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Die Türme von Schloss Drachenburg ragten in den sternenlosen Himmel. Rein äußerlich mochte es dasselbe prachtvolle Gebäude wie in Engelland sein, aber die Präsenz des Bösen war mit jeder Faser zu spüren. Es war ein düsterer Ort, getränkt mit Tränen und Blut, erfüllt von qualvollen Schreien und pulsierend vor Schmerz. War es die Drachenburg, die das Böse anzog, oder war sie es, welche die Menschen erst böse machte? Nach der Nacht des Spiegelballs würde nichts mehr sein wie zuvor, denn manchmal entschieden nur Sekunden über Leben und Tod.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Inhaltsverzeichnis
Was zuvor geschah
Die Ewigkeit
Keine Alleingänge mehr
Eine dunkle Vereinbarung
Schwarze Träume
Der große Abend
Blindes Vertrauen
Der Spiegel der Seele
Vater und Monster
Der Spiegelball
Verlorene Tochter
Die Sprache des Herzens
Folge dem Licht
Zu spät
Der letzte Kuss
Bis zum letzten Bolzen
Hinter dem Spiegel
Blutspuren nach Mitternacht
In größter Not
Die letzte Ruhe
Gekrönt
Lang lebe die Königin
Schlussworte der Autorin
Danksagung
Maya Shepherd
Die Grimm Chroniken 20
„Der Spiegelball“
Copyright © 2020 Maya Shepherd
Coverdesign: Jaqueline Kropmanns
Lektorat: Sternensand Verlag /Martina König
Korrektorat: Jennifer Papendick
Illustration „Lavena“: Laura Battisti – The Artsy Fox
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Facebook: www.facebook.de/MayaShepherdAutor
E-Mail: [email protected]
Für Luca,
weil ich dich seit deinem ersten Herzschlag liebe
Freitag, 26. Oktober 2012
13.00 Uhr
Margery, Jacob, Rosalie und Simonja befinden sich auf dem Rückweg von ihrem Gespräch mit Vlad Dracul in Schloss Drachenburg, als Margery plötzlich zusammenbricht. Sie spürt den Tod von Lavena und Arian, wodurch sie noch zwei weitere Splitter ihres Herzens verliert. Als sie den anderen gesteht, was geschehen ist, trifft dies Simonja besonders hart.
13.30 Uhr
Dorian und Maggy gelingt es, aus der Schlosskommende zu fliehen. Sie machen sich den Zauber des Medaillons von Will zunutze, um diesen und die anderen wiederzufinden.
14.00 Uhr
Will vertraut Joe an, dass Margery gespürt hat, dass Arian sich in der Gewalt der Königin befindet, aber nicht wollte, dass jemand anderes davon erfährt. Ihr Gespräch wird von dem Eintreffen von Maggy und Dorian in der Villa unterbrochen.
16.30 Uhr
Lavena und Arian begegnen in der Unterwelt dem Teufel, der sie davor warnt, dass Lavenas Licht den ewigen Schlaf der Toten stört, sodass diese zwischen Mitternacht und Sonnenaufgang in die Welt der Lebenden zurückkehren können. Um sie aufzuhalten, muss Lavena sich auf dem Grund des Sees zur Ruhe legen.
17.00 Uhr
In der alten Villa am Rheinufer kommt es zu einem großen Wiedersehen, als Rosalie, Margery, Simonja und Jacob zurückkehren und dort auf Dorian, Joe, Will, Maggy und Ember treffen. Die Gruppe könnte nun stärker denn je sein, doch als Margery den anderen gesteht, dass Arian und Lavena gestorben sind, bricht Joe sein Versprechen an Will und verrät, dass Margery von Arians Gefangennahme wusste und darüber geschwiegen hat. Diese Enthüllung führt zu einem Bruch unter den Freunden, die sich nun fragen, ob sie Margery noch länger vertrauen können.
17.30 Uhr
Eva gelingt es, Rumpelstein zu überwältigen und aus dem Bunker zu fliehen, in dem sie ihren Entführer zurücklässt. Nun muss es ihr gelingen, in vollkommener Dunkelheit einen Weg aus dem unterirdischen Tunnelsystem zu finden.
18.30 Uhr
Maggy heilt mit ihrer Magie Joes Stichverletzung und gibt Will sein Medaillon zurück, da sie keine Macht über ihn haben will.
20.00 Uhr
Margery muss sich eingestehen, dass sie sich mit jedem Herzsplitter, den sie durch den Tod eines der Sieben verliert, immer mehr verändert. Es fällt ihr zunehmend schwerer, positive Gefühle wie Freude oder Mitleid zu empfinden, dafür treten alle negativen Empfindungen umso deutlicher hervor. Sie traut sich nicht, jemandem davon zu erzählen, da die anderen sich ohnehin schon von ihr verraten fühlen.
Sie hofft, dass ein Gespräch mit ihrer Mutter ihre Emotionen zu wecken vermag. Deshalb spricht sie diese in Begleitung von ihrem Vater und Jacob durch eine Spiegelung im Fluss an. Mary erscheint und kann zum ersten Mal wieder mit Dorian sprechen, nachdem sie von Elisabeth in den schwarzen Spiegel verbannt wurde. Es ist eine sehr bewegende und tränenreiche Begegnung, die Margery jedoch nicht in ihrem Inneren erreichen kann.
22.00 Uhr
Philipp muss der bösen Königin weiter aus den ›Grimm-Chroniken‹ vorlesen. Dabei kommt er an eine Stelle, in der die wahre Identität von Rumpelstein enthüllt wird. Er versucht, diesen zu schützen, da er die einzige Hoffnung auf Rettung für seine Eltern und sich selbst darstellt. Doch die Königin durchschaut sein Vorhaben und schöpft dadurch erst recht Verdacht.
Samstag, 27. Oktober 2012
1.00 Uhr
Lavena kehrt als Geist zu der alten Villa am Rheinufer zurück und warnt Margery und die anderen vor den Toten, die nun in der Zeit von Mitternacht bis zum Morgengrauen die Unterwelt verlassen können. Zudem bestätigt sie den anderen Arians Tod und stürzt damit Simonja in eine tiefe Verzweiflung.
