Der Späher - Vladimir Nabokov - E-Book

Der Späher E-Book

Vladimir Nabokov

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Beschreibung

Dieser frühe Roman des großen Erzählers Vladimir Nabokov gibt sich vordergründig als unglückliche Liebesgeschichte: Der junge Smurow liebt ein Mädchen, das einen anderen erwählt hat. Aber "man kann den ´Späher´ sehr unterschiedlich lesen - als psychologische Studie, als Kriminalroman für Anspruchsvolle, als ironisches Genrebild, als amüsantes Denkspiel und schließlich auch als traurige erotische Geschichte --- So ist dieses kleine Buch äußerst reichhaltig und vielseitig." (Marcel Reich-Ranicki, Frankfurter Allgemeine Zeitung)

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Vladimir Nabokov

Der Späher

Roman

Deutsch von Dieter E. Zimmer

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Dieser frühe Roman des großen Erzählers Vladimir Nabokov gibt sich vordergründig als unglückliche Liebesgeschichte: Der junge Smurow liebt ein Mädchen, das einen anderen erwählt hat. Aber «man kann den ‹Späher› sehr unterschiedlich lesen – als psychologische Studie, als Kriminalroman für Anspruchsvolle, als ironisches Genrebild, als amüsantes Denkspiel und schließlich auch als traurige erotische Geschichte – So ist dieses kleine Buch äußerst reichhaltig und vielseitig.» (Marcel Reich-Ranicki, Frankfurter Allgemeine Zeitung)

Über Vladimir Nabokov

Vladimir Nabokov ist einer der wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.

Er entstammte einer großbürgerlichen russischen Familie, die nach der Oktoberrevolution von 1917 emigrierte. Nach Jahren in Cambridge, Berlin und Paris verließ Nabokov 1940 Europa und siedelte in die USA über, wo er an verschiedenen Universitäten arbeitete.

In den USA begann er, seine Romane auf Englisch zu verfassen, «Lolita» war Nabokovs Liebeserklärung an die englische Sprache, wie er im Nachwort selber schrieb. Nach einer anfänglich schwierigen Publikationsgeschichte wurde «Lolita» zum Welterfolg, der es Nabokov ermöglichte, sich nur noch dem Schreiben zu widmen.

Nabokov zog in die Schweiz, wo er schrieb, Schmetterlinge fing und seine russischen Romane ins Englische übersetzte.

Er lebte in einem Hotel in Montreux, wo er am 2. Juli 1977 starb.

 

Der Herausgeber, Dieter E. Zimmer, geboren 1934 in Berlin, 1959 bis 1999 Redakteur der Wochenzeitung «Die Zeit», seit 2000 freier Autor. Zahlreiche Veröffentlichungen über Themen der Psychologie, Biologie und Anthropologie, literarische Übersetzungen (u.a. Nabokov, Joyce, Borges).

 

Das Gesamtwerk von Vladimir Nabokov erscheint im Rowohlt Verlag.

Inhaltsübersicht

Widmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. KapitelAnhangVorwort des Autors zur englischsprachigen Ausgabe (1965)Nachwort des Übersetzers (1992)

1

Diese Frau, diese Mathilde, habe ich im ersten Herbst meines Emigrantenlebens in Berlin kennen gelernt, in den frühen zwanziger Jahren zweier Zeitspannen, der des zwanzigsten Jahrhunderts und der meines widerwärtigen Lebens. Jemand hatte mir gerade eine Hauslehrerstelle bei einer russischen Familie verschafft, die noch keine Zeit gehabt hatte, arm zu werden, und die noch immer an den Phantasmen ihrer alten Petersburger Gewohnheiten festhielt. Mit Kindererziehung hatte ich keinerlei Erfahrungen – hatte nicht die geringste Ahnung, wie man mit ihnen umzugehen hat und worüber man mit ihnen redet. Es waren zwei, zwei Jungen. In ihrer Gegenwart fühlte ich mich auf demütigende Weise unsicher.

Sie zählten nach, wie viel ich rauchte, und angesichts dieser ihrer rücksichtsvollen Neugier hielt ich meine Zigarette in einem ungewohnten, unbeholfenen Winkel, so als rauchte ich zum ersten Mal; immer wieder fiel mir Asche auf den Schoß, und dann wanderte ihr klarer Blick aufmerksam von meiner Hand zu dem blassgrauen Pollen, der nach und nach in die Wolle hineingerieben wurde.

