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Ein Roman über Macht, Loyalität und den Preis der Wahrheit. Der junge Jurist Leo Bergmann steigt in eine elitäre Kanzlei ein und gerät in ein Netz aus Kontrolle, Schweigen und Manipulation. Als er sich weigert, mitzuspielen, beginnt ein gefährlicher Weg zwischen moralischem Mut und persönlichem Abgrund.
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Seitenzahl: 204
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Akt 1: Der perfekte Anfang
Kapitel 1 – 10
Akt 2: Risse in der Fassade
Kapitel 11 – 20
Akt 3: Der tiefe Fall
Kapitel 21 – 30
Akt 4: Der Preis der Lüge
Kapitel 31-40
Akt 5: Neubeginn aus der Asche
Kapitel 41 – 50
Dieses Buch ist eine Fiktion. Und doch basiert vieles auf der Realität – auf echten Gesprächen, beobachteten Strukturen und der allgegenwärtigen Spannung zwischen äußerem Erfolg und innerer Zerrissenheit.
Der Spieler ist kein juristischer Roman im klassischen Sinn. Er ist vielmehr ein psychologisches Porträt eines Mannes, der auf der Suche nach Anerkennung und Kontrolle immer weiter an die Grenzen des Vertretbaren geht – und darüber hinaus.
Die Figuren, Ereignisse und Institutionen sind frei erfunden. Und dennoch: Die Welt, die sie umgibt, ist unsere.
Ich danke allen, die mich auf dem Weg begleitet haben – kritisch, ehrlich, ermutigend. Dieses Buch ist für euch.
Johann Schaettler
Kapitel 1 – Der Tag, der glänzen sollte
Der Himmel über dem Weingut bei Krems war wolkenlos, das Licht mild und golden. Die Luft roch nach Lavendel, nach Holz und Trauben. In der Ferne zirpten Grillen, während sich rund um das Festzelt weiße Stuhlreihen formierten, als hätte jemand ein Theater gebaut. Für einen Moment wirkte alles wie gemalt.
Leonard Bergmann, genannt Leo, stand am Rand des Kiesplatzes, die Hände in den Hosentaschen seines Anzugs vergraben. Der Stoff war teuer, maßgeschneidert, gesponsert von seinem Vater – „für den Auftritt deines Lebens“, wie er es genannt hatte. Er schwitzte leicht, obwohl der Septembertag nicht heiß war.
Die Gäste waren bereits da: Familie, Freunde, Bekannte, Geschäftspartner. Nora war in ihrem Zimmer, begleitet von ihrer Mutter, zwei Freundinnen und einer Friseurin, die aussah, als käme sie direkt aus einer Modekampagne. Leo hatte sie beim Vorbeigehen gesehen, wie sie mit einem Haarspray fuchtelte, als ginge es um Leben und Tod.
Er versuchte zu atmen. Tief. Gleich würde alles beginnen. Der Moment, auf den sie monatelang hingearbeitet hatten. Die Hochzeit. Der Neuanfang. Die Zukunft.
Und doch war da diese flache, heiße Welle in seiner Brust. Kein Zweifel. Kein Widerwille. Etwas anderes. Etwas Unausgesprochenes.
Er schloss kurz die Augen.
Zwei Wochen zuvor hatte er mitten in der Nacht in seinem Büro gesessen und an einer Vertragsprüfung gearbeitet – oder es zumindest versucht. Seine Gedanken waren immer wieder abgeschweift. Erst zum nächsten Pokerspiel, dann zu seiner Kreditkartenrechnung. 2.800 Euro minus. Und es war nicht das erste Mal gewesen.
Er hatte das Smartphone damals ausgeschaltet, bewusst, aber es lag da, fast höhnisch, auf seinem Schreibtisch. Er war zehn Minuten später wieder online gewesen.
Er hatte gewonnen.
Und dann alles verloren.
„Leo?“ Eine Stimme riss ihn zurück. Es war sein Trauzeuge, Daniel Reininger, ebenfalls Jurist, ebenfalls in der Kanzlei. Nur gelassener. Oder besser im Schauspiel.