2.30 Uhr
Maggy sucht das Gespräch mit Margery und bittet sie darum, den Zauber des geteilten Herzens rückgängig machen zu dürfen. Sie glaubt, dass es so für alle am besten wäre, da Margery sich immer mehr zum Negativen zu verändern scheint, je mehr Splitter ihres Herzens sie verliert. Margery weigert sich jedoch, den Vorschlag anzunehmen, da sie fürchtet, von den anderen im Stich gelassen zu werden.
Die beiden trennen sich im Streit, woraufhin Maggy beobachtet, wie Simonja sich allein aus der Villa schleicht und auf den Weg zum Finsterwald macht. Es gelingt ihr, sie einzuholen, und so erfährt sie, dass Simonja fest entschlossen ist, in der Schlosskommende nach Arians Körper zu suchen. Sie braucht einen Beweis, um glauben zu können, dass Arian wirklich tot ist. Maggy erklärt sich bereit, sie zu begleiten. Überraschend erhalten sie zudem Unterstützung von Will, Joe, Ember und Rosalie. Nur Margery, Dorian und Jacob bleiben unwissend in der Villa zurück.
3.00 Uhr
Es gelingt Eva, einen Weg aus dem unterirdischen Tunnelsystem zu finden, in dem Rumpelstein sie gefangen gehalten hat. Sie klingelt bei dem ersten Haus, an dem sie vorüberkommt, und informiert die Polizei. Kurze Zeit später trifft ein Beamter ein, der sie erst befragt und dann mit sich nimmt.
5.00 Uhr
Simonja, Maggy, Rosalie, Joe, Will und Ember erreichen die Schlosskommende und schaffen es, sich unbemerkt in das Gebäude zu schleichen. Unter Rosalies Führung finden sie den Raum der Wahrheit und entdecken dort Arians Körper. Zu ihrer aller Überraschung schlägt in seiner Brust ein Herz, was bedeutet, dass es noch Hoffnung für ihn gibt.
Sie beschließen, ihn mit sich zu nehmen, werden aber auf ihrer Flucht von der bösen Königin und ihren Wölfen entdeckt. Scheinbar stecken sie nun in der Falle, doch dann kommt ihnen der Geist von Arian zu Hilfe, dem es gelingt, Elisabeth zu überwältigen. Die Gelegenheit will die Gruppe nutzen, um die Königin zu entführen und Philipp aus ihrer Gewalt zu befreien.
Auf der Suche nach dem Prinzen stoßen sie im Verlies auf eine Gruppe von Jägern, die sich ihnen in den Weg stellt. Die böse Königin kommt wieder zu sich und verwendet ihre Blutmagie gegen die Eindringlinge. Sie sind gezwungen, erneut zu fliehen, und geraten dabei in eine scheinbar ausweglose Situation. Nur indem Rosalie sich opfert und allein in der Schlosskommende zurückbleibt, kann sie Joe und den anderen zur Flucht verhelfen.
Samstag,
27. Oktober 2012
Noch vier Tage
Samstag, 27. Oktober 2012
7.00 Uhr
Königswinter, Finsterwald, Friedhof des versunkenen Mondes
Der Wind fuhr durch die gefrorenen Blätter der Trauerweide und ließ sie winterlich knistern. Es war kalt geworden in dieser Nacht. Raureif bedeckte die Wiesen und Nebel war heraufgezogen, nachdem der Regen aufgehört hatte.
Ein einsamer Schwan zog seine Bahnen über den See, von dessen Ufer Lavena ihn betrachtete. Sein weißes Gefieder erstrahlte in ihrem Glanz und leuchtete wie ein Stern, der vom Himmel gefallen war.
Sie hatte die Arme um ihren Körper geschlungen, obwohl sie weder Kälte noch Wärme empfand. Es war mehr das Bedürfnis, sich selbst zusammenzuhalten, weil sie fürchtete, sonst wie Glas zu zerspringen – hin- und hergerissen zwischen dem, was sie wollte, und dem, was sie tun musste.
Seit Minuten, vielleicht waren es auch Stunden, blickte sie auf das trübe Wasser und versuchte sich dazu zu bringen, hineinzusteigen. Sie stellte sich vor, wie ihre Schultern bedeckt wurden und sie untertauchte, ohne ein letztes Mal Luft zu holen. Immer tiefer würde sie hinabsinken, bis sie den Grund des Sees erreichte. Dort unten gäbe es keine Geräusche mehr, weder das Wispern der Bäume noch den Ruf des Uhus. In vollkommener Stille wäre sie allein mit ihren Gedanken und könnte in einen tiefen Traum gleiten. Über ihr würden sich die Seerosenblätter schließen und sie vor der Welt verbergen. Das Schicksal würde seinen Lauf nehmen, ohne dass sie länger ein Teil davon wäre.
Der Frieden, welcher sie erwartete, war verlockend. Schon einmal hatte sie für eine sehr lange Zeit geschlafen und war frei von Sorgen gewesen. Damals hatte sie keine Wahl gehabt. Aber wenn sie nun ging, dann geschah es in dem Wissen, dass sie den Menschen, den sie am meisten auf der Welt liebte, in der Finsternis zurücklassen musste. Arian stand gegen die Sicherheit von unzähligen Menschen, deren Leben von den Toten bedroht wurde, solange Lavenas Licht die Unterwelt erhellte. Obwohl seine Seele verloren war, konnte sie den Gedanken nicht ertragen, ihn aufzugeben.
Es ging nicht einmal nur um die Menschen dieser Welt, sondern auch um die Bewohner Engellands, die sie als Mond am Himmel brauchten, um aus ihrem zweihundertjährigen Schlaf erwachen zu können. Lavena kannte jeden Einzelnen von ihnen. Sie hatte gesehen, wie Kinder ihren ersten Atemzug nahmen, wusste, welche Lieder ihre Mütter ihnen zum Einschlafen vorsangen, und konnte sich an die Ängste der Männer erinnern, von denen sonst niemand erfahren durfte. Sie waren ihr alle ans Herz gewachsen und sie fühlte sich verantwortlich für sie. Umso schwerer wog die Last in ihrer Brust.
Längst hätte sie dem Spuk ein Ende bereiten können, stattdessen harrte sie am Ufer aus und ließ die Zeit verstreichen, ohne etwas zu unternehmen. Sobald die Sonne ihre ersten goldenen Strahlen den Horizont emporschickte, wusste Lavena, dass es zu spät war.
