Der Stau - Jo Furniss - E-Book

Der Stau E-Book

Jo Furniss

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Beschreibung

Der erste Locked-Car-Thriller: Originell, temporeich und absolut fesselnd – nach diesem Buch werden Sie öfter in den Rückspiegel schauen! Ein kilometerlanger Stau. Im Auto neben dir sitzt eine Leiche. Der Mörder steckt in der Autoschlange fest – und du auch. Belinda Kidd, Kommissarin kurz vor dem Ruhestand, ist auf dem Weg vom Flughafen in die Londoner Innenstadt. Vom Jetlag geplagt, will sie einfach nur nach Hause – als der Verkehr plötzlich stockt und dann zum völligen Stillstand kommt. Grund dafür: eine Explosion in einem Tunnel. Geschätzte Wartezeit: mehrere Stunden. Als Belinda sich zwischen den parkenden Autos die Beine vertritt, macht sie in einem der anderen Fahrzeuge eine grausige Entdeckung: eine Leiche, mit einem Metallspieß erstochen. Aber wie? Niemand kann weg. Also muss der Mörder immer noch hier sein, zwischen den anderen Fahrerinnen und Fahrern, die darauf warten, dass es weitergeht. Was ist zu tun? Die anderen Fahrzeuginsassen zu warnen würde eine Massenpanik auslösen, zumal im Autoradio weitere Explosionen vermeldet werden. Belinda sieht sich in der Zwickmühle. Wenn der Stau weiterhin anhält, sind sie alle in Gefahr. Wenn er sich auflöst, kann der Mörder entkommen. Die Uhr tickt, und auch wenn Belinda nicht weiß, wie lange noch – sicher ist: Sie muss eine Entscheidung treffen …  

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Seitenzahl: 400

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Jo Furniss

Der Stau

Es gibt kein Entkommen

Thriller

 

 

Aus dem Englischen von Sabine Schilasky

 

Über dieses Buch

Belinda Kidd, Kommissarin kurz vor dem Ruhestand, ist auf dem Weg vom Flughafen in die Londoner Innenstadt – als der Verkehr plötzlich stockt und dann zum völligen Stillstand kommt. Grund dafür: eine Explosion in einem Tunnel. Geschätzte Wartezeit: mehrere Stunden. Als Belinda sich zwischen den stehenden Autos die Beine vertritt, macht sie in einem der anderen Fahrzeuge eine grausige Entdeckung: eine Leiche, offensichtlich erstochen – mit einer Fahrradspeiche. So viele Fragen dieser Fund aufwirft, eines ist Belinda sofort klar: Der Mörder muss immer noch hier sein, zwischen den anderen Autofahrern, die darauf warten, dass es weitergeht. Und solange er frei herumläuft, sind sie alle in Gefahr, denn niemand kommt hier weg …

 

Ein Locked-Room-Thriller der Extraklasse.

Vita

Jo Furniss war zehn Jahre lang Journalistin bei der BBC, bevor sie freie Schriftstellerin wurde. Sie hat für zahlreiche Magazine geschrieben und bereits mehrere Bücher veröffentlicht. Außerdem schreibt sie für den beliebten Podcast «Short History Of …», der 2022 für den British Podcast Award nominiert war. Während ihrer Zeit in Singapur rief sie das Online-Literaturmagazin SWAG ins Leben. Derzeit lebt die Autorin mit ihrer Familie – inklusive Pudel – an der Südküste Englands.

 

Sabine Schilasky lebt und arbeitet in Hamburg. Sie hat u. a. M.C. Beaton, Alex Kava, Kwei Quartey, M.W. Craven, N. Richards/M. Costello, Clare Mackintosh und Owen Mullen übersetzt.

Impressum

Die englische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel «Dead Mile» bei Bonnier Book, London.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2025

Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Dead Mile» Copyright © 2024 by Jo Furniss

Redaktion Christin Ullmann

Covergestaltung zero-media.net, München

Coverabbildung Stocksy

ISBN 978-3-644-01869-3

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

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Hinweise des Verlags

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Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

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www.rowohlt.de

Für meine kriminellen Freunde,

hoch die Kneifzangen!