Mathilde, die mit ihren Eltern befreundet war, besuchte sie oft und blieb dann zum Abendessen. Als bei ihrem Abschied eines Abends gerade ein geräuschvoller Regenguss niederging, liehen sie ihr einen Schirm, und sie sagte: «Ach wie nett, vielen Dank auch. Der junge Mann begleitet mich nach Hause und bringt ihn dann mit zurück.» Von dieser Stunde an gehörte es zu meinen Pflichten, sie nach Hause zu bringen. Sie muss mir wohl in gewisser Weise gefallen haben, diese füllige, ungezügelte, kuhäugige Dame mit den großen Lippen, die sich zu einem scharlachroten Schmollmund, einer Möchtegern-Rosenknospe spitzten, wenn sie beim Pudern ihres Gesichts in den Taschenspiegel sah. Sie hatte schlanke Fesseln und einen anmutigen Gang, was vieles wettmachte. Eine großzügige Wärme ging von ihr aus; sobald sie erschien, hatte ich immer das Gefühl, die Zimmerheizung wäre höher gedreht worden, und wenn ich diesen großen lebendigen Ofen fortgeschafft hatte, indem ich sie nach Hause brachte, und inmitten der sanft tönenden Geräusche und des Quecksilberschimmers der erbarmungslosen Nacht allein nach Hause zurückging, dann fror ich, fror so sehr, dass mir übel wurde.

Später kam ihr Mann aus Paris und begleitete sie, wenn sie zum Abendessen erschien; er war ein Mann wie alle andern, und ich achtete nicht weiter auf ihn – mir fiel nur seine Angewohnheit auf, sich vor dem Sprechen mit einer raschen Folge von Grunzlauten in seine Faust hinein zu räuspern; und auch sein schwerer schwarzer Stock mit dem glänzenden Knauf, mit dem er auf den Boden zu klopfen pflegte, während Mathilde den Abschied von ihrer Gastgeberin in einen munteren Monolog verwandelte. Nach einem Monat fuhr er wieder weg, und als ich sie am ersten Abend danach nach Hause brachte, bat mich Mathilde mit nach oben, damit ich mir ein Buch hole, zu dessen Lektüre sie mich schon lange zu überreden versucht hatte, etwas Französisches, betitelt Ariane, Jeune Fille Russe[1]. Wie gewöhnlich regnete es, und die Straßenlaternen hatten zittrige Heiligenscheine; meine rechte Hand war in das heiße Fell ihres Moleskinmantels vergraben; mit der Linken hielt ich einen geöffneten Regenschirm, auf den die Nacht herabtrommelte. Dieser Schirm lag – später in Mathildes Wohnung – aufgeklappt neben einem Dampfheizungskörper und tropfte und tropfte, alle halbe Minute eine Träne vergießend, sodass sich eine große Lache um ihn sammelte. Was das Buch angeht, so vergaß ich es.

Mathilde war nicht meine erste Mätresse. Vor ihr hatte mich eine Näherin in St. Petersburg geliebt. Auch sie war füllig gewesen, auch sie hatte mir zugeredet, einen bestimmten Schundroman zu lesen (Murotschka, die Lebensgeschichte einer Frau). Beide diese ausladenden Damen stießen während des sexuellen Sturms ein schrilles, erstauntes, kindliches Piepsen aus, und manchmal kam es mir vor, als sei alles eine Kraftvergeudung gewesen, was ich durchgemacht hatte, als ich aus dem bolschewistischen Russland flüchtete, indem ich unter Todesängsten die finnische Grenze überquerte (selbst wenn es im D-Zug war und ausgestattet mit einem prosaischen Ausweispapier), nur um von einer Umarmung zu einer fast identischen anderen überzuwechseln. Außerdem begann mich Mathilde bald zu langweilen. Sie hatte nur einen einzigen ständigen Gesprächsgegenstand, und der deprimierte mich – ihren Mann. Dieser Mann, sagte sie, sei ein herrlicher Rohling. Wenn er sie erwischen sollte, brächte er sie auf der Stelle um. Er bete sie an und sei barbarisch eifersüchtig. In Konstantinopel habe er sich einmal einen vorwitzigen Franzosen gegriffen und ihn wie einen Scheuerlappen mehrfach gegen den Boden geklatscht. Er sei so leidenschaftlich, es mache einem Angst und Bange. Doch sei er schön in seiner Grausamkeit. Immer wieder versuchte ich, sie von dem Thema abzubringen, doch es blieb das Steckenpferd, das sie mit ihren kräftigen fetten Schenkeln ritt. Das Bild ihres Mannes, das sie so entstehen ließ, war mit der Erscheinung dieses Herrn, den ich kaum bemerkt hatte, schwer zu vereinbaren; gleichzeitig fand ich es höchst unerquicklich, mir vorzustellen, dass es vielleicht doch nicht ihre Erfindung war und dass im nämlichen Augenblick ein eifersüchtiger Unhold in Paris die missliche Lage ahnte, in der er sich befand, und die banale Rolle ausagierte, die seine Frau ihm zugewiesen hatte: mit den Zähnen zu knirschen, mit den Augen zu rollen, schnaufend durch die Nase zu atmen.