Tiefe Schuld und großes Bedauern quälten sie, als sie sich von einem auf den anderen Augenblick in der Unterwelt wiederfand. Sie hatte versagt und nur ihretwegen waren die Toten nun munterer denn je. Während sie zuvor noch träge und ziellos durch die Weiten geirrt waren, hatte die Nacht ihre Lebensgeister geweckt.
Ihr Gang war nun aufrecht, geradezu strotzend vor Kraft. Die wenigen Stunden hatten ausgereicht, um ihnen zu demonstrieren, über welche Macht sie jetzt verfügten. Als umherwandelnde Tote konnte sie nichts und niemand mehr verletzen, dafür besaßen sie aber die Energie, um Einfluss auf die Lebenden zu nehmen. Sie waren ihnen in jeder Hinsicht überlegen und mit diesem Wissen würden sie Entsetzliches anrichten. Lavena war die Einzige, die sie aufhalten konnte.
Noch etwas hatte sich verändert: Die Toten scharten sich um das Licht des Mondmädchens wie Motten. Von allen Seiten drängten sie darauf zu. Jeder wollte in seiner Nähe sein, um nicht wieder in der Dunkelheit zu versinken. Manche streckten sogar die Hände nach ihm aus.
Lavena bekam es mit der Angst zu tun und suchte hilflos in der Menge der Gesichter nach einem einzigen.
Arian fiel es nicht schwer, sie zu finden. Er zwängte sich grob zwischen den vielen Leibern hindurch, die immer mehr zu werden schienen. Schließlich gelang es ihm, Lavena an sich zu ziehen und ihr Licht mit seinem Körper abzuschirmen, als er die Arme um sie schloss. Das löste Unwillen bei den anderen aus, die lautstark protestierten und ebenfalls versuchten, Lavena anzufassen. Sie glaubten, dass sie ein Anrecht auf das Wunder hätten, welches sie alle erweckt hatte.
Mit seinen Ellbogen, Fäusten und Tritten kämpfte Arian ihnen einen Weg aus der Masse. Dabei riss er einer Fremden den Umhang von den Schultern und warf ihn Lavena über, sodass ihr silberner Schein unter dem Stoff verborgen wurde. Sogleich fiel es den Toten schwerer, sie unter den vielen zu erkennen.
Arian und sie hielten sich an den Händen und flüchteten in die graue Wüste. Asche wirbelte unter ihren nackten Füßen auf und sie mussten aufpassen, dass sie nicht über die Risse im Boden stolperten, durch die das lodernde Feuer der Hölle zu erkennen war. Einige der anderen hasteten ihnen nach, aber schon bald verloren sie sich in der Trostlosigkeit, die ihnen von allen Seiten begegnete.
Es gab keinen Ort, an dem Lavena und Arian sich hätten verstecken können, deshalb liefen sie so lange, bis weit und breit kein anderer mehr zu sehen war. Erst dann wagten sie, anzuhalten, und fielen einander vor Erleichterung in die Arme. Arian schloss seine Hände um Lavenas Gesicht, welches seit jeher für ihn am hellsten strahlte, und legte seine Lippen auf ihre. Obwohl sie den Kuss erwiderte, fühlte er ihren Kummer. Es war ein bittersüßer Geschmack auf seiner Zunge, der ihre Liebe trübte.
Besorgt löste er sich von ihr, jedoch nur gerade weit genug, um in ihre silbernen Augen blicken zu können.
»Ich lasse nicht zu, dass die anderen dir noch einmal zu nahe kommen«, versprach er ihr, da er glaubte, dass dies der Grund für ihre Trauer war. Er ahnte nicht, welche Sorgen sie wirklich belasteten.
Lavena brachte es nicht über sich, ihm die Wahrheit zu sagen, weil sie gerade erst wieder vereint waren. Außerdem sprach er von den Toten, als würde er nicht zu ihnen gehören. Ihr tat das Herz weh, wenn sie daran dachte, dass er schon bald für immer zwischen ihnen ruhen musste.
»Es war eine lange Nacht ohne dich«, sagte sie stattdessen und schenkte ihm ein schwaches Lächeln. »Bist du in den Raum der Wahrheit zurückgekehrt?«
Alle Toten erwachten dort wieder zum Leben, wo sie gestorben waren. Bei Lavena war es die Insel Nonnenwerth gewesen. Dort hatte die Sonne sie verbrannt. Bevor sie zum Friedhof des versunkenen Mondes aufgebrochen war, hatte sie Margery und ihre Verbündeten in der Villa am Rheinufer aufgesucht, um sie vor den Geschehnissen in der Unterwelt zu warnen. Alle hatten sie herzlich empfangen, aber zugleich hatte Lavena auch den Riss in ihrer Mitte gespürt. Etwas begann sich zwischen ihnen zu verändern und sie gehörte nicht länger dazu. Vielleicht war sie nie wirklich ein Teil von ihnen gewesen, trotz des Splitters in ihrer Brust. Nun, wo sie diesen verloren hatte, fühlte sie sich nicht leichter, sondern als wäre ihr ein Stück ihres eigenen Herzens entrissen worden.
»Ja«, antwortete Arian bedrückt. Auch seine Nacht schien nicht so verlaufen zu sein, wie er es erhofft hatte. »Aber dieser Ort war nicht länger ein Gefängnis für mich. Es war ein schreckliches Gefühl, ihn nun ganz einfach durch eine Tür, die ich zuvor nicht sehen konnte, zu verlassen. Sogar mein toter Körper lag noch auf dem Marmor, wo meine Seele ihm entstiegen ist.«
Lavena umschloss seine Hände tröstend mit ihren Fingern. »Was ist danach geschehen?«
Arian senkte beschämt den Kopf. »Ich war fest entschlossen, die Königin zu töten. Sie sollte für alles büßen. Das war meine Chance, denn ich wusste, dass sie mir nichts mehr anhaben konnte. Ich war so kurz davor, dass ich ihren Hals bereits zwischen meinen Händen hielt. Wenn ich nur ein bisschen mehr zugedrückt hätte, wäre sie nun genauso tot wie wir.«
Obwohl der Plan der Vergessenen Sieben ein anderer gewesen war, nickte Lavena verständnisvoll. Arians Wunsch nach Rache war nachvollziehbar. »Was hat dich davon abgehalten?«
»Simonja«, brach es voller Erstaunen aus Arian hervor, als könne er es selbst kaum glauben. »Sie und die anderen haben sich in die Schlosskommende gewagt, um nach mir zu suchen.«
Lavena hatte bereits befürchtet, dass Simonja sich in Gefahr begeben würde. Umso deutlicher hatte sie ihr zu erklären versucht, dass es für Arian keine Rettung gab. Er war tot und niemand konnte etwas daran ändern. Aber Simonja hatte es nicht einsehen wollen, vermutlich hatte sie es nicht gekonnt. Auch sie liebte Arian.