Die erste Stunde

Kapitel eins

17:00 Uhr

Freitagnachmittag, und der Verkehr war absolut mörderisch. Belinda «Billy» Kidd hätte nicht so dumm sein dürfen, in der Rushhour über die Autobahn zu fahren. Noch dazu fühlte sie sich nach dem Langstreckenflug von Australien alles andere als topfit. Als Police Sergeant – und bald ehemaliger Police Sergeant – wusste sie allzu gut, dass «eine Dose Red Bull und nichts kann schiefgehen» schnell zu «aber ich habe doch nur ganz kurz die Augen ausgeruht» und einem Horrorcrash führen konnte.

Doch was blieb ihr anderes übrig? Da war kein Begrüßungskomitee in der Ankunftshalle gewesen. In ihr Dorf fuhren keine öffentlichen Verkehrsmittel. Deshalb saß sie in einem Mietwagen. Die Klimaanlage auf arktische Temperaturen gestellt. Schwarzer Kaffee in der Mittelkonsole. Weiße Fingerknöchel am Lenkrad.

Die Fahrt nach Hause sollte nur eine Stunde dauern. Eine kurze Stunde. Eine unkomplizierte Route, die sie schon eine Million Mal genommen hatte. Hier war sie seinerzeit sogar Streife gefahren, bevor sie zu einer dreispurigen «Express»-Straße ausgebaut worden war, auf der sich jeden Freitag eine freudlose Polonaise gen Wochenende schob. Billy blieb auf der mittleren Spur, obwohl die sich nicht schneller bewegte als die anderen. Sie würde gern das Radio einschalten, erlaubte sich aber nicht, den Blick lange genug von der Straße zu nehmen, um die fremde Stereoanlage zu bedienen. So blieb der leise Trommelwirbel der Reifen das einzige Geräusch.

Schlitternde Räder, platzende Reifen –

Hör auf damit, Belinda.

Wie aufs Stichwort leuchteten rote Kreuze auf den Anzeigen über der Straße auf. Bremslichter strömten einem Blutsturz gleich durch die Autoschlange, und Billy rollte noch ein Stück, ehe sie zum Stehen kam. Der Motor verstummte von selbst.

In der Stille gab es nur noch ihr angestrengtes Atmen.

Über dreißig Jahre hinterm Steuer. Gehobene Fahrerqualifikation von der Polizei. Ein entsetzlicher Unfall. Und jetzt dies. Ihr Herz wummerte im Takt von Scheibenwischern auf höchster Stufe.

Die allererste gepflegte Panikattacke hatte sie auf einem Freeway in Australien erlebt. Laut ihrer Schwester lag es an der Menopause. Viele Frauen verlören im mittleren Alter ihr Selbstvertrauen. Lass dir Hormone verschreiben, sagte Mel, dann wirst du wieder du selbst, Sergeant Billy Kidd, der Schrecken der Schufte, Schurken und Drecksäcke. Dennoch war sie danach nicht mehr auf Aussie-Asphalt gefahren. Und selbst jetzt, daheim auf britischem Teer, war sie enorm erleichtert, dass der Verkehr an diesem Freitagnachmittag zum Erliegen gekommen war.

Wie willst du Polizistin sein, wenn du nicht mal Auto fahren kannst?

Ach, lass es gut sein, Belinda.

Würde irgendjemand mit ihr so reden wie sie mit sich selbst, sie würde demjenigen empfehlen, sich die Sprüche in seinen Auspuff zu stecken.

Auf der Spur rechts von ihr hämmerte ein grauhaariger Schnösel auf sein Lenkrad ein. Auf der äußeren Spur links starrten zwei Frauen mit identischen Profilen stur geradeaus. Mutter und erwachsene Tochter. Die circa dreißig Jahre Altersunterschied ließen sie wie eine Vorher-nachher-Werbung aussehen. Billy folgte dem Blick der beiden nach vorn. Stehende Wagen, so weit das Auge reichte.

Um die surreale Stille zu durchbrechen, schaltete sie das Radio ein.