„Alles gut bei dir? Du schaust aus, als wärst du auf der Flucht.“
Leo zwang sich zum Lächeln. „Nervös. Hochzeit halt.“ „Sicher?“ Daniel musterte ihn kurz. „Na gut. Sag Bescheid, wenn du kalte Füße bekommst. Ich hab den Wagen nicht abgeschlossen.“
Leo lachte, zu laut. Es klang falsch. Daniel verzog das Gesicht, klopfte ihm auf die Schulter und verschwand wieder Richtung Bar.
Die Zeremonie selbst war perfekt. Sogar der Standesbeamte hatte Tränen in den Augen – oder tat zumindest so. Noras Kleid war schlicht, elegant, zurückhaltend – genau wie sie. Ihre Stimme zitterte bei ihrem Gelöbnis, aber sie lächelte dabei. Leo sprach seine Worte fehlerfrei, mit klarer Stimme, und jeder dachte, dass er meinte, was er sagte. Vielleicht tat er das auch. Für einen Moment.
Als sie sich küssten, applaudierte der ganze Hof. Sektkorken knallten, Rosenblätter flogen durch die Luft, jemand spielte Geige. Es war ein Tag wie aus einem Katalog. Und doch.
Etwas in ihm blieb stumm.
Der Nachmittag verging in warmem Licht. Gruppenfotos. Kuchenanschnitt. Reden. Konrad Bergmann hielt eine Rede, in der er mehr über seinen eigenen Aufstieg sprach als über seinen Sohn. Nora lachte trotzdem, höflich. Silvia Bergmann sah an diesem Tag älter aus als sonst.
Als würde sie spüren, dass ihr Sohn auf einem Grat balancierte, den niemand sah.
Noras Vater, Dr. Victor Albrecht, ein dünner Mann mit schmaler Brille und der Haltung eines Mannes, der selten Widerspruch bekommt, hielt seine Ansprache nüchtern und kühl. Seine Frau Elena weinte leise – ob aus Rührung oder Sorge, ließ sich nicht sagen.
Am frühen Abend ging Leo alleine ein Stück den Weinberg hinauf. Er brauchte Luft. Weit hinten leuchteten die Berge im letzten Sonnenlicht. Und dort, unter der Eiche neben dem Schuppen, stand er.
Ein Mann in dunklem Anzug, leicht gebeugt, mit einem Glas in der Hand. Er hatte nicht geklatscht, nicht gratuliert, nicht gelächelt. Er hatte Leo nur angeschaut. Und Leo hatte sofort gewusst, wer es war.
Rafael Duven.
Er war aufgetaucht, obwohl Leo ihn nicht eingeladen hatte. Aber das war Duvens Stil. Unerwartet. Präsenz statt Einladung. Der Mann, der anderen immer einen Schritt voraus war.
„Herzlichen Glückwunsch, Herr Bergmann“, sagte Duven leise. „Ein schöner Tag. Fast zu schön, um wahr zu sein.“
Leo versuchte zu kontern. „Was machen Sie hier?“ Duven lächelte. „Ich wurde eingeladen. Nicht von Ihnen. Aber jemand dachte wohl, ich gehöre dazu.“
Ein Schluck aus dem Glas. „Ich wollte nur sehen, ob man so einen wie Sie wirklich binden kann. Es scheint so.“ Leo spürte, wie sein Herz schneller schlug.
Duven trat näher. „Sie wissen, dass wir noch etwas offen haben. Es wird Zeit, dass wir darüber sprechen. Aber nicht heute. Heute gehören Sie der Bühne.“ Dann ging er.
Leo stand noch lange dort, bis es dunkel wurde und jemand ihn rief, weil der Hochzeitstanz beginnen sollte. Er lächelte, küsste Nora, führte sie aufs Parkett. Ihre Haut war warm, ihre Augen hell. Alles war da – Liebe, Glück, Zukunft.
Und in seinem Nacken: ein Schatten.
Kapitel 2 – Das Büro mit Aussicht
Der Fahrstuhl glitt lautlos in den siebzehnten Stock. Leo betrachtete sein Spiegelbild in der glänzenden Kabinentür. Der Anzug – tiefblau, Maßanfertigung. Die Aktentasche – glatt, schwarz, italienisch. Die Augen – etwas zu hell, etwas zu müde. Noch war nichts falsch.