Wenn ich mich dann mit leerem Zigarettenetui nach Hause schleppte, mein Gesicht in der Morgenbrise brannte, als hätte ich soeben Bühnenschminke entfernt, und bei jedem Schritt ein pochender Schmerz durch meinen Kopf hallte, inspizierte ich oft mein kümmerliches kleines Glück von allen Seiten, staunte, bemitleidete mich und fühlte mich mutlos und verängstigt. Der Gipfel der Liebe war für mich nur eine kahle Hügelkuppe mit einer unerbittlichen Aussicht. Um glücklich zu sein, muss der Mann schließlich ab und zu ein paar Augenblicke vollkommener Leere durchmachen. Doch war ich immer exponiert, hatte ich immer geweitete Augen; selbst im Schlaf hörte ich nicht auf, mich zu belauern, begriff ich nichts von meinem Dasein, wurde ich verrückt bei dem Gedanken, dass ich nicht aufhören könne, meiner selbst gewahr zu sein, und beneidete alle diese einfachen Leute – Angestellte, Revolutionäre, Ladenbesitzer –, die ihre bescheidene Arbeit voller Selbstvertrauen und Konzentration verrichten. Ich besaß keine Schale dieser Art; und an jenen schrecklichen pastellblauen Morgen, wenn meine Absätze durch die Wildnis der Stadt klapperten, stellte ich mir jemanden vor, der dem Irrsinn anheimfällt, weil er deutlich der Bewegung der Erdkugel innewird: Da geht er, stolpert, versucht das Gleichgewicht zu halten, klammert sich an die Möbel; oder er lässt sich mit einem aufgeregten Grinsen auf einen Fensterplatz nieder, wie ein Fremder im Zug, der sich mit den Worten «Der legt ja ein Affentempo vor!» an einen wendet – doch bald schon verursachen ihm das Geschuckel und Geschlinger Übelkeit; er beginnt an einer Zitrone oder einem Eiswürfel zu lutschen und legt sich flach auf den Boden, doch alles ist vergeblich. Die Bewegung ist nicht aufzuhalten, der Fahrer ist blind, die Bremsen sind nirgends zu finden – und wenn die Geschwindigkeit unerträglich wird, dann muss sein Herz zerspringen.

Und wie war ich einsam! Mathilde, die schüchtern fragte, ob ich Gedichte schriebe; Mathilde, die mich auf der Treppe oder an der Tür listenreich anstiftete, sie zu küssen, nur um die Gelegenheit zu haben, ein Erbeben zu heucheln und leidenschaftlich «Du bist ja wahnsinnig …» zu flüstern – Mathilde zählte natürlich nicht. Und wen kannte ich in Berlin sonst? Den Sekretär einer Hilfsorganisation für Emigranten; die Familie, bei der ich als Hauslehrer angestellt war; Herrn Weinstock, den Eigentümer einer russischen Buchhandlung; die kleine alte deutsche Dame, bei der ich früher einmal zur Untermiete gewohnt hatte – eine magere Liste. So lud mein ganzes schutzloses Wesen das Unglück geradezu ein. Eines Abends wurde die Einladung angenommen.