«Zahlreiche Tote in einer Reihe koordinierter Anschläge …» Die Stimme der Sprecherin klang so ernst wie schadenfroh. «Nach der Explosion einer Autobombe vor dem Bahnhof um sechzehn Uhr dreißig heute Nachmittag eröffneten Bewaffnete das Feuer in der Bahnhofshalle. Sämtliche Frachtzentren in der Stadt werden evakuiert. Die Polizei hat alle Zufahrtswege ins Stadtzentrum und hinaus blockiert, sodass die Innenstadt praktisch abgeriegelt ist …»

Das Dröhnen eines Motorradmotors draußen übertönte beinahe die Nachrichten. Billy drehte lauter.

«… und es liegen neueste Meldungen bezüglich einer zweiten Autobombe vor. Um Punkt siebzehn Uhr kam es im Deadwall-Tunnel zu einer Explosion. Es zeichnet sich ab, dass dieser Vorfall schon jetzt mehr Todesopfer gefordert hat als die Londoner Bombenattentate vom 7. Juli 2005 …»

Kein Wunder, dass auf der Autobahn nichts ging. Der Deadwall-Tunnel war die Hauptader von Osten in die Stadt. Die hohen Lärmschutzmauern zu beiden Seiten versperrten Billy den Blick auf die Stadt und verwehrten ihr jeden Hinweis, wo genau sie gerade sein mochte. Aber der Tunnel dürfte keine Meile mehr entfernt sein. Sie vergrub das Gesicht in den Händen. Als draußen eine Autotür knallte, blickte sie sofort wieder auf.

Im Rückspiegel sah sie die ersten Fahrer aus ihren Wagen steigen, um schweißklebrige Shirts von ihren Rücken zu lösen, zu telefonieren oder wie orientierungslose Touristen im Kreis herumzugehen.

«Was für ein Irrer!», erklang die Stimme einer jungen Frau, die auf der inneren Spur stand. Die seltsame Stille durch den fehlenden Verkehrslärm verstärkte alle Geräusche. Die Frau, die nicht älter als zwanzig sein konnte, trug ein Kleid mit schimmerndem Fischschuppenmuster und war barfuß. Der glänzende Stoff und die sonnengebräunte Haut ließen sie wie eine Meerjungfrau wirken. Auf ihr Rufen hin sprang ein Typ mit braunem Lord-Byron-Lockenschopf aus seinem VW-Campervan. Auf großen Füßen, in die er noch nicht hineingewachsen war, schlenderte er zum Nissan Micra der Meerjungfrau.

Billy wandte den Blick von den schönen jungen Menschen ab.

Auf der äußeren Spur stieg eine stämmige ältere Frau aus ihrem Auto und blickte vorwurfsvoll die Standspur rauf und runter. Ihren Lippenbewegungen nach grummelte sie eine Ladung Kraftausdrücke vor sich hin. Billys Schwester würde die unflätig fluchende Person als eine «Type» bezeichnen.

Vorerst würde sich hier nichts bewegen, wenn der Tunnel in die Luft gejagt und die Innenstadt abgesperrt war. Also stieg Billy ebenfalls aus, wobei ihr Jetlag sie runterzog wie ein erschlaffter Fallschirm, der über ihren Schultern hing.

Die Luft stank nach heißem Gummi.

Schlitternde Reifen …

Lass es, Belinda.

Sie hatte das Wetter mitgebracht. Laut Autoanzeige waren es achtundzwanzig Grad, was wie viel in alter Währung war? Zweiundachtzig? Eine Hitzewelle im Mai. Die Gelegenheit für Briten zu klagen, dass es jedes Jahr früher relativ moderat heiß wurde. War womöglich das ganze verdammte Land in den Wechseljahren?

Billy betrachtete die geröteten Gesichter der anderen Fahrer. Hinter ihr auf der Mittelspur fächelte sich eine teuer aussehende Frau – karamellbraune Strähnen, auffällige Halskette, riesiger SUV – mit einem Strafzettel Luft zu. Sie bemerkte Billys Blick.

«Diese Hitze ist unglaublich», sagte die Strafzettelfrau. «Ausgerechnet heute.»

Billy fragte sich, warum sie dann ihre langärmlige Strickjacke nicht auszog.

«Gibt sicher bald ein Gewitter», antwortete Billy, obwohl die Sonne am pastellblauen Himmel etwas anderes sagte.

«Hier ist freitags immer viel los, aber so schlimm ist es sonst nicht», sagte die Frau.

«Im Deadwall-Tunnel ist eine Autobombe hochgegangen.»