Noch glaubte er an die Geschichte, die er sich selbst erzählte: Dass dies ein Anfang war.
Die Türen öffneten sich. Teppich. Glas. Stille. Die Etage roch nach Teakholz und teurem Kaffee. „Schramm, Höfer & Partner“ war eine der größten Wirtschaftskanzleien des Landes, mit Klienten, deren Namen man nicht einmal googeln konnte. Und Leo war jetzt Teil davon.
Er wurde von einem Assistenten empfangen, einem Mann mit grauem Anzug, der ihn kein einziges Mal ansah. „Bitte hier entlang.“
Herr Höfer, Mitgründer und Seniorpartner, saß hinter einem gewaltigen Schreibtisch aus amerikanischem Nussbaum. Seine Hände lagen auf einem silbernen Kugelschreiber, seine Stimme war ruhig, fast unterkühlt.
„Herr Bergmann. Willkommen. Sie sind von der Universität mit Bestnote entlassen worden. Gratuliere.“ Leo bedankte sich höflich.
„Ihr Vater war in der Unternehmervereinigung sehr aktiv.
Ich kenne ihn.“
Pause.
„Ich erwarte, dass Sie sich durch Leistung profilieren.
Nicht durch Namen.“
Leo nickte. Das Spiel war bekannt: Zeig dich demütig, aber ambitioniert. Sag nicht zu viel. Sei keine Bedrohung – noch nicht.
Das Büro war heller als erwartet. Große Fenster mit Blick über den Stadtpark, ein eigener Besprechungstisch, Regale voller Kommentare und Gesetzbücher. Auf dem Schreibtisch lagen bereits drei Akten. Sein Name stand auf dem Messingschild an der Tür. Dr. Leonard Bergmann.
Die Assistentin stellte sich vor – Lilli, Anfang vierzig, Brille mit dünnem Rand, eine Frau, die alles wusste, aber nichts sagte, was man ihr nicht ausdrücklich entlockte. „Ich arbeite für alle Neueinsteiger. Wenn Sie keine
Fragen stellen, sind Sie selbst schuld.“ Leo mochte das.
Die erste Akte betraf eine geplante Firmenübernahme. Er las, markierte, machte sich Notizen. Für einen Moment war er in seinem Element. Er vergaß die Zeit. Und fast auch sich selbst.
Dann klopfte es.
„Herr Bergmann?“ Eine junge Frau stand in der Tür. Blonde Haare, Hosenanzug, ein zu aufmerksamer Blick. „Entschuldigen Sie. Ich bin Jana Wössner. Arbeitsrecht. Ihr Büro liegt neben meinem.“
„Leo. Freut mich.“
Sie trat einen Schritt näher. „Ich habe Sie gestern auf der Liste gesehen. Wir sind nicht viele unter vierzig hier.
Dachte, ich sag Hallo.“ Er
lächelte, freundlich.
Sie sah ihn einen Moment zu lang an. „Vorsicht, Herr Bergmann. In diesem Haus redet alles – aber niemand hört zu. Und nicht jeder lächelt, weil er’s ehrlich meint.“ Bevor er etwas erwidern konnte, war sie weg.
Am Nachmittag hatte er sein erstes Mandantengespräch. Nur als Beobachter – aber Höfer bestand darauf, dass er präsent war. Es ging um eine Holdingstruktur, die aufgelöst werden sollte, in Zusammenhang mit internationalen Tochterfirmen. Die juristische Materie war trocken, aber die Zahlen waren riesig. Leo hörte genau zu, notierte, verstand – und sah zugleich, wie beiläufig Macht ausgeübt werden konnte, durch Worte, Pausen, Blicke.
Nach dem Gespräch blieb er noch im Raum, als der Mandant gegangen war.