Es war so um sechs. Die Zimmerluft wurde schwer von Abenddämmerung, und ich konnte kaum noch die Zeilen der humorvollen Tschechow-Geschichte erkennen, die ich meinen Zöglingen mit stolpernder Stimme vorlas; doch traute ich mich nicht, das Licht anzumachen: Diese Jungs hatten einen seltsamen, unkindlichen Hang zur Sparsamkeit, einen gewissen scheußlichen Trieb zum Haushalten; sie kannten die genauen Preise von Wurst, Butter, Elektrizität und verschiedenen Automodellen. Während ich also laut Die Kontrabass-Romanze las, in dem vergeblichen Versuch, sie zu unterhalten, und mich dabei für mich wie für den armen Autor schämte, wusste ich, dass ihnen mein Kampf mit der Verwischung stiftenden Dunkelheit bewusst war und dass sie kühl abwarteten, ob ich durchhielte, bis im Haus gegenüber das erste Licht anging und ein Beispiel gab. Ich schaffte es, und Licht ward mein Lohn.

Gerade schickte ich mich an, meine Stimme (beim Herannahen der komischsten Passage der Geschichte) lebendiger zu machen, als im Flur plötzlich das Telephon klingelte. Wir waren in der Wohnung allein, und die Jungen sprangen sofort auf und rannten um die Wette zu dem Geschrille. Ich blieb mit dem geöffneten Buch auf dem Schoß sitzen und lächelte die unterbrochene Zeile gerührt an. Der Anruf, stellte sich heraus, war für mich. Ich setzte mich in einen knarrenden Korbsessel und legte den Hörer ans Ohr. Meine Schüler standen daneben, einer zu meiner Rechten, einer zu meiner Linken, und beobachteten mich unbewegten Gesichts.

«Ich bin auf dem Weg», sagte eine männliche Stimme. «Sie sind doch zuhause, nehme ich an?»

«In Ihrer Annahme sollen Sie nicht enttäuscht werden», antwortete ich heiter. «Aber wer sind Sie?»

«Sie erkennen mich nicht? Umso besser – dann wird es eine Überraschung», sagte die Stimme.

«Aber ich wüsste gern, wer am Apparat ist», beharrte ich lachend. (Später sollte ich mich nur mit Grauen und Beschämung an die kokette Verspieltheit meines Tons erinnern.)

«Warten Sie nur ab», sprach die Stimme knapp.

Jetzt begann ich erst recht zu frohlocken. «Aber warum? Warum?», fragte ich. «Das ist ja eine witzige Art, sich …» Da mir klar wurde, dass ich in ein Vakuum hinein sprach, zuckte ich die Achseln und hängte auf.

Wir gingen ins Wohnzimmer zurück. Ich sagte: «Na, wo waren wir denn stehengeblieben?», und als ich die Stelle gefunden hatte, las ich weiter.

Trotzdem verspürte ich eine sonderbare Unruhe. Während ich mechanisch vorlas, überlegte ich, wer dieser Gast sein mochte. Ein Neuankömmling aus Russland? Vage ließ ich die mir bekannten Gesichter und Stimmen Revue passieren – viele waren es ja leider nicht –, und aus irgendeinem Grund hielt ich bei einem Studenten namens Uschakow inne. Die Erinnerung an mein einziges Jahr auf der Universität in Russland und an meine Einsamkeit dort hortete diesen Uschakow wie einen Schatz. Wenn bei einer Unterhaltung von dem Kneiplied Gaudeamus igitur und der tollen Studentenzeit die Rede war und ich dabei einen wissenden, leicht verträumten Gesichtsausdruck bekam, so bedeutete das, dass ich an Uschakow dachte, obwohl ich weiß Gott nur ein paarmal mit ihm geplaudert hatte (über politische oder sonstige Bagatellen, ich weiß nicht mehr). Es war indessen kaum wahrscheinlich, dass er sich am Telephon so geheimnisvoll gäbe. Ich verlor mich in Vermutungen und stellte mir bald einen kommunistischen Agenten, bald einen exzentrischen Millionär vor, der einen Sekretär brauchte.

Die Klingel. Wieder stürzten die Jungen kopfüber in den Flur. Ich legte mein Buch weg und schlenderte hinter ihnen her. Sehr eifrig und behände schoben sie den kleinen Stahlriegel beiseite, fummelten an irgendeiner weiteren Vorrichtung, und die Tür ging auf.