»Haben sie dich gefunden?«
»Ja, sie hatten meinen Körper bei sich.« Sein Blick verschwamm und seine Gedanken glitten zurück in die vergangene Nacht. »In meiner Brust schlägt noch ein Herz.«
Diese Neuigkeit schockierte Lavena. »Aber wie ist das möglich? Wie kannst du leben und zugleich hier sein?«
»Ich habe den Wolf in mir getötet«, gestand er und fokussierte seine Sicht wieder auf ihr Gesicht. Es klang beinahe wie eine Entschuldigung.
»Bedeutet das, dass du als Mensch weiterleben könntest?«, hakte sie nach, um ganz sicher zu sein, dass sie ihn richtig verstand. Hoffnung schwang in ihrer Stimme mit.
Arian teilte ihre Euphorie jedoch nicht. »Selbst wenn, ein Leben ohne dich wäre für mich bedeutungslos«, sagte er in aller Härte und presste voller Verzweiflung seine Stirn gegen ihre. Er liebte sie gegen jede Vernunft. Genauso wenig wie sie ihn verlassen konnte, wollte er von ihr gehen. Lieber blieb er in der Unterwelt, als ohne sie zu sein. So aufrichtig und groß ihre Liebe auch war, so war sie dennoch ein Fluch, der sie nicht mehr freigab.
»Es gibt für uns keine Zukunft, Arian. Die hat es nie gegeben. Alles, was wir hatten, war gestohlene Zeit.«
Das Letzte, was Lavena wollte, war, Arian zu verletzen. Immer hatte sie nur das Beste für ihn gewollt und nun kam sie an den schmerzhaften Punkt, wo sie einsehen musste, dass sie nicht länger gut, sondern schädlich für ihn war. Nur seinetwegen hatte sie es nicht über sich gebracht, an den Grund des Sees zurückzukehren. Doch nun, wo sie wusste, dass er ein Leben haben würde und nicht in der Unterwelt bleiben musste, würde es ihr leichter fallen, zu gehen.
Sie wusste aber auch, dass Arian es nicht verstehen würde, wenn sie es ihm zu erklären versuchte. Jedes Argument und jede Logik würden ihn nicht erreichen. Er konnte den Gedanken nicht zulassen, ohne sie zu sein. Aber sie war überzeugt davon, dass er sich für das Leben entscheiden würde, wenn sie ihn vor vollendete Tatsachen stellte.
»Das ist nicht wahr«, widersprach er ihr stur. »Wir haben die Ewigkeit. Jetzt, wo wir durch den Tod vereint sind, kann uns nichts mehr trennen.«
Manchmal bedeutete die Ewigkeit nicht mehr als einen Tag – einen unendlich wertvollen Tag.
»Dann lass uns die Zeit, die uns bleibt, nutzen«, wisperte Lavena gegen seine Lippen, während sich ihr der Hals zuschnürte. »Halte mich in deinen Armen, als würdest du mich niemals loslassen, und küsse mich, als wäre es das letzte Mal.«
Mit der Verzweiflung eines Ertrinkenden presste Arian seinen Mund auf ihren. Er umschlang ihren Körper mit seinen starken Armen und ließ seine Finger über ihre Haut wandern, als wolle er sich jeden Zentimeter davon einprägen. Der Duft einer kalten Winternacht haftete ihrem Haar an und er sog diesen in sich auf, unfähig, die Sehnsucht abzuschütteln, die mit ihm einherging. Ihre Beziehung hatte immer nur aus Verlust bestanden. Es war ein Kommen und Gehen, ohne die Aussicht, je für immer zusammen sein zu können. Aber nun war das Ende erreicht. Der Punkt, an dem es kein Morgen oder kein nächstes Mal geben würde.
Obwohl Arian die Warnung des Teufels gehört hatte, weigerte er sich, diese zu akzeptieren, sondern beschuldigte ihn der Lüge. Er wusste, dass die Toten keine Ruhe finden konnten, solange Lavena in der Unterwelt blieb. Aber es war leichter, dem Teufel nicht zu glauben, als ihm zu vertrauen.
Tief in seinem Inneren kannte er sein Mondmädchen jedoch gut genug, um zu wissen, dass dieses nicht riskieren würde, andere Menschen seinetwegen leiden zu lassen. Sie würde ihn verlassen und er konnte es ihr nicht einmal vorwerfen, weil sie nicht diejenige gewesen wäre, die er unsterblich liebte, wenn sie geblieben wäre. Sein Herz würde ohne sie weiterschlagen, aber es wäre gebrochen und nichts in der Welt könnte es je wieder heilen.
Samstag, 27. Oktober 2012
9.00 Uhr
Königswinter, Villa Rheinstolz
Joe hätte sofort seine eiternde Schnittverletzung im Bauch zurückgenommen, die Maggy erst am Vortag geheilt hatte, wenn Rosalie dafür wieder bei ihm gewesen wäre. Ebenso hätte er sich eine Hand abgehackt oder sich selbst an die böse Königin ausgeliefert. Alles wäre besser gewesen als der unerträgliche Schmerz in seiner Brust.
Nie zuvor hatte er sich so gefühlt. Nicht einmal, als Maggy dem Fluch des Schlafenden Todes erlegen gewesen war. Irgendwie hatte er immer gewusst, dass sie es schaffen würde. Aber bei Rosalie konnte er sich nicht sicher sein, denn es hing nicht von ihren eigenen Fähigkeiten ab, ob sie überleben würde, sondern vor allem von Elisabeth. Er hatte nicht nur gelesen, sondern auch erlebt, zu welcher Grausamkeit diese neigte. Rosalie hatte sie verraten und das konnte eigentlich nur eines für sie bedeuten – den Tod.
Das Einzige, worauf er hoffen konnte, war, dass Elisabeth sich damit Zeit lassen würde. Sie genoss das Leid ihrer Opfer viel zu sehr, um ihnen eine schnelle Hinrichtung zu gewähren.
Der Gedanke, dass Rosalie vielleicht genau in diesem Augenblick an eine Wand gekettet oder gar genagelt worden war und mit spitzen Klingen gefoltert wurde, machte ihn wahnsinnig. Sein Innerstes krümmte sich zusammen, sodass selbst das Atmen wehtat, und er hätte am liebsten nur noch geschrien – aus voller Kehle, bis kein Ton mehr aus ihm herauskäme. Er wollte seine Fäuste gegen Stein schlagen und mit seinen Füßen immer weiter auf irgendetwas eintreten. Es war ihm gleich, ob er sich dabei verletzte, denn er würde es ohnehin nicht spüren.
Sein ganzer Körper pulsierte vor Adrenalin und sträubte sich dagegen, mit Maggy und den anderen zur Villa am Rheinufer zurückzukehren. Jeder Schritt, den er sich von Rosalie entfernte, war einer zu weit. Wenn seine Schwester und Will nicht gewesen wären, hätte er den unterirdischen Tunnel durchquert, nur um auf direktem Weg zur Schlosskommende zurückzueilen, völlig unbedacht und gegen jede Vernunft.
Immer wieder musste er daran denken, wie Rosalie das Seil mit ihrem Schwert durchschlagen hatte, welches das eiserne Tor hielt, das das Verlies von dem Tunnel trennte. Nicht einmal eine Sekunde hatte sie gezögert. Sie hatte sich geopfert, damit er und die anderen fliehen konnten.
Obwohl er schon länger wusste, dass sie nicht so böse war, wie sie ihn zu Beginn hatte glauben lassen, schockierte ihn diese enorme Selbstlosigkeit dennoch. Er wünschte, sie hätte es nicht getan. Selbst wenn das bedeutete, dass sie nun vielleicht alle Gefangene der bösen Königin wären. Zumindest wären sie dann zusammen.
Die Bäume des Finsterwaldes lichteten sich und gaben den Blick auf die verfallene Villa frei, deren Umrisse sich gegen den grauen Himmel abhoben. Joe wollte nicht dorthin zurück. Es graute ihm vor den sinnlosen Diskussionen, die ihn dort erwarteten.
In den Gesichtern der anderen konnte er sehen, wie erschöpft sie waren. Maggy hatte sich in der Schlosskommende mit ihrer Magie verausgabt und brauchte dringend etwas Erholung. Zuvor würde sie allerdings Simonjas Schussverletzung heilen und sichergehen, dass Ember außer einer Beule von den herabstürzenden Steinen keinen größeren Schaden davongetragen hatte. Will litt vermutlich unter Muskelkater, weil er als Einziger von ihnen den bewusstlosen Arian die ganze Zeit getragen hatte. Allein hätte er sein Gewicht nicht gestemmt bekommen, deshalb hatten Maggy, Ember und Joe sich damit abgewechselt, ihm zu helfen.
Joe war sich bewusst, dass auch sein Körper Ruhe brauchte, weil er sonst irgendwann zusammenbrechen würde. Aber die Vorstellung, sich hinzulegen und gar einzuschlafen, erschien ihm unmöglich. Solange er in Bewegung war, konnte er sich von den Sorgen um Rosalie zumindest etwas ablenken, aber sobald er gezwungen war, an einem Ort zu verweilen, würden sie wie Blitzschläge auf ihn niederfahren. Diesem Schmerz konnte er nicht standhalten, ohne in Tränen auszubrechen. Aber er durfte nicht weinen! Nicht, solange es noch Hoffnung für Rosalie gab. Sie brauchte ihn und er musste stark sein.
Sobald sie in den düsteren Eingangsbereich des Anwesens traten, erhob sich eine Gestalt von der Treppe, die ihnen verriet, dass ihre Rückkehr bereits bemerkt worden war. Jacob musterte jeden von ihnen, der durch die Tür trat, mit seinen intelligenten, scheinbar allwissenden Augen. Er hob erstaunt die buschigen Augenbrauen beim Anblick von Arian, als hätte er zwar geahnt, was Joe und die anderen vorhatten, aber nicht damit gerechnet, dass es ihnen tatsächlich gelingen würde. Ihm entging weder Simonjas Verletzung noch die Tatsache, dass sie mit einer Person weniger zurückkehrten, als sie aufgebrochen waren. Zu all dem sagte er nichts, sondern blieb still.
Als alle eingetreten waren und die Tür sich hinter ihnen schloss, traten zwei weitere Personen aus dem Schatten neben der Treppe: Margery und Dorian. Genau wie Jacob mussten sie darauf gewartet haben, dass die anderen wiederkamen – ungewiss, ob dies überhaupt der Fall sein würde.
Es war die Prinzessin, welche das Schweigen brach. »Wo ist Rosalie?«
Joe rechnete ihr an, dass sie das Fehlen ihrer Schwester bemerkte, dennoch betrachtete er sie voller Argwohn und suchte nach einem verräterischen Anzeichen von Erleichterung in ihrem Gesicht. Er brachte es nicht einmal über sich, die Wahrheit auszusprechen.
»Wir mussten sie in der Schlosskommende zurücklassen«, antwortete Will an seiner Stelle.
»Ohne sie hätte es keiner von uns zurück geschafft«, ergänzte Maggy, da sie es wichtig zu finden schien, Rosalies Opfer zu betonen. »Sie hat uns gerettet.«
Die anderen nickten einvernehmlich, während Margerys Miene unbewegt blieb. Zu gern hätte Joe gewusst, was ihr durch den Kopf ging. Sorgte sie sich oder gab sie sich Mühe, ihre Freude zu verheimlichen? Wenn man der Prophezeiung glauben konnte, würde eine der Schwestern die andere töten. Es käme Margery doch sicher gelegen, wenn Elisabeth das an ihrer Stelle übernehmen würde und Rosalie somit keine Gefahr mehr für sie wäre.
»Ist sie am Leben?«, fragte Dorian bestürzt. Auch wenn er Rosalie als Kind im Stich gelassen hatte, schien er sich zumindest jetzt für sie verantwortlich zu fühlen. Joe wollte ihm glauben, dass ihm auch an seiner zweiten Tochter etwas lag.
»Das war sie, als wir sie zuletzt gesehen haben«, erwiderte Will bedrückt. Er brauchte niemandem zu erklären, dass in der Gewalt der bösen Königin ein Leben am seidenen Faden hing. Dorian wusste selbst am besten, was es bedeutete, deren Gefangener zu sein.
»Wir werden nach ihr suchen, wenn wir uns mit Vlad Dracul und seinen Vampiren Zutritt zur Kommende verschaffen«, sagte Jacob den anderen zu, ehe er sie mit einem strengen Blick bedachte. »Vorausgesetzt, unser Plan lässt sich überhaupt noch in die Tat umsetzen, nachdem ihr Elisabeth vorgewarnt habt. Ist euch klar, dass ihr mit dieser unüberlegten Aktion vielleicht alles ruiniert habt?«
»Wir haben Arian gefunden und er hat eine Chance, zu überleben. Ist das nichts wert?«, blaffte Simonja ungehalten zurück. Obwohl sie Rosalie verloren hatten, bereute sie die Nacht nicht im Geringsten. Ganz im Gegenteil – sie hätte es immer wieder getan, um Arian zu retten.
Joe hingegen hätte die Zeit zurückgedreht, wenn es ihm möglich gewesen wäre. Es war nicht seine Entscheidung gewesen, zur Kommende aufzubrechen. Überhaupt war er nur mitgekommen, weil er seine Freunde nicht im Stich hatte lassen wollen. Bis jetzt konnte er sich nicht erklären, warum Rosalie so fest entschlossen gewesen war, ausgerechnet Simonja zu helfen, die ihr immer nur mit Misstrauen begegnet war. Lag es daran, dass sie die rote Macht war? Hatte Rosalie sich deshalb mit ihr gut stellen wollen? Bedeutete ihr die Prophezeiung doch mehr, als sie zugeben wollte?
»Natürlich bedeutet Arians Leben etwas«, entgegnete Jacob beschwichtigend. »Wenn es uns aber nicht gelingt, Elisabeth aufzuhalten, wird seine Rettung ihm und uns allen nur wenige Tage verschaffen, bevor alles vorbei ist. Der Spiegelball ist wahrscheinlich unsere einzige Chance, an Elisabeth heranzukommen.«
»Es kann alles so bleiben, wie wir es geplant haben«, sagte Maggy versöhnlich. »Der Ball ist erst heute Abend, bis dahin ist noch genug Zeit.«
Jacob zögerte mit einer Antwort, als ahnte er bereits, dass diese den anderen nicht gefallen würde. »Was, wenn Elisabeth bis dahin eingeweiht ist und wir in eine Falle laufen?«
Während Maggy ahnungslos die Stirn runzelte und dazu ansetzte, zu fragen, wie Jacob das meinte, verstand Joe sofort, worauf er hinauswollte.
»Rosalie würde uns nicht verraten«, brauste er zornig auf. Wie konnte Jacob es nur wagen, ihr so etwas zu unterstellen, nachdem er gerade erfahren hatte, dass sie sich für die anderen geopfert hatte? Verdiente sie nicht spätestens jetzt ihrer aller Vertrauen?
»Die Königin wird sie foltern«, gab Ember leise zu bedenken und pflichtete damit indirekt Jacob bei.
»Sie ist stark«, beharrte Joe voller Überzeugung.
Rosalie war unter Vlad Dracul aufgewachsen. Auch wenn er keine Details kannte, war er sicher, dass niemand eine schlimmere Kindheit als sie erlebt haben konnte. Das machte ihm Angst, denn umso mehr würde sie erleiden müssen, bis Elisabeth einsah, dass sie Rosalie nicht brechen konnte.
»Auch wenn ich Rosalie erst vor wenigen Stunden kennenlernen durfte, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie sich von Elisabeth zu irgendetwas zwingen lassen würde«, stimmte Dorian zu. Es schmerzte ihn sichtlich, dass ihm nicht mehr Zeit mit seiner Tochter vergönnt gewesen war. Erneut hatte er darin versagt, sie zu beschützen.
»Und was, wenn alles nur ein Trick war?«, platzte es aus Simonja hervor. »Was, wenn sie von Anfang an vorhatte, sich in der Kommende von uns zu trennen, und sie uns nur deshalb dorthin geführt hat?«
Ihre Anschuldigung jagte wie ein Stromschlag durch Joes Körper. »Das ergibt doch gar keinen Sinn«, schrie er mit geballten Fäusten, ohne auch nur darüber nachzudenken. »Sie hat uns gerettet!«
»Vielleicht nur, um sich unser Vertrauen zu sichern«, widersprach Simonja ihm unnachgiebig. »Erinnere dich doch mal daran, wie sie uns davon abhalten wollte, Elisabeth gefangen zu nehmen. Kam dir das nicht verdächtig vor?«
Auch wenn Joe Rosalie in diesem Punkt nicht hatte verstehen können, hatte er deshalb nicht an ihren Absichten gezweifelt. »Letztendlich hat sie recht behalten, oder nicht? Wir konnten die böse Königin nicht kontrollieren! Wenn wir direkt auf Rosalie gehört und einfach die Flucht ergriffen hätten, wäre sie jetzt noch bei uns. Sie hat sich für unseren Fehler geopfert!«
»Joe«, sprach Ember ihn eindringlich an. »Ich weiß, dass es so aussieht und du unbedingt daran glauben möchtest, dass sie einen guten Kern hat, aber wenn du ehrlich zu dir selber bist, musst du zugeben, dass diese Selbstlosigkeit nicht unbedingt zu ihr passt. Abgesehen von dir, hat sie zu keinem von uns eine engere Bindung. Warum sollte sie dann ihr Leben für unseres riskieren?«
Ihre Worte stachen in sein Innerstes und trafen einen wunden Punkt, denn sosehr er sie auch liebte, war ein letzter Zweifel geblieben. Er hatte ihr zwar verziehen, dass sie ihn schon einmal hintergangen hatte, aber es nicht vergessen. Konnte all das, was seitdem zwischen ihnen gewesen war, zu ihrem Spiel gehören? Hatte sie ihn wirklich nur benutzt, um an Margery und die anderen heranzukommen?
Wenn man es logisch betrachtete, lag es im Bereich des Möglichen, aber Joe dachte nicht logisch, sondern mit dem Herzen. Er hatte gespürt, dass etwas zwischen ihnen war. Auf dieses Gefühl musste er sich nun verlassen.
Vehement schüttelte er den Kopf. »Wir haben alle gesehen, wie sie Jäger und Wölfe getötet hat, um uns zu beschützen. Seite an Seite haben wir mit ihr gekämpft.«
Verzweifelt blickte er von einem zum anderen, um unter ihnen jemanden zu finden, der genauso für Rosalie einstand, wie er es tat. Doch Ember und Simonja waren voller Misstrauen und Will und Maggy hatten die Blicke gesenkt, als wagten sie es nicht, ihm in die Augen zu schauen. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf Margery, die nur dastand und schwieg, so als ginge sie das alles gar nichts an. Als wäre es nicht ihre Schwester, die sich in der Gewalt der Königin befand.
»Hast du dazu keine Meinung?«, fuhr Joe sie vorwurfsvoll an. »Ist sie dir so gleichgültig oder bist du vielleicht sogar froh darüber, dass sie nun weg ist?«
Margery zuckte zusammen und bemerkte, wie sich plötzlich alle Augen auf sie richteten. Auch den anderen kam es nun komisch vor, dass sie so wenig gesagt hatte, wo sich doch eigentlich alles um sie drehte. Sie hatte weder ihre Sorge um Rosalie noch ihre Freude darüber, dass Arian noch am Leben war, zum Ausdruck gebracht.
»Warum sollte ich irgendetwas sagen, wenn ihr mich ohnehin schon längst verurteilt habt?«, erwiderte Margery ruhig. Es war ungewohnt, sie so gefasst, beinahe emotionslos, zu erleben. Nur eine Spur Enttäuschung schwang in ihrer Stimme mit. »Ich könnte in Tränen ausbrechen, aber ihr würdet sie mir nicht mehr glauben. Wenn ich nichts sage, werft ihr mir Gleichgültigkeit vor. Ganz gleich, was ich tue oder nicht tue, ihr vertraut mir nicht mehr.«
»Das ist nicht wahr«, rief Ember verletzt und eilte Margery entgegen. Sie umschloss deren Finger mit ihren Händen und schaute ihr in die Augen, um sie sehen zu lassen, wie viel sie ihr immer noch bedeutete. »Ich vertraue dir!«
Embers Nähe rief bei Margery nicht die erwartete Reaktion hervor, denn diese blieb distanziert. Vielleicht, weil sie wusste, dass dies nicht für alle galt.
»Vertrauen ist etwas, das man gewinnen oder verlieren kann«, entgegnete Simonja hart. »Du hast meins verspielt, als du wegen Arian geschwiegen hast.«
Maggy äußerte sich nicht, denn Margery kannte den Grund für ihr Misstrauen und sie hätte es nicht fair gefunden, diesen vor allen wie eine Anschuldigung vorzubringen.
Auch Will stellte sich nun an Margerys Seite, allerdings waren in seiner Miene ebenfalls Zweifel zu erkennen. »Es tut mir leid, wenn ich dir dieses Gefühl vermittelt habe. Aber Vertrauen beruht auf Gegenseitigkeit und es kommt mir vor, als würdest du dich immer mehr vor uns verschließen. Ein enormer Druck lastet auf dir und sicher hast du Angst, aber ich würde mir wünschen, dass du mit uns darüber sprichst.«
Es war offensichtlich, dass er immer noch an das Gute in ihr glaubte. Zwar mochte sein Bild in den letzten Tagen getrübt worden sein, aber ein Teil von ihm würde immer das Mädchen in ihr sehen, in das er sich hoffnungslos verliebt hatte.
Tränen traten in Margerys Augen, die tief aus ihrem Inneren zu kommen schienen, als wären sie lange dort zurückgehalten worden. »Ihr seid in dieser Nacht ohne mich gegangen. Keiner von euch hat mir genug vertraut, um mich einzuweihen. Ihr habt mich ausgeschlossen.«
»Wundert dich das?«, entgegnete Simonja argwöhnisch. »Du hast klar zum Ausdruck gebracht, dass du nicht bereit warst, irgendetwas für Arian zu riskieren. Er war dir nicht mehr wichtig genug, weil der Teil deines Herzens in ihm bereits tot war. Deshalb hatte er keinen Wert mehr für dich.«
Früher hätte dieser Vorwurf Margery verletzt, doch nun schien sie irgendeinen Weg gefunden zu haben, sich dagegen abzuschotten. Aufrecht stand sie da und blickte Simonja ohne Scheu entgegen. »In Engelland habt ihr daran geglaubt, dass ich die weiße Macht bin. Deshalb habt ihr euch mir angeschlossen. Aber keiner von euch hat je darüber nachgedacht, was es für mich bedeutet, wenn jeder immer nur das Beste von mir erwartet. Ihr scheint nicht zu verstehen, dass das, was für den einen das Beste ist, für den anderen einen Nachteil bedeuten kann.«
Zum ersten Mal gewährte sie den anderen einen Einblick darauf, welche Last sie jeden Tag allein zu tragen hatte. Erwartungen und Verantwortung wogen schwerer als ein Sack Steine.
»Wenn ich nur Margery wäre, hätte nichts mich davon abhalten können, meinen Freunden in der Not beizustehen. Aber was würde dann aus Engelland? Wer würde sich für das Schicksal unserer Heimat einsetzen, wenn ich nur noch an mich denken würde? Ich war nie nur die Tochter, die Schwester oder die Freundin von irgendjemandem, sondern wurde als weiße Macht geboren. Es ist meine Aufgabe, mich der Dunkelheit entgegenzustellen, welche die Welt bedroht. Der Krieg der Farben hat noch nicht begonnen, sondern steht uns erst noch bevor.«
Dorian legte Margery tröstend eine Hand auf die Schulter. Es tat ihm leid, dass er sie einem solch schweren Schicksal ausgeliefert hatte, aber er war auch stolz auf ihre Stärke. Endlich schien sie die Rolle, welche ihr in dieser Geschichte zugeschrieben worden war, zu akzeptieren. Sie versteckte sich nicht mehr hinter anderen, sondern war bereit, eigene Entscheidungen zu treffen, auch wenn diese ihr nicht die Zustimmung aller einbrachten.
Selbst Joe musste anerkennen, dass ihre Rede ihn beeindruckt hatte. Rosalie war eine Kriegerin, aber Margery eine Königin. Doch die Vergangenheit hatte gezeigt, dass so mancher Herrscher an der Macht, die durch seine Hände floss, zerbrochen war. Gute Absichten führten nicht immer zu guten Taten. Der größte Fehler, den ein Herrscher machen konnte, war, zu glauben, dass er unfehlbar sei. Dann wurde aus einem guten Menschen schnell ein Diktator, der nicht mehr sehen konnte, welches Leid er anderen zufügte.
War es das, was auch aus Margery werden würde, wenn sie niemanden mehr an ihrer Seite hätte, der den Weg mit ihr ging?
Samstag, 27. Oktober 2012
9.00 Uhr
Bonn, Schlosskommende Ramersdorf
Seit Stunden lief Rosalie in dem Salon mit dem prasselnden Kaminfeuer auf und ab. Mehrfach schon hatte sie die einzelnen Latten der hölzernen Wandvertäfelung gezählt, während ihre Schritte von dem Marmorboden widerhallten. Voller Ungeduld hatte sie immer wieder zu der großen Flügeltür gestarrt und darauf gewartet, dass sie sich öffnete. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt und sie lauschte auf jedes noch so kleine Geräusch.
Durch die Fenster konnte sie beobachten, wie die Nacht vom Tag abgelöst wurde. Sie blickte auf den Apfelgarten hinaus, dessen goldene Früchte wie Sterne in dem Nebel funkelten. Die Gäste des Spiegelballs wären davon beeindruckt und würden es für eine prachtvolle Dekoration halten. Sie ahnten nicht, dass nur ein Biss für sie tödlich enden würde.
Hin und wieder ließ Rosalie sich in einen der hohen Lehnstühle sinken, die um einen länglichen Tisch platziert waren. Dann vergrub sie ihr Gesicht in ihren Händen und ließ ihre Gedanken wandern. Diese glitten jedoch immer wieder zu demselben unglücklichen Moment zurück, den sie am liebsten vergessen hätte. Sie ertrug es nicht, sich der Erinnerung zu stellen, und stand deshalb jedes Mal wieder auf, nur um erneut ruhelos durch den Raum zu tigern. Ihr war bewusst, dass sie vor dem, was sie getan hatte, nicht davonlaufen konnte, aber sie wollte zumindest nicht mehr daran denken.
Ich liebe dich, hatte Joe zu ihr gesagt, bevor er sie geküsst hatte. War ihm bewusst gewesen, wie viel diese drei Worte einem Mädchen bedeuteten, das sich von aller Welt ungeliebt fühlte?
Bevor sie ihm begegnet war, hatte sie geglaubt, dass niemals jemand sie lieben könnte, und sich damit abgefunden. Es war sogar einfacher, wenn man allein war. Aber dann war er gekommen und hatte alles durcheinandergewirbelt und auf den Kopf gestellt. Wenn sie mit ihm zusammen war, wusste sie manchmal nicht mehr, wer sie selbst war.
Wie konnte ihr die Meinung eines einzelnen und zudem unbedeutenden Menschen derart wichtig sein? Sie waren so verschieden, dass sie von zwei unterschiedlichen Planeten hätten stammen können, aber dennoch gab es Momente, in denen Rosalie sich ihm im Herzen verbunden fühlte. In seinen Augen spiegelte sich manchmal der Schmerz, ohne dass er darüber sprach. Nur jemand, der das Gleiche empfunden hatte, konnte es erkennen.
Plötzlich war es ihr nicht mehr wichtig gewesen, was in der Vergangenheit gewesen war oder was sie in der Zukunft erwartete, sondern es war ihr nur noch um ihn gegangen. Eine ungeheure Macht hatte in ihrem Lächeln gelegen, mit dem sie ihn anstecken konnte. Ihre Hände waren magisch gewesen, weil er sich so sehr nach ihrer Berührung sehnte. Sie hätte gern behauptet, dass es ihre Lippen gewesen waren, die ihn verzaubert hatten, aber es war genau andersherum gewesen. Joe hatte sie für sich eingenommen und die Mauern, die sie um ihre Seele errichtet hatte, zum Einsturz gebracht.
Sie liebte ihn. Sie liebte ihn so sehr, dass es wehtat. So sehr, dass sie es nicht ertragen hätte, sich im Spiegel zu betrachten. Wenn sie es ihm doch nur gesagt hätte. Nur ein einziges Mal.
Aber würde es wirklich etwas ändern? Oder würde es alles nur noch schlimmer machen? Hätte er ihr überhaupt glauben können?
Nachdem Rosalie so lange darauf gewartet hatte, dass sich endlich die Tür öffnete, fühlte sie sich unvorbereitet, als dies tatsächlich geschah.
Elisabeth trat allein ein und schloss die Tür hinter sich. Das, was sie sich zu sagen hatten, war nicht für fremde Ohren bestimmt und ging niemanden sonst etwas an. Die Flammen des Feuers ließen ihr Haar golden glänzen und ihr Gesicht erstrahlen. Die Strapazen der letzten Nacht waren ihr in keiner Weise anzusehen. Sie wirkte so entspannt, als wäre sie gerade erst aus einem langen Urlaub zurückgekehrt. Sicher trug die Vorfreude auf das, was schon bald kommen würde, dazu bei. Aber Rosalie vermutete eher, dass ein ausgiebiges Bad in einer roten Flüssigkeit dafür verantwortlich war. Die Vorstellung widerte sie an und sie konnte ihren Ärger kaum verbergen.
»Warum hast du mich so lange warten lassen?«, fuhr sie die böse Königin an.
Die seelenlosen Jäger hatten sie direkt in den Salon gebracht, nachdem sie Rosalie im Tunnel vor dem heruntergelassenen Tor gefunden hatten. Sie hatte eigentlich angenommen, dass Elisabeth sie dort bereits erwarten würde, doch stattdessen ließ diese sie die ganze Nacht schmoren.
Missbilligend schnaubte die Königin und eine kleine Zornesfalte zeigte sich auf ihrer Stirn, als sie sich auf einem der Stühle niederließ und ihre schlanken Beine übereinanderschlug. »Ich hatte einiges zu tun, nach dem Chaos, das du mit deinen Freunden hinterlassen hast.« Sie sprach das Wort aus, als handelte es sich dabei um eine ansteckende Krankheit. »Beinahe den gesamten ersten Stock hat die Aschemagd verbrannt. Kannst du dir vorstellen, wie viel Blut ich lassen musste, um das wieder in Ordnung zu bringen?