zugenommen. Mit einem lauten Plopp! flutschte er endlich aus dem Auto.

»Du hast meinen Motor geschrottet!«, schrie er in meine Richtung und riss sich den Helm vom Kopf. Sein Gesicht war jetzt so rot wie eine überreife Tomate.

»Blödsinn!«, knurrte ich zurück. Am Vortag hatte ich für Jeromes Rennwagen ein neues Treibstoffgemisch zusammengebraut. Nach meinen Berechnungen – und ich verrechne mich nie – sollte es die Motorleistung von Jeromes Flitzer um Klassen verbessern. Dass sein Wagen jetzt gerade verreckt war, konnte unmöglich etwas damit zu tun haben. Die Lösung war so einfach …

»Du obergeniales Superhirn hast bestimmt wieder vergessen, den Benzinhahn aufzudrehen!« Ich konnte mir ein triumphierendes Grinsen nicht verkneifen.

Das Gesicht meines Bruders war Millionen wert. Erschrocken wirbelte er herum und beugte sich ächzend über den Wagen. Als er sich wieder zu mir umdrehte, hatte sein Gesicht einen noch tieferen Rotton angenommen. Vorsicht! Das sah nach einem Jähzornanfall aus.

Hinter mir piepte es. Dieses Geräusch gab das große, romantisch rosenverschnörkelte Eisentor an unserer Einfahrt immer dann von sich, wenn es zur Seite glitt. Mit einem tiefen Röhren und in der Sonne glänzend, walzte sich der goldfunkelnde Porsche Cayenne (Sonderlackierung) meiner Mutter die Auffahrt hinauf.

»Wie hast du mich gerade genannt?«, keuchte Jerome.

»Obergeniales Superhirn?«, erwiderte ich unschuldig und machte mich zur Flucht bereit. Auch wenn Jerome viel zu viele Schokoriegel und unzählige Portionen Pommes mit Ketchup auf den Hüften hatte, konnte er auf der Kurzstrecke verdammt schnell werden.

»Kinder, euer Mamilein ist wieder da!«, stöhnte unsere Mutter, um direkt abwehrend die Hände in die Luft zu reißen. »Lasst mich jetzt bloß in Ruhe. Ich brauche erst mal meinen Schampus und fünf Minuten ganz für mich. Großer Gott, war das stressig!« Unsere Mutter arbeitete schon lange nicht mehr für Papa. Seitdem wir reich geworden waren, machte sie nur noch in Tschäritie oder ging Shoppen, und heute war ihre Tour offensichtlich mal wieder ein voller Erfolg gewesen, gemessen an all den Tüten, die sie in den Park schleppte. Noch während sie auf die Sofalandschaft zustöckelte, eilte unser Butler ihr entgegen und befreite sie von ihren Einkäufen.

»Tank jo verrry mutsch, Tschames!«, seufzte sie erschöpft und ließ sich in die schneeweißen Kissen sinken. Schon war eines unserer vielen Hausmädchen zur Stelle und reichte ihr auf einem silbernen Tablett ein Glas mit perlendem Champagner. Dankbar nahm meine Mutter es entgegen und tat einen tiefen Schluck. Shoppingausflüge schwächen meine Mama immer sehr. Das hängt bestimmt auch damit zusammen, dass sie niemals nach Hause kommt, bevor sie nicht auch für jeden von uns etwas Passendes gefunden hat. Papa bekommt meistens einen neuen, dicken Protzanhänger für seine Lederkette oder eines von den fetten Silberarmbändern, die er so liebt. Für Jerome fallen ab und an eine neue Drohne oder das neueste Computergame ab, während Mandy-Grace sich über alles freut, was den Namen eines richtig teuren Modelabels trägt. Für mich versteckte sich bestimmt ein neues, wahnsinnig teures Kleid oder eine Bluse oder so etwas in einer der Taschen. Ich glaube, Mama war es wahnsinnig peinlich, dass ich so ganz anders war als sie und Mandy – und mir aus Mode und teuren Klamotten nicht die Bohne machte.

Zu Schrottplatzzeiten hatte Mama noch keinen Porsche, und wenn sie einkaufen ging, dann zu H&M oder Primark oder Zara oder so. Bis zu dem Tag, an dem wir plötzlich reich waren. Ohne dass wir Kinder etwas davon mitbekommen hätten, hatte sich der ganze Schrott unter Papas fachkundigen Händen in Berge von Geld verwandelt. Als besonderer Kracher hatte sich seine Idee mit dem PS-Pinkeln (Papas Ausdruck, nicht meiner!) erwiesen. Dazu nahm er zum Beispiel die schrottreife Karosserie eines aufgepimpten Dreier-BMWs, motzte sie wieder auf, bis sie blitzte und blinkte und integrierte als krönenden Abschluss hinter getönten Scheiben auf dem Fahrersitz ein beheizbares Klo. TV-Bildschirm, Spielekonsole und iPad rundeten die ganze Sache ab. Reiche Autofreaks rissen ihm diese fahruntüchtigen BMWs, Audis, Bentleys und Ferraris wie warme Semmeln aus den Händen und stellten sie sich als eine Kombination aus Außenklo und Kunstwerk in den Garten.

»Ich hab zwar kein Abitur, aber dafür den richtigen Riecher!«, lachte Papa immer, wenn er am Abendbrottisch von einem besonders erfolgreichen Geschäft erzählte. Und genau wegen dieses Geschäftssinns hatten wir plötzlich Millionen, Millionen, Millionen von Euro. Wir waren reich, sagten unserem winzigen Haus auf dem Schrottplatz ade und zogen aus dem Gewerbegebiet von Porz hierher – in das Villenviertel Köln-Marienburg.

»Ob wir das nun wollen oder nicht, Kinder – wir ziehen um!«, erklärte uns Mama, allerdings so, dass ich echt nicht dahinterkam, ob ihr das nun leidtat oder nicht. »Wohlhabende Leute wie wir passen nicht nach Porz!«

Niemals werde ich vergessen, wie Bruno uns traurig hinterhersah und verzweifelt an seiner Leine ruckte, an der einer von Papas Mitarbeitern ihn hielt, als wir in Papas neuem, extralangem Range Rover (eine Spezialanfertigung) vom Schrottplatz rumpelten – ohne ihn. Denn Mama wollte keine stinkende Promenadenmischung in ihren neuen Palast mitnehmen.

»Was sollen denn die ganzen feinen Leute von uns denken?«, fragte sie uns drei schulterzuckend, die wir tränenverschmiert auf der Rückbank Rotz und Wasser heulten. Mandy und Jerome waren derartige Verräter! In den Hungerstreik wollten wir treten und mit unseren Eltern so lange nicht mehr reden, bis Bruno wieder bei uns sein würde. Aber kaum, dass meine Geschwister unser neues Zuhause gesehen hatten, knickten die beiden ein wie Strohhalme im Gewitterregen.

»O voll mega!« und »Boah, wie abgefahren!«, riefen sie und drückten sich an der Autoscheibe die Nasen platt. Und ich? Ich war nicht nur wegen Bruno sprachlos. Das war nämlich kein Haus. Das war ein Schloss. Mit Türmchen und Erkerchen und Rosenranken. Bestimmt glaubt mir das kein Mensch, aber ich schwöre: Es war rosa! Wie in den alten Walt-Disney-Filmen. Ganz im Ernst, ich rechnete jeden Moment damit, dass gleich die Tür aufging und Schneewittchen die Stufen hinunterschwebte.

»Für meine Königin!«, schleimte dann auch noch Papa rum, so dass es triefte, und drückte Mama einen Kuss auf die Wange. Mama platzte fast vor Rührung und Stolz, und mir ist ziemlich schlecht geworden. Denn bis dahin hatte ich noch die Hoffnung, dass Papa einfach nur falsch abgebogen war.

Seit damals ist kein Tag vergangen, an dem ich mich nicht auf unseren Schrottplatz in das stinknormale Porz zurückgewünscht hätte. In unsere Hütte. Zu Stockbrot und Gruselgeschichten. Zu Bruno, der an Regentagen immer nach altem Teppich roch, dem ich alles erzählen konnte und der nie was weitererzählt hat. Ich wollte meine Geschwister wiederhaben, so wie sie vor unserem Umzug waren, und nicht diese Freaks, zu denen sie langsam, aber sicher mutierten, jeden Tag ein bisschen mehr – genauso wie meine Eltern.

»Frau Schmittke«, wandte sich Herr Meyer-Korte jetzt an unsere Mutter.

»Ja? Was ist denn?«, hauchte sie entnervt, während sie sich mit einem Vogue-Magazin Luft zufächelte. Bestimmt hätte sie weniger geschwitzt, wenn sie sich bei der Junihitze nicht in diese knallenge Lederhose gequetscht hätte. Da konnte das bunte Spaghettiträger-Shirt auch nicht mehr helfen.

»Ich wollte nur nachfragen, wie wir es in den Sommerferien mit der Nachhilfe halten wollen«, sagte er. Dabei schielte er sehnsüchtig auf die Karaffe mit der eisgekühlten Zitronenlimonade, die Mirtha für uns gemixt hatte.

Erstaunt schaute meine Mutter auf. Sie folgte seinem Blick, bot ihm aber trotzdem nichts an. »Sommerferien? Mein guter Herr Meyer-Kotze. Darüber mache ich mir doch jetzt noch keine Gedanken. Bis dahin vergehen ja noch Monate.« Und als wollte sie die Anzahl dieser Monate noch verlängern, machte sie mit der Hand eine weit wegwerfende Bewegung.

»Ähhh!«, stammelte der Lateinlehrer verunsichert. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Jerome mit Killerblick auf mich zukam. Vorsichtshalber setzte ich mich schon mal in Richtung Terrasse in Bewegung.

»Nächste Woche!« Mehr sagte Herr Meyer-Korte nicht.

»Wie bitte?«, fragte meine Mutter zwischen zwei Schlucken nach.

»Die Sommerferien. Sie beginnen heute in einer Woche!«

Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen starrte meine Mutter den Lehrer an, bevor sie den restlichen Champagner in einem hinunterkippte. Der Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben. Es war genau der Moment, in dem Jerome-Pascal plötzlich losrannte und brüllte: »Du blöde Klugscheißerin, ich mach dich fertig!«

Mein Stichwort. Ich wusste, dass er mich nicht schnappen würde, solange ich weit genug lief. Wie oben schon erwähnt. Kurzstrecke. Mehr war bei Jerome nicht drin. Deshalb rannte ich mit mäßigem Tempo los, um ihn erst mal etwas herankommen zu lassen. Im Zickzack hielt ich auf den Pool zu. Mandy-Grace stand am Beckenrand und schoss ein Selfie nach dem anderen. Mal mit dämlicher Schnute und Kulleraugen, mal ohne. Ich war schon lang am Pool vorbei, als meine Schwester unter lautem Gekreische und mit einem gewaltigen Platsch im Wasser landete. Jerome hatte sie einfach umgewalzt.

»Ihr bescheuerten Vollhonks!«, kreischte Mandy-Grace. »Ich hasse euch! Und ich kann euch gar nicht sagen wie sehr!«

Wie sie aussah! Wie ein Malkasten, der in ein schweres Gewitter geraten war. Ich weiß, es war nicht nett, aber ich konnte nicht mehr vor Lachen.

»Hättest eben nicht so blöd im Weg rumstehen müssen, du hirnamputierte Barbie!«, keuchte Jerome und hielt sich die schmerzende Seite.

»Schwabbelbacke!«, konterte Mandy-Grace.

»Pass nur auf. Wenn ich mit der Klugscheißerin fertig bin, bist du dran!«, drohte Jerome und ließ sich schnaufend auf eine der Sonnenliegen plumpsen.

Das muss der Moment gewesen sein, in dem meiner Mutter klarwurde, dass sie die Sommerferien auf keinen Fall mit uns verbringen wollte. Stattdessen muss sich wohl in ihrem Kopf das Bild von einem menschenleeren Traumstrand und einem Luxus-Wellness-Resort zusammengesetzt haben – ganz ohne Kinder. Nur Papa und sie und natürlich das notwendige Personal. Und wahrscheinlich hat sie sich genau in dem Moment auch die Frage gestellt, wo sie uns dann für sechs Wochen parken konnte. Tja, und dafür ist ihr dann auch prompt eine Lösung eingefallen …

Eine Woche später begannen die Ferien, und direkt am ersten Ferientag schickte sie uns zusammen mit unserem Butler James, unserem Au-pair-Mädchen Mirtha und der gesamten Crew unserer Vierzig-Meter-Motoryacht Golden Sun in die indonesische Inselwelt. Richtig gehört. Wir fuhren nicht wie unsere Mitschüler nach Holland oder Mallorca, sondern nach Indonesien. Und nicht auf den Zeltplatz oder in eine Ferienwohnung, sondern auf eine Yacht. Und das Ganze nicht mit unseren Eltern, sondern ohne. Am Ende unserer Ferien sollte es dann jedoch auf Bali die große Familienzusammenführung geben. So weit Mamas Idee. Und doch kam es nicht dazu. Denn völlig unvorhergesehen und ungeplant wurden diese Ferien die abenteuerlichsten, gruseligsten, fürchterlichsten und zugleich großartigsten meines Lebens …

Ich stoppte den Jet-Ski in voller Fahrt. Hatte da jemand nach mir gerufen? Die Golden Sun lag ein gutes Stück von mir entfernt im gleißenden Sonnenlicht. Trotzdem erkannte ich meinen Bruder sofort. Wie ein rundliches Rumpelstilzchen mit Basecap, XXL-Fußballtrikot der Nationalmannschaft, Bollerbuchse und seiner goldenen Panzerkette, die im Sonnenlicht funkelte wie die Kronjuwelen, sprang Jerome-Pascal ungeduldig an der Reling herum. Warum er dabei mit einem blitzenden Schwert durch die Luft fuchtelte, war mir zwar ein Rätsel, aber immerhin kapierte ich, dass sein »Wie-lange-dauert-das-denn-noch«-Gebrüll nicht mir galt. Denn sonst hätte er ja in meine Richtung geguckt und nicht irgendeinen Punkt seitlich von mir fixiert. Ich folgte also seinem Blick bis zu einem orangefarbenen Gummiboot, das in Strandnähe träge auf den türkisfarbenen Wellen des Ozeans trieb. Bei genauerer Betrachtung erinnerte es mich mit seinem verschließbarem Spitzdach mehr an ein schwimmendes Zelt als an ein Boot. Und plötzlich wusste ich, was ich da vor mir hatte: eine Rettungsinsel! So ein Ding, das Schiffbrüchige davor bewahren soll, im Meer zu ertrinken.

Als ich zu meiner Erkundungsfahrt rund um die Insel aufgebrochen war, war die Bucht noch menschen- und rettungsinselleer gewesen. Wie seltsam! Plötzlich kam Bewegung in das kristallblaue Wasser, und die ging eindeutig von dem großen, dunklen Schatten aus, der sich bedrohlich von dem weißen Meeresboden unter der Rettungsinsel abhob. Noch nie in meinem ganzen Leben hatte ich einen Hai aus der Nähe gesehen, und ich war auch nicht scharf darauf. Fluchtbereit umklammerten meine Hände die Griffe des Jet-Skis. Da schoss eine Hand aus dem Wasser, und diese Hand hielt ein Netz, und dieses Netz war prall gefüllt mit … ich kniff die Augen zusammen … Eiern? Jetzt tauchte unser Butler hustend und schnaufend aus den Fluten auf. Er schob die beschlagene Taucherbrille mitsamt Schnorchel auf die Stirn und keuchte: »Fünfzig, Jerome. Ich habe nachgezählt. Alle vollzählig wieder beisammen!«

Hä? Ich verstand nur Bahnhof.

»Herzlichen Glückwunsch!«, knurrte Jerome wenig herzlich herüber. »Bekomme ich jetzt endlich meine Karamellbonbons?«

»Ist die Schale schon wieder leer?!«, prustete James ehrlich erstaunt, um dann diensteifrig hinzuzusetzen. »Ich werde sie unverzüglich auffüllen.«

»Soll ich Sie zur Yacht mitnehmen, James?«, bot ich unserem Butler an.

»Ach, das wäre überaus nett von dir!« Dankbar nickte James und hielt mir das Netz entgegen. Mann, ich habe keine Ahnung, wie schwer fünfzig Eier sind, aber jetzt wusste ich, wie schwer fünfzig Golfbälle sind. So schwer, dass ich beinahe vom Jet-Ski gekippt wäre. Verwirrt schaute ich James an. Der zuckte hilflos die Schultern: »Mirtha wollte, dass Jerome-Pascal ein wenig Sport treibt«, schnaufte er und hievte sich schwerfällig hinter mir auf den Jet-Ski. Alles klar! Weil Jerome keinen Bock auf richtige Bewegung gehabt hatte, war seine Wahl auf Golf gefallen. Wahrscheinlich mehr oder weniger lustlos hatte er seine fünfzig Bälle in Richtung der Rettungsinsel geballert und die meisten davon im Ozean versenkt.

»Die Rettungsinsel war meine Idee!«, offenbarte James mir stolz, als wir das orangefarbene Ding ins Schlepp nahmen. »Jerome hätte die Bälle einfach so ins Meer geschossen auf Nimmerwiedersehen. Das konnte ich nicht zulassen! Was meinst du, was euer Vater gesagt hätte, wenn er bei unserer Ankunft auf Bali hätte feststellen müssen, dass fünfzig Golfbälle einfach so verschwunden sind. Die kosten immerhin auch Geld.«

»Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie schön diese Insel ist«, sprudelte ich los, kaum dass ich an Bord geklettert war. »Ein breiter weißer Sandstrand, Palmen, dichter Regenwald, und ich habe sogar riesige Wasserschildkröten entdeckt.« Ich zeigte mit den Händen die Größe und übertrieb wirklich nur ein bisschen. »Ich war ja nicht an Land, aber ich glaube, die Insel ist unbewohnt. Jedenfalls habe ich keine Menschenseele gesehen.«

»Interessiert ’nen Toten!«, murmelte Mandy vom Rand des Pools und stopfte sich ihre In-Ears in die Ohren, bevor sie sich wieder flach wie eine Flunder auf ihrer Sonnenliege ausstreckte.

Suchend schaute ich mich nach Jerome um. Der saß im Schatten des Sonnensegels breitbeinig am Esstisch und hatte schon seine dritte Cola runtergekippt. Es war erstaunlich. Wenn das Personal nicht zur Verfügung stand, war er doch wirklich in der Lage, sich selbst zu versorgen. Also, sich von der Sofalandschaft im Multimedia-Salon zu walzen oder sich aus seinem fetten Ledersessel in seiner Suite zu wuchten, um tatsächlich auf seinen eigenen Füßen zum Kühlschrank (davon hatten wir natürlich mehrere an Bord. In Lagerräumen, in der Indoor-Küche, in der Outdoor-Küche und in jeder der drei Bars) zu gehen und seine Cola eigenständig herauszuholen und zu öffnen. (Muss ich erwähnen, dass Jerome immer den kürzesten Weg wählte? Nee, ich glaube, das versteht sich von selbst.) Niemals würde er die lange Wanderung in die Lagerräume antreten. Das übernahm jetzt der tropfende James, kaum dass er hinter mir an Bord geklettert war.

Voll konzentriert und mit geschlossenen Augen hämmerte Jerome sich mit der Faust auf den Brustkorb wie ein Gorilla im Zoo, bis ein wirklich widerwärtiger Rülpser seinen Hals hochkroch. Mich schockte das schon lange nicht mehr. Jerome nannte das Training. Immerhin war er der amtierende Rülps-Champion seiner Klasse und wollte das auch bleiben.

Schon wanderte Jeromes Hand in Richtung der vierten Coladose.

»Hier, bitte, Jerome!«, möglichst geräuschlos zog James seine triefende Nase hoch, wobei er das randvoll mit einzeln verpackten Karamellbonbons befüllte Silberschälchen vor Jerome abstellte. »Ich würde mich dann jetzt gerne trockenlegen und umziehen!«

Anstatt danke zu sagen, wedelte Jerome mit der einen Hand James einfach beiseite, während er mit der anderen in die Schale griff und eine Ladung Karamellbonbons vor sich auf den Tisch kullern ließ.

»Jerome, heb dir das doch bitte für den Nachtisch auf. Es gibt gleich Essen!« Mirtha nickte zu der Außenküche hinüber, in der Monsieur Alain unser Mittagessen zauberte.

»Don’t panic!« Schmatzend tätschelte Jerome seine Wampe. »Da geht viel rein!«

»Indonesien ist wahnsinnig reich an Inseln, wusstet ihr das?«, setzte ich meinen Bericht fort. Die konnten doch unmöglich alle so ignorant sein. Na gut, Monsieur Alain, unserem französischen Spitzenkoch, zischte in der Outdoor-Küche das Fett aus der Bratpfanne so dolle entgegen, dass er bestimmt keines meiner Worte verstanden hatte. Aber wenigstens Mirtha schaute interessiert von Jeromes Golftasche auf, in der sie einen kleinen Teil der fünfzig Golfbälle verstaute.

»Weißt du, Mirtha«, erzählte ich weiter, indem ich mich neben ihr an die Theke der Outdoor-Bar lehnte. »Indonesien ist ein ziemlich großes Land. Insgesamt umfasst es siebzehntausendfünfhundertacht Inseln.«

»Aha!«, gab Mirtha knapp zurück.

»Ja, genau. Und weil davon nur sechstausendvierundvierzig bewohnt sind, wäre es also kein Wunder, wenn diese Insel in der Tat unbewohnt wäre.«

»Woher weißt du so was nur immer?«, erwiderte Mirtha mit ihrem zauberhaften brasilianischen Akzent und zerrte den bockigen Reißverschluss an der Golftasche zu.

»Ich lese eben viel«, erwiderte ich schulterzuckend.

Hinter mir rülpste Jerome wie ein Frosch mit Blähungen. »Boah, Alter, fünf in Folge! Nennt mich Meister!« Mit zusammengezogenen Augenbrauen schmatzte er dem Geschmack auf seiner Zunge nach. »Zusammen mit Karamell kommt das richtig gut!«

»Und ich verschlinge Dokumentationen auf Youtube.« Da Jerome eh nicht aufhören würde, war es das Beste, seine ekeligen Gewohnheiten einfach zu ignorieren. »Kann ich dir nur empfehlen, Mirtha. Dabei lernt man viel mehr als beim Serien-Streamen.« Und das war das Einzige, was sie in ihrer freien Zeit machte: Schmalzige Telenovelas suchten. Zum Glück für sie und für meinen computersüchtigen Bruder hatte unsere Yacht über Satellit Zugang zum Internet.

»Essen iiist färtige!«, sang Monsieur Alain. Das war Musik in Jeromes Ohren. Gierig umklammerte er Messer und Gabel, bereit zum Angriff auf unser Mittagessen. Elegant balancierte Monsieur Alain die dampfende, zischende Pfanne zum Tisch hinüber und stellte sie direkt vor Jerome auf einem Untersetzer ab. Wie hypnotisiert schnupperte ich der magischen Duftwolke aus frischem Knoblauch, Rosmarin und feinstem Olivenöl hinterher, die verführerisch an mir vorbeiwaberte.

»Monsieur Alain, das riecht ja super!«, freute ich mich und ließ mich händereibend auf meinem Stuhl nieder. »Sind das …?«

»Garnelen!« Angewidert verzog Jerome die Nase.

»Crevettes!«, berichtigte Monsieur Alain ihn mit leicht beleidigtem Ton.

»Crevetten, Garnelen, alles der gleiche Scheiß!«, brummte Jerome missmutig. »Ich kann den toten Fisch echt nicht mehr sehen! Ne schöne Currywurst … das wäre es jetzt!«

Über Jeromes Wunsch konnte Monsieur Alain nur den Kopf schütteln.

»Mandy-Grace, manger!«, rief er, während er zurückging, um zwei Schüsseln zu uns herüberzutragen.

»Was ist?« Gelangweilt zupfte sich Mandy einen ihrer In-Ears aus dem Ohr und blinzelte gegen das Sonnenlicht zum Tisch hinüber.

»Ach so … neee, Essen? Nicht für mich. Ich muss auf meine Figur achten.«

»Keine Pommes?«, entgeistert starrte Jerome von einer Schüssel in Monsieur Alains Händen zur anderen. »Nudeln und Grünfraß? Boah ey, ich bin doch kein Karnickel?!«

»Jerome-Pascal!« Mit funkelnden Augen schoss Mirtha ihren strengsten Gouvernantenblick auf Jerome ab, während sie ihren Stuhl näher an den Tisch heranrückte.

»Was denn? Seit Tagen wünsche ich mir Pommes mit Ketchup, und was bekomme ich? Toten Fisch und Blätter!«

Beleidigt reckte Monsieur Alain die Nase in die Luft und presste die gespitzten Lippen aufeinander, als ob er sich entweder eine Träne oder einen scharfen Kommentar verkneifen müsse.

Ohne auf Jeromes Gejammer einzugehen, rief Mirtha zu Mandy hinüber: »Und du schwingst sofort deinen Hintern an den Tisch und isst. Pasta!« Mit »Pasta« meinte sie nicht etwa die Nudeln, die langsam ausdampften, sondern »basta«.

»Wenn es sein muss!«, motzte Mandy, schnappte sich ihr Handy und stampfte zu uns hinüber. »Aber nur Salat!«

Widerwillig lud sich Jerome-Pascal einen Berg Nudeln auf den Teller. »He, Küchenmeister, Ketchup!«

»Mon dieu, wo bin isch ier nur iingeraten?«, brummelte Monsieur Alain und knallte voll Abscheu eine große Ketchupflasche auf den Esstisch. »Du biste eine verzogene Rotzelöffel, Jerome. Eine kulinarische Catastroph!«

»So what?«, raunte Jerome, während er hochkonzentriert mit beiden Händen die Ketchupflasche würgte. Pupsend sprötzelten einzelne Ketchuptropfen auf die Farfalle. »Die ist ja leer!«

Fassungslos starrte Jerome Monsieur Alain an.

»Bedaure, das war die Lätzte. Und es tut mir nischt mal wirkliisch leid!«, gab unser Koch eiskalt zurück.

»Ihr Ernst? Mehr haben wir nicht?« Das schiere Entsetzen stand meinem Bruder ins Gesicht geschrieben. Unvermittelt donnerte er die leere Flasche auf die Tischplatte. »Nee, ’ne?«

»Wenn du ganz lieb bitte, bitte sagst, könnte isch dir Ketchuupe zubereiten, aber ich befürschte, dass mir die nötigen Konservierungsmittel fehlen, um deine Geschmacksrischtung zu treffen!«, fauchte Monsieur Alain. Im Weggehen setzte er kaum hörbar hinzu. »Iss es oder lass es eben bleibän! Perlen vor die Säue!«

»Das erzähle ich meinen Eltern, Monsieur Alain, und die werden es gar nicht witzig finden, wenn sie erfahren, dass ich hungern musste!«, drohte Jerome und machte sich mit knallrotem Kopf daran, die ketchuprot gescheckten Nudeln mit der Gabel aufzuspießen.

Ich fand das Essen wunderbar. Die Crevetten waren auf den Punkt gebraten, wie Jamie Oliver sagen würde. Ich sehe Monsieur Alain sehr häufig beim Kochen zu, und ich gucke auch sehr gerne Kochshows von Jamie Oliver, Tim Mälzer, Kikis Kitchen und so. Von daher weiß ich, wie vorsichtig man mit Knoblauch umgehen muss. Der Rosmarin verlieh dem Ganzen eine würzige Note, die von einer Prise Salz perfekt ergänzt wurde. Genialerweise hatte Monsieur Alain auf Pfeffer ganz verzichtet. Der Clou waren die wahrscheinlich ganz zum Schluss dazugegebenen Cocktailtomaten, die mit einem leisen Knacken im Mund zersprangen und für die nötige Frische sorgten. Dazu die al dente gekochten Nudeln … ein Traum!

»Monsieur Alain? Das Essen ist echt großartig, aber ich hätte da noch eine richtig gute Idee!«

»Isch öre?« Mit hochgezogenen Augenbrauen und vor der Brust verschränkten Armen warf mir Monsieur Alain über den Rand seiner Brille einen interessierten Blick zu.

»Chilliflocken! Die fehlen noch, und wissen Sie, was bestimmt auch super passen würde?«

Zitrone – wollte ich sagen. Aber plötzlich sah Monsieur Alain so aus, als ob er auf genau diese Frucht gebissen hätte. Im nächsten Moment landeten Pfannenheber und Kochlöffel in der Spüle, und unser französischer Spitzenkoch rauschte unter einer Flut französischer Flüche von Deck. Außer »Merde!« verstand ich kein Wort. Ich möchte kurz klarstellen, dass das nicht etwa daran lag, dass ich kein Französisch könnte. Im Gegenteil. Ich habe sogar eine Eins in Französisch. Es ist nur so, dass Flüche nicht gerade in meinem Vokabelheft stehen. Ist ja auch egal! Auf jeden Fall war es Mandy-Grace, die mitten in Monsieur Alains Beleidigte-Leberwurst-Wutausbruch hysterisch kreischte: »Sind da etwa Granatapfelkerne in dem Salat? Von denen bekomme ich Pickel!«

»Von Granatapfelkernen?« Skeptisch zog Mirtha die Augenbraue hoch. »Das habe ich ja noch nie gehört!«

»Ist aber so!«, schnaubte Mandy und schob ihren Teller auf Armeslänge von sich.

»Was für ein Blödsinn!«, gab ich Mirtha recht. »Ausschlag. Ja, möglich. Falls du eine Allergie hast.«

»Hab ich dich nach deiner Meinung gefragt?«, schnauzte Mandy-Grace.

»Die Klugscheißerin gibt doch zu allem ungefragt ihren Senf dazu!«, schmatzte Jerome, wobei ihm die Nougatcreme aus dem Schokoriegel, den er mampfte, das Kinn hinunterlief wie brauner Schleim. Keine Ahnung, woher er den jetzt wieder hatte. Überall hatte er geheime Depots von dem Zeug.

»Lieber viel wissen als viel fressen!«, feuerte ich zurück.

»Sag das noch mal, Bücherwurm!«, verlangte Jerome, nachdem er sich die Nougatmatsche mit dem nackten Unterarm abgewischt hatte.

»Fettsack!«

Jerome bohrte sich die Zunge in die Wange und nickte wie ein Auftragskiller in einem Mafiafilm.

»Schluss jetzt!«, verlangte Mirtha. »Seid nett zueinander. Ich sehe jetzt mal nach Monsieur Alain, den ihr wirklich sehr gekränkt habt, und wenn ich zurückkomme, habt ihr euch die Hände gereicht und vertragen.«

Sie hätte es besser wissen sollen, dazu war sie schon lang genug unser Au-pair. Kaum war sie außer Sichtweite, griff sich Jerome meinen Reiseführer über Indonesien, den ich vor meiner Jet-Ski-Tour auf dem Esstisch zurückgelassen hatte.