«Allmächtiger!»

«Wir stecken quasi in der Kehle eines Flaschenhalses und müssen warten, bis wir wieder ausgespuckt werden.» Billy griff nach ihrem Telefon und rief Maps auf. Tatsächlich führte dieser Autobahnabschnitt direkt in den Deadwall-Tunnel weit vor ihnen. Die letzte Abfahrt lag eine ganze Strecke entfernt hinter ihnen. Und inzwischen war auch der Verkehr aus der anderen Richtung zum Erliegen gekommen, offenbar war das System komplett zusammengebrochen.

«Können wir rausfahren?» Die Strafzettelfrau zeigte zur Standspur. «Wenn es ein persönlicher Notfall ist?»

«Weit würde man nicht kommen; der Tunnel ist blockiert. Und auf der Standspur zu fahren ist verboten.» Sie deutete auf die Überwachungskameras. «Sie würden noch einen Strafzettel kassieren. Bedaure, aber ich bin Police Officer.»

Die Frau warf den Strafzettel auf den Sitz und zog sich in den Schatten hinter ihrem riesigen Auto zurück. Das Gespräch war vorbei.

Ein bisschen unhöflich. Wer braucht überhaupt so einen großen Wagen?

Ein Audi, so groß wie ein Aldi.

Ein abrupter Schrei unterbrach den Gedanken.

Die Strafzettelfrau wich vor dem Fahrzeug zurück, das neben ihrem auf der äußeren Spur stand. Eine schwarze Limousine, anonyme Aufmachung, Marke nicht erkennbar. Hatte etwas von Akte X.

Warum zeigte die Strafzettelfrau auf den Wagen?

Dann ging ihr Finger zwischen Billy und der Limousine hin und her. «Haben Sie nicht gesagt, Sie sind von der Polizei?»

«Fast im Ruhestand.» Billy blieb bei ihrem Wagen.

«Er bewegt sich nicht», sagte die Strafzettelfrau. Röte kroch von ihrem Ausschnitt ihren Hals hinauf, als hätte sie sich bis eben unter ihrer Bluse versteckt.

Die Frau hatte recht. Der Fahrer schien sich nicht zu rühren.

Und sein Fahrzeug stand windschief, die Motorhaube ragte auf den Standstreifen. Sonnenlicht überzog die Windschutzscheibe. Billy konnte das Gesicht des Fahrers nicht ausmachen und begann, sich dem Wagen zu nähern. Der Fahrer wirkte in sich zusammengesunken. Billy klopfte an das Seitenfenster. Keine Reaktion.

«Hallo?», rief sie. «Sir, geht es Ihnen gut?»

Keine Reaktion.

Es war unwahrscheinlich, dass er ein Nickerchen machte – der Verkehr stand erst seit wenigen Minuten.

Sie schirmte die Augen mit den Händen ab und presste ihr Gesicht ans Seitenfenster. Dem Mann ging es nicht gut. Schlaffe Lider und Mundwinkel. Wachsweiße Augen. Ein junger Typ, zu jung für einen Herzinfarkt, aber das konnte Billy nur raten.

«Kann jemand einen Krankenwagen rufen?», brüllte sie über die Schulter.

Sie musste den Mann aus dem Wagen bekommen und es mit Wiederbelebung versuchen.

Die Strafzettelfrau heulte. «Ist er …?»

«Tot», kam von der Unflätigen, die vor der Motorhaube der Limousine stand und die verschränkten Arme auf ihrem Busen abstützte. «Ich bin Krankenschwester, und der da ist tot.»

Billy legte eine Hand an den Türgriff. Der Wagen war nicht verriegelt, dennoch zögerte sie, die Tür aufzureißen. Im Grunde wusste sie es schon. Sogar von außen erkannte sie, dass in diesem Mann kein Leben mehr steckte.

Kapitel zwei

17:05 Uhr

Billy öffnete die Tür der schwarzen Limousine, und der Arm des Fahrers glitt hinunter vor ihre Beine. Einen Moment lang blickte sie auf seine schlaffe Hand, um sich zu vergewissern, dass sie sich nicht bewegte, dann beugte sie sich in den Wagen hinein und legte zwei Finger an den Hals des Mannes.

Kein Puls.

