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Der Spion des Dogen E-Book

Stefan Maiwald

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Beschreibung

Ein farbenprächtiges Abenteuer aus Venedigs Glanzzeit Venedig 1568. Eine boshafte Intrige bringt den angesehenen, lebenslustigen Geschäftsmann Davide Venier über Nacht um sein Vermögen ‒ und in die berüchtigten Bleikammern, das Gefängnis der Serenissima. Doch eines Tages erhält er ein überraschendes Angebot: Straferlass gegen Spionagedienste für den Dogen. Gleich der erste Auftrag könnte brisanter kaum sein: Rüstet sich das Osmanische Reich, Venedigs Erzfeind, für einen Krieg?

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Stefan Maiwald

Der Spion des Dogen

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Venedig, im Jahr 1568

 

 

Kapitel 1Das Badehaus

Oh.«

»Oh là là.«

»Mir wird so anders.«

»Früher kam er ja öfter zu einer von uns.«

»Ach, das waren schöne Zeiten.«

Die Sonne ging über der Lagune unter und tauchte die palazzi und canali in ein betörendes purpurnes Licht. Die letzten Fischer in Cannaregio legten ihre geflickten Netze für die morgige Ausfahrt bereit und machten sich zu Fuß auf den Heimweg für ein paar Stunden Schlaf in ihren armseligen apartamenti. Selbst die aufmüpfigsten Möwen dämpften ihr Kreischen auf eine erträgliche Lautstärke. Bedienstete in den feinsten palazzi am Canal Grande legten das Silberbesteck für das Abendessen zurecht, während die Köche in den Untergeschossen Seebarsche und Doraden im Akkord filetierten, Mandeln rösteten und Backbleche mit Honig bestrichen. Selbst im Arsenale ruhten nun die Kalfaterhämmer, und die Arbeiter versammelten sich vor den Türen ihrer hölzernen Wohnbaracken um die Krüge mit dem sauren Wein. Gondolieri vertäuten ihre Gondeln und gingen in ihre Lieblingskaschemmen, um die Dukaten des Tages erst zu zählen und dann auszugeben und sich dabei über den furchtbaren Geiz der Kaufleute zu echauffieren. In den casini der reichen Junggesellen wurden die ersten Karten gemischt und die Würfelbecher geschwenkt. Während also ein ganz gewöhnlicher Tag in Venedig zu Ende ging, betrat Davide Venier in seinem Tabarro und dem Schal aus feinster roter Seide das Badehaus in Santa Croce.

Ein Badehaus? In Venedig? Ja, von diesem Haus wussten nur wenige, ein paar Mitglieder des Großen Rats und einige andere hochrangige Herren. Aber eben auch nicht alle. Man musste, wie immer in Venedig, sehr vorsichtig sein, wem man was erzählte. Dieses neue Badehaus war ein Wagnis, und spektakulär dazu.

Eine winzige Tür führte in einen erstaunlich großen, mit Spiegeln geschmückten und vielen Kerzen beleuchteten Vorraum. Und dort standen im flackernden Licht die Kurtisanen Marta, gebürtig aus Mestre, Angélique, frisch aus Paris importiert, und Marisol aus Dalmatien. Die Licht- und Schattenspiele auf ihrer Haut ließen sie noch ein wenig verführerischer und geheimnisvoller wirken.

»Er sieht aber auch gut aus.« Angélique hieß in Wirklichkeit Hermine, was aber nicht einmal ihre Kolleginnen wussten. Sie stammte aus dem Rheingau und hatte sich einen perfekten französischen Akzent zugelegt; wann immer sie ein Wort im Italienischen nicht wusste, sprach sie das entsprechende deutsche Wort Französisch aus. Sie hatte dickes blondes Haar, etwas weit auseinanderstehende Augen und eine sinnlich geschwungene Unterlippe. Sie kam aus einer wohlhabenden Winzerfamilie, war aber mit dreizehn vom Stallknecht schwanger geworden. Das Kind starb bei der Geburt, der Stallknecht wurde ausgepeitscht, Hermine verbannt. Nach einigen Jahren der Wanderschaft von entfernten Verwandten in Mainz zu noch entfernteren Verwandten in Bayern und Innsbruck war sie nun, mit zweiundzwanzig, endlich in der Stadt ihrer Träume angekommen. Und sie war wild entschlossen, es hier zu etwas zu bringen, egal, wie.

»Geld hat er auch«, wusste Marta.

»Viel?«, fragte Angélique und kontrollierte ihre roten Lippen in einem der Spiegel, die in üppig geschnitzten und mit Goldfarbe bemalten Holzrahmen hingen, um noch mehr Glanz zu verbreiten. Angéliques langfristiger Plan war es, sich einen reichen Kretin zu angeln und sich von ihm aushalten zu lassen. Auch wenn sie ahnte, dass der Herr Venier dafür zu klug war, genoss sie es, von ihm zu träumen. Außerdem wusste man nie, was für Überraschungen das Leben bereithielt. Mit achtzehn hatte sie sogar einmal mit einem echten Fürstensohn geschlafen.

»Genug für eine Frau, einen Palazzo und mehrere Kurtisanen«, kicherte Marta.

»Er hat Kurtisanen?«

»Offiziell nicht, aber die Beziehung zu Signora Bellini ist schon anrüchig genug.« Marta war die hübscheste der drei, die Tochter eines armen Fischers aus Mestre. Nach der letzten Fleckfieberwelle, als der Vater und zwei Brüder gestorben waren, hatte die Mutter die Kleine mit elf Jahren nach Venedig geschickt, wo sie als Dienstmädchen bei einer Kaufmannsfamilie unterkam. Der Kaufmann allerdings nahm ihre Dienste auf ganz andere Art in Anspruch, was Marta nach einiger Zeit arg lästig wurde. Nicht, dass es ihr keinen Spaß gemacht hätte, aber es kränkte sie sehr, dass der Kaufmann sie nach jedem amourösen Abenteuer umso herablassender behandelte. Natürlich, er wollte sich vor seiner Ehefrau nicht entblößen, doch als er sogar begann, Marta zu schlagen, wenn sie bei Tisch nicht schnell genug den Wein nachfüllte, nahm sie schließlich Reißaus.

»Meine Damen!« Davide Venier grüßte höflich, als er an ihnen vorbeiging.

Die drei kicherten, scheinbar verlegen, und Marta beherrschte sogar die Kunst, auf Kommando leicht zu erröten. Marisol atmete tief ein. Sie mochte den Duft der hohen Herren, die sich beinahe täglich wuschen und rasierten und immer frische Sachen trugen. Davides Bart war ganz kurz gestutzt und lief am Kinn spitz zu, was ihm etwas Verwegenes verlieh. Seine halblangen, gelockten braunen Haare fielen auf den Seidenschal, der Blick aus den tiefblauen Augen ruhte kurz auf den dreien, bevor er weiterstrebte.

Er maß sechs Fuß und war damit größer als die meisten seiner venezianischen Freunde, dank seiner breiten Schultern wirkte er geradezu athletisch. An den Schläfen zeigten seine Locken hier und da erste graue Strähnen. Mit nobler Blässe konnte er bedauerlicherweise nicht punkten. Wenige Strahlen der Frühlingssonne reichten schon aus, um seiner Gesichtshaut eine tiefbraune Farbe zu verleihen, im Hochsommer sah er beinahe aus wie ein Andalusier. Längst hatte Davide den Kampf gegen diesen Makel aufgegeben. Zumal er festgestellt hatte, dass die Damenwelt von dieser so unschicklichen Bräune offenbar magisch angezogen wurde.

Davide trug einen Tabarro, jenen typischen venezianischen Überwurfmantel, knöchellang und ohne Knöpfe, darunter ein eng anliegendes weißes Wams mit langen Ärmeln, die an den Enden mit Spitzenkrausen versehen waren. Im Gegensatz zur herrschenden Mode verzichtete er auf das Ausstopfen des Wamsfutters mit Rosshaar, was ihn noch ein wenig größer wirken ließ, seine schlanke Silhouette betonte und ihm außergewöhnlich gut stand. Die blau und rot gestreiften Pluderhosen waren bis knapp oberhalb des Knies weit geschnitten und lagen dann eng an bis zu den knöchelhohen Schnallenschuhen, mit deren Pflege sich Davide große Mühe gab. Was im feuchten, dreckigen Venedig alles andere als einfach, aber genau deswegen umso wichtiger war.

Von Marisol, die immer noch Davides Duft genoss und ihm seufzend hinterhersah, wusste niemand viel. Nicht einmal sie selbst. Ihre Eltern hatte sie nie kennengelernt, ihre erste Erinnerung waren Tischbeine und das Essen, das ihr hingeworfen wurde. Wie sie später erfuhr, war sie als Säugling vor einem Nonnenkloster abgelegt worden. Ein fehlerhaft geschriebener Brief in einem slawischen Dialekt erklärte nur, sie stamme aus Ragusa, die Mutter habe sie auf einer Handelsreise mit ihrem Ehemann zur Welt gebracht und könne nicht für sie sorgen, man möge sich ihrer annehmen.

Das Kloster war Marisols Welt, sie konnte sich keine andere vorstellen. Mit anderen Mädchen arbeitete und lernte sie, man brachte ihr das Lesen, Singen und Schreiben bei. Mit zwölf Jahren fand ihre Heirat mit Jesus Christus statt. Sie legte ein Gehorsams- und Keuschheitsgelübde ab, bekam einen Ring von der Äbtissin übergestreift und schwor: Ich liebe Christus, in dessen Bett ich eingestiegen bin. Die kleine Marisol mit blondem Haar so fein und glatt wie Seide und den frühreifen Rundungen, die bei ihr schon ab dem elften Lebensjahr sichtbar wurden, entpuppte sich als eine außergewöhnliche Sängerin. Wenn hin und wieder Mönche ins Kloster kamen, um die Letzte Ölung zu erteilen – dieses Privileg war den Nonnen verwehrt –, dann baten sie immer ausdrücklich um das »Ave Maria« von Marisol und blickten sie dabei seltsam an. Viele der älteren Nonnen nahmen bei ihr Gesangsstunden. Manchmal blieb es nicht beim Gesang – besonders die stellvertretende Äbtissin, eine noch junge Frau aus verarmtem Adel mit schöner Haut und schönen Zähnen, holte Marisol oft in ihre Zelle, in der sie einander »Wärme und reinste Freude« schenkten, wie es die Stellvertreterin nannte.

Ein paarmal durfte Marisol sie auf Reisen zu den Märkten begleiten, bald kamen sie regelmäßig nach Venedig, wo Marisol sich in einen jungen Marketender verguckte. Der verdrehte ihr den Kopf so sehr, dass sie eines Tages, von der Stellvertreterin unbemerkt, in den Gassen verschwand und zu ihm zog. Doch der Marketender war ein liederlicher Geselle, er hatte sich mit einer Unternehmung verhoben und floh vor den Schulden aus der Stadt. Marisol ließ er zurück, die, ganz auf sich allein gestellt, schnell merkte, wie sie am leichtesten Geld verdienen konnte.

Doch nun blieben die drei Dirnen zurück, gefangen in einer dezenten Wolke von Duft aus einer besseren Welt. Denn Davide war nicht wegen der Huren hier. Diese Zeit seines Lebens lag lange hinter ihm, diese Freuden hatte er ausgiebig gekostet. Mit Mitte dreißig wurde es Zeit, ein wenig solider, ehrbarer, umsichtiger zu werden. Als Sohn eines reichen Kaufmanns, dessen Name sogar im Goldenen Buch der Stadt eingetragen war, musste er allmählich anfangen, auf eigenen Füßen zu stehen. Der Vater war vor wenigen Jahren überraschend und viel zu jung verstorben, hatte dem einzigen Sohn aber eine Summe in Sach- und Geldwerten hinterlassen, die reichen würde, um selbst im teuren Venedig ein gutes Leben zu führen.

Davide durchschritt einen weiteren Saal, noch viel schöner und größer als der Vorraum. Der Terrazzo-Boden war frisch gesäubert und glänzte, die Spiegel waren diesmal tatsächlich mit Blattgold verziert. Der Saal reichte bis in das Stockwerk darüber, zu dem eine marmorne Wendeltreppe emporführte. Die Mitte des Saals füllte ein gewaltiger Eichentisch aus, um den herum drei bezaubernde Mädchen standen, keine älter als achtzehn, noch hübscher als das schon recht überzeugende, allerdings inoffizielle Empfangskomitee. Diese Mädchen waren keine Huren, sondern von Davide bezahlte Bedienstete, die den Herren behilflich waren, sie zu den jeweiligen Sälen führten und Vorbestellungen für die folgenden Tage entgegennahmen. Davide hatte die Bediensteten nicht nur nach Schönheit, sondern auch nach Gewandtheit ausgesucht. Sie sollten vollendete Gastgeberinnen sein. Und das Konzept ging aufs Geschmeidigste auf.

Auf dem Eichentisch standen Karaffen mit Wein, die sich in großen Tongefäßen befanden, die mit Gletschereis aus den Dolomiten gefüllt waren. Davide blieb am Tisch stehen und ließ sich einen Schluck einschenken. Zufrieden blickte er sich um.

Die höchsten Herren Venedigs schwirrten durch die Gänge, plauderten angeregt, eilten in das obere Stockwerk oder kamen von dort herab, erkennbar entspannt, gelöst, glücklich. Davide grüßte Maestro Rebechin, honoriges Mitglied des Großen Rats. Neben Rebechin lief der römische Kaufmann Andretti, der sich vor Jahren in Venedig niedergelassen hatte und sich mit unermüdlichem Eifer bemühte, ins Goldene Buch aufgenommen zu werden. Der Römer redete leise auf den Venezianer ein. Beinahe im Laufschritt stürmte der kahlköpfige Caracciola die Treppe herauf, ein prominenter Bankier vom Markusplatz. Er müsse später noch zu einem »wichtigen Treffen«, ließ er hastig jeden wissen, der ihm zunickte, was, wie Davide vermutete, lediglich eine dringende Verabredung mit einer seiner vielen Kurtisanen sein konnte.

Aus dem Büroraum im Erdgeschoss kam Andrea Marin auf Davide zu, ein stämmiger Mann mit kurzem Atem, die wenigen blonden Haare streng zurückgekämmt, die Augen, grünstichig wie von Algen durchsetztes Brackwasser, immer etwas unruhig durch die Gegend irrend. Trotz seiner dreißig Jahre war seine Nase rot, einige Adern auf der Wange zwischen rötlich und violett changierend. Er war genau der richtige Mann für Davides gewagte Unternehmung.

»Wie laufen die Geschäfte?«, fragte Davide Venier und legte seinen Tabarro ab.

»Gut, gut«, versicherte Andrea. »Siebzig Kunden heute, achtzig gestern und auch vorgestern. Alle zufrieden.«

»Schön. Was macht der Barbier?«

»Ist etwas gefügiger geworden. Ab und zu schlägt er noch einen allzu rauen Ton an, aber die Herrschaften scheinen dies zu schätzen.«

»Das habe ich mir gedacht. Marco hat eine ganz eigene Art, die bei einigen durchaus gut ankommt«, fand Davide.

»Den hohen Herren tut es bestimmt wohl, sich hin und wieder auch mal Widerworte von Subalternen anzuhören«, bestätigte Andrea.

»Ja, aber zu wild soll er es auch nicht treiben. Und wenn wir nicht aufpassen, wird der ganze Große Rat bald den gleichen Haarschnitt tragen.«

Andrea lachte nervös.

»Ich bleibe heute Abend nicht lange, doch wir sollten uns bald wegen der Revision zusammensetzen. Am besten gleich morgen. Zum Neun-Uhr-Läuten?«

»Oh ja, sicher, unbedingt«, entgegnete Andrea hastig.

Davide hatte die Idee für das Badehaus schon vor Längerem ausgebrütet. Viele seiner Reisen mit seinem Vater hatten ihn nach Padua geführt, zur Piazza delle Erbe. Dort gab es eine überdachte Konstruktion, in der man auf kleinstem Raum alles, wirklich alles finden konnte, was man für die Aufstockung seiner Vorräte und eine edle Tafel braucht: Metzger, Wildhändler, Käser, Fischhändler, Süßwaren- und Kräuterhändler, Stände mit Marmeladen, Suppen, Reduktionen, Torten, Honig, Nüssen und Mandeln, sich biegende banchi mit Obst und Gemüse, herangeschafft von allen Ufern des Mittelmeers. Damit war diese namenlose, in der Region Venetien einmalige Konstruktion mehr als nur ein Markt. Sie war eine Institution, ein Referenzpunkt, unabhängig von Wetter, Krieg, Epidemien oder Streik. Marketender hatten ihr unstetes Leben aufgegeben und hier einen starken Magneten für das gesamte Umland geschaffen, beschäftigten ihre eigenen Kaufleute und unterhielten Handelsnetze. Und die Paduaner konnten auf Armeslänge aus der Fülle des Angebots schöpfen, ob frischer Schweinsfuß oder weißer Trüffel, ob saftige Orangen aus Kampanien oder köstliche Aale aus dem Lesina-See.

Das hatte Davide auf die Idee gebracht, etwas Ähnliches in Venedig zu erschaffen. Aber nicht mit Lebensmitteln, sondern mit Dienstleistungen für die feinsten Herren der Serenissima. Er hatte dazu einen Palazzo in Santa Croce angemietet, gut erreichbar am Fondamenta de le Terese, den ihm ein Bekannter zu einem günstigen Zins überlassen hatte. Als Leiter der Unternehmung war ihm Andrea Marin empfohlen worden, ein gewiefter Kaufmann aus bestem Hause; Davide zog es nämlich vor, im Stillen zu wirken.

Und so waren in dem eigentümlichen Palazzo versammelt: ein Barbier, ein Kürschner, mehrere Näherinnen sowie Schuh- und Mantelputzer. Die Lederschuhe und Tabarri der feinen Herren gerieten auf den vielen Wegen arg in Mitleidenschaft – in keiner Stadt der Welt mussten selbst die nobelsten Herren mehr zu Fuß gehen als in Venedig, denn Kutschen oder Sänften kamen nirgends durch –, und so ließen die Signori ihre Mäntel mindestens einmal pro Woche kräftig ausbürsten. Weiterhin gab es einen Juwelier, einen Weinhändler, der kleine, tragbare Amphoren im Angebot hatte, gleich daneben schenkte ein aquavitiere Grappe und sonstige Getränke aus. Ein berettere verkaufte Hüte und Kappen, ein cartere Spielkarten, ein Seifenmacher duftende Seifen. All die Händler befanden sich im ersten Stock und hatten ihre Waren auf Holztischen ausgebreitet. Sie mussten eine Standgebühr und eine Umsatzbeteiligung zahlen, die im ersten Jahr noch äußerst niedrig war. Schließlich handelte es sich um einen unternehmerischen Versuch. Davide und auch Andrea achteten darauf, dass es nicht marktschreierisch, sondern dezent und rundum signorile zuging.

Doch Davides Geniestreich war der oberste Stock. Dorthin hatte er Badewannen schaffen lassen, die ständig mit heißem Wasser gefüllt wurden – eine mühselige Schlepperei, deren Kosten die Badenden allerdings bereitwillig übernahmen. Danach konnten die Herren, frisch und weich, sich auf teuren Daunenbetten von Masseuren nach allen Regeln der Kunst durchkneten lassen. Dieses Stockwerk bot genau das, was in Venedig gefehlt hatte: ein echtes Badehaus, das sich schnell auch als Ort für beste Geschäfte entpuppte. Keine Frage, Davide hatte eine fabelhafte Idee gehabt – die allerdings auch schon die antiken Römer und die Osmanen gehabt hatten. Er bildete sich wenig darauf ein. Dutzende von Gondeln verstopften beinahe jeden Abend den kleinen Kanal vor der Haustür. Die Privat-Gondolieri der hohen Herren blickten sehnsüchtig an den Mauern des Palazzo hoch, aus dessen Innerem das Kerzenlicht, verstärkt durch die vielen Spiegel, nach außen drang.

Nun war es so, dass just im Februar desselben Jahres der Große Rat beschlossen hatte, alle ridotti schließen zu lassen und deren Betreiber mit empfindlichen Geldstrafen zu belegen. Doch mit diesen illegalen Spielstätten hatte der Palazzo wirklich nichts zu tun, denn im Beschluss wurden die Spielhallen als »certe piccole case, o stanze, ove una determinata compagnia si raccoglie a passare col giuoco, o con qualche altro trattenimento, specialmente l’ore notturne« definiert, und von einer Spielhölle oder gar exzessiven nächtlichen Vergnügungen, von denen der Beschluss sprach, konnte hier keine Rede sein.

Um den Palazzo rankten sich bei der einfachen Bevölkerung dennoch bald allerlei Gerüchte. Der Wein werde aus Murano-Glas mit Goldrand ausgeschenkt, nackte Jungfrauen seien den hohen Herren rund um die Uhr zu Diensten, Orgien an der Tagesordnung. Der Ort bekam den Spitznamen palazzo delle troie, »Palast der Schlampen«. Davide war diese Art von Werbung durchaus recht.

Die Wirklichkeit war natürlich viel unspektakulärer. Der Weinhändler hatte sich zu einer regelrechten Anlaufstation für den abendlichen Aperitivo entwickelt. Viele Signori kamen aus den Ratssitzungen direkt hierher, ließen sich rasieren und massieren und dabei ihre Wäsche in Ordnung bringen, und dann tranken sie die ersten Weine, bevor sie zu den Gesellschaften, den Nachtdiners oder ihren Würfel- und Kartenrunden weiterzogen. Zwar wurden diese seit einigen Monaten als illegal betrachtet, doch wer scherte sich schon um einen Beschluss des Großen Rats?

Dass um den Palazzo herum immer mehr auf eigene Rechnung arbeitende Huren auftauchten, empfand Davide als vorteilhaft, aber aus rein geschäftlichen Gründen. Edle Huren, hübsch, sauber und gesund, konnten das Geschäft als Ganzes nur befeuern. Davide fiel auf, dass sich immer mehr Gespräche zwischen den Signori und den Huren anbahnten. Sollte er vielleicht ein paar Räume zur Verfügung stellen, in denen sich die Herren mit ihren Stundenpartnerinnen diskret zurückziehen konnten? Und den palazzo delle troie ein wenig mehr in diese Richtung entwickeln? Andererseits käme es dann wohl unweigerlich zu einer Konfrontation mit dem Großen Rat. Also vertagte er diese Entscheidung.

Alles in allem schien das Badehaus ein gutes Geschäft zu werden. Natürlich, gerade im ersten Jahr musste noch ordentlich investiert werden, und die Summen, die Davide seinem Verwalter zuschob, waren äußerst hoch. Auch deswegen wollte er am folgenden Tag das Gespräch führen.

Wäre Davide nur ein wenig aufmerksamer, ein wenig abgeklärter gewesen, dann hätte er vielleicht gemerkt, dass am heutigen Tage irgendetwas nicht stimmte. Gäste wie Angestellte begrüßten ihn eher verhalten, viele wandten sogar den Blick ab. Doch der gut aussehende, freundliche, generöse, ja fast ein wenig naive Davide Venier mit seinem sonnigen Gemüt bemerkte nicht, dass sich tiefdunkle Wolken über ihm zusammenbrauten.

»Kehre nur zeitig heim, das macht mir keine Umstände, ich habe alles im Griff«, lächelte Andrea.

»Also morgen früh?«

»Gern, ich werde hier sein.«

»Dann geh auch du zur guten Stunde heim, damit du ausreichend Schlaf bekommst. Morgen gibt es viel zu tun.«

Andrea lachte nur vielsagend und wandte sich einem orientalisch wirkenden Gast zu, der gerade hereingetreten war.

Davide machte noch einen kurzen Kontrollgang und begrüßte einige treue Gäste in den oberen Stockwerken, warf aber bald seinen Tabarro wieder über und begab sich zu seiner Gondel.

 

 

 

 

Der treue Enrico, der das Ruder am Heck bediente, hatte auf ihn gewartet. Der Ruderbursche am Bug dagegen war neu im Dienst, stellte sich aber geschickt an. Nun schnitt der Rumpf durch die gluckernde Schwärze. Die Gondolieri ruderten so zügig, dass die vertäuten Boote an den Ufern links und rechts in der Heckwelle ins Schwanken gerieten. Die Gondel raste geradezu dahin, was um diese Zeit gut möglich war, ohne hektischen Gegenverkehr, ohne träge Lastkähne, die in der Enge anzulanden und ihre Waren zu löschen versuchten. Es war kühl geworden, aber noch nicht neblig – eine klare Nacht. Davide blickte zu den Sternen, die über den Häuserschluchten der schmalen Kanäle sichtbar waren, dann schloss er die Augen und genoss den erfrischenden Fahrtwind, den salzigen Duft des Wassers. Irgendwo kläffte ein Hund, linker Hand schimpfte ein Fischer. »Verdammte Netze«, zischte er und versuchte, Ordnung in das Wirrwarr zu bringen.

Enricos Ruder tauchte gleichmäßig in das nächtliche Kanalwasser ein. Seine Eltern waren aus Tirol nach Venedig gezogen; Enricos Vater, ein Tischler, arbeitete noch immer in einer der Gondelwerften in Dorsoduro. Enrico, eigentlich Heinrich, war ein hagerer, zäher Kerl mit alterslosem, wettergegerbtem Gesicht. Er hatte schon bei Davides Vater in Diensten gestanden. Vater wie Sohn schätzten seine Maulfaulheit, er war kein tratschendes Weib wie so viele seiner Berufskollegen. Diese Verschwiegenheit kam den Veniers ein ums andere Mal zupass, besonders wenn es um nächtliche Besuche bei Damen ging, die einen Ruf zu verlieren hatten. Auch dem Ruderburschen, einem entfernten Verwandten Enricos, würde Davide vertrauen können.

»Wie war dein Tag, mein lieber Enrico?«

»Viel Ruderei, allein zwei Mal zum Rialtomarkt und zurück«, knurrte er in gewohnter Manier.

»Zum Rialtomarkt? Dann darf ich mich wohl auf ein köstliches Nachtmahl freuen.«

»Ich denke, heute Nacht könnte das ganze Arsenale bei Euch speisen, Herr.«

Davide lachte auf. Rigoberto, sein Koch, ein mächtiger Mann, an dem immer alles glänzte, die Stirn, die Glatze, die Unterarme, meinte es stets gut mit seinem Herrn. Davide erwartete heute Abend nur einen einzigen Gast: Veronica Bellini, der Grund dafür, warum Davide seinem ausschweifenden Leben abgeschworen hatte. Aus ihm war jetzt, wie es seine Freunde nannten, »ein Mann mit gestutzten Schwingen« geworden.

Sie zogen über den Rio di San Nicolò dei Mendicoli, den Rio dell’ Anzolo Rafael und den langen Rio dei Tolentini nordostwärts Richtung Canal Grande zu dem Palazzo, den der Vater gekauft hatte und den Davide nun allein mit seinen drei Bediensteten bewohnte.

Als sie sich dem Palazzo näherten, bemerkte Davide mehrere Gondeln am hauseigenen Anleger. »Haben wir denn Gäste?«, fragte er stirnrunzelnd.

»Ich weiß von nichts, Herr.« Enrico verlangsamte die Fahrt und bremste schließlich mit dem Ruder.

»Nun, Veronica wollte kommen. Sie wird doch nicht ihren Ehemann mitgebracht haben?«

Jetzt musste Enrico doch einmal schmunzeln. Diese Vorstellung war allzu kurios.

Nach einem geschickten Manöver glitt die Gondel längsseits an den anderen Gondeln entlang; der Ruderbursche brachte sie mit der Hand am Rumpf der anderen Boote zum Stehen.

An dem hölzernen Anleger vor dem Palazzo stand ein Grüppchen von drei Männern. Zwei waren von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, ein Dritter trug einen prächtigen roten Umhang, der selbst in der Nacht zu leuchten schien. Etwas weiter im Hintergrund befanden sich noch mehr Männer: eine kleine Eskorte, ein Hauptmann mit zwei Soldaten. Die Gesichter lagen im Schatten.

»Na, hast du schon einmal so einen Auftrieb vor unserer Pforte gesehen?«, wunderte sich Davide. Erst als er, über die anderen Gondeln steigend, seinen Anleger erreichte, erkannte er, welch merkwürdige Gesellschaft sich da versammelt hatte – und die Erkenntnis schockierte ihn.

»Eure Hausdame hat uns den Zugang verwehrt, daher haben wir hier gewartet«, rief einer der Schwarzgekleideten, wie um sich zu entschuldigen. Auch wenn der Ton nicht nach einer Entschuldigung klang.

Als Erstes erkannte Davide den Mann in Rot. Das hagere Gesicht mit der großen, schief gewachsenen Nase konnte nur Rotrobe Severgnini gehören, einem der drei gefürchteten Inquisitoren der Serenissima. Was um alles in der Welt …? Doch Davide konnte sich noch immer nicht vorstellen, was das alles zu bedeuten hatte.

»Ja, meine Dame ist allerdings resolut. Aber ich bitte Euch inständig, ihr Verhalten zu entschuldigen, handelt sie doch ganz nach meinen Anweisungen«, gab sich der Hausherr leutselig. »Darf ich Euch auf ein Glas Wein hereinbitten?«

Nun erkannte er auch die anderen beiden Inquisitoren. Der eine war ein älterer, unnahbarer Edelmann mit dem recht unpassenden Namen Gioia, der erst vor wenigen Jahren aus Verona nach Venedig gekommen war und sich bemerkenswert schnell die Gunst des städtischen Adels gesichert hatte; der andere Valentino Lucari, der gute Vale, ein alter Trinkkamerad, dessen noble Züge von schweren Pockennarben entstellt waren. Davide lächelte ihm zu. Valentino senkte den Blick.

»Ehrlich gesagt würden wir Euch gerne zu uns bitten«, sagte Severgnini bedächtig.

Valentino räusperte sich verlegen.

Davide blickte die Inquisitoren mit großen Augen an. Die Zeit schien sich zu verlangsamen. Eine Weile lang war es völlig still, nur das Gluckern der Wellen war zu hören, ein oder zwei Ruderschläge, knarrende Bootsplanken. Mit zu ihnen?, wunderte sich Davide. Was wird hier gespielt?

»Habe ich denn etwas ausgefressen? Mein Gewissen ist rein, jedenfalls wenn es sich um Anschuldigungen handelt, die das Erscheinen von Inquisitoren erfordern.«

»Nun, tatsächlich gibt es da ein paar … nennen wir es vorläufig malintesi, die es unabdingbar machen, dass Ihr uns in den Palazzo Ducale begleitet.« Severgnini schien sich seine Worte auf der Zunge zergehen zu lassen.

»Welche Anschuldigungen? Von wem?«

»Wir werden darüber am besten im Palazzo reden.« Gioia trat nun vor und gab sich betont kühl. Auch die Soldaten kamen näher heran.

»Ich bin überzeugt, dass sich alle Missverständnisse aufklären lassen«, sagte Davide mit trockenem Mund.

»Wir werden sehen. Brechen wir nun auf«, bestimmte Severgnini.

»Mit meiner oder …«

»Mit einer unserer Gondeln, wenn es beliebt.«

Ein überraschter Schrei drang vom Kanal her durch die Nacht. Veronica Bellini stand vor der Felze ihrer Gondel und blickte auf die vielen Männer. »Davide, was ist passiert?«, rief sie, noch bevor ihr Gondoliere, ein alter Kerl namens Bartolomeo, den Bug gedreht hatte. Er hielt Abstand, unschlüssig, ob er anlegen sollte oder nicht.

»Eine dringende geschäftliche Zusammenkunft.« Davide versuchte, so ruhig wie möglich zu klingen.

»Um diese Zeit? Mit diesen Herren?«, schnaubte Veronica verächtlich. Sie konnte schnell wütend werden, erst recht auf die selbstherrlichen inquisitori, die in der Stadt verhasst und gefürchtet waren. Veronica, die ganz unweiblich die Hände in die Hüften gestemmt hatte, fürchtete sich nicht. Auch wenn sie ebenso wie Davide wusste, dass mit den Inquisitoren nicht zu spaßen war, standen sie doch im ansonsten wohlverzahnten Machtgefüge Venedigs völlig neben und über den Dingen.

Rotrobe Severgnini teilte die Passagiere auf die Boote auf, Davide, die Inquisitoren und die Soldaten bestiegen die Gondeln. Einer der Gondolieri schob mit einem groben Fußtritt den Bug von Davides Gondel zur Seite, so dass nicht nur der Rumpf, sondern auch die Gondolieri ins Schwanken gerieten.

Da platzte auch Davide der Kragen. »Jetzt sieh dich aber mal vor, mein junger Freund!«, drohte er dem Ruderer und erhob die Faust.

Der Angesprochene, noch mit pusteligen Pickeln im Gesicht, zuckte nur mit den Schultern und grinste.

Davide wollte noch etwas sagen, konnte sich aber beherrschen und schluckte seinen Ärger hinunter. Er musste jetzt konzentriert sein. Nachdenken. Welche Missverständnisse? Was warf man ihm vor? Wer könnte ihn denunziert haben? Hatte das alles mit seinem Palazzo zu tun? Doch was tat er dort Unrechtes? Mit verschränkten Armen nahm er vor der Felze Platz.

Die Boote zogen nur eine Armlänge an Veronicas Gondel vorbei. Davide warf ihr einen Blick zu. Veronicas fußlanger Mantel besaß nach der neuen Mode geschlitzte Ärmel, was den Männern sehr gefiel. Darunter verbargen sich ein Kleid und ein straff geschnürtes Mieder. Ihre Kothurnen, Schnürschuhe, die sich eng an die Füße schmiegten, waren mit einer hohen Holzsohle versehen. Die sonst so vollen, verführerischen Lippen kniff sie zusammen. Sie trug die Haare geflochten und am Hinterkopf hochgesteckt, an jeder Wange fiel spielerisch eine Locke herab. Das Haarnetz über ihrem schwarzen Haar war mit Gold und Edelsteinen bestickt, die im Licht der Sterne funkelten, von den Ohrläppchen verströmten Perlen ihr milchiges Licht.

Auch Veronica schien ebenso wenig wie er zu begreifen, was gespielt wurde. Die skurrile Prozession – die drei Inquisitoren in je einer Gondel voran, dahinter Davide, dahinter die Gondel mit zwei Ruderern und den drei Soldaten – bog nach Steuerbord auf den Canal Grande ein. Dort war noch das eine oder andere Boot unterwegs. Die Ruderer hielten allesamt inne und blickten der seltsamen Bootskarawane hinterher.

Alles kam Davide wie ein dunkler Traum vor, als hätten sich die Maschen des Unwirklichen über ihn gelegt. Dann wieder fühlte er sich, als wäre er ein Zuschauer in einem Szenario, das ihn nichts anging.

Die Gondeln unterquerten die hölzerne Rialtobrücke und ließen zügig den Bogen des Canal Grande hinter sich. In den Palazzi flackerten die Öllampen lustig, Schatten prosteten einander zu, auf den Balkonen schaute man auf die Gondeln herab. Davide blickte nur auf die Rumpfplanken aus Tannenholz unter seinen Schuhen. Was passierte hier? Was wurde ihm vorgeworfen?

Die Gondolieri legten vor dem um diese Zeit menschenleeren Markusplatz an, schoben die Rümpfe ihrer Gondeln an die Anleger und vertäuten die Boote. Die Inquisitoren, Davide und die Soldaten schritten in Richtung Dogenpalast. Davide ging mit gesenktem Kopf. Er schämte sich, ohne zu wissen, wofür. Er hatte keinen Blick für die Scala dei Giganti, die Skulpturen, die Fresken, die Gemälde. Und ehe sich Davide, immer noch wie in einem Albtraum gefangen, versah, blieben die Inquisitoren zurück. Die Soldaten begleiteten ihn zu den piombi, den Bleikammern unter dem Dach des Palastes.

Als sich die Tür hinter ihm schloss, drehte Davide sich noch einmal protestierend um. Doch bevor er etwas sagen konnte, rief der Hauptmann: »Man wird Euch am Morgen anhören.«

 

 

Veronica atmete immer noch schwer, als die Gondel an ihrem Palazzo nicht weit vom Markusplatz anlegte. Sie war die Frau des Patriziers Riccardo Bellini. Riccardo hatte einen amorphen, beinahe konturlosen Körper und ein freundliches Gesicht mit hellen Augen. Doch was ihn beinahe in der ganzen Stadt bekannt machte, war sein ungewöhnlich volles, lockiges Haar von leuchtendem Rot, das über den Augenbrauen zu beginnen schien und eine Art zweiten Kopf bildete. Jeden Versuch der Zähmung hatte er längst aufgegeben, ja, er hatte sogar eingesehen, dass der lodernde Feuerkopf für ihn von Vorteil war, ein unverwechselbares Merkmal, auf das er mittlerweile regelrecht stolz war. Die Mähne erinnerte an einen Chow-Chow, jene Hunde mit buschigem Fell aus dem fernen China, die immer mal wieder von Orientalen zum Kauf angeboten wurden, und sie verlockte Kinder zu frechen Rufen. Im Karneval kam es hin und wieder vor, dass jemand ihn an den Haaren zog, weil er glaubte, es wäre eine Perücke, und der gutmütige Riccardo ließ es geschehen. Besonders prächtig war der Anblick seiner Mähne, wenn Riccardo aufrecht in seiner Gondel stand und sein Schopf wie eine Fahne im Fahrtwind hin- und herwogte.

Veronica stürmte an den verblüfften Bediensteten vorbei ins piano nobile, wo Riccardo schon an dem großen Holztisch mit der Platte aus Carrara-Marmor saß. Vor sich hatte er eine Karaffe Wein und eine gewaltige Schüssel mit moeche, Krebsen der Lagune, die kurz nach der Häutung eine weiche Schale hatten und deshalb, in Öl frittiert, im Ganzen gegessen werden konnten, mit Beinen und Scheren. Mit großem Vergnügen machte er sich gerade über die Schüssel her; ein Stofflatz schützte sein blütenweißes Hemd, von seinen Händen tropfte das Öl. Der Akt des Essens sah bei Riccardo nicht besonders appetitlich aus, aber das machte weder ihm noch Veronica etwas aus.

Riccardo war enorm reich. Dafür hatte der fleißige Vater gesorgt, der mit Tuch gehandelt hatte, aber auch Riccardo bewies im Umgang mit Ware und Händlern einiges Geschick. In Venedig war er hoch angesehen – auch das hatte er seiner Familie zu verdanken, deren Name sogar im Goldenen Buch der Stadt stand. Mithin war Riccardo Mitglied des Großen Rats. Doch so glänzend er geschäftlich dastand, in privaten Dingen war die Sache etwas komplizierter. In den fünf Jahren ihrer Ehe hatten Veronica und Riccardo drei Mal miteinander geschlafen, und derzeit sah es nicht so aus, als stünde das vierte Mal unmittelbar oder auch nur mittelbar bevor. Die Ehe war kinderlos und würde es wohl auch bleiben, denn Riccardo war den Männern zugeneigt, wie die ganze Lagune wusste. Um sich gar nicht erst wegen seiner Neigung erpressen zu lassen, lebte er sie nach dem Tod seines gestrengen Vaters offen aus und ließ auch seiner Frau alle Freiheiten. Was in anderen Städten ein ungeheurer Skandal gewesen wäre, ja sogar Verbannung oder die Todesstrafe nach sich gezogen hätte, wurde in Venedig zumindest toleriert. Kein Wunder, da doch in den vier Monaten des Karnevals ohnehin die halbe Stadt übereinanderlag und von vielen Freigeistern kein Unterschied zwischen Mann und Frau gemacht wurde. Wenn das der heilige Marco wüsste, raunten zwar so manche Alte, doch in einer Stadt, die so sehr von Einfluss, Macht und Geld lebte, zählte die Meinung derer, die nur gelangweilt herumsaßen und ihren chiacchiere nachgingen, nicht viel.

»Davide ist verhaftet«, stieß Veronica hervor.

Riccardo blickte verblüfft auf. »Was meint Ihr?«

»Sie haben ihn mit in den Dogenpalast genommen.«

»Beruhigt Euch, es handelt sich sicher um ein Missverständnis.« Riccardo schnappte sich den nächsten Krebs.

»Es waren die Inquisitoren.«

Nun hielt Veronicas Ehemann inne. Davide und Riccardo hatten sich immer gut verstanden, vor allem seit Davide durch ein cleveres Dopplungsspiel im Würfeln den hilflosen Riccardo vor einem schmerzlichen Verlust bewahrt hatte. Riccardo konnte zudem seine Ehe formal weiterführen und wusste seine Frau, die er sehr mochte, in guten Händen. Ein Arrangement, das allen dreien zum Besten diente.

»Ihr wisst von nichts?«

»Nein, natürlich nicht.« Im Mundwinkel hing ihm eine Krebsschere, ein Anblick, den sie unter anderen Umständen höchst lustig gefunden hätte.

»Tut mir einen Gefallen, hört Euch gleich morgen bei Euren Freunden vom Großen Rat um.«

»Das werde ich tun. Moeche? Wirklich exzellent. Frisch vom Markt und zart.« Riccardo schob ihr die Schüssel entgegen.

Veronica wandte sich wortlos ab und ging in Richtung Schlafzimmer. Auf der Türschwelle drehte sie doch noch einmal um, kehrte zum Tisch zurück und schnappte sich einen frittierten Krebs.

 

 

Was geschah hier? Konnte das wahr sein? Davide sah fassungslos durch das winzige Guckloch der eisernen Tür dem Hauptmann und den beiden Soldaten hinterher, die sich entfernten. Eine leichte Panik stieg in ihm auf.

Er blickte sich um. Und sah, dass er nicht allein in der Zelle war, einem annähernd quadratischen Raum, der wohl zehn mal zehn Fuß maß und von einstmals weiß getünchtem, längst grauschwarz gewordenem Gemäuer umfasst war. Eine armdicke Kerze in einem geschmiedeten Gestell spendete etwas Licht; ihr Schein tanzte in den wenigen hell gebliebenen Resten des Kalkmörtels. Auf einem der drei Steinvorsprünge kauerte ein Mann. Die Brust unter seinem weißen Hemd, schon arg verdreckt und an mehreren Stellen gerissen, hob und senkte sich gleichmäßig. Auf dem Boden lag eine Stoffdecke und standen zwei Krüge, einer mit Wasser, einer für die Notdurft.

Davide näherte sich seinem Zellengenossen. Er war offenbar ein sehr alter Mann, der dichte Bart grau. Er schlief. Und schnarchte dabei so gleichmäßig, als wäre er auf einer Kur in den toskanischen Thermen.

Während Davide den selig Schlafenden betrachtete, kam ihm eine Idee, die ihn beruhigte. War er vielleicht das Opfer eines dieser derben Junggesellenscherze? Venezianische Adlige mit zu viel Geld hatten aus Langeweile schon die tollsten Dinge getrieben. Nicht selten war Davide mittendrin und an den Taten beteiligt gewesen. Einmal hatten sie den Kaufmannssohn Gradenigo tüchtig betrunken gemacht und ihn, als er in tiefen Schlummer gefallen war, bis auf das Unterwams ausgezogen, zum Rialtomarkt geschleift und dort gefesselt liegen gelassen. Er war erst aufgewacht, als der Markt schon in vollem Gange war und sich eine Menschentraube um ihn gebildet hatte. Es hieß, er sei so rot gewesen wie ein frisch gebrühter Taschenkrebs, und schwer zu sagen, ob die Röte in den Wangen von der Scham, vom vielen Wein im Blut oder von der empfindlichen Kälte an jenem Morgen herrührte.

Oder Cisalbo, dessen Gondel sie in der Nacht vor einer Ratssitzung mit Dutzenden Tauen so kunstvoll und fest am Anleger verknotet hatten, dass der gute Cisalbo und seine armen Gondolieri eine geschlagene Stunde brauchten, um das Boot freizulegen. Das hatte zu einer drastischen Verspätung bei der Ratssitzung geführt und hätte um ein Haar Cisalbos Ausschluss bedeutet. Ein anderes Mal hatten sie den Hauptgang des mürrischen Grattardi beim Empfang für den französischen König so gründlich mit Peperoncino eingerieben, dass dem armen Prokurator Tränen des Schmerzes aus den Augen liefen, während die Anwesenden Tränen lachten.

Solche derben Scherze wurden besonders gern an den Geburtstagen der armen Opfer veranstaltet, und obgleich Davides Wiegenfest noch fern war, hielt er die Erklärung, dass es sich um einen gigantischen Jux handelte, für schlüssig. Valentino war ja auch dabei gewesen. Vielleicht hatte der alles eingefädelt, und morgen gäbe es die große Auflösung samt Wein und einem Festbankett.

Aber selbst wenn es Vorwürfe gegen ihn gab, wenn ihn ein Neider denunziert hatte: Was sollte ihm schon passieren? Dies war Venedig. Seine Stadt. Randvoll mit Freunden. Er hatte zu allen Institutionen hervorragende Kontakte, die noch sein Vater geknüpft hatte. Beim besten Willen konnte er sich nicht vorstellen, dass ihm jemand Übles wollte.

Die Inquisitoren waren eine recht neue Instanz in der jahrhundertealten Gewaltenteilung der Republik Venedig. Zwei von ihnen wurden für jeweils ein Jahr aus dem Rat der Zehn gewählt; sie waren in Schwarz gekleidet. Einer wurde vom Dogen selbst bestimmt und trug Rot. Ihre Aufgabe bestand vor allem darin, Strafen für die nobili auszusprechen, meist wegen Spionage oder Verrat. Und damit, da war sich Davide sicher, hatte er wirklich nichts am Hut.

Doch nun war es wohl an der Zeit, ein wenig zu schlafen. Wenn dieser alte Mann so friedlich schlummerte, dann konnte er es hoffentlich auch. Das Schnarchen wirkte nicht störend, sondern in seiner grenzenlosen Unbesorgtheit regelrecht einschläfernd. Davide wählte den Mauervorsprung auf der gegenüberliegenden Seite, zog das Hemd aus und wickelte sich in die Decke ein. Erst jetzt merkte er, wie warm es hier war. Da die neuen Gefängniszellen direkt unter dem Dach des Dogenpalastes lagen, würde man nicht nur im Sommer, sondern schon im Frühjahr hier mächtig schwitzen. Das allerdings würde kein Problem mehr für Davide darstellen. Also benutzte er die Decke als Laken, das Hemd als Kissen und legte sich auf den Rücken, betrachtete die flackernde Kerze und ihren Widerschein in den Kanten und Fugen. An viele Stunden Schlaf war nicht zu denken, aber am Ende siegte sein Optimismus, und er nickte zwei Stunden vor Sonnenaufgang ein.

 

 

Kapitel 2Die Anklage

Die Engel sangen und strebten dem himmlischen Licht entgegen, das aus einer Wolkenlücke brach. Jacopo Robusti, genannt Tintoretto, hatte dem Saal erst im vergangenen Jahr mit seinen fünf Deckengemälden zu neuem Prunk verholfen. Weisheit, Verschwiegenheit und Gerechtigkeit sollten die allegorischen Bilder darstellen. Der gute Tintoretto, ein ebenso furioser Maler wie Trinker, mit dem Davide schon viele Becher geleert hatte. Ein enger Freund. Wenn das kein gutes Omen war! Unter seinen Bildern fühlte sich Davide plötzlich eigentümlich sicher. Der Sala degli Inquisitori lag im ersten Stockwerk des Dogenpalastes; eine Treppe führte direkt von den Bleikammern herab. Davide war von zwei Soldaten in den Raum geführt und zu einem schlichten Stuhl geleitet worden; danach ließen sie ihn allein.

Davide wartete und wartete. Das hielt er für ein gutes Zeichen: Allzu dringend schien seine Angelegenheit demnach nicht zu sein, es handelte sich sicher nur um eine verwaltungstechnische Feinheit und nicht um einen ernstlichen Vorwurf. Oder eben um einen Streich unter Freunden. Er hoffte, seine lustige Clique würde jeden Augenblick hereinstürmen. Endlich – es mochte eine Stunde vergangen sein – erschienen die Herren Severgnini, Gioia und Lucari wie am Vorabend in einer roten und zwei schwarzen Roben. Sie würdigten Davide keines Blickes, als sie den Saal betraten. Auch die Soldaten kamen wieder herein und flankierten Davide.

So prächtig dieser Raum sich auch ausnahm, so merkwürdig war die Sitzbank der Inquisitoren geschnitzt. Ganz eng mussten die drei hohen Herren auf einer wahrlich streng gezimmerten, dreigeteilten Bank mit viel zu hoch ausgeführten, nicht gerade kommoden Armlehnen hocken; offenbar hatte der Schreiner damit die Geschlossenheit der Entscheidungsfindung ausdrücken wollen. Umständlich zwängten sich die hohen Herren auf ihre Plätze, falteten mehrmals ihre Roben, standen auf und setzten sich unter Räuspern erneut. Es sah doch allzu komisch aus. Davide erwartete, dass jeden Augenblick die Fanfare ertönen und das Schauspiel zur groß angelegten Posse erklären würde. Und wer immer dahintersteckte, sollte es tüchtig büßen, schwor er, jetzt beinahe heiter gestimmt. Er rang sich sogar ein Lächeln ab. Niemand grüßte Davide, also schwieg auch er.

Severgnini räusperte sich ein weiteres Mal und breitete umständlich einige Papiere vor sich aus. »Aus großem Respekt vor Eurem Vater, der viel für die Republik getan hat, steht Ihr hier vor uns Inquisitoren. Das bringt Euch um die Schmach eines öffentlichen Prozesses.«

Die Worte trafen Davide wie heißes Pech. Doch die Unverschämtheit, die darin lag, bewirkte, dass es ihm jetzt zu viel wurde. Er sprang auf. »Die Schmach eines öffentlichen Prozesses? Ich bin mir keiner Schuld bewusst und habe ein gänzlich reines Gewissen«, gab er wütend zurück.

»Darf ich Euch bitten, dass Ihr Euch setzt? Es wird wohl ein längerer Tag für uns alle werden«, beruhigte ihn sein Freund Valentino Lucari, allerdings ohne aufzublicken.

Er sprach nicht als Freund zu ihm, ließ keine Verbundenheit ahnen. War es nur der Förmlichkeit des Anlasses geschuldet? Davide setzte sich, nun auf eine bemerkenswerte Art ruhig.

»Große Worte, Herr Venier. Uns liegen leider schwere Anschuldigungen vor«, mischte sich nun Gioia ein.

Davide fiel auf: Noch immer hatte keiner der Inquisitoren ihm in die Augen geschaut. »Welche Anschuldigungen sollen das sein?«

Wieder raschelte Severgnini fleißig mit den vor ihm liegenden Papieren; es schien sich um eine zwanghafte Geste zu handeln. »Nun, da wären …« 

Und mit diesen Worten begann der Albtraum, der so düster war, dass Davide auch Jahre später sich kaum noch an irgendwelche Einzelheiten erinnern konnte. Die Vorwürfe lauteten auf Hehlerei, Unterschlagung, Betrug, Kuppelei und noch einiges Schlimmes mehr. Dutzende von Zeugen erschienen, die alle von den Soldaten hereingeführt wurden und hinter Davide Aufstellung zu nehmen hatten. Davide musste sich jedes Mal mühsam umdrehen.

Als Erster kam Andretti herein, der verschlagene Römer, der aussagte, dass ihm auf Davides Geheiß Dirnen zugeführt worden seien, die ihm auch noch, als er allzu tief in den Weinbecher geschaut hatte, mehr Dukaten als vereinbart abgeknöpft hätten. Davide war sprachlos, begehrte auf, wurde von den Soldaten zurück auf seinen Sitz gedrückt. Weiterhin traten Händler ein, die Davide noch nie zuvor gesehen hatte. Sie berichteten davon, übervorteilt worden zu sein, von ausstehenden Zahlungen, gar von Raub und Erpressung. Männer, die Davide nur vom Sehen kannte, erzählten von Kuppelei, von Orgien, und das in Einzelheiten, die selbst einen Lebemann wie Davide, der schon alles gesehen zu haben glaubte, erstaunten. Der dicke Kaufmann Barbatto mit den unansehnlichen roten Flecken im Gesicht warf ihm vor, sein Dienstmädchen unsittlich berührt und sogar dem jungen Koch nachgestellt zu haben.

Es war eine wohldurchdachte Dramaturgie, denn mit jedem Zeugen wurden die Vorwürfe heftiger, schwerwiegender. Das Herz schlug Davide bis in die Kehle, die Wut ließ ihn rot anlaufen, ihm blieb regelrecht die Luft weg. Doch irgendwann stellte sich, wie zu Beginn des Prozesses, eine eigentümliche Ruhe ein. Davide war, wie viele nobili, ein begeisterter Spieler. Und hier hielt er eindeutig ein ganz schlechtes Blatt in der Hand. Die einzige Chance bestand im Abwarten. Bislang hatte er Pech, doch irgendwann musste sein Trumpf kommen.

Nach einer schier endlosen Zahl von Zeugen, die unbeschreibliche Vorwürfe gegen ihn vorbrachten, wandte sich Severgnini endlich an den Angeklagten. »Was habt Ihr zu all den Vorwürfen zu sagen?«

»Ändert denn meine Meinung etwas?«, entgegnete Davide sarkastisch.

»Ich erinnere Euch nochmals daran, dass Ihr eine privilegierte Verhandlung genießt. Wir sind nicht Eure Ankläger, aber auch nicht Eure Verteidiger. Wir fungieren als Richter«, lächelte Severgnini, der es allzu offensichtlich genoss, Herr über das Schicksal anderer zu sein.

Je mehr Fausthiebe kamen, desto zäher wurde Davide. Die dunkle Wolke um ihn herum wurde immer dichter, schloss ihn in seiner Verzweiflung ein, und irgendwann war die Düsternis einfach nicht mehr steigerbar. Er spürte jetzt eher seinen Hunger und seinen Harndrang. Geradezu fatalistisch fügte er sich in das, was nun kommen würde.

Der vorläufige Höhepunkt der offensichtlichen Posse war der Auftritt seines Kochs Rigoberto, der zwar verlegen stotterte, aber doch abstruse Beschuldigungen über nicht geflossene Zahlungen vorbrachte; auch habe Davide ihm mit Denunziation gedroht und ihn mit vielerlei perfiden Mitteln erpresst. Doch was jetzt folgte, traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube. Als Zeuge trat nun Enrico auf, sein treuer Gondoliere, der schon seinen Vater durch die Kanäle gesteuert hatte. Auch er war verlegen, verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere. Und brachte dann stockend hervor, wie er Davide zu konspirativen Treffen im Fontego dei Turchi gefahren habe, wo sein Herr nächtelang mit den Osmanen palavert habe. Was genau dort besprochen worden sei, wisse er zwar nicht, aber es sei ihm immer sehr verdächtig vorgekommen, weil sein Herr stets bemüht war, zu den Treffen möglichst unauffällig zu fahren, über Nebenkanäle und nur nach Einbruch der Dunkelheit oder bei dichtem Nebel.

Der Beschuldigte hielt den Kopf in den Händen. Was hier passierte, war mit dem Verstand einfach nicht mehr zu fassen.

Doch als Davide glaubte, dass all sein Unglück unmöglich noch zu steigern wäre, wurde der letzte Zeuge aufgerufen. Es war der feiste Andrea. Hoch erhobenen Hauptes stand er hinter dem nun völlig niedergeschmetterten Davide und berichtete mit fester Stimme und flüssig im Vortrag von den unglaublichsten Vorkommnissen im Palazzo, von schlimmsten Orgien und Kinderschändungen. Nur aus Angst vor der furchtbaren Rache des Herrn Venier habe er so lange geschwiegen, könne nun aber nicht länger an sich halten und Schuld auf sich laden.

Wenn er noch einen Funken Hoffnung gehabt hatte, dann war dieser nun endgültig erloschen. Ratlos und hilflos sackte Davide auf seinem Stuhl zusammen, die Wut hatte ihn ebenso verlassen wie der Mut.

Die drei Inquisitoren zogen sich, nachdem sie sich umständlich erhoben hatten, zur Beratung zurück und betraten nach nur wenigen Minuten wieder den Saal. Erneut begaben sie sich zu ihrer engen Sitzreihe, doch diesmal ersparten sie sich die eher unwürdige Prozedur des Platznehmens und blieben für die Urteilsverkündung lieber stehen.

»Im Einzelnen lässt sich Euch wenig nachweisen«, sprach Severgnini, »und wohl sind uns die Verdienste Eures Vaters und auch dessen Vaters um die Republik Venedig bewusst. Aber die Summe der Vorwürfe, von einfachen Menschen wie von hochgestellten Persönlichkeiten vorgebracht, wiegt allzu schwer für einen nobile. Daher fällen wir einstimmig folgendes Urteil: Ihr habt zehn Jahre lang kein Recht, an dem gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.«

Das, so wusste Davide, hieß bei den Urteilen der Inquisitoren nichts anderes als Kerkerhaft.

»Euer gesamter Besitz und Euer Vermögen werden eingezogen und von einer von uns zu bestimmenden Vertrauensperson treuhänderisch zum Wohle der Serenissima Repubblica di San Marco verwaltet.«

Und das hieß nichts anderes als eine vollständige, unwiderrufliche Enteignung.

Davide war am Ende.

 

 

Kapitel 3Die Haft

Der Weg hinauf zu den Bleikammern betrug nur wenige Schritte, doch Davide kamen sie vor wie zehn Meilen. Er wankte wie ein Betrunkener. Nach und nach erfasste er das volle Ausmaß des Urteilsspruchs. Zehn Jahre. Zehn Jahre! Sein Leben wäre nach der Freilassung vorbei, er hätte keinerlei Mittel mehr und würde als Bettler sein Leben fristen. Seine Freunde würden sich von ihm abwenden. Alles, was ihm blieb, war sein nacktes Leben. Und was für ein Leben sollte das sein, erst im Kerker und dann in der Gosse?

Als die schwere Eisentür hinter ihm ins Schloss fiel, war der Knall so ohrenbetäubend wie ein Musketenschuss. So fühlte es sich also an, das Ende. Unschlüssig und wie benommen stand er im Raum, bis er merkte, dass sein Zellengenosse wach war und mit dem Rücken zu ihm im Schneidersitz auf dem Fußboden saß.

»Ah, da seid Ihr ja, Herr.« Der Mann drehte sich um, und sein Mund unter dem vollen grauen Bart verzog sich zu einem Lächeln. Davide freute sich über das aufrichtige Empfinden, das erste, das er seit vielen Stunden erlebt hatte. Dann lachte er bitter auf. »Nenn mich nicht Herr. Ich bin am Ende und so arm wie du.«

»Nun setzt Euch schon. Mein Name ist Hasan.«

Verwirrt nahm Davide Platz. Vor dem Mann, der, wie Davide nun bemerkte, gar nicht so alt war, wie es auf den ersten Blick den Anschein hatte, stand ein Schachspiel. Die großen schwarzen Augen blitzten listig, das lockige Haar wuchs dicht und umrahmte den Kopf vollständig. Hasan war außergewöhnlich klein, das fiel selbst im Sitzen auf, aber nicht verwachsen, sondern gesund und kräftig.

»Bevorzugt Ihr Weiß oder Schwarz?« Seine Stimme war tief und voll, mit einem nur leichten orientalischen Akzent.

»Äh, nun …« Davide ließ den Kopf sinken.

»Oder wollt Ihr über den Prozess reden und Eure unzweifelhafte Unschuld beichten, wie alle hier?«

Davide seufzte. »Die Welt hat sich gegen mich verschworen.« Und endlich brach es aus ihm heraus. Er berichtete seinem Zellengenossen von den haarsträubenden Aussagen nicht nur von ihm völlig Unbekannten, sondern vor allem von langjährigen Weggefährten. Was für ein Verrat ungeheuren Ausmaßes! Beim Erzählen wurde ihm die gesamte Tragweite der Verschwörung erst richtig bewusst, und ihm liefen zum ersten Mal seit seiner Kindheit Tränen über die Wangen. »Was rätst du mir also?«, fragte er seinen Zellengenossen.

Hasan zuckte mit den Schultern und blickte auf das Schachspiel, dessen Boden aus hell-dunkel gefärbtem Leinen bestand. Die Figuren dagegen waren mit einer beachtlichen Liebe zum Detail aus Holz geschnitzt. »An Eurer Stelle würde ich Weiß wählen. Es ist immer gut, die Initiative zu haben.«

Empört sprang Davide auf. »Bist du toll, Mann? Hast du nicht gehört, dass man mich soeben in die Gosse gestürzt, mir meine Freiheit genommen hat, mein Leben – und meine Liebe?« Jetzt erst, während er so erregt sprach, fiel ihm Veronica ein, mit unvergleichlicher Wucht kehrten die Gedanken an sie zurück. Er hatte die Erinnerung an sie bislang in einem anderen Teil seiner Seele aufbewahrt, so als wollte er nicht, dass Veronica mit dem gleichen Dreck beworfen wurde, welcher ihn in den letzten Stunden getroffen hatte. Was würde aus ihr und ihm werden? Glaubte sie den Vorwürfen? Würde auch sie ihn verstoßen? Würde er sie je wiedersehen?

Hasan gab sich ungerührt. »Nun setzt Euch wieder, Herr. Auch zehn Jahre wollen herumgebracht werden.«

War dieser Mann verrückt? Hatte ihn die Haft seines Verstandes beraubt? Andererseits war Davide ob der Gelassenheit seines Zellengenossen zu verblüfft, um allzu lang darüber nachzudenken. Mit vor Wut und Verzweiflung immer noch klopfendem Herzen nahm er schließlich im Schneidersitz auf dem Fußboden Platz. Das war ihm zu unbequem, also faltete er aus seiner Decke eine gemütlichere Sitzgelegenheit.

Nach zwölf Zügen war Davide, der die weißen Figuren führte, schachmatt. Er fegte mit der Hand die Figuren vom leinernen Spielfeld.

 

 

Sie war unruhig, trippelte nervös auf und ab, kaute an den Fingernägeln. So kannte sie sich selbst nicht. Aber etwas so Unerhörtes hatte Veronica noch nie erlebt. Das war ja die reinste Willkür! Und das in ihrem geliebten Venedig! Wie wagten es diese Inquisitoren, diese verfluchten babì, Gespenster, einen unbescholtenen Bürger in der Nacht abzuholen wie einen gemeinen Dieb? Davides Vater hatte mehr zum Wohl der Stadt getan als die Familien der drei Inquisitoren zusammen.

Doch dann beruhigte sie sich wieder. Ein Missverständnis, ganz sicher. Eine Verwechslung. Eine Denunziation, die sich bestimmt bald als Irrtum erwies. Bald würde sie es wissen. Bald würde ihr Mann von der Sitzung kommen. Ja, vielleicht würde er sogar als besondere Überraschung Davide mitbringen, man würde gemeinsam speisen und über das Erlebte schon wieder lachen können!

Endlich, draußen war es beinahe dunkel, hörte sie seine Schritte auf der Treppe. Sie rannte ihm entgegen.

Riccardo legte mithilfe seines Dieners, der gerade die Kerzen angezündet hatte, den Tabarro ab. Bevor seine Frau etwas sagen konnte, hob er müde die Hand. »Er ist bereits verurteilt.«

Veronicas schöne Augen weiteten sich. »Wie bitte? Was? Wie kann das sein? Das ist doch nicht möglich!«

»Zehn Jahre.«

Die Nachricht traf Veronica mit solcher Wucht, dass sie der Ohnmacht nah war. Sie bekam einen trockenen Mund, konnte kaum noch schlucken und brachte nur ein heiseres, entsetztes Krächzen hervor. Sie ließ sich auf die Treppenstufen sinken und hielt den Kopf in den Händen.

Riccardo erzählte ihr in seiner behutsamen und leisen Art, wie sich der Prozess zugetragen hatte. So, wie man es ihm berichtet hatte, da er nicht dabei gewesen war, handelte es sich doch um einen Prozess der Inquisitoren, die nicht dem Großen Rat unterstellt waren.

Doch auch im Großen Rat war wie in ganz Venedig der Prozess Gesprächsthema Nummer eins. Er hatte alle Ingredienzen, um Venedigs Gerüchteküche anzuheizen. Einen jungen, reichen Mann. Aus bestem Hause. Mit besten Beziehungen. Einen verruchten Palazzo. Eine geheime Liebschaft. Die schier grenzenlose Macht der gefürchteten Inquisitoren.

Ein Diener brachte Wein ins Treppenhaus, ein anderer zündete die übrigen Kerzen an und bereitete dann das piano nobile für den Abend vor. Auf Zehenspitzen und etwas unbeholfen schob er sich an Veronica vorbei.

Riccardo leerte sein Glas, Veronica blickte nicht einmal auf. Der Diener stellte das Glas neben ihr auf der Stufe ab.

Plötzlich kam Leben in Veronica. Ihre Verzweiflung verwandelte sich in Energie. Sie sprang auf und bestürmte ihren Mann mit tausend Fragen. Wie lautete die Anklage? Wer waren die Zeugen? Wie ging es Davide, wurde er gefoltert?

Riccardo antwortete bedächtig und einsilbig.

Diese Ruhe im Sturm, die sie immer so sehr an ihrem Mann geschätzt hatte, brachte Veronica nun vollends aus der Fassung. Wütend stürzte sie an ihm vorbei nach draußen, blickte auf den Kanal und die verdutzten Gondolieri, die sofort aufsprangen und sich zur Ausfahrt bereit machten. Doch Veronica winkte ab. Sie blieb eine Weile vor der Tür stehen und hoffte, dass der kühle Wind ihre Gedanken ordnen würde. Es nieselte, doch sie spürte es nicht.

Nach einer kleinen Ewigkeit – es war längst dunkel geworden – ging sie wieder hinein. Das Haar hing nass an ihr herab, Tropfen fielen auf den Marmorboden. Beinahe stolperte sie über das Glas Wein, das immer noch auf der Treppe stand. Sie nahm es mit nach oben, setzte sich an den Tisch, an dem die Kerzen noch brannten. Ihr Mann hatte sich bereits in sein Schlafgemach zurückgezogen.

Einer der Diener kam herbeigeeilt, doch Veronica wollte nichts mehr essen. Langsam trank sie das Glas aus – es war ein süßlicher, leicht moussierender Wein. Obwohl es in ihr immer noch loderte, war ihr Kopf wieder kühl und klar. Auf sie kam es jetzt an. Sie legte sich einen Plan zurecht.

Auch die Gedanken des sonst so gelassenen Riccardo kamen in dieser Nacht nicht zur Ruhe. Er fürchtete sich, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben. Seine gefährliche homophile Neigung, die Beziehung zu einem anderen Ratsmitglied und die neue Liebschaft mit einem neunzehnjährigen Fischer, einem jungen Mann, der gebaut war wie eine antike Statue und dessen Haut wie Bronze schimmerte: Würde er künftig besser aufpassen müssen, wenn er seinen roten Schopf an die ganz und gar unbehaarte Brust des jungen Fischers legte? Was passierte hinter den gold glitzernden Kulissen der altehrwürdigen Serenissima? Wenn es Davide Venier getroffen hatte, dann könnte es bald jeden treffen. Würde gar er der Nächste sein?

 

 

Die nächsten Tage schlief Davide nicht, sondern durchlebte alle Arten von Gemütsschwankungen: Hoffnung wechselte sich ab mit Mutlosigkeit, Raserei mit Niedergeschlagenheit, Stolz und Selbstvertrauen mit abgrundtiefen Zweifeln. Er überlegte ernsthaft, ob er nicht vielleicht doch schuldig war – und ob er sich diesem furchtbaren, geradezu Dante’schen Höllenkreis nicht durch Suizid entziehen sollte, etwa durch die Verweigerung der Nahrungsaufnahme. Das Essen bestand ohnehin nur aus alter Polenta mit etwas Fisch- oder Fleischresten, dazu einem Krug Wasser, da fiele ein Verzicht nicht allzu schwer.

Doch Davide aß. Das karge Essen stillte den Hunger nicht, sondern verewigte ihn gewissermaßen. Das Gefühl von Sättigung schien für immer aus seinem Magen verbannt.

Hasan dagegen verbrachte die meiste Zeit im Liegen. Ab und zu blickte er auf den unruhigen Davide, der Tag und Nacht in der Zelle auf und ab ging, mit sich selbst sprach, die nackten, feuchten Wände abtastete, als gäbe es ein Entkommen aus ihnen, und mit den Wachsoldaten zu reden versuchte, die jedoch nur stumm den Kopf schüttelten.

Ein einziges Mal pro Woche, jeden Dienstag, martedì, hatten sie am Abend, wenn der Dogenpalast verwaist war, Ausgang. Um einmal ordentlich auszulüften, wie die Soldaten witzelten. Die nobili aus den piombi unter dem Dach wurden zusammen mit den gemeinen Verbrechern aus den pozzi tief unten im modrigen Erdgeschoss an die frische Luft geschickt. Davide empfand diese Stunde wie ein Geschenk, obwohl die Rückkehr in die Zelle ihn jedes Mal mehr deprimierte.

Beim vierten martedì passierte es: Davide spazierte stumm neben Hasan. Plötzlich baute sich ein vierschrötiger Bursche vor ihm auf, lächelte ihn mit seinen braunen Zähnen an und schlug ihm ohne Vorwarnung mit voller Wucht in den Magen. Davide krümmte sich und ging zu Boden. Ein Fußtritt verfehlte seine Schläfe nur knapp, ein zweiter Fußtritt reichte, um ihn bewusstlos zu machen.

Als er wieder in der Zelle erwachte, war Hasan mit einem nassen Lappen über ihm und tupfte ihm die Stirn. »Das …«, stammelte Davide, »das ist hoffentlich nicht dein Waschtuch für den Toilettengang.«

»Ich sehe, Ihr habt Euren Humor nicht verloren, Herr.«

Davide richtete sich auf. Der Schädel brummte ihm wie nach einer durchzechten Nacht. »Was um Himmels willen ist mit mir geschehen?«

Da erzählte Hasan ihm von den rauen Ritualen im Gefängnis, von den Machtspielchen zwischen pozzi und piombi, der Unter- und der Oberschicht, von der Befriedigung des Abschaums der Gesellschaft, den nobili eins auszuwischen, von den Triumphen darüber, unter den Letzten der Erste zu sein.

»Aber warum das alles?«

»Ihr seid jetzt in einer anderen Welt, Herr. Hier herrschen andere Gesetze. Es gibt zwei Gruppen von Gefangenen, und jeder versucht, der König seiner Gruppe zu werden. Ganz wie im echten Leben.«

»Verrate mir eines, bevor du weitersprichst: Wenn du mich ›Herr‹ nennst, warum bist du dann in den Bleikammern, oben bei mir?«

Hasan legte das Tuch zur Seite und blickte in die Ferne. »Wisst Ihr, auch ich war einst ein feiner Herr. Nicht aus Venedig, wie Ihr sicher längst erraten habt. Meine Eltern waren Seidenhändler aus Samarkand, ich wurde jedoch in Istanbul geboren. Auch mir wurde mein Leben geraubt, und ich sitze hier schon seit zwei Jahren fest. Doch Ihr, Herr, Ihr seid jung, Ihr seid reich …«

»Ich war reich«, korrigierte Davide.

»Sie werden Euch immer und immer wieder herausfordern. Es ist wie ein Spiel, aber eins, das richtig wehtut. Ihr könnt Euch verprügeln lassen. Oder Ihr könnt lernen, Euch zu verteidigen.«

Davides Augen flackerten auf. »Ich werde lernen. Aber wie?«

»Das überlasst ganz mir.«

»Warum bist du so freundlich zu mir, Hasan?«

»Das Schicksal hat uns zusammengeführt. Ich glaube an das Schicksal, mehr noch als an meinen Gott und seinen Propheten. Welcher zwar ein anderer ist als Euer Gott und Euer Prophet, doch am Ende sind wir allesamt arme Sünderlein.«

»Was kann ich also tun?«

»Nun, als Erstes bitte ich Euch, Euch zu erheben.«

Davide stand auf, fühlte sich aber noch ein wenig wacklig auf den Beinen.

»Hört nun zu, Herr. In meiner Jugend war ich ein recht erfolgreicher Faustkämpfer. Hätte ich Eure Statur besessen, wäre ich wohl einer der Besten des gesamten Ostens gewesen. Macht nun eine Faust.«

Davide ballte die Hände zu Fäusten.

»Und jetzt hoch mit den Fäusten vors Antlitz.«

Davide nahm die Fäuste hoch.

Hasan umrundete ihn nachdenklich. »Ihr seid groß, Herr. Das ist ein Vorteil. Ihr müsst mit der Dame tanzen, die Ihr zum Ball geleitet habt.«

»Du sprichst in Rätseln. Was soll das heißen?«

»Ihr müsst Eure Stärken im Kampf ausspielen. Ihr seid größer als alle hier. Also muss eine gute Führhand Eure Waffe sein. Damit haltet Ihr Euch jeden Angreifer vom Leib. Und steht nicht so offen da wie ein Korb Sardinen, Herr!«

»Ich verstehe schon wieder nicht.«