„Sie haben ihn gespiegelt“, sagte Leo leise. Höfer hob eine Augenbraue. „Sie haben das bemerkt?“
„Er sprach flach, sachlich. Sie begannen genauso – bis er nervös wurde. Dann haben Sie die Sätze verlangsamt.“
„Ein Spiel“, sagte Höfer. „Nichts anderes. Wer das Spiel versteht, kontrolliert das Brett.“
Er sah Leo an. „Sie spielen doch, Herr Bergmann?“
Leo schluckte. Lächelte. „Gelegentlich Schach.“
„Gut.“ Höfer griff zu seiner Krawatte. „Schach ist sauber. Juristerei weniger.“
Gegen 18:00 Uhr stand Leo im Pausenraum, allein, mit einer Tasse Tee. Er fühlte sich leer. Nicht müde – leer. Die Akten lagen in seinem Kopf wie ein schwerer Film. Doch unter dem Film zitterte etwas. Ein Ton, den nur er hörte. Unruhe. Er griff zum Handy.
Keine neuen Nachrichten.
Dann doch. Ein Icon blinkte. Anonyme Nummer. Eine einzige Zeile:
„Du weißt, wo du mich findest.“
Er sperrte das Display. Ging zurück ins Büro. Schrieb Memos. Verfasste eine erste E-Mail an den Mandanten. Tat, was man von ihm erwartete. Und trotzdem brannten seine Finger, als er heimfuhr.
Nora wartete zu Hause, barfuß, in weicher Hose, mit zwei Gläsern Wein und selbstgemachtem Ofengemüse.
„Und?“, fragte sie.
Leo lächelte. „Erster Tag. Ich habe mehr gelernt als in fünf Jahren Studium.“
Sie strich ihm durchs Haar. „Und du wirkst, als wärst du durch einen Tunnel gelaufen.“
Er nahm den Wein. „Ich war im Tunnel. Einer mit Teppichboden.“
Sie lachte. Und das war das Beste an ihr – dieses Lachen, das alles kurz leichter machte.
Doch in der Nacht, als sie schlief, lag er wach.
Er tippte den Namen ein: Rafael Duven.
Der Club war noch geöffnet.
Er klickte auf die Website.
„Exklusiv. Privat. Diskret. Nur auf Einladung.“ Sein
Name stand auf der Liste.
Kapitel 3 – Der Junggesellenabschied – Rückblende
Manche Dinge erzählt man später anders, als sie waren. Leo Bergmann erinnerte sich an diesen Abend oft – aber nie gleich. Mal als Spiel, mal als Warnung. Mal als Triumph, mal als Verrat. Immer aber als Anfang. Der Abend seines Junggesellenabschieds war inoffiziell – wie so vieles, das später folgen sollte.
Es war eine Woche vor der Hochzeit gewesen. Alles war vorbereitet: das Restaurant, der Ring, die Kanzleizusage, das Leben. Leo hatte zu Freunden gesagt, sie sollten es ruhig halten. „Kein Kinderkram, bitte. Kein Stripperklub.
Und nichts, was man am nächsten Tag bereuen muss.“ Sie hatten gelacht. Genickt. Und dann genau das getan, was Männer unter Kontrolle verstehen: sie ignoriert.
Der Abend begann harmlos. Sechs Männer, darunter sein Trauzeuge Paul – Jurist wie er, aber bei einer Bank gelandet. Ein paar ehemaligen Studienkollegen, ein Cousin, den Leo nur in Anzügen kannte. Sie gingen in ein japanisches Restaurant mit dunklen Holztischen und gedämpfter Beleuchtung. Es gab Whiskey, rohen Fisch, Geschichten von früher, Lacher, Zigarettenpausen auf dem Gehsteig.
Leo fühlte sich wohl. Vielleicht zu wohl. Vielleicht auch nur wach. Als Paul gegen Mitternacht vorschlug, „noch etwas Besonderes“ zu machen, sagte Leo nichts. Er nickte nur.
„Vertrau mir“, sagte Paul. „Ein Freund von mir hat einen Zugang zu was... Stilvollem.“
„Stilvoll klingt verdächtig.“
„Kein Bordell. Kein Drogenkeller. Nur... Poker.“
Leo zögerte. Dann zuckte er mit den Schultern. „Okay.
Aber ich schau nur.“
„Klar. Nur schauen.“
Der Ort lag in einem Innenhof, ohne Schild, ohne Türschild. Eine massive Tür aus Metall öffnete sich elektronisch, nachdem Paul einen Zahlencode eingegeben hatte. Drinnen: gedämpftes Licht, Ledersessel, Teppichböden, hohe Wände mit Schwarzweiß-Fotografien. Es war keine Spielhölle – es war ein Salon. Privater Club, ohne Namen. Der Gastgeber: ein älterer Herr mit schlohweißem Haar und einer Stimme wie aus einer Hörbuchproduktion.
„Willkommen. Whisky links. Zigarren rechts. Der Tisch ist offen.“
Am runden Pokertisch saßen fünf Männer, alle über vierzig, mit Maßanzügen und diskreten Armbanduhren. Keine überflüssigen Worte, kein protziges Gelächter. Nur Konzentration, Karten, Chips. Leo trat einen Schritt näher.
„Spielen Sie?“, fragte der Gastgeber.
„Ich sehe lieber zu.“
„Das ändert sich meist nach dem zweiten Glas.“
Zwei Gläser später saß Leo am Tisch. Paul hatte ihn überredet. „Setz dich. Mach dir keinen Kopf. Die Summen sind symbolisch. Hier geht’s um das Spiel.“
Leo bekam Chips. Keine klare Umrechnung – keine klaren Regeln. Aber es funktionierte. Die Karten, das Bluffen, das Rechnen. Leo war gut. Er spielte kontrolliert, analysierte schnell. Zwei kleine Gewinne, dann ein großer. Drei Männer stiegen aus. Der Gastgeber lächelte. „Sie haben Talent, Dr. Bergmann.“ Leo nickte höflich. Innen brannte etwas.
Er gewann eine der nächsten Runden mit einem Bluff. Dann noch eine mit einem Paar, das zu niedrig schien.
Gegen zwei Uhr morgens hatte er das Dreifache seiner Chips – und einen Umschlag in der Brusttasche, in dem echte Scheine steckten.
„Reine Spielfreude“, sagte Paul.
„Nimm’s als Geschenk“, sagte ein anderer. „Verdient“, sagte der Gastgeber.
Leo wollte es ablehnen. Aber er tat es nicht.
Als er später mit Paul draußen stand und sich eine Zigarette anzündete, fragte er: „Wer war das, der Ältere?“
„Ein Sammler“, sagte Paul.
„Von was?“
„Von Spielern.“
Leo lachte. „Bin ich jetzt sein Objekt?“
Paul grinste. „Nicht, wenn du nie wieder kommst.“
„Und wenn doch?“
„Dann wird’s... interessant.“
Er kam um kurz vor drei Uhr morgens nach Hause. Nora schlief. Die Wohnung roch nach Lavendel und Bücherstaub. Er stellte den Umschlag ins oberste Regal des Schranks, zog sich aus und legte sich leise zu ihr. Sie murmelte im Schlaf etwas, das wie sein Name klang. Er strich ihr über den Rücken. Und sah zur Decke.
In seinem Kopf lief das Spiel weiter. Nicht die Karten.
Die Kontrolle.
Am nächsten Tag erzählte er, sie hätten bis spät bei Paul gesessen, etwas getrunken, alte Videos geschaut. Nora glaubte ihm. Es war kein Verdacht in ihrem Blick, nur Zuneigung. Sie schenkte ihm Kaffee ein, zeigte ihm ein neues Gemälde, das sie für die Ausstellung in der Galerie vorgesehen hatte.
Leo hörte zu, aber nicht ganz. Ein Teil von ihm war noch im Raum mit dem grünen Filz, mit dem leisen Klackern der Chips und dem durchdringenden Gefühl: Ich kann das. Ich kontrolliere das. Ich bin besser als sie.
Am Abend duschte er lange. Stand vor dem Spiegel. Betrachte sein Spiegelbild. Dieselbe Haut. Derselbe Blick. Aber unter allem: etwas Neuformiertes. Etwas, das still in ihm lauerte. Nicht Gier. Nicht Spielsucht. Nur die erste Ahnung von: Ich will es wieder.
Einige Tage später schob er den Umschlag tiefer ins Regal. Und sagte sich:
„Nur dieser eine Abend. Ein schöner Abend. Eine Anekdote.“
Aber er wusste, dass das eine Lüge war.
Und er sagte nichts.
Kapitel 4 – Verdrängte Versuchung
Der Sonntag war still. Grau lag er über der Stadt, als hätte jemand einen Schleier über die Häuser gelegt. Es war einer dieser Tage, an denen die Welt entschleunigte – aber nicht aus Ruhe, sondern aus Leere. Leo stand früh auf, obwohl er hätte schlafen können. Nora lag noch im Bett, umklammerte das Kissen wie ein Schutzschild. Er trat leise aus dem Schlafzimmer, ließ die Tür einen Spalt offen.
In der Küche stellte er den Espressokocher auf, blickte durch die beschlagene Scheibe. Im Innenhof tanzten einzelne Regentropfen auf der Brüstung. Leo fühlte sich gleichzeitig wach und abwesend. Es war, als würde er sich selbst beobachten, von außen, wie ein Schauspieler, der eine Rolle spielt, ohne zu wissen, wer der Regisseur ist.
Er nahm den ersten Schluck Kaffee, brühwarm und bitter, und setzte sich an den Esstisch. Der Laptop lag dort, aufgeklappt, die letzten Tabs waren noch offen – Nachrichten, ein juristischer Fachartikel, eine Einladung zu einem Symposium in Frankfurt. Er klickte sich durch, mechanisch. Die Worte glitten durch ihn hindurch, ohne Bedeutung.
Und dann – fast automatisch – tippte er etwas in die Suchleiste:
„Online Poker – seriöse Anbieter“
Er hatte nicht daran gedacht, das bewusst zu tun. Zumindest nicht so, wie man bewusst auf eine Einladung antwortet. Es war eher ein Reflex, wie das Öffnen des Kühlschranks, ohne Hunger zu haben. Seit dem Abend im Loft war eine Woche vergangen, und doch fühlte es sich näher an. Fast körperlich. Wie eine Erinnerung, die man nicht denken muss, weil sie bereits unter der Haut sitzt.
Leo klickte auf den ersten Link. Die Seite war schlicht. Dunkler Hintergrund, kein Kitsch. Spielgeld-Modus verfügbar. Registrierung ohne Namen. Alles wirkte legal, neutral – wie ein leerer Raum mit sauberen Wänden.
„Nur schauen“, sagte er sich. Laut, aber leise.
Nora erschien in der Küchentür. Zerzauste Haare, Schlafshirt, barfuß.
„Du bist früh wach.“
„Konnte nicht mehr schlafen.“
„Irgendetwas los?“
„Nein.“ Er lächelte. „Nur Gedankenkarussell.“ „Willst du Frühstück? Ich hab noch die gute Marmelade aus Lyon.“
„Später. Ich will noch ein bisschen was lesen.“ „Klar.“ Sie küsste ihn auf den Kopf und verschwand im Bad.
Leo spielte die erste Runde mit Spielgeld. Zwei Paar. Dann ein Drilling. Die Regeln kannte er, die Dynamik noch besser. Es fühlte sich an wie Heimkehr – nicht familiär, aber funktional. Eine Welt, die klar war, logisch. Kein Raum für Emotion, nur für Strategie.
Nach drei Runden gewann er deutlich. Er lehnte sich zurück, betrachtete die Chips auf dem Bildschirm.
Dann klickte er auf den Button: „Echtgeld aktivieren“
Er zögerte nur kurz.
Die Registrierung war einfach. Kreditkartendaten. Ein Kontrollfeld, das versprach: „Volle Transparenz – Ihre Verluste sind Ihre Entscheidung.“ Er lachte. Leise. Zog die Augenbraue hoch. Und füllte das Formular aus.
Zuerst 50 Euro.
Er spielte ruhig. Verlor die erste Runde knapp. Gewann die zweite. Dann setzte er 25 auf einen mutigen Bluff. Verlor.
Er überlegte. War es Pech? War es zu früh? War der Gegner besser?
Er zahlte 100 Euro nach.
Nora kam aus dem Bad. Frischer Duft, Handtuch in den Haaren. Sie sah ihn von der Seite an.
„Du bist ganz versunken.“
„Ein Artikel über steuerrechtliche Risiken bei Fusionen“, sagte er schnell.
Sie lächelte. „Willst du mir das beim Frühstück erklären?“
„Wenn du willst, gerne.“
Sie zog sich an und verschwand wieder ins
Schlafzimmer.
Leo spielte weiter. Jetzt nicht mehr vorsichtig. Er wollte zurückholen, was ihm „nicht zustand“. Zwei Asse – der Gegner hatte drei Könige. „Unmöglich“, murmelte er. Und zahlte weitere 100 Euro ein.
Nach einer Stunde war das Konto bei –300 Euro.
Er klappte den Laptop zu. Starrte auf die Wand. Stand auf. Spülte die Kaffeetasse, als wäre sie verantwortlich.
Beim Frühstück redeten sie über Gäste, Einladungen, Stühle, Farben. Leo nickte an den richtigen Stellen. Sagte „klar“, „logisch“, „finde ich auch“. Er beobachtete sich selbst. Er spielte besser als je zuvor.
Nora war wach, fröhlich, engagiert. Sie zeigte ihm Bilder von Kunstwerken, fragte nach seiner Meinung. Er sagte „spannend“, „interessant“, „intensiv“. Aber dachte an nichts davon.
Er dachte an den Moment, als er auf „Einsatz bestätigen“ klickte.
Am Nachmittag gingen sie spazieren. Im Park blühten die ersten Kastanien. Kinder liefen durch Pfützen. Nora erzählte von einer geplanten Kooperation mit einer Stiftung. Leo hörte zu – so gut er konnte. Doch seine Gedanken liefen vor ihm davon.
„Alles okay bei dir?“, fragte sie irgendwann.
„Ja. Nur viel im Kopf.“
Sie legte den Kopf schief. „Ist es die Arbeit?“ „Ein bisschen. Die neue Kanzlei... ich will einen guten Start hinlegen.“
Sie nickte. Er küsste sie auf die Stirn.
Am Abend lag er lange wach. Nora schlief ruhig neben ihm, das Atmen gleichmäßig.
Er lag auf dem Rücken, die Hände auf dem Bauch.
Er dachte:
„300 Euro. Nicht viel. Ich verdiene das bald in einem halben Tag.“
„Ich hab’s ausprobiert. Jetzt weiß ich, wie’s funktioniert.“
„Es war nur ein Fehler. Den mach ich nicht nochmal.“
„Es ist nicht wie das Spiel im Loft. Dort war es echt. Hier war’s... mechanisch.“ „Ich muss es nicht wieder tun.“
„Ich habe es unter Kontrolle.“
„Ich sage es ihr nicht. Weil es keine Rolle spielt.“
„Es ist vorbei.“
Drei Tage später öffnete er die Seite wieder. Nur um zu sehen, ob sein Konto noch aktiv war.
Dann spielte er eine Runde. Und noch eine.
Und als er wieder verlor, flüsterte er:
„Jetzt hör ich auf.“
Aber das war nicht mehr wahr.
Kapitel 5 – Noras neue Ausstellung
Die Vernissage war für 19:00 Uhr angesetzt, aber Nora war bereits um halb sechs in der Galerie. Nicht aus Nervosität – sondern aus Verantwortungsgefühl. Es war ihre erste eigene Ausstellung. Ihr Konzept, ihre Künstler, ihre Handschrift. Wochenlange Vorbereitung lagen hinter ihr: Gespräche, Katalogtexte, Leihverträge, Versicherungen, Aufbau, Lichtsetzung. Jetzt war alles bereit. Und doch spürte sie in sich eine Mischung aus Stolz und latenter Unsicherheit. Wie vor einem Sprung ins Wasser, bei dem man zwar schwimmen kann – aber nicht weiß, wie kalt es ist.
Die Galerie lag in einem umgebauten Altbau nahe dem Museumsquartier. Hohe Decken, weißer Boden, kahle Wände – bis auf die Werke, die sie selbst kuratiert hatte. Es war eine thematische Ausstellung über „Spuren“, ein Spiel mit Abdrücken, Schatten, Resten. Künstler aus Wien, Berlin, Amsterdam. Bilder, Skulpturen, Installationen. Alles zurückgenommen, aber tief.
Nora ging ein letztes Mal durch die Räume. Justierte eine Beschriftung. Glättete ein Etikett. Rückte eine Sitzbank um zwei Zentimeter. Atmete tief durch. Dann legte sie den Lippenstift nach, trat einen Schritt zurück und sah in den Spiegel im Eingangsbereich.
„Du hast das gemacht.“
„Es ist gut.“
Leo kam um 18:52 Uhr.
Er trug den dunkelblauen Anzug mit dem schmalen Revers, den sie mochte. Seine Haare waren ordentlich, der Blick wach – aber nicht ganz anwesend. Nora spürte es sofort, sagte aber nichts. Er küsste sie auf die Wange, lächelte, sah sich um.
„Es ist beeindruckend“, sagte er. „Reduziert. Klar.“
„Danke“, sagte sie. „Ich hab lange daran gearbeitet.“
„Das sieht man.“
Er stellte sich neben sie. Gemeinsam sahen sie auf die erste Wandinstallation – ein Raster aus Schuhabdrücken, die wie verblassende Erinnerungen wirkten.
„Erinnert mich an Ermittlungsfotos“, sagte Leo. „Oder an das, was davon übrig bleibt.“
Er sagte nichts. Sie bemerkte, dass er nicht wirklich hinsah. Nur durch.
Die Gäste kamen nach und nach. Künstler, Freunde, Sammler, Kollegen aus der Stiftung. Ein Reporter vom Feuilleton, zwei Frauen von der Kurator*innenvereinigung, ein Botschaftsrat aus Prag. Es wurde Champagner gereicht. Geräusche vermischten sich zu einem sanften Hintergrundrauschen – wie Wasser in einem Marmorbecken.
Nora hielt eine kurze Rede. Sie sprach ruhig, ohne Notizen, in klaren Sätzen. Über das Thema der Ausstellung, über das Verhältnis von Präsenz und Verlust, über das, was Kunst sichtbar machen kann, ohne es auszusprechen. Leo stand am Rand und hörte zu. Er klatschte mit. Lächelte. Aber sein Blick wanderte.
Nach der Rede kam die erste Welle von Gesprächen. Gratulationen, Rückfragen, Small Talk mit Tiefgang. Nora bewegte sich sicher zwischen den Gästen, strahlte, lachte, nahm auf, gab zurück. Sie war ganz bei sich – aber immer offen für die anderen. Leo folgte ihr nicht, sondern hielt sich zurück. Sprach mit einem älteren Mann über Fördermodelle, nickte bei einem Gespräch über digitale Kunst, trank langsam seinen zweiten Weißwein.
Sein Blick blieb irgendwann an einer Skulptur hängen – zwei ineinander verschlungene Figuren, halb Bronze, halb Draht, ohne Köpfe. Er verstand das Konzept nicht. Oder wollte es nicht verstehen. Er dachte an die Nacht zuvor. An das Klicken der Karten. An die Bewegung seiner Hand zur Maus. An den Moment, in dem er 500 Euro verlor – ohne Reaktion, ohne Geräusch.
„Alles in Ordnung?“, fragte Nora später, als sie kurz neben ihm stand.
„Natürlich.“
„Du wirkst... nicht ganz hier.“
„Es ist viel los. Viele Eindrücke.“
„Aber du bist stolz?“
Er sah sie an. Lächelte. Legte eine Hand auf ihren Rücken. „Sehr.“
Sie sah ihn noch einen Moment an, dann nickte sie. Und ging weiter.
Gegen 21:00 Uhr lichteten sich die Räume. Die ersten Gäste verabschiedeten sich, bedankten sich, kündigten an, noch einmal mit Freunden zu kommen. Die Künstlerin aus Amsterdam drückte Nora die Hände, die Sammlerin aus Graz ließ eine Karte da. Der Pressetext war fast vollständig mitgenommen worden.
Leo ging nach draußen, um eine Zigarette zu rauchen. Er rauchte selten. Aber an diesem Abend brauchte er das Gefühl von etwas Brennendem, das sich verbrauchte. Er starrte auf das Pflaster, auf dem sich das Licht der Straßenlaternen spiegelte. Es war still, als hätte die Stadt kurz den Atem angehalten.