Eine sonderbare Erinnerung … Selbst jetzt, da vieles sich geändert hat, verlässt mich mein Mut, wenn ich mir diese sonderbare Erinnerung wie einen gefährlichen Verbrecher aus der Zelle herbeirufe. Damals nämlich stürzte eine ganze Mauer meines Lebens lautlos wie auf der Stummfilmleinwand ein. Mir wurde klar, dass eine Katastrophe bevorstand, aber bestimmt hatte ich ein Lächeln im Gesicht, und wenn ich nicht irre, dann war es ein gewinnendes Lächeln; meine sich ausstreckende Hand war verurteilt, ins Leere zu fassen, und obschon sie dieser Leere gewärtig war, versuchte sie die Geste dennoch zu Ende zu führen (die für mich mit dem Klang der Phrase «elementare Höflichkeit» verbunden war).

«Runter mit der Hand», waren die ersten Worte meines Gastes, als er meine dargebotene Hand sah – die bereits in einen Abgrund sank.

Kein Wunder, dass ich seine Stimme eben nicht erkannt hatte. Was im Telephon wie eine gewisse Anspannung gewirkt hatte, die ein vertrautes Timbre entstellte, war in Wahrheit eine ganz außerordentliche Wut, ein heiserer Ton, wie ich ihn bisher noch in keiner menschlichen Stimme wahrgenommen hatte. Ich habe jene Szene wie ein lebendes Bild im Gedächtnis: der hell erleuchtete Flur; ich, der ich nicht wusste, was ich mit meiner zurückgewiesenen Hand anfangen sollte; ein Knabe zur Rechten und einer zur Linken, die beide nicht den Besucher, sondern mich ansahen; und der Besucher selbst, in olivfarbenem Regenmantel mit modischen Schulterschlaufen und einem Gesicht so bleich, als wäre es vom Blitzlicht des Photographen gelähmt – mit vorstehenden Augen, geweiteten Nüstern und giftgesättigten Lippen unter dem schwarzen gleichseitigen Dreieck seines gestutzten Schnauzbartes. Dann begann eine kaum wahrnehmbare Bewegung: Die Lippen gaben einen schmatzenden Laut von sich, als sie sich voneinander lösten, und der dicke schwarze Stock in der Hand zuckte leicht; ich konnte meinen Blick nicht mehr von jenem Stock wenden.

«Was ist?», fragte ich. «Was ist los? Das muss ein Missverständnis sein … Bestimmt ein Missverständnis …» An dieser Stelle fand ich einen demütigenden, unmöglichen Platz für meine noch immer unversorgte und schmachtende Hand: In einem vagen Versuch, meine Würde wiederzuerlangen, ließ ich sie auf der Schulter eines meiner Schüler ruhen; der Junge sah sie von der Seite an.

«Los, mein Guter», stieß der Besucher hervor, «gehen Sie mal ein bisschen zur Seite. Ich tue ihnen schon nichts, Sie müssen sie nicht beschützen. Ich brauche nur etwas Platz, denn jetzt werde ich Sie windelweich schlagen.»

«Sie sind hier nicht zuhause», sagte ich. «Sie haben kein Recht, eine Szene zu machen. Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen …»

Er schlug zu. Er versetzte mir einen lauten, heißen Schlag genau auf die Schulter, und unter dessen Gewalt taumelte ich zur Seite, sodass mir der Korbstuhl wie ein lebendes Wesen aus dem Wege floh. Er bleckte die Zähne und schickte sich an, mich erneut zu schlagen. Der Schlag landete auf meinem erhobenen Arm. Jetzt wich ich zurück und verschwand ins Wohnzimmer. Er kam mir nach. Noch ein sonderbares Detail: Ich brüllte ihn an, so laut ich konnte, redete ihn mit Namen und Vatersnamen an, fragte laut, was ich ihm getan hätte. Als er mich eingeholt hatte, versuchte ich mich mit einem Kissen zu schützen, das ich mir unterwegs gegriffen hatte, doch er schlug es mir aus der Hand. «Das ist eine Schande», rief ich. «Ich bin nicht bewaffnet. Man hat mich verleumdet. Sie werden dafür bezahlen …» Ich suchte hinter einem Tisch Zuflucht, und wie zuvor erstarrte für einen Augenblick alles zu einem Tableau. Da stand er mit entblößten Zähnen und erhobenem Stock, und hinter ihm standen zu beiden Seiten der Tür die Jungen: Vielleicht ist meine Erinnerung an dieser Stelle stilisiert, doch so wahr mir Gott helfe, ich glaube wirklich, dass einer mit verschränkten Armen an der Wand lehnte, während der andere auf einer Stuhllehne hockte, indes beide unbewegt verfolgten, wie mir die Strafe verabfolgt wurde. Gleich darauf war wieder alles in Bewegung, und wir vier wechselten ins nächste Zimmer hinüber; die Ebene seines Angriffs senkte sich gemein, meine Hände bildeten ein elendes Feigenblatt, und dann verpasste er mir einen schrecklich blendenden Schlag quer über das Gesicht. Wie sonderbar, dass ich mich selber nie dazu bringen konnte, jemanden zu schlagen, wie sehr man mich auch beleidigt haben mochte, und unter seinem schweren Stock jetzt war ich nicht nur außerstande zurückzuschlagen (in den Kampfkünsten war ich völlig unerfahren), ich konnte mir nicht einmal in diesen Augenblicken des Schmerzes und der Demütigung vorstellen, dass ich die Hand gegen einen Mitmenschen erhob, besonders wenn dieser Mitmensch wütend und stark war; noch versuchte ich in mein Zimmer zu fliehen, wo in einem Schubfach ein Revolver lag – erworben leider nur, um Gespenster zu verscheuchen.