Sie fühlte auf der anderen Seite des Halses.

Kein Puls.

Im Schritt seiner Jeans war ein feuchter Fleck, jedoch kein starker Geruch festzustellen. Der Urin war noch frisch. Sie sprach mit dem Mann, während sie ihr Telefon hervorholte, die Taschenlampe einschaltete und eines seiner Lider hochzog.

Keine Reaktion.

Mit Daumen und Zeigefinger ertastete sie den Trapezmuskel oben an seiner rechten Schulter, kniff durch das Hemd hinein und drehte die Hand. Fest. Ein Schmerzstimulus, der eine Reaktion hervorrief, sofern noch eine möglich war.

Keine Reaktion.

Billy zog sich aus dem Wagen zurück und richtete sich auf.

«Sie sind Krankenschwester?», rief sie der Unflätigen zu. Die Frau stand nach wie vor an der Motorhaube und sah konzentriert durch die Windschutzscheibe.

«Bin ich gewesen, ja.»

«Ich bin Sergeant Kidd. Belinda Kidd, von allen Billy genannt. Helfen Sie mir, ihn rauszuholen?»

«Wozu?», fragte die Frau.

«Er reagiert nicht. Wir müssen es mit Wiederbelebung versuchen.» Bei den letzten Worten wurde Billys Kehle eng. Als sie das letzte Mal versucht hatte, jemanden wiederzubeleben, war es für die betroffene Person und Billys Karriere nicht gut ausgegangen.

«Wie lange ist er schon weg?» Die Unflätige betrachtete den Toten, als verdächtigte sie ihn einer Art komplizierter Täuschung. Billy blickte sich nach anderer Hilfe um. Ohne Defibrillator oder sonstiges Equipment war die Herz-Lungen-Wiederbelebung nicht mehr als ein hauchdünner Strohhalm, aber sie konnten es verdammt noch mal wenigstens probieren. Die Strafzettelfrau hatte sich gleichfalls verzogen. Okay, dann musste Billy es eben allein machen, doch dazu müsste sie den Mann erst mal aus dem Wagen bekommen.

Sie packte ihn beim Hemdkragen. Nasser Stoff glitschte durch ihre Finger, und sie riss die Hand zurück. Dennoch fühlte sie das Glitschen weiter, als sie das Blut in ihrer Handfläche anstarrte.

Sie öffnete die hintere Wagentür mit der sauberen Hand. Die Streben zwischen Rückenlehne und Kopfstütze gaben den Blick auf den Nacken des Mannes frei. Ein großer roter Fleck prangte hinten an seinem Hemdkragen, wie ein rotes Halstuch von der Sorte, die Cowboys oder zottelige Hunde trugen. Die Wahrheit war nicht so schick. Blut sickerte aus einer Wunde rechts von seiner Wirbelsäule, wo ein schwarzes Metallobjekt ungefähr einen Zentimeter weit aus dem Rücken ragte.

«Habe ich doch gesagt», kam von der Unflätigen, die sich vorn in den Wagen lehnte und nach seinem Handgelenk griff. Das Bücken in der Hitze brachte sie zum Schnaufen. Die Krankenschwester murmelte Flüche anstelle von Sterbesakramenten. Dann zog sie sich wieder zurück aus dem Wagen und verkündete: «Der ist hinüber, Schätzchen.»

Der Fairness halber musste Billy zustimmen, dass das Ding hinten in seinem Nacken nicht für einen Herzinfarkt sprach.

Billy schlug die hintere Wagentür zu, damit die Unflätige die Wunde nicht begaffte. Das Teil in seinem Nacken war von vorn nicht zu sehen. Rasch wischte sie ihre blutige Hand an der Innenseite ihres T-Shirts ab.

«Können wir das Blut für uns behalten?», bat sie die Unflätige leise. «Ich will nicht, dass die Leute panisch werden.»

«Was immer Sie sagen, Chefin.»

«Wir könnten es trotzdem mit Wiederbelebung versuchen», sagte Billy.

Der Mann war erst so kurz tot, dass sein letzter Atem noch im Wageninnern wabern dürfte. Sie versuchte, ihn nicht zu inhalieren, als sie nach weiteren sichtbaren Verletzungen suchte. Da waren keine. Der Mann war vielleicht dreißig, gut aussehend und in Form. Echte Verschwendung.

Billy hatte einmal einen Unfall aufgenommen, bei dem eine Frau auf einem Motorrad durch einen Zaun gerast war, der ihr den Kopf sauber abgeschnitten hatte. Ihr Körper war in perfektem Zustand gewesen. Abgesehen vom Offensichtlichen.

Konzentration, Belinda.

Der Punkt war, dass Köpfen keine Fragen offen ließ; tot oder nicht tot? Definitiv tot. Dieser Mann hingegen war nicht definitiv tot. Ja, ihm steckte etwas hinten im Nacken, doch hatte es ihn umgebracht? Es könnte immer noch die Chance bestehen, sein Leben zu retten. Aber selbst wenn sie ihn erfolgreich wiederbelebten, war es sinnlos ohne ärztliche Hilfe.

«Hat jemand einen Krankenwagen gerufen?», rief Billy über die Schulter.

Sie hörte ein lautes Ja von irgendjemandem.

Die Uhr tickte. Sie drehte sich um, weil sie den Lord-Byron-Jungen bitten wollte, ihr zu helfen, den Mann aus dem Wagen zu heben – mit dem Ding in seinem Nacken konnte sie ihn nicht einfach auf den Boden kippen, sondern musste es vorsichtiger angehen. Aber Byron hatte ein Telefon an sein Ohr gepresst. Er war es, der den Notruf wählte. Nun fing er Billys Blick ein und schüttelte energisch den Kopf.

Was sollte das heißen?

Er nahm das Telefon herunter, wählte wieder und wartete.

Ach ja, die Terroranschläge.

Natürlich.

Das nahm Billy den Wind aus den Segeln.

Die Notdienste mussten überlastet sein. Byron kam nicht einmal zur Einsatzzentrale durch. Was mehr oder minder das endgültige Aus für den toten Fahrer bedeutete. Erstens hatte er etwas im Nacken stecken. Zweitens atmete er nicht, und drittens würde er, selbst wenn sie ihn halbwegs wiederbeleben könnte, binnen allerhöchstens einer halben Stunde einen Krankenwagen brauchen; die jedoch alle wegen der Anschläge in der Stadt unterwegs waren. Und viertens war es verflucht heiß, und Billy zweifelte, ob sie es schaffen würde, unter diesen Umständen eine halbe Stunde lang seinen Brustkorb zu bearbeiten. Wiederbelebung war Schwerstarbeit …

Womit man den Terroristen ein weiteres Opfer anlasten konnte.

Billy zögerte, halb in den Wagen hineingebeugt.

«Sie sollten ihn für tot erklären», sagte die Unflätige.

Ich bin keine verdammte Herzchirurgin.

Billy hasste es, sich zurücknehmen zu müssen, wenn sie eigentlich einschreiten wollte, doch was konnte sie hier noch tun? Wenn sie wegen dieser Menopausen-Fahrphobie-Nummer in den Zwangsruhestand ging (sei es der Notwendigkeit halber oder aus schierer Peinlichkeit), musste sie sich wohl daran gewöhnen, am Rand zu stehen.

Total beknackt nutzlos.

Hör auf!

Die Therapeutin hatte gesagt, Gedanken können einem nichts tun.

Und wenn doch?

Gedanken brachten Leute dazu, Dinge zu tun. Eine Panikattacke ist nichts anderes als Denken. Ein Suizid fängt mit Gedanken an. Mord letztlich auch.

Sie blickte zu dem Toten.

Na schön, sie würde ihre Gedanken im Zaum halten. Mit dem toten Fahrer konnte sie umgehen, nach Hause fahren, sobald sich der Stau auflöste – nicht ausflippen –, ein bisschen schlafen, einen Brief verfassen, in dem sie den Vorruhestand akzeptierte, und auf etwas Nützliches umsatteln wie beispielsweise Pudel frisieren. Sich eventuell sogar selbst einen Pudel zulegen. Das könnte sie, wenn sie in Rente ging. Wahrlich ermutigende Gedanken.

Doch ihr Blick fiel erneut auf den Toten. Er trug einen Ehering, der blank und neu aussah. Wer war er? Wie in aller Welt kam es dazu, dass er hier starb? Und wie lange würde es dauern, bis die Mordkommission eintraf? Die hatte nun sicher genug mit den Terroranschlägen zu tun und war schon an normalen Tagen unterbesetzt, von einem solchen Ausnahmezustand ganz zu schweigen.

Ihr Herz verkrampfte sich, und sie presste zwei Fingerspitzen fest auf ihre linke Brust. Wann hatte sie ihre professionelle Fassung verloren, die Adrenalin als Treibstoff nutzte? Konnten das wirklich Hormone sein? Oder war es die Hitze – die Luft fühlte sich aufgeladen und unberechenbar an.

Die Finger des Mannes baumelten über dem Asphalt und hatten die Farbe von rohen Bratwürsten. Sie war versucht, seine Hand in den Wagen zu heben und die Tür zuzuschlagen, doch es war besser, nichts anzurühren. Wann war er gestorben? Es war zu früh, irgendwelche Schlüsse anhand der fahlen Farbe seiner Finger zu ziehen – es dauerte, bis sich Blut der Schwerkraft ergab und durch den Körper in die tiefsten Punkte floss. Wie diese Bratwurstfinger.

Wie lange, seit der Verkehr komplett stockte? Das war ein besserer Indikator.

Die Autobombe im Deadwall-Tunnel war um fünf hochgegangen. Es hatte nur ungefähr eine Minute gedauert, bis sich der Wochenendverkehr zurückstaute. Billy schaute auf ihre Uhr.

«Er ist noch keine zehn Minuten tot.»

«Woher wollen Sie wissen, dass es nicht länger ist?», fragte die Unflätige, die ihre Arme erneut fest verschränkt hatte.

Billy verbarg ihre Verärgerung nicht und zog die Augenbrauen zusammen. «Er muss noch hinreichend bei Bewusstsein gewesen sein, um zu bremsen, sonst wäre er in den Wagen vor ihm gerast. Also muss er gelebt haben, als er anhielt.»

Jetzt kam Billy ein Gedanke mit der Wucht eines ins Schleudern geratenen Trucks.

Jemand hatte ihm das angetan.

Wieder öffnete sie die hintere Wagentür, wobei sie achtgab, nichts zu berühren. Sie kniete sich auf die Straße, um seinen Nacken zwischen Lehne und Kopfstütze zu betrachten. Das Ding, das aus der Wunde ragte, war aus Metall. Schwarz. Dünn und rund wie ein Kebabspieß. Sie wusste nicht, was das war, aber es steckte im Nacken des Mannes in einem Winkel, der Richtung Gehirn wies, als hätte sich der Täter auf der Rückbank versteckt.

Jemand hatte diesen Mann ermordet. Und das hier auf der Autobahn.

Kapitel drei

17:09 Uhr

Billy blickte zu den Umstehenden. Ihre Kniekehlen waren glitschig von Schweiß, als sie sich wieder aufrichtete. Alle standen auf der inneren rechten Spur und schauten respektvoll – oder vor Übelkeit – in die andere Richtung. Billy ging um den SUV herum zu ihnen. Dessen Besitzerin, die Strafzettelfrau, wurde recht schroff von der Unflätigen getröstet. Die Meerjungfrau und Lord Byron standen in der Nähe. Die meisten anderen Fahrer hatten beschlossen, in ihren klimatisierten Autos zu bleiben, weshalb sie noch nichts mitbekommen hatten. Doch so, wie sich hier Stimmen ausbreiteten, würden sie bald erfahren, was los war. Die Fahrer vor und hinter der schwarzen Limousine waren bisher nicht ausgestiegen, was Billy seltsam vorkam, denn sie mussten das Drama doch bemerkt haben.

Vielleicht war Gleichgültigkeit besser als Gaffen. Sie hatte nichts weiter zu tun, als den Tatort abzusichern. Sich nicht einmischen. Auf die Profis warten. Nach Hause fahren und in den Ruhestand gehen. Dennoch schaltete sie auf Polizei-Autopilot und nahm von allen die vollen Namen auf.

«Hätte ich doch Wasser dabei», sagte die Meerjungfrau, genauer Daisy Finch. «Es ist so heiß!»

Byron – Olly Sims – sagte, er hätte Wasser in seinem Campervan, und lief hin.

«Wo sind wir überhaupt?» Daisy tippte auf das Display ihres Telefons, hielt es hoch und zeigte eine Karte. Billy schien zur «Anführerin» ernannt worden zu sein, ob es ihr gefiel oder nicht. Die Autobahn auf der Satellitenkarte war eine einsame graue Linie, die einen sandfarbenen Klecks von so gut wie nichts durchschnitt.

«Blythe Flats, das alte Gaswerk», sagte Billy mit einem Nicken in Richtung der Welt jenseits der Autobahn. «Die größte Baustelle im Land. Oder vielmehr wird sie es sein, wenn die jemals eine Baugenehmigung bekommen. Der Deadwall-Tunnel sollte als Autobahnzubringer während des Bauvorhabens dienen, dann hat man festgestellt, dass der Boden verseucht ist, und alles wurde gestoppt. Es kam in den Nachrichten.»

Olly kehrte zurück und reichte der jungen Frau eine kleine Flasche, bevor er in die Runde schaute, als wolle er sich entschuldigen, dass er nicht mehr Wasser anbieten konnte. «Wozu diese hohen Wände zu beiden Seiten? Fühlt sich echt klaustrophobisch an.» Sein Akzent ließ es eher wie füllt klingen, und zusammen mit dem affigen Haar erinnerte er Billy erst recht an Lord Byron. Fehlten nur noch Rüschenhemd und ein Degen.

Eine dünne Metallwaffe.

Wie der schwarze Spieß im Nacken des Toten.

Billy versuchte, die Idee aus ihrem Kopf zu verbannen. Nicht ihr Problem.

«Ich schätze, sie haben die Wände gebaut, um die Autobahn von der Baustelle abzuschirmen», sagte sie, «damit kein Staub, Schutt oder sonst was auf die Fahrbahn fliegt.»

«Das ist wie eine Gefängnismauer», murmelte die Unflätige, besser bekannt als Pat Mackey.

Auf beiden Seiten gab es drei Spuren ruhenden Verkehrs sowie eine Standspur mit rötlichem Asphalt, von einer Farbe wie Innereien; dann kam ein Grünstreifen mit wenigen Bäumen in großen Abständen, die die hohe Barriere nicht verbergen konnten. Der Sichtschutz musste an die vier Stockwerke hoch sein. Und er verlief über die Strecke, so weit Billy sehen konnte. Folglich ging es bei einem Stillstand wie diesem weder vor noch zurück.

«Also gibt es praktisch keinen Notdienst?», fragte Daisy. «Dann sollte diese Flasche lange vorhalten.» Sie drehte den Deckel auf und zuckte zurück, als das Wasser übersprudelte. Die Spritzer verdunsteten beim Zusehen.

Teils war der hohe Zaun an der Hitze schuld. Er hielt den Wind zu beiden Seiten ab, und sie saßen in einer Sonnenfalle. Billy glaubte, einen tief hängenden Dunst aus Mief zu erkennen, von Autoabgasen gelb gefärbt und giftig. Ihr wurde ein bisschen schwindlig, es knackte in ihren Ohren, und ihr Atem schmeckte nach Zinn.

Bald würde die Hitze allen hier zu schaffen machen. Da niemand in England einer Wettervorhersage traute, die Hitze im Mai ankündigte, waren sie alle in Jeans und Pullovern unterwegs. Natürlich mit Ausnahme von Daisy in ihrem Nixenkleid. Die Wärme würde die Leute entweder apathisch oder gereizt machen. Die Wirkung des Wetters war nie zu unterschätzen; es gab weniger Verbrechen, wenn Regen die Menschen nach drinnen trieb, und mehr, wenn sie der Sonnenschein ins Freie brachte. Unwetter bedeuteten vermehrte Verkehrsunfälle; Hitzewellen zunehmende Schlägereien unter Betrunkenen und Fußball verprügelte Partnerinnen. Billy brauchte keinen Kriminologen, der ihr Ursache und Wirkung erklärte. Aber wie ein Stau einen Mann getötet hatte – das war ihr ein Rätsel.

Sie löste sich von der Gruppe und ging zum Standstreifen, um den toten Fahrer aus diesem Blickwinkel zu betrachten. Er schien in ihre Richtung zu sