Der Sommer mit Pasha - Yelena Akhtiorskaya - E-Book

Der Sommer mit Pasha E-Book

Yelena Akhtiorskaya

4,9
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Fast zwei Jahre lang hat Pasha sich bitten lassen. Nun endlich bequemt er sich zu einem Besuch bei den Eltern und seiner Schwester, die nach New York ausgewandert sind – während er, der nie ganz erwachsene dichtende Bohemien, lieber in Odessa zurückblieb. Jetzt ist er also da, mit all seinem russischen Künstlertum und Naturtalent zum Missgeschick: Am Strand gerät er in eine Windhose, bei einer Bootspartie verliert er die Ruder. Immerhin schafft Pasha es allein nach Manhattan, wo er mit neureichen Exilrussen feiert – anstatt, der eigentliche Anlass des Besuchs, bei seiner erkrankten Mutter zu sein ... Jahre später erinnert sich Pashas mittlerweile erwachsene Nichte Frida an den längst wieder auf der Krim lebenden Onkel – und beschließt, dort nachzusehen, wer es wirklich besser getroffen hat, die Ausgewanderten oder der in der alten Heimat Gebliebene ... Yelena Akhtiorskaya, in Odessa geboren und im Little Odessa genannten Brighton Beach/New York aufgewachsen, hat einen fulminanten Roman über Nostalgie, Neubeginn und die Suche nach den Wurzeln geschrieben: So literarisch-eigensinnig wurde schon lange nicht mehr von familiären Anziehungs- und Abstoßungskräften erzählt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 435

Bewertungen
4,9 (14 Bewertungen)
12
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Yelena Akhtiorskaya

Der Sommer mit Pasha

Roman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Über Yelena Akhtiorskaya

Inhaltsübersicht

WidmungErster Teil 1993EinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtZweiter Teil 2008NeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehn

Für meine Familie

Erster Teil1993

Eins

Der Morgen war perfekt, sich daheim zu verkriechen eine Schande. Ab an den Strand! Auch du, Pasha – du brauchst Sonne, ein Bad im Meer und ein kleiner Spaziergang würden dir guttun. Bist du denn gar nicht neugierig auf Coney Island? Freud war neugierig! Schieb nicht alles auf, bis es zu spät ist. Schlaganfälle aus heiterem Himmel sind in dieser Familie keine Seltenheit. Wer weiß, wie lange du noch … Los jetzt, runter vom Sofa!

Pasha war erst am Vorabend gelandet und fühlte sich nicht gut – Gelenkschmerzen, Schweißausbrüche, dazu immer wieder Herzrasen. Anscheinend konnten auch seine Angehörigen das Blut in seinen Ohren rauschen hören, nur so erklärte sich, warum sie brüllten. Nach vierzehn Stunden auf einem engen Gangplatz am gurgelnden WC eines verbeulten, nach Kerosin stinkenden Flugzeugs, nach zwei Zwischenlandungen und einer in der steifen Umarmung eines Plastiksitzes auf dem Flughafen von Kiew verbrachten Nacht wäre jeder am Ende seiner Kräfte gewesen, und Pasha war nicht jeder, sondern ein Dichter – von Geburt an kränklich, das Versagen aller lebenswichtigen Organe (Herz, Lunge) schon angelegt. Nase und Ohren waren unverhältnismäßig groß für seinen Kopf, der Kopf unverhältnismäßig groß für den Körper; er hatte vorzeitige Altersflecken unter den Augen, einen unnatürlich starren Blick, spindeldürre Gliedmaßen und einen sehr eigenwilligen Stoffwechsel. Wäre er klug gewesen, hätte er sich ein halbes Jahrhundert früher in eine adelige, im Überfluss lebende Familie hineingebären lassen und seine Zeit damit verbracht, abwechselnd in winzigen Schweizer Alpendörfern und Sanatorien mit Seeblick zu wohnen, Oberschenkel an Oberschenkel mit dampfenden Neurotikern in Badehäusern und heißen Quellen zu sitzen, mit einem Stock als Gehhilfe ziellose Spaziergänge zu unternehmen, tuberkulöse Jungfrauen zu verführen und wortgewaltige, wenn auch ein bisschen langatmige Briefe an all jene zu schreiben, die sich mit banalen Alltagssorgen plagten; Briefe wie aus einem Zeitvakuum, gespickt mit epigrammatischen Weisheitskrumen und atemberaubenden, wiewohl nervtötenden Naturbeschreibungen.

Stattdessen wurde Pasha 1956 in eine Familie hineingeboren, in der nur das Temperament im Überfluss vorhanden war. Seine Begegnungen mit der Natur spielten sich ausschließlich in einem staubigen Hinterhof ab, und der Stock wurde höchstens gebraucht, um streunende Hunde abzuwehren. Er fuhr mit der Straßenbahn und schlug um Arztpraxen einen weiten Bogen. Brieffreundschaften verliefen, falls sie überhaupt je zustande kamen, früher oder später im Sande. Er wurde unzumutbar groß (zu viele Pastinaken, daran musste es liegen, schließlich hatte er Möhren oder Kartoffeln nie angerührt), dabei hätte eine kleine, stämmige Statur viel besser zu seiner eingeschränkten Motorik gepasst. Unsicher manövrierte er seinen Körper durch die Straßen. In den Randbezirken von Odessa gab es armselige, verlassene oder von mittellosen Rentnern besetzte Behausungen, die sich aufrecht hielten und doch beim nächsten Windstoß einzustürzen drohten. Sie waren zahlreich, selbst in der Innenstadt fand sich in jeder Straße mindestens eine davon. Dem Auge des Betrachters boten sie sich nicht als Einheit dar – als ein Haus –, sondern als Anhäufung verbogener, verdrehter, aneinandergelehnter Bretter, als von Katzen belagerte Schutthaufen. Pashas skelettartige Gestalt erinnerte an diese Häuser. Propheten ist es nicht bestimmt, gesund zu sein, schrieb Brodsky, der im Alter von sechsunddreißig Jahren seinen ersten Herzinfarkt erlitt, aber immerhin breite Schultern gehabt hatte. Der typische Dichter ist schwächlich, hässlich, körperlich irgendwie im Nachteil; und falls er nicht so auf die Welt kommt, sollte er sich zügig ans Werk machen und sich mit Alkohol, Zigaretten, Schlafentzug und Depressionen zugrunde richten. Pasha brauchte sich die Mühe nicht zu machen. Die gewonnene Zeit konnte er für andere Tätigkeiten nutzen.

Pashas Erscheinung ähnelte den Wohnhäusern von Odessa, nicht jedoch den Bewohnern, die gut gebaut waren (da gab es nichts zu beanstanden). Sie waren groß, aber nicht zu groß, agil, sehnig und so braun gebrannt, als besäßen sie zusätzliche Hautschichten. Dazu hatten die meisten ein kräftiges Kinn und dickes blondes Haar. Sie ernährten sich von frittiertem Teig, gebratenem Kohl und Hundefleisch und versprühten sture Lebensfreude. Und doch war es, als hätte sich die Natur zu ihrer Erschaffung nicht mehr, sondern weniger Zeit genommen, als zeichneten sie sich in erster Linie durch ihre Mängel aus. Ihre herausragende körperliche Verfassung schien mit dem Verfall ihres Wohnraums zusammenzuhängen; in umgekehrtem Verhältnis.

Nun aber herrschten andere Zustände. Pasha war jetzt in Brooklyn, wo sowohl die Häuser als auch die Menschen dahinsiechten. Den gesamten Juli würde er das Viertel mit seiner Anwesenheit beehren – einen ganzen Monat! Erstklassige Vormittage wird es noch viele geben, sagte er zu seinen ruhelosen Verwandten, die seine neurotischen Symptome fälschlicherweise für ein Zeichen von Begeisterung und Optimismus hielten. Sieh aus dem Fenster!, riefen sie. Sieh doch nur aus dem Fenster!

Morgen wird es noch besser, sagte Pasha. Nicht ganz so schwül.

Wie vermessen. Was wusste er schon über den New Yorker Juli? In der Tat konnte der Juli in New York ganz schön verregnet, trist und unberechenbar sein. Aber all das war nebensächlich. Er war eben erst angekommen und sollte dankbar sein, Zeit mit seiner Familie verbringen zu dürfen! Gelegenheiten, sich anzuöden, würde es noch zur Genüge geben.

Wenn die Stimmung angespannt war, mochte das auch auf Pashas Verhalten im Vorfeld zurückzuführen sein. Die Reiseplanung war er so angegangen wie alle praktischen Aufgaben: Er hatte sie aufgeschoben, bis sie sich nicht mehr aufschieben ließ, bis zu einem Zeitpunkt also, der nicht frei gewählt, sondern von den äußeren Umständen diktiert wurde (egal, wie sehr er die Umstände zu ignorieren versuchte, sie ignorierten ihn nie). Seine Schwester Marina hatte alles in ihrer Macht Stehende unternommen, um den Prozess zu beschleunigen, alles, außer einen Privatjet zu schicken. Sie hatte das Reisedatum festgelegt und ihm Geld für die Flugtickets zukommen lassen. Sie hatte nicht viel, aber Pasha hatte noch weniger. Als der Brief ankam und er ihn schwer in seiner Hand fühlte, erschien ihm das Geld noch unwirklicher als in dem Augenblick, als man ihm die Sendung telefonisch angekündigt hatte. Er legte den Umschlag auf den Küchentisch, fürchtete sich in den folgenden Wochen vor allen Mahlzeiten und aß schließlich nur noch am Schreibtisch. Nichts passierte, und doch verstrichen die Tage. Er wurde immer blasser und ratloser. Die schreckliche, angstschweißtreibende Vorstellung überkam ihn, die äußeren Umstände könnten ihn vergessen haben. Er telefonierte regelmäßig mit seinem Vater Robert, der es niemals gewagt hätte, das Vater-Sohn-Verhältnis mit lästigen Nachfragen zu einem banalen Flugticket zu belasten. Marina hatte eine wachsende Anzahl von Jobs zu bewältigen, sie kam und ging im Hintergrund und ließ jedes Mal schön grüßen. Dann eines Tages schnappte sie sich den Hörer. Ganz offensichtlich hatte sie keine Lust mehr auf die oberflächlichen Nettigkeiten, für die ihre Wahlheimat so bekannt war. Wann sollen wir dich vom Flughafen abholen?, fragte sie. Schweigen. Das sage ich dir morgen, antwortete Pasha. Doch im Reisebüro fühlte er sich lächerlich. Die Tickets kosteten mittlerweile doppelt so viel, Geld, das er nicht hatte. Marina brach in Wutgeheul aus, wofür Pasha kein Verständnis hatte – wirklich, jeder konnte einmal einen Fehler machen. Das Gewitter verzog sich so schnell, wie es aufgezogen war. Das abrupte Umschwenken von aufbrausend zu seelenruhig belegte einmal mehr, wie oft so ein Wechsel schon stattgefunden hatte und wie wenig Marina noch daran glaubte, mit ihrem Bruder kommunizieren zu können; dass sie, eigentlich kein zynischer Mensch, nach all den Jahren zu dem zynischen Schluss gelangt war, dass es keinen Sinn hatte, gekränkt zu sein, dass sich Probleme nicht klären, sondern immer nur verdrängen und vertuschen ließen.

Pasha seufzte und rollte sich in eine sitzende Position. Diese Geste der Einwilligung verstreute die anderen in alle Winde – sie liefen durch die Zimmer, ins Bad, in die Küche, um einen Schluck Wasser zu trinken, die Kirschen einzupacken, die Handtücher zu holen, wo ist Roberts Badehose, und was war mit der Picknickdecke? Pashas Bewegungen zu beobachten war qualvoller, als Wasser beim Aufkochen zuzuschauen. Er war nicht unbedingt träge, doch schienen sich Körper und Geist vor langer Zeit voneinander losgesagt zu haben, womöglich schon bei Pashas Geburt, und seither lief der Körper auf Autopilot. Sein Geist war pflichtvergessen, mit sich beschäftigt und in Sorge, aber nie schlug sich die Stimmung auf den Körper nieder, der jede Aufgabe mit derselben mechanischen Gründlichkeit anging, egal, ob Pasha sich nun die Schnürsenkel band, sich schnäuzte, etwas tippte oder Hunan-Shrimps aß, die, wie sich am Vorabend herausgestellt hatte, auf seine Nasenschleimhäute noch intensiver wirkten als Kortikoide. Bis er sich seine Shorts zugeknöpft hatte – oder besser gesagt die Shorts seines Schwagers Levik, denn Pasha hatte für den vierwöchigen Besuch nur eine (von Levik geerbte) Hose dabei, auf die er gleich nach seiner Ankunft ein Glas georgischen Weins verschüttet hatte –, war seine Mutter Esther längst mit dem Packen des Proviants fertig (Äpfel, Kirschen, Pflaumen, Aprikosen beziehungsweise steinharte, kleine Kugeln, die hierzulande als Obst durchgingen). Dazu etwas Kräftigendes (Mortadella-Sandwiches), etwas Anregendes (Schwarztee), eine Belohnung (Mohnbrötchen), eine Strafe (Karotten) und etwas gegen die Langeweile (Sonnenblumenkerne, auszubessernde Kleidungsstücke). Gewohnheiten sollten sich gar nicht erst festsetzen dürfen, sie müssen, wie Weisheitszähne, früh mit der Wurzel gezogen werden. Von Esthers und Roberts Datsche in Odessa aus waren es zehn Minuten bis zum Meer gewesen, was aus unerklärlichen Gründen als langer, beschwerlicher Fußmarsch gegolten hatte. Wurde eine wichtige Strandrequisite zu Hause vergessen, wäre niemand auf die Idee gekommen, zurückzugehen und sie zu holen. Jahrzehntelange Übung hatte der Familie eine eiserne Disziplin eingeflößt. Selbst jetzt, da sich das Meer praktisch vor dem Haus befand, legte Esther immer noch größten Wert darauf, nichts zu vergessen. Ihre oberste Regel: Alles musste im Überfluss vorhanden sein, ohne dass am Ende etwas weggeworfen wurde.

Im letzten Moment beschloss Levik, doch lieber zu Hause zu bleiben – auf dem Discovery Channel lief die Haiwoche. Nimm sie auf, sagte Marina. Aber Levik spürte eine Migräne aufziehen. Setz einen Hut auf und nimm zwei Tabletten. Wo ist die Sonnencreme? Wir haben keine Sonnencreme – was glaubst du, wo du hier bist, in einer Drogerie? Sie würden ohnehin nicht lange bleiben, höchstens eine oder eineinhalb Stunden, bis die Sonne zu stark wurde. Aber es ist schon Viertel vor elf! Hatten sie eigentlich noch den grün-beige gestreiften Schirm? Vielleicht im Flurschrank, bei dem ganzen anderen Krempel – Bist du verrückt? Der ist vor einer Ewigkeit kaputtgegangen, ganz zu schweigen davon, dass er von einer nicht mal besonders heftigen Windbö in den Atlantik gerissen wurde. Marina warf einen Blick in das Zimmer ihrer Tochter. Unter der Bettdecke lugten zwei große, schmutzige Füße hervor. Frida!, rief sie. Wir gehen jetzt ohne dich an den Strand!

Esther nutzte die Gelegenheit, um ihren Sohn in die Enge zu treiben. Ihr Gesicht dünstete einen postmenopausalen Geruch nach überreifen Aprikosen aus. Was es berührte, blieb kleben wie auf einem Fliegenfänger – Haare, Staub, Fruchtfliegen. Pasha, sagte sie, darf ich dich um einen winzigen Gefallen bitten, bitte, werd nicht böse, hab einfach nur ein wenig Geduld mit mir und hör mich an …

Immer raus damit.

Leg es ab.

Nicht das schon wieder!

Nur solange du hier bist. Frida zuliebe.

Sie ist neun!

Aber sie ist ein neugieriges Kind. Sie wird Fragen stellen, und ehe man sich’s versieht …

Läuft sie weg und geht ins Kloster?

Es wäre denkbar. Manchmal bekreuzigt sie sich sogar.

Und das ist meine Schuld?

Von wem sonst sollte sie es haben?

Aus dem Fernsehen. Von ihren Mitschülern. Ich hoffe doch sehr, dass sie inzwischen zur Schule geht.

Ist es denn zu viel verlangt, Pasha? Wäre es so schwer?

Pasha blickte zur Seite, als wollte er das Sofa um Rat fragen. Er hatte gedacht, bei all den Umständen – die lange Trennung, der Gesundheitszustand seiner Mutter, die lindernde Wirkung der Zeit – hätte sich die Angelegenheit erledigt. Reines Wunschdenken. Seine Konversion blieb eine offene Wunde, die sich jederzeit neu entzünden konnte. Im Alter von zwanzig Jahren hatte er sie ins Fleisch der Familie geschlagen. Pasha hatte die Formalitäten durchlaufen – eine ausgeklügelte, boshafte Farce, sagte Esther, die davon überzeugt war, dass jeder Schritt getan wurde, um ihr Schaden zuzufügen. Der Konfirmandenunterricht war verdächtig kurz ausgefallen. Der Priester entschuldigte sich quasi an Gottes Stelle, als wäre Pashas Seele nur versehentlich bei den Juden gelandet, in einem Moment der Vergesslichkeit oder Zerstreutheit. Pasha empfing die Eucharistie wie ein weinendes Baby den Schnuller – endlich zufrieden, wenigstens in spiritueller Hinsicht. Seither trug er ein auffälliges, wenn auch nicht protziges Silberkreuz um den Hals (das er später unter dem T-Shirt verschwinden ließ), ging zum Gottesdienst, glaubte an den Kreationismus und konnte mit überzeugenden und logischen Argumenten gegen Darwins Theorien aufwarten, die im Gehirn des Konvertiten schlagartig verblassten. Außerdem sammelte er Ikonen. Nicht die alten, sondern nur die sehr alten, die er aufstöberte, indem er unter dem wachsamen Blick und dem stinkenden Atem der Standbesitzer stundenlang im Trödel wühlte, immer auf einen Händler hoffend, der nicht wusste, dass er etwas Wertvolles besaß, und der es, selbst wenn man es ihm sagen wollte, nicht geglaubt hätte. Das in der Sowjetunion mengenmäßig unausgewogene Verhältnis von wertvollen Dingen zu kritischen Sammlern führte dazu, dass Pasha in den Ruf geriet, Krempel zu horten. Korrektur: ein Messie zu sein. Irgendjemand war immer da, um ihm den Vorwurf zu machen. Eines Abends kam er mit einer winzigen hölzernen Platte nach Hause, in deren aufgeplatzter, nachgedunkelter Bemalung er die Gottesmutter von Kasan zu erblicken meinte. Mindestens zweihundert Jahre alt, sagte er mit zitternder Stimme. Zehn Kopeken! Nach monatelanger, säuberlicher Restaurierung war die schwarze Dame für jedermann deutlich zu erkennen. Wobei sich nicht jeder Kauf als Glücksgriff erwies.

Zugegeben, Pasha war alles andere als ein Eiferer. Die Konversion bedeutete eine Annäherung an ästhetische Symbole und Traditionen, die für seine Kunst essenziell war. Aber sah er denn nicht ein, dass er dies alles ebenso gut ohne das ganze Theater hätte haben können, wie zum Beispiel Brodsky? War es denn wirklich nötig zu glauben? Eine große Geste hätte es auch getan. Pasha stand zu sehr im Abseits, er stand sich selbst im Weg. Einem russischen Dichter tat eine solche Gehemmtheit nicht gut. Indem er sich der Orthodoxen Kirche mit ihren hunderten Millionen von Gläubigen anschloss (wie war wohl die genaue Zahl?), ihren fünfundsiebzig Prozent der russischen Bevölkerung, war der flügge Pasha eine Bindung eingegangen, die es ihm erlaubte, frei umherzustreifen, ohne unversehens auf dem Dachboden des Elfenbeinturms zu landen (umgekehrte Schwerkraft stellte für den Dichter immer schon die größte Gefahr dar). Und im Schutz dieser Bindung wehrte er die über Generationen vererbte Tendenz zur Depression ab. Vater, Großväter, Onkel und Urgroßväter – allesamt chronisch deprimierte Männer, die sich der Literatur und der Medizin verschrieben hatten und, immun gegen das politische und kulturelle Klima, nur eine einzige Wetterlage kannten, die seelische, und sich dann allen Ernstes fragten, wieso ausgerechnet sie von diesem Pogrom, von jenem Krieg ereilt wurden. Pasha erstickte sein genetisches Erbe, bevor es ihn ersticken konnte. Angebunden an ein Glaubenssystem und an viele andere Seelen blieb ihm gar nichts anderes übrig, als Interesse zu zeigen, betroffen zu sein, teilzuhaben.

Was für einen Wutanfall die Bitte seiner Mutter vor wenigen Jahren noch provoziert hätte! Wie empört er gewesen wäre, wie rot sein Gesicht. Dass er überhaupt in Betracht zog, sich ihrem Willen zu fügen, war ein Zeichen dafür, dass er alt wurde. Was ihm ohnehin bewusst war, Zeichen hin oder her. Wenn es dich glücklich macht, sagte er und faltete den Hals zum Doppelkinn, um sich am Verschluss zu schaffen zu machen.

Der Strand! Weil sich der Massenauszug nicht koordinieren ließ, verließen sie das Haus schwallweise. Esther und Robert gingen voraus, schwer beladen mit den Vorräten, fünf Minuten später zerrte Marina Levik vom Sofa und wies Frida an, nicht zu trödeln und das Haus nicht ohne ihren Onkel zu verlassen; man warte an der üblichen Stelle auf sie, links von Rettungsschwimmer Hercules. Die Tür wurde zugeschlagen, und eine vibrierende Stille breitete sich in der Wohnung aus. Frida schoss ins Badezimmer, stolperte über ihre stämmigen Beine, schlüpfte in den kobaltblauen Bikini und warf einen kurzen Kontrollblick auf ihre erst vor kurzem zum Leben erwachten Nippel. Esther schob es auf die amerikanischen Lebensmittel. Aber welche genau? Niemand gestattete ihr die Experimente, die es gebraucht hätte, das herauszufinden. Frida eilte ins Wohnzimmer. Ihr Onkel saß auf einem Schemel und blätterte in einem Buch mit Hochglanzseiten, das vor ihm auf dem Teppich lag. Los jetzt!, sagte sie.

Pasha hob den schweren Schotenkopf. Er schien durch den Scheitel zu atmen.

Sieh dir das an, sagte er und deutete auf den Boden. Sie zauderte, ging in die Hocke, bohrte ihre knochigen Kugelknie (den seinen so ähnlich) durch den Baumwollstoff ihres mit Sonnenblumen bedruckten Kleids. Sogar Pasha konnte sehen, dass es ihr nicht stand. Sie war keine zarte Elfe. Ihre Haltung hatte etwas Sumoeskes. Sie wirkte wuchtiger als so manche erwachsene Frau aus Pashas literarischem Umfeld. Ihr Schwerpunkt entsprach dem der seegrasgrünen Vase – Esthers Lieblingsstück, das vor langer Zeit zusammen mit einem Dutzend Anekdoten aus Polen herübergekommen war –, die Pasha, als er seinen Vater zur Begrüßung umarmen wollte, mit dem Ellenbogen vom Klavier gestoßen hatte. Sie war in mehr Teile zersprungen, als sie eigentlich haben konnte.

Die warten auf uns, sagte Frida.

Sei nicht so egozentrisch. Niemand denkt an uns. Wahrscheinlich sind sie längst im Wasser.

Ich will auch ins Wasser!

Es ist gut, das Angenehme aufzuschieben.

Warum?

Willst du jetzt wirklich eine Diskussion mit mir anfangen, oder willst du es dir einfach ansehen und dann gehen?

Ächzend beugte sie sich vor, über die niedrigere von Pashas ungleichen Schultern, immer darauf bedacht, Abstand zu halten. Es war ihr fast unmöglich, ihn nicht als Fremden zu betrachten.

Das hat Grandpa mir schon gezeigt, sagte sie in triumphierendem Tonfall. Es ist japanisch.

Das ist nicht sein Buch.

Es war hoffnungslos! Der Fluchtweg war abermals verstellt, und Frida sah sich hinuntergezogen zu einem strahlend weißen Berg, der fast die gesamte Buchseite ausfüllte. Kaukasus, sagte sie. In der rechten unteren Ecke entdeckte sie kleine blaue Schnörkel. Sie ging auf die Knie und beugte sich vor, bis ihr Kopf die Szene verdeckte. Drei kleine Menschen in blauen Gewändern und mit weißen Tellern auf dem Kopf. Der Berg war aus Milch. Eine ausgefranste Kante, als hätte jemand den Gipfel abgebissen. Auf der gegenüberliegenden Seite fand sich etwas anderes – ein Mann mit blauem Gesicht, schwarzem Haarschopf und deformierten Händen. Wie der Vater von Max, der gegenüber wohnte. Aus seinem breiten Mund quoll Tinte – oder vielleicht war da kein Mund, keine Zähne und keine Zunge, sondern nur vergossene Tinte. Das gefällt mir nicht, sagte sie und schob das Buch von sich. Die Seite verfing sich an einem kaputten Fingernagel, man konnte deutlich Papier reißen hören. Ein Gefühl wallte in Frida auf und zwang sie, Pasha ins Gesicht zu starren und ihn giftig anzuzischen, als wäre er ein Monster, und dann steigerte sich das Gefühl und schnürte ihr die Kehle zu.

 

Es war keine weitere Luftspiegelung, der Esther freudig zuwinkte, sondern Pasha und Frida höchstpersönlich. Die Familie saß eingepfercht zwischen Wasser und im Sand verteilten Kirschkernen, die einen Möwenschwarm aufgescheucht hatten wie kleine Geschosse. Die sind bio, sagte Levik, wie um zu betonen, dass es sich keinesfalls um Müll handele, auch wenn er das nie ausgesprochen hätte, die Familie pflegte zum Thema Müll nämlich eine problematische Beziehung. Das Problem mit den Kirschkernen war ihre klumpige Schmierigkeit und dass sie voller ekliger Mundsekrete waren.

Wo habt ihr gesteckt? Musstet ihr denn trödeln, bis die Sonne am heißesten brennt? Setz einen Hut auf. Geh ins Wasser. Komm her. Pass auf, da darf kein Sand dran. Möchtest du ein Sandwich, möchtest du etwas trinken, oh, ich weiß, eine Aprikose? Die Sonne brannte auf der Haut wie Nadelstiche, nur an den äußersten Rändern war der Himmel dicht, geronnen, dunkler. Frida setzte sich zwischen die ausgestreckten Beine ihrer Mutter und blickte hoch.

Gleich scheint die Sonne nicht mehr, sagte sie.

Jetzt scheint sie doch, oder?

Aber die schwarzen Wolken …

Geh mit Grandpa schwimmen.

Frida rannte, bis das Wasser über ihre Knie schwappte. Grandpa!, schrie sie. Zwanzig Männer drehten sich um, nur Robert trieb seelenruhig weiter, einen halben Ozean entfernt.

Fliegen stürzten sich auf Marina. Sie beschloss, die Tiere zu ignorieren. Keine Minute später klatschte sie, erschrocken über die schmerzvollen Stiche, auf ihren Beinen herum. Der Wind blies ihr eine Plastiktüte an den Kopf und Sand in die Augen. Die ungezogenen Kinder der Familie neben ihr kreischten, Esther kaute an einem nicht enden wollenden Apfel herum. Helikopter, verebbendes Sirenengeheul, die Trillerpfeifen der Rettungsschwimmer. Marina wischte sich Schweiß von der Stirn, zupfte die Bikiniträger zurecht, hielt das Gesicht in die Brise. Ringsum waren sonnengebräunte, muskulöse Gestalten damit beschäftigt, zu springen, zu buddeln, sich zu strecken, Bälle zu werfen; und mittendrin Pasha, schief in sich zusammengesunken auf einem niedrigen Klappstuhl, das Gesicht der Sonne abgewandt. Wer gab ihm zu essen, und wer bügelte seine Hosen, nun, da er nicht mehr bei ihnen lebte? Wer erinnerte ihn daran, regelmäßig zu duschen, das Hemd in die Hose zu stecken? Seine Frau bestimmt nicht. Sie würden die Zeit mit ihm nutzen, das hatten sie sich vorgenommen, um ihn wieder in die Familie einzugliedern. Sie würden ihn verwöhnen, ihm die Nahrung, Körperpflege und die Zuwendung eines ganzen Jahres angedeihen lassen. Als er (natürlich als Letzter) vom Gepäckband gekommen war, hatten seine Wangen geglüht und sein Hemd am Bauch gespannt. Seine Kleidung war zerknittert, aber wie sollte es nach zwanzigstündiger Reise anders sein? Esther bewertete die Situation blitzschnell neu. Sieh dich nur an!, quiekte sie. Gleich morgen gehen wir zum Friseur!

Marina zog ihren Bruder aus dem Liegestuhl, sie trotteten los. Pasha bewegte sich unerträglich langsam, und wer neben ihm gehen wollte, hatte sich anzupassen. Doch er trödelte nicht absichtlich. Er litt an einer schwachen Lunge und motorischer Ungeschicklichkeit (so lautete die amtliche Diagnose), er sah sich einem unkontrollierbaren Gedankenchor ausgesetzt und wurde darüber hinaus nirgendwo dringend gebraucht, wenigstens nicht demnächst. Vor nicht allzu langer Zeit war Marina selbst eine Promenadenkönigin gewesen, in einer Stadt voll unverbesserlicher Trödler und Bummler hatte es niemand wie sie verstanden, eine Viertelmeile auf Stunden auszudehnen und auf Zehn-Zentimeter-Absätzen zwischen Opernhaus und Potemkinscher Treppe graziös hin und her zu schweben. Sie konnte noch immer nicht anders, als pünktlichen Menschen hochgradige Verzweiflung zu unterstellen.

Ihr Schweigen würde den Bruder nötigen zu sagen, was er zu sagen hatte, nämlich dass er lange genug über die Sache nachgedacht habe und seine Antwort ja laute. Dann erst würde die richtige Arbeit beginnen – sie mussten eine Liste von Leuten zusammenstellen, die er anrufen konnte, und von Ungewissheiten, mit denen er für eine Weile würde leben müssen. Und dann die Formulare, meine Güte, die Formulare. Eigentlich hatte sie schon am Vorabend mit der Entscheidung gerechnet, beim Anstoßen vielleicht. Eine nette Vorstellung. Gestern Abend um zehn war Pasha zur Tür hereingewankt (fünf Uhr morgens in Odessa) und hatte sich zu wehren versucht, bloß kein Essen, nicht mehr heute; ein grotesker Wunsch, der einmal mehr bewies, wie lange sie getrennt gewesen waren. Er schien am Esstisch zu verblassen, während Esther wie eine Besessene an der Mikrowelle herumfuhrwerkte und die Wohnung immer mehr nach Essen vom China-Imbiss und Plastik roch. Pasha hasste Flugreisen, und erst recht hasste er es, irgendwo herausgerissen zu werden. Das Kofferpacken, der Ortswechsel und der Verzicht auf die täglichen Rituale verursachten ihm seelischen Stress. Aus diesem Grund hatten sie sich am Vorabend an die belanglosen Themen gehalten. Heute würden sie die wichtigen Fragen klären.

Gut sieht sie aus, sagte Pasha.

Sie ist dick geworden.

Eine Ballerina war sie nie.

Die Operation findet am Tag nach deiner Abreise statt.

Pasha fuhr herum. Ich hatte sie doch extra gebeten, den Termin so zu legen, dass ich noch hier bin.

Gott behüte, dass Pashinkas Besuch durch irgendetwas beeinträchtigt wurde! Marina spürte, wie die Hitze sich verdoppelte, zur Sonnenwärme kam der innerliche Temperaturanstieg. Ihre Schritte wurden abgewürgt, als säße sie auf der düsteren Rückbank eines sowjetischen Automobils.

Ich war wirklich überrascht, wie rüstig sie aussieht, begann Pasha noch einmal.

Sie hat keine Grippe.

Aber wenn sie kräftig und fit ist …

Fit? Mama, unsere Mama?

Wenn sie kräftig ist, wird sie die Chemo gut vertragen.

Keine Chemo. Sie haben gesagt, die Operation und etwas Bestrahlung reichen aus.

Mit der Bestrahlung wird sie auf jeden Fall fertigwerden.

Und ich muss mich allein um alles kümmern! Marina jaulte auf, als eine Welle über ihre stämmigen Knöchel schwappte.

Das stimmt nicht. Papa wird dir helfen, und Levik … O Gott!, rief Pasha.

Was denn!, schrie Marina und schlug sich die Hände an die Brust.

Diese Möwe! Sie ist monströs!

Pasha blieb stehen.

Marina betrachtete die Möwe. Ja, sie ist ziemlich groß, gab sie zu.

Ziemlich? Das Vieh ist ein Dinosaurier! Pasha setzte sich blitzschnell in Bewegung, als hätte ein Amateur an seinen Marionettenschnüren gezogen. Er eilte auf die Möwe zu. Ohne Hast schlug sie mit den weiß geränderten Flügeln und schleppte sich in den Himmel hinauf.

Marina wartete, bis ihr Bruder wieder zu Atem gekommen war, dann fragte sie: Was hat sich geändert?

Nichts, sagte er. Ich habe mich einfach noch nicht entschieden. Es ist ja nicht so, als würde ich nur eine Frühstücksbestellung aufgeben.

Wobei dir das auch nie leichtgefallen ist. Marina wusste nicht, wie lange sie schon angestrengt geradeaus gestarrt hatte. Sie drehte sich zu ihrem Bruder um. Meinst du nicht, es wäre an der Zeit, die Mühlen der Bürokratie in Gang zu setzen? Bis du zum Gespräch vorgeladen wirst …

Wir sollten abwarten, sagte er, bis ich mich entschieden habe.

Und warum entscheidest du dich nicht?

Was sollte er darauf antworten? Er konnte ja schlecht zugeben, dass er, obwohl er kaum etwas von Brooklyn gesehen hatte, jetzt schon bedient war. Außerdem stimmte das nicht, zwar beschäftigte ihn die Sache gerade, doch hatte das nichts mit seiner generellen Entscheidungsschwäche zu tun. Als das Auto gestern Abend in die Brighton Beach Avenue eingebogen war und Marina fröhlich gerufen hatte: Wir sind da!, hatte Pasha, förmlich am Fenster klebend, blanken Horror empfunden. Der Dreck, die Tristesse und die Taubenscheiße störten ihn nicht, wohl aber die fünf nebeneinanderliegenden Restaurants mit dem Namen Odessa. Seine Landsleute waren nicht mutig zu neuen Ufern aufgebrochen, sondern hatten sich in eine winzige Nische am hintersten Ende eines fremden, verwahrlosten Grundstücks verkrochen, um eine exakte Kopie des chaotischen, mangelhaften Originals zu erschaffen, das sie gerade erst und unter großen Mühen verlassen hatten. Als Gefangene ihrer eigenen Einfallslosigkeit hatten sie verdrängt, dass das Original immerhin organisch gewachsen war, sich entwickelt hatte und sich zwangsläufig von diesem armseligen Abklatsch unterscheiden musste. Die Blase würde platzen, egal, wie begeistert sie gefüllt worden war. Stopp, ermahnte sich Pasha. Innere Wahrheitspolizei! Er musste zugeben, dass er bei seiner Ankunft darauf erpicht war, eine solche Blase zu entdecken. Die heftige Reaktion war zumindest teilweise seiner überforderten Psyche anzulasten.

Er verlor jede Zuversicht. Der Wind blies Menschen in ihren Weg, weinende Kleinkinder mit verbogenen Schaufeln und umgekippten Eimerchen, genervte Mütter, stattliche Afrikanerinnen, die so etwas wie Kissenbezüge auf dem Kopf trugen; Teenager, die sich mit Sand bewarfen, Jogger, unpassend gekleidete Großfamilien. Die Leute schwärmten heran, stoben auseinander und ließen Pasha und Marina atemlos und verwirrt stehen. Als sie mitten in einem solchen Auflauf feststeckten, erschien eine lange, sehnige Hand, die zweimal durch die leere Luft harkte und sich dann in Pashas gebeugte Schulter krallte. Der Handbesitzer und Pasha traten aus der Menge, um einander zu begutachten. Der Mann hatte die Gestalt eines winzigen, verdorrten Bäumleins, das die erbarmungslosesten Winter überstanden hatte. Büschel von kupferrotem Haar, verkniffene Lippen, herabhängende Mundwinkel. Nun krallte sich die zweite Hand in Pashas andere Schulter. Die Männer umarmten sich. Marina schaute betreten weg. Kannte sie diesen Menschen? Würde gleich seine Ehefrau dazukommen?

Das war Bronfman, flüsterte Pasha im Weitergehen. Marina war erleichtert und hörte kaum noch zu. Doch Pasha war erschüttert. Er meinte, sich daran erinnern zu können, dass Bronfman im letzten Jahr seiner Ausbildung zum Klimatechniker an einer seltenen Form von Leukämie erkrankt und tragischerweise schon im Alter von einundzwanzig Jahren verstorben war. Aber da war er nun, ein quicklebendiger Angestellter der städtischen Verkehrsbetriebe. Krankenversicherung! Anständige Bezahlung! Sicherer Arbeitsplatz! Pasha, hatte er gesagt, du solltest dich auch von der Stadt einstellen lassen. Nur ist es leider unmöglich, einen Job zu finden – es ist zumindest sehr, sehr schwierig. Vermutlich war Pasha ein Denkfehler unterlaufen: Weil er nicht wusste, wie er mit der Informationslücke umgehen sollte, hatte er Bronfman in Gedanken an der Krankheit sterben lassen, während Bronfmans Familie in Wahrheit eine Möglichkeit gefunden hatte, ihn in den Vereinigten Staaten behandeln zu lassen. Nur deswegen war er so plötzlich verschwunden. In diesem Land der Wunder war er geheilt worden, hier war er geblieben.

Das hat er dir erzählt?, fragte Marina.

Er hat gesagt, dass er in einem gelblichen Bungalow am Corbin Place wohnt, gleich hinter dem Hundefriseur, und dass ich am Donnerstagabend in seine Meditationsgruppe kommen soll. Man kann einem Menschen ja schlecht sagen, dass man ihn fünfzehn Jahre für tot gehalten hat.

Bronfman unter den Lebenden entdeckt zu haben versetzte Pasha in einen ausgelassenen Zustand. Er drückte Marina seinen Bart ins Gesicht wie einen üppigen, spontan gepflückten Blumenstrauß, spritzte ihre Schienbeine nass und stieß sein kraftloses Lachen aus, das an die sich leerende Manschette eines Blutdruckmessgeräts erinnerte (abendliche Lieblingsbeschäftigung). Bei ihrer Rückkehr befanden sich die anderen im Stimmungstief des Strandausflugs. Esther saß unter einem riesigen, an einer Seite eingedellten Hut und kaute Sonnenblumenkerne, deren Spelzen sich in den Falten ihres Schoßes häuften. Während sie Ballast abwarf, sammelte Robert neuen ein. Am Brighton Beach gab es keine hübschen Muscheln, aber Robert war dennoch fest entschlossen zu sammeln, allein um seinem Ruf gerecht zu werden. Marina ließ sich auf die Decke fallen und sank abermals ins Sonnenkoma. Levik pulte an seinen Zehennägeln herum und blätterte mit der freien Hand in einer Ausgabe des National Geographic. Pasha versuchte, die anderen mit Schulterklapsen und liebevollen Kniffen zu animieren, doch sie wurden immer mürrischer, bis er es schließlich aufgab und zum verordneten Bad in den warmen, trüben Ozean hinauswatete.

In Marinas Abwesenheit hatte Frida eine Freundin gefunden. Die Mädchen hatten ein Loch gegraben, einen Wall gebaut und die Festung mit Türmchen, Brüstungen und schmückendem Tropfwerk ausgestattet. Um den Wall zogen sie einen Graben, der sich sofort mit Wasser füllte, und zuletzt setzten sie sich in das Bollwerk hinein. Die Freundin war eine feingliedrige Tyrannin, die Marina vor Augen führte, dass das Verhalten ihrer Tochter auf Veranlagung beruhte. Auf deiner Seite fehlt noch Deko, sagte die Freundin. Frida, der ein solches Defizit niemals aufgefallen wäre, lief zu Robert und bat um ein paar Muscheln. Überglücklich drückte er ihr eine nach der anderen in die Hand, hielt sie ins Licht, drehte sie und erzählte zu jeder einzelnen eine Geschichte. Die Freundin war mit dieser Vorgehensweise gar nicht einverstanden. Das sind keine Muscheln, das sind nur Splitter, sagte sie. Frida suchte den Strand ab, bis sie eine passende Sammlung vorweisen konnte. Die Freundin hatte eine hohe Stirn, ein fliehendes Kinn und zusammengefallene, blonde, mit Sand verkrustete Locken. Sie zeigte auf die Stellen, an die Frida die Muscheln setzen musste, und als endlich alle Abstände stimmten, wurde Frida Zutritt gewährt. Mit kerzengeradem Rücken saßen die Mädchen in ihrem Wasserloch und lachten all jene aus, die um Einlass bettelten. Ein Junge kehrte, nachdem er mehrfach abgewiesen worden war, mit einem Pfannkuchen zurück. Die Freundin verkündete, es sei an der Zeit für einen Imbiss. Alle Versuche, den Pfannkuchen zu dritteln, scheiterten. Es war ein glitschiger, zäher Pfannkuchen. Sie würden ihn herumreichen und nacheinander davon abbeißen müssen.

Marina schaute zu, wie die Qualle die Runde machte. Sie konnte sich nicht entscheiden: eingreifen oder nicht eingreifen? Ihr Bauchgefühl riet ihr dazwischenzugehen, doch ihr Körper blieb reglos sitzen. Als Frida an der Reihe war, wandte Marina den Blick ab, von einer namenlosen Furcht gepackt.

 

Lasst uns nach Hause gehen, sagte Levik.

Warum musst du immer alles verderben?, fragte Marina, obwohl sie selbst kurz vor dem Hitzschlag war. Meinst du, ich merke nicht, dass du alle zwei Sekunden auf die Uhr schaust? Niemand zwingt dich hierzubleiben. Aber warte nur ab, wie lange ich dabeibleibe, wenn wir das nächste Mal einen Ausflug mit deiner Familie machen.

Im selben Moment hob der Wind an. Esthers Hut flog abrupt in die Höhe, wie ein Puck beim Freundschaftsspiel. Das Meer schäumte, als hätte jemand in ungeheurer Tiefe einen Motor angeworfen. Die Himmelsränder stülpten sich über die Mitte, alle noch verbliebenen Wolkenlöcher wurden gestopft, die himmlische Mischung fing zu brodeln an. Ein entflogener Ballon wurde wie ein Fußball von einer unsichtbaren Luftmannschaft hin und her geschossen. Der Erdboden schwankte, und die geschlossene Sanddecke verrutschte gen Osten, begrub Picknickdecken, Handtücher und Taschen unter sich und riss die vertikalen Sonnenanbeter – Missionare des aufrechten Bräunens – von den Füßen. Es kam zu einem verlängerten Moment der Stille, als die Luft den Atem anhielt und vor Sauerstoffmangel blaugrün anlief. Auf den ersten, noch fernen Knall folgte ein kollektives Japsen, ein allgemeines Summen und artenübergreifendes Raunen. Fridas Freundin wurde von ihrem Thron gerissen und zappelte in der Luft wie ein Wurm, bis ein kahlköpfiger Mann mit wuchtigem Brustkorb sie wieder absetzte und seine beringte Hand in ihren spindeldürren Nacken legte. Vor einer Minute noch war alle Aufmerksamkeit nach außen gerichtet gewesen, auf andere, auf den Horizont, aber nun wurde sie schlagartig umdirigiert. Der Rest der Welt verschwand. Die Leute sammelten sich, klaubten ihre Sachen zusammen. Die Wolken hatten lange genug rumort und fingen an, auf nackte, verbrannte Schultern hinabzubröseln. Eisklumpen, so groß wie Kiefernzapfen. Je mehr herunterkamen, desto finsterer wurde der Himmel, wie ein Mensch, der über die eigene Wut immer zorniger wird.

Inmitten des Weltuntergangs wurde von Esther erwartet, im magischen Bruchteil einer Sekunde alle Habseligkeiten einzusammeln und sie mit einem Fingerschnipsen in Sicherheit zu bringen. Sie allein besaß den hochmodernen Urmutter-Werkzeugkasten, der es ihr erlaubte, aus Metallspänen, Zunder und vielleicht noch einem welken Kohlkopf Mahlzeiten für eine ganze Woche zu zaubern, aus fadenscheinigen Vorhängen Kleidung für die komplette Familie zu nähen (entfernte Cousins eingeschlossen, wenn es sein musste), die üblichen Erkältungen und andere Krankheiten zu heilen, solange sie nicht mit Erbrechen einhergingen (fürs Erbrechen bekam man kein Mitleid) und ihre Familie ohne einen Kratzer aus jeder Notlage zu retten. Aber nun wurden sie Zeugen eines schrecklichen Versagens. Esther blieb sitzen, blinzelte und wehrte den Hagel mit einer Geste ab, als wollte sie ihre Augen vor der Sonne schützen. Als sie sich endlich ans Packen machte, schien die Zeit stillzustehen. Sie versuchte, ihr Handtuch auszuschütteln, zog offenbar in Erwägung, sich wie immer vor dem Nachhausgehen umzuziehen. Alle waren wie erstarrt. Ein grüner Campingstuhl flog durch die Luft. Die Kellner der Promenadenrestaurants hatten es nicht geschafft, rechtzeitig alle Gewürzgarnituren einzusammeln, und so flogen auch sie davon, zusammen mit Spitzendeckchen und ganzen Tischen. Die Möbel, der Sand, das Meer wollten fliehen. Nur die Gebäude zeigten sich unbeeindruckt. Am meisten hatten die Markisen zu leiden, die verzweifelt, doch vergeblich versuchten, sich aus ihren Halterungen zu befreien.

Der Strand war bald menschenleer, zurück blieben nur ein paar wenige ältere Leute, die sich so schnell bewegten, wie die knackenden Gelenke es erlaubten. Die Rettungsschwimmer rannten hin und her und bliesen in ihre Trillerpfeifen. Sie gaben ihr Ziel, jedes übriggebliebene Stück Mensch aus dem Wasser zu bergen, bald auf und kehrten auf ihre Posten zurück. Diese Übriggebliebenen waren verrückt, obdachlos oder betrunken, ihr Schicksal war so gut wie besiegelt. Eine hohe Staubsäule zog auf, um wirbelnd alles zu zertrümmern, was ihr im Weg stand.

Lauft!, schrie Marina und befolgte die Anweisung als Erste. Zweifellos wollte sie den anderen einen Weg bahnen, auch wenn sie sich dabei kein einziges Mal umsah; anders als Esther hatte sie kein zweites Paar Augen am Hinterkopf. Sie überquerten die Promenade vornübergebeugt, die Arme vor dem Kopf gekreuzt, um nicht vom Wind davongetragen zu werden wie die vielen Plastiktüten. Im entscheidenden Moment überholte Esther ihre Tochter und nahm Kurs auf ein nahegelegenes Altersheim. In der dunstigen Lobby hatten die durchnässten, zitternden Strandbesucher Zuflucht gesucht. Eine müde Rezeptionistin ließ sie spüren, dass sie hier nicht willkommen waren. Über dem Kopf der Frau wölbte sich ein Spruchband – Wunderbare 90! Happy Birthday, Alice! Gierig beäugten die Gestrandeten einen Pappteller mit den Überresten einer dreistöckigen Torte, bis die Rezeptionistin ihn in einem Schrank verschwinden ließ.

Gerade noch rechtzeitig, sagte Marina, atmete tief durch und registrierte, was sie in der Hand hielt: eine übergroße Jeansshorts und ein fremdes Handtuch.

Hast du Frida gesehen?, fragte Esther.

Marina schnappte nach Luft. Die Leute drehten sich um. Meine Tochter, sagte Marina. Sie fing an, die kleinen Gesichter in der näheren Umgebung zu mustern. Kinder fremder Leute, nur fast das eigene. Die Kleinen wichen vor ihrem strengen Blick zurück, wollten nicht erkannt werden. Marina lief durch die Lobby, sah noch genauer hin, wann immer sie etwas entdeckte, das sich möglicherweise in Frida verwandeln könnte.

Buh!, rief Frida und kroch unter der Marmorplatte eines Tisches hervor. Als sie das Gesicht ihrer Mutter sah, legte sie sofort den Rückwärtsgang ein, um sich unter den schützenden Stein zu retten. Doch sie war zu langsam. An den Ohren wurde sie zum Rest der Familie zurückgeschleift.

Du hast nur eine Mutter, vergiss das nicht, schimpfte Marina. Bring sie nicht vorschnell ins Grab! Obwohl Marina selbst mit solchen Sprüchen aufgewachsen war, bekam sie den Tonfall nie richtig hin.

Endlich konnten sie sich dem Spektakel vor dem Fenster zuwenden. Die Götter waren am Umdekorieren.

Vor zwei Jahren hat es in Denver, Oregon, einen furchtbaren Hagelsturm gegeben, sagte Levik. Er hat fast siebenhundert Millionen Dollar Schaden angerichtet. Die Leute halten Stürme für ungefährlich, dabei können selbst kleine Stürme sehr gefährlich sein. Er schluckte. Ist Pasha auf der Toilette? Ich müsste selbst mal …

Pasha! Den hatten sie nicht mehr gesehen seit … Esther rannte aus der Lobby, wurde augenblicklich an die Glasscheibe der Tür gedrückt. Ein junger, reaktionsschneller Mann zog sie wieder herein. Sie bekam ihre Atmung nicht unter Kontrolle – in diesem engen Raum war nicht genug Luft für ihre Lunge. Widerwillig räumte die Empfangsdame ihren Platz auf dem Drehsessel, Robert half Esther hinein. Da waren sie nun, verschwitzt und mit über die klatschnassen Schwimmsachen gezogenen T-Shirts standen sie dicht gedrängt in der Lobby des Altenheims herum. Der Sturm bedrängte das Gebäude. Die Fensterscheiben zitterten unter dem Druck. Draußen wurde es nachtschwarz, die Atmosphäre war angespannt wie ein Muskel. Über die Sehnen zitterten elektrische Impulse.

Bei all den unangenehmen Gefühlen – Besorgnis, Schuld, klamme Kälte, quälender Juckreiz – fühlten sie sich noch dazu betrogen. Es gab keine Möglichkeit, offen darüber zu sprechen, niemanden, den man anbrüllen konnte. Es war dumm und sinnlos. Als in der Nähe des Meeres geborene und aufgewachsene Menschen hatten sie auf eine Allianz vertraut. Sie bezeichneten sich ganz ausdrücklich als Küstenvolk. Sie waren Außenseiter vom Rand des Festlands. Das war ihr Schicksal, unausgesprochen. Von Inländern wurde nicht erwartet, dass sie den Unterschied begriffen, sie hatten ihn zu respektieren. Um welche Art von Gewässer es sich handelte, spielte keine Rolle – Küstenmenschen rund um den Globus spürten, wenn sie unter ihresgleichen waren. Es war eine Frage des Prinzips. Für alle anderen Daseinsformen waren sie ungeeignet. Nie stellten sie die Macht des Ozeans in Frage. Das Mysterium des Meeres war eine sichere Anlage, eine risikofreie Investition. Am Meer zu leben war, als hätte man in der dritten Klasse neben jemandem gesessen, der später weltberühmt geworden ist. Die aquatische Beziehung wurde zu einem wesentlichen Bestandteil der eigenen Persönlichkeit. Dass das Meer nie in all das eingewilligt hatte, wurde vergessen, bis es sich gewaltsam in Erinnerung brachte.

Der Sturm hatte slawisches Temperament. Er näherte sich mit großer Kraft, mit Pauken und Trompeten, verausgabte sich aber innerhalb der ersten halben Stunde – der Cola-Automat wurde nicht geplündert, die Rezeptionistin nicht zerfleischt (sie hätte viel hergegeben). Nach dem Unwetter schien die Sonne noch heller als zuvor, wie zur Wiedergutmachung oder zur Entschuldigung oder um die Massen erneut anzulocken. Nur Trottel und eine Meute von pickligen Teenagern fielen darauf herein. Zerzaust strömten die Leute aus den umliegenden Lobbys. Was zum Teufel, sagten sie. So was gab es noch nie – eine Premiere! Ein Tornado, hier? Sie eilten nach Hause, um trotz der drückenden Hitze literweise Borschtsch zu kochen, als wollten sie die heimatliche Atmosphäre in ihren geliebten sowjetischen Kesseln zusammenbrauen.

Die Familie verließ das Altersheim und erblickte die Menschenmasse, die ihnen vom Strand entgegenströmte. Sie holten Luft und stemmten sich dagegen, mit ausgefahrenen Schultern und schwer stampfenden Schrittes. Sie schafften es, sich auf eine schmale Rampe zu drängeln, halfen einander, über eine Absperrung zu klettern, um eine zweite zu umgehen. Sie gingen langsam weiter, und obwohl sie schon von weitem sehen konnten, dass da niemand war, hielten sie erst inne, als exakt jene Stelle erreicht war, an der sie zuvor gesessen hatten. Marina winkte einen der Rettungsschwimmer heran, der auf dem Weg zu seinem Posten war, doch ihre Zunge verhedderte sich. Zu aufgeregt, um einen sinnvollen Satz zu formulieren. Robert rief sofort das Meer an. Hatte es seinen Sohn? Und wenn ja, würde es ihn bitte wieder herausgeben, in welchem Zustand auch immer?

Das sonst so unzuverlässige Glück war ihnen zugetan. Bei der Suche stieß Levik auf eine goldene Rolex mit zerbrochenem Verschluss, die halb vergraben im Sand steckte, während Frida schlecht gelaunt auf einem zerklüfteten Felsen an der Mole saß und müde auf eine Gestalt in der Nachbarbucht zeigte.

Dass er tatsächlich noch da war, traf alle wie ein Schlag. Was hatten sie erwartet? Etwas anderes vielleicht – Pasha in Odessa, wo er über ihre Erinnerungen wachte. Nicht seine gesamten Einsneunzig, die orientierungslos und mit einwärts gedrehten Füßen über ihren Strand torkelten. Sie waren noch meterweit voneinander entfernt, als er anfing, von der Stadt zu berichten, die er unterhalb der Promenade entdeckt hatte. Zelte, umgedrehte Mülltonnen, Matratzen und Heizöfen, sagte er, offenbar ohne zu merken, dass er seine Badehose verloren hatte. Der Blick auf seinen Körper war so frei wie der auf den Horizont (nur auf dem Steeplechase Pier standen die Angler wie angeleimt am Geländer und tranken schon wieder durch lange Strohhalme), doch seine Blöße erregte kein Aufsehen. Pasha hatte schützende Kleidung nicht nötig, und auf die unterschiedlichen Möglichkeiten, sich damit auszustaffieren, verzichtete er ganz. Kleidung lenkte nur von seinem Wesen ab. Erst in der Nacktheit war er unverfälscht. Esther schlich sich dennoch von hinten an und wickelte ein Handtuch um seine Gummihüften.

Eine Enklave der Obdachlosen, sagte er, so komplex aufgebaut wie …

Hat es geblitzt?, fragte Esther.

Geblitzt, sagte Pasha.

Er wurde getroffen!

Psst!

Aber er sieht kein bisschen verletzt aus. Wie wir alle deutlich sehen konnten.

Bist du verletzt, Pasha?

Ehrlich gesagt waren sie sehr nett.

Aber vielleicht …, sagte Esther und tippte sich an die Stirn.

Robert räusperte sich. Mit erhobenem Kinn und gesenkten Lidern ließ er seine Stimme um eine ganze Oktave fallen und rezitierte:

Der Sturm verteilt den Dunst am Himmel / eisiger Wirbelwind dreht sich wild.

Wie ein Tier hat er geheult / nun weint er wie ein verirrtes Kind, sagte Pasha.

Lass uns trinken, lieber Freund / auf die verbrauchte Jugend.

Zwei

Sie waren mitten in einer Hitzewelle in Amerika gelandet, die Temperaturen stiegen über vierzig Grad, und die Straßen waren verstopft von Feuerwehrautos und Krankenwagen, zwielichtigen Geschäftemachern und opportunistischen Wasserverkäufern. Ein Stromausfall sorgte für Chaos in den Außenbezirken, von denen sie noch nicht wussten, dass sie ihre neue Heimat werden sollten. Am Flughafen wurden sie von Freunden und Verwandten in Empfang genommen, deren Gesichter in echt irgendwie verkehrt aussahen. Dann wiederum schienen diese Leute ohnehin nur aus Armen zu bestehen, die ruderten und grabschten und drückten und strangulierten, nachdem sie sie aus dem Strom der Ankommenden gezogen hatten. Es war Abend. Sie wurden auf zwei Autos verteilt und über kaputte, schlaglöchrige Straßen zu einer Wohnung mit niedriger Decke gebracht, und schon bald fragten sie sich, ob sie auf der dreisprossigen Weltleiter in die richtige Richtung geklettert waren. Die erbarmungslose Klimaanlage ließ ihre Schweißperlen gefrieren und vereiste ihre Nasennebenhöhlen. Das Essen auf dem Tisch war identisch mit dem Essen auf dem Tisch in der Küche in der Wohnung in der Stadt in der Oblast in der Republik in der Union, die sie zurückgelassen glaubten. Der Tisch sah genauso aus, die Decke war ein verblichenes Wachstuch aus einem Laden in der Puschkinstraße (sie hatten die gleiche im Koffer), darauf standen gebutterte Pelmeni, Wareniki in Kirschsoße, ein Laib Schwarzbrot, Dillkartoffeln, Sahnehering – alles identisch, wenn auch ein wenig farbloser und eingefallener, weil der Tisch schon feierlich gedeckt gewesen war, als das Empfangskomitee, bestehend aus Leviks Vater und Stiefmutter, noch hinter der Zollkontrolle gewartet hatte. Alle kamen um vor Hunger, nur die Reisenden nicht, die vorgaben, auf dem Flug gegessen zu haben. Sie wirkten blass, abgemagert, benommen. Beiläufig prostete man sich zu. Erschöpfung und Angst schienen die Überhand über die Freude des Wiedersehens zu gewinnen. Marina brachte ihre Tochter mit ihrer brandneuen Barbie zu Bett. Eine Zigarette war in zwei Zügen aufgeraucht. Marina entschuldigte sich und verschwand im Badezimmer. Eine halbe Stunde später ging Leviks Stiefmutter nachsehen und fand sie lautlos schluchzend in der Badewanne. Die Freunde verabschiedeten sich Stunden früher als geplant, und als sie auf der Rückfahrt nach Long Island gedankenverloren aus dem Fenster schauten, wurde ihnen klar, dass es ihnen vor nicht allzu langer Zeit selbst so ergangen war, auch wenn sie sich das jetzt kaum noch vorstellen konnten.

Siebenhundertfünfzehn Tage war das nun her, und die Familie zählte immer noch mit, obwohl immer weniger klar war, warum. Am Anfang hatte es geholfen, die Umstellung zu verkraften und das eigene Fortkommen zu markieren. Sie hegten eine vage Furcht, die Tage könnten, wenn man sie nicht zählte, entweder gar nicht vergehen oder unbemerkt in kleinen Gruppen vorbeischleichen, zu zweit oder zu dritt. Wer in der Sowjetunion aufgewachsen war, hatte gelernt, wachsam zu sein. Anders als die laxen Amerikaner, die sich im Supermarkt nicht einmal die Mühe machten, auf Fünf- und Zehncentstücke zu achten. Was war eigentlich mit den Eincentstücken? Müsste man nicht auch die im Auge behalten?

Seit Leviks Vater ganz offiziell die Einladung ausgesprochen hatte, hinkte Pasha, was die Formalitäten betraf, hoffnungslos hinterher. Die Abmachung war gewesen, dass sie die Zweige für das Nest sammeln und Pasha und seine kleine Schar nachholen würden. Aber dann hatte Pasha alle Pläne auf Eis gelegt. Warum? Die vielen vorgeschobenen Gründe summierten sich nicht zu einer Erklärung. Dann fiel die Sowjetunion auseinander, Esther bekam die Diagnose … Von Besuchen war anfangs nie die Rede gewesen. Alles war sehr seltsam. Alles war so tragisch und endgültig gewesen, und plötzlich ging es nur noch um das Geld für den Flug. Egal – schon bald würde Pasha dauerhaft bei ihnen leben. Neue Pläne wurden geschmiedet. Weil die Familie wusste, wie allergisch Pasha auf Diskussionen über solch große Dinge reagierte, einigte man sich darauf, so bald wie möglich eine anzuzetteln und die Sache schnell hinter sich zu bringen. Sie kamen überein, nicht nachzugeben, sollte die Geisel Widerstand leisten. Doch nach allem, was Pasha erlebt hatte, ließ sich dieser Plan nicht mehr umsetzen. Schließlich waren sie keine Monster. Pasha besaß das außergewöhnliche Talent, auf die Familiendynamik einzuwirken, bis alle Sympathien ihm galten, sie ihm stetig zuflossen. Er weckte Gefühle, ohne sie unbedingt zu erwidern, und war dauerhaft von einer Aura der Ausnahme umgeben. Ganz ungewollt, obwohl Pasha selbst darauf beharrte, dass nichts ungewollt war, dass es so etwas wie Zufälle oder Unfälle nicht gab.

Sie hingegen glaubten an Zufälle und Unfälle, auch wenn diese immer nur Pasha zu ereilen schienen. Während die anderen beneidenswert braun wurden, sah er aus, als wäre er einem Wohnungsbrand entkommen. Am Vorabend hatten sie ihn in einer Mischung aus Eiswasser und kühlendem Franzbranntwein gebadet, weil er im Fieberwahn immer wieder von einer unterirdischen Waschmaschinenstadt und einer Mülltonnen-Bluesband angefangen hatte. Am Morgen schien es ihm besserzugehen, auf jeden Fall war er ruhiger, aber die Brandblasen waren immer noch da, und das aus der feuchten Achselhöhle gerutschte Thermometer gab seine Körpertemperatur mit 38,6 Grad an. Und in diesem Zustand hatte er sich auf den Weg nach Manhattan gemacht. Niemand hatte ihn aufhalten können – Esther bat ihn vergeblich, noch einen Tag zu warten, und Robert krächzte ihm ein leises Warte auf mich! hinterher. Doch Pasha war schon verschwunden. Verflucht, schimpfte Esther. Wo will er denn hin? Was weiß er schon über diese gottverlassene Stadt?

Pasha wusste nur, dass er es in ihrem kleinen Königreich am Meer keine Minute länger aushielt. Ein Fluchtgefährt zu finden war kein Problem. Die gesamte Nachbarschaft – Pappkartonhäuser, Sandburgen, chinesische Imbissbuden und was es sonst noch alles gab – bebte richterskalawürdig, wann immer sich eine Bahn der unterirdischen Station näherte. Pasha stieg ein und ließ sich auf einen Sitz nieder, zögerlich, als fürchte er, jemand könnte dazwischengehen und ihn auffordern zu stehen. Sein Unwohlsein war nicht körperlicher Art – in dem klimatisierten Waggon zu sein tat ihm gut –, sondern erwuchs aus der bangen Befürchtung, dass ihm ein geheimer Verhaltenscode absichtlich verschwiegen wurde. Er schaute den Leuten abwechselnd ins Gesicht und auf die Knie. An der Cortelyou Road blitzte ein Funken Panik in seinen gelbstichigen Augen auf, er murmelte etwas Unverständliches. Keine Reaktion. Pasha versank abermals in glasiger Benommenheit. Ein weiterer Funke, noch ein Satz, lauter diesmal. Der Waggon war voller Russen, die sehen konnten, dass er Hilfe brauchte, aber irgendetwas hielt sie unerbittlich davon ab, Helden des Alltags zu werden. Wie verstörend russisch er war … geradezu anstößig. Sein Gestammel führte ihnen die eigenen Kenntnisse umso deutlicher vor Augen, die aber immer noch zu lückenhaft waren, um auf die Probe gestellt zu werden. Außerdem wussten sie, wie wichtig es war, nicht aufzufallen. Irgendjemand beobachtete einen immer. Glücklicherweise gab es Joe aus Sheepshead Bay, der dem Mann zu Hilfe eilte. Er brüllte, er ließ den Russen sich wiederholen und tippte ein ums andere Mal daneben. Doch aufzugeben kam nicht in Frage. Immerhin fand er schließlich heraus, dass Manhattan Island das Ziel war. Fuhr der Zug dorthin? Manhattan, sagte Joe, ist groß. Er sah sich um. Wo in Manhattan wollen Sie denn hin? Aber Pasha hörte schon nicht mehr zu. Er war zufrieden und brauchte nichts weiter.

Kartenlesen zählte nicht zu Pashas Stärken. Fremdsprachen schon. Er sprach Englisch, aber nicht als Fremder in einer Notlage. Sich in unbeholfene Gespräche verwickeln zu lassen, die beide Beteiligten frustriert und mit einem Nachgeschmack von elementarem menschlichem Scheitern zurückließen, würde ihn nicht weiterbringen. Ganz hinten in seinem Notizbuch standen die Telefonnummern von alten Bekannten und von Freunden von Freunden, die anzurufen er eigentlich keine Lust hatte. Doch an den meisten Ecken gab es Münztelefone, aus manchen tönte sogar ein Freizeichen. Hallo, Arkadii Gulowitsch, hier spricht Pawel Robertowitsch Nasmertow, der sich gerade in deiner monumentalen Stadt aufhält und dem es sehr gutgeht an der Kreuzung von Straße Nummer dreiundfünfzig und Avenue Amerika und der gerade das moderne Kunstmuseum besucht hat. Kannst du mir sagen, wie ich zum Guggenheim komme?