Die kontemplative Unbewegtheit meiner beiden Schüler, die verschiedenen Posen, in denen sie im Hintergrund dieses oder jenes Zimmers wie zu Fresken erstarrten, die dienstbereite Art, wie sie das Licht in just dem Augenblick anmachten, als ich in das dunkle Speisezimmer zurückwich – alles dies muss eine Sinnestäuschung gewesen sein, zusammenhanglose Eindrücke, denen ich Bedeutung und Dauer verliehen habe, und in Wahrheit ebenso belanglos wie das hochgehobene Knie eines Politikers, den die Kamera nicht beim Tanzen einer Gigue, sondern bloß bei einem Schritt über eine Pfütze verewigt hat.[2]

In Wahrheit, so scheint es, wohnten sie meiner Hinrichtung nicht die ganze Zeit über bei; da sie sich Sorgen um die Möbel ihrer Eltern machten, schickten sie sich pflichtschuldigst an, die Polizei anzurufen (ein Versuch, dem der Mann brüllend ein Ende setzte), doch weiß ich nicht, wo ich diesen Augenblick unterzubringen habe – am Anfang oder am Gipfelpunkt des Leidens und Schreckens, als ich schließlich schlaff zu Boden sank, meinen gekrümmten Rücken seinen Hieben darbot und heiser wiederholte: «Genug, genug, ich habe ein schwaches Herz … Genug, ich habe ein schwaches …» Mein Herz, möchte ich in Klammern bemerken, ist immer ganz in Ordnung gewesen.

Eine Minute später war alles zu Ende. Laut keuchend und mit der Streichholzschachtel klappernd steckte er sich eine Zigarette an; eine Weile blieb er noch und nahm die Situation in Augenschein, dann sagte er etwas von einer «kleinen Lektion», rückte den Hut zurecht und machte, dass er wegkam. Sofort erhob ich mich und strebte in mein Zimmer. Die Jungen kamen mir nachgelaufen. Einer von ihnen versuchte durch die Tür zu schlüpfen. Ich schleuderte ihn mit einem Ellbogenstoß zur Seite, und ich wusste, dass es wehtat. Ich schloss die Tür ab, spülte das Gesicht, weinte fast bei dem beißenden Kontakt mit dem Wasser, und dann zog ich meinen Koffer unter dem Bett hervor und begann zu packen. Es war schwierig – mein Rücken schmerzte, und meine linke Hand versah ihren Dienst nicht richtig.[3]

Als ich im Mantel und mit dem schweren Koffer in den Flur hinaustrat, erschienen die Jungen wieder. Ich schenkte ihnen nicht einmal einen Blick. Während ich die Treppe hinabging, fühlte ich, wie sie sich übers Geländer beugten und mir nachgafften. Etwas weiter unten kam mir ihre Musiklehrerin entgegen; der Dienstag war zufällig ihr Tag. Sie war ein bescheidenes russisches Mädchen mit Brille und O-Beinen. Ich grüßte sie nicht, sondern wandte mein geschwollenes Gesicht ab, und vorangetrieben von dem tödlichen Schweigen ihrer Überraschung, stürzte ich auf die Straße hinaus.

Bevor ich mir das Leben nahm, wollte ich traditionsgemäß noch ein paar Briefe schreiben und wenigstens fünf Minuten lang in Sicherheit sitzen. Darum hielt ich ein Taxi an und fuhr zu meiner früheren Wohnung. Zum Glück stand das vertraute Zimmer leer, und die kleine alte Zimmervermieterin begann sogleich, das Bett zu machen – vergeudete Mühe. Ich wartete ungeduldig, dass sie ginge, doch sie wirtschaftete noch eine ganze Weile herum, füllte den Waschkrug, füllte die Karaffe, zog den Vorhang vor, riss, als sie mit offenem schwarzem Mund aufblickte, an einer verklemmten Schnur oder was immer es war. Schließlich muhte sie zum Abschied und ging.

Ein elendes, bibberndes, ordinäres Männchen mit Melone stand mitten im Zimmer und rieb sich aus irgendeinem Grund die Hände. So sah ich mich selber im Spiegel. Dann öffnete ich rasch den Koffer, nahm Briefpapier und Umschläge heraus, fand in der Tasche einen kümmerlichen Bleistiftstummel und setzte mich an den Tisch. Es stellte sich indessen heraus, dass ich niemanden hatte, an den ich schreiben konnte. Ich kannte nur wenige Leute und liebte niemanden. So ließ ich denn die Idee mit den Briefen fallen und alles übrige desgleichen; verschwommen hatte ich mir vorgestellt, dass ich Ordnung machen, saubere Wäsche anziehen und all mein Geld – zwanzig Mark – in einem Umschlag hinterlassen müsse, mit einer kurzen Nachricht, aus der hervorginge, wer es bekommen sollte. Jetzt wurde mir klar, dass ich alles dies nicht heute, sondern schon vor langer Zeit beschlossen hatte, wenn ich mir bei verschiedenen Gelegenheiten leichten Herzens vorstellte, wie Leute vorgingen, die die Absicht hatten, sich zu erschießen. So besorgt sich ein eingeschworener Stadtmensch, der unerwartet zu einem Freund aufs Land eingeladen wird, zuallererst eine Thermosflasche und ein Paar derber Stiefel, nicht weil er sie wirklich brauchen würde, sondern unbewusst, als Konsequenz gewisser früherer, unüberprüfter Vorstellungen vom Landleben mit seinen langen Wanderungen durch Alm und Hain. Doch wenn er dann an Ort und Stelle ankommt, gibt es keine Alm und auch keinen Hain, sondern nichts als flaches Ackerland, und kein Mensch will bei der Hitze die Landstraße entlangzotteln. Jetzt sah ich, so wie man anstelle der Ansichtskartenfluren und -auen ein echtes Rübenfeld sieht, wie konventionell meine früheren Vorstellungen von präsuizidalen Verrichtungen gewesen waren; ein Mensch, der die Selbstvernichtung beschlossen hat, ist den Dingen dieser Welt weit entrückt, und sich hinzusetzen und sein Testament zu machen, wäre in diesem Augenblick so absurd, wie die Uhr aufzuziehen, da zusammen mit ihm doch sowieso die ganze Welt untergehen würde; der letzte Brief und mit ihm alle Briefträger auf der Stelle zu Staub verwandelt wären; und das einem nichtexistenten Nachkommen vermachte Rittergut sich in Rauch auflöste.

Was ich lange schon geahnt hatte – die Absurdität der Welt –, wurde mir mit einem Mal klar. Plötzlich fühlte ich mich unglaublich frei, und die Freiheit selber war ein Indiz für diese Absurdität. Ich nahm den Zwanzig-Mark-Schein und riss ihn in kleine Stücke. Ich nahm die Armbanduhr ab und schmetterte sie so lange auf den Fußboden, bis sie stehenblieb. Es kam mir in den Sinn, dass ich, wenn ich nur wollte, auf die Straße hinausstürmen und unter vulgären Bekundungen der Lüsternheit die nächstbeste Frau umarmen konnte; oder erschießen, wer immer mir als Erster über den Weg kam; oder eine Schaufensterscheibe einschlagen … Das war so ungefähr alles, was mir einfiel: Die Vorstellung von Gesetzlosigkeit ist nur von beschränkter Reichweite.

Vorsichtig und ungeschickt lud ich den Revolver, dann machte ich das Licht aus. Der Gedanke an den Tod, der mich einst so geängstigt hatte, war jetzt eine vertraute und einfache Angelegenheit. Ich hatte Angst, fürchterliche Angst vor dem monströsen Schmerz, den mir die Kugel zufügen mochte; aber den schwarzen, samtenen Schlaf fürchten, das gleichmäßige Dunkel, das umso vieles annehmbarer und begreiflicher war als die kunterbunte Insomnie des Lebens? Unfug – wie konnte man davor Angst haben? Ich stand in der Mitte des dunklen Raumes, knöpfte das Hemd auf, lehnte mich aus den Hüften nach vorn, tastete nach dem Herzen zwischen den Rippen, fand es. Es pulste wie ein kleines Tier, das man an einen sicheren Ort bringen möchte, ein frisch geschlüpfter Vogel oder eine Feldmaus, denen man nicht erklären kann, dass es nichts zu fürchten gebe, dass man vielmehr nur ihr Bestes wolle. Es war ja doch so lebendig, mein Herz; irgendwie kam es mir abstoßend vor, den Lauf fest gegen die Haut zu drücken, unter der federnd eine tragbare Welt klopfte, und darum zog ich meinen ungeschickt abgeknickten Arm ein wenig fort, auf dass der Stahl meine nackte Brust nicht berühre. Dann nahm ich meinen Mut zusammen und drückte ab. Es gab einen starken Stoß, und hinter mir war ein wundervolles vibrierendes Geräusch zu hören; nie werde ich dieses Vibrieren vergessen. Sofort trat Wassergegurgel an seine Stelle, ein kehliges strömendes Rauschen. Ich holte Luft und erstickte an Flüssigkeit; alles in mir und um mich herum floss und wogte. Ich bemerkte, dass ich auf dem Fußboden kniete; dann streckte ich die Hand aus, um mich zu stützen, doch sie versank in den Boden wie in ein grundloses Gewässer.

[...]

Anmerkungen

1

Liebesroman des welschschweizer Autors Claude Anet (Pseudonym für Jean Schopfer, 1868–1931), erschienen 1920. Er spielt in Südrussland vor der Revolution und handelt von einem jungen Mädchen, das seine Liebe bis zum Happy End unter einem Air von Unempfindlichkeit und Zynismus verbergen muss. Im russischen Original wird der Titel nicht zitiert; dort ist die Rede von einem Roman «über irgendeine russische Maid namens Ariadne».

2

Im russischen Original lautet der Satz nur: «… wie das gebeugte Bein auf dem Pressephoto von einem Fußgänger mit Aktentasche (auf dem Weg zu irgendeiner Konferenz).» Das in der englischen Fassung eingefügte Bild des eine Gigue tanzenden Politikers hält Don Barton Johnson für eine Anspielung auf den Freudentanz, den Hitler aufführte, als er 1940 die Nachricht vom Sieg über Frankreich erhielt; die Photoserie erschien am 21. Oktober 1940 in Life unter der Überschrift «Hitler Dances: Führer does Jig for Victory». (D. Barton Johnson: Eyeing Nabokov’s Eye. In: Canadian-American Slavic Studies, 19 (3), Herbst 1985, Seite 328–350.)

3

In der russischen Fassung die Ergänzung «Tränen machten mich blind».

Impressum

Geschrieben in Berlin 1929/30 auf Russisch. Erstveröffentlichung in der Zeitschrift «Sowremennyje sapiski», Paris, November 1930 und als Buch im Verlag «Russkije Sapiski», Paris, 1938. Englische Übersetzung von Dmitri und Vladimir Nabokov unter dem Titel «The Eye» im Verlag Phaedra, New York, 1965. Deutsche Übersetzung von Dieter E. Zimmer unter dem Titel «Der Späher» im Rowohlt Verlag, Reinbek, 1985 und 1992.

 

Der Text folgt: Vladimir Nabokov, Gesammelte Werke, Band 2, Frühe Romane, herausgegeben von Dieter E. Zimmer.

 

Überarbeitete Ausgabe November 2018

Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg

Copyright © 1985, 1992, 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«The Eye» Copyright © 1965 by Vladimir Nabokov

Veröffentlicht im Einvernehmen mit The Estate of Vladimir Nabokov

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Cordula Schmidt

Umschlagabbildung akg-images/Rabatti & Domingie

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Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen

ISBN Printausgabe 978-3-499-13568-2 (Ausgabe 2018)

ISBN E-Book 978-3-644-00233-3

www.rowohlt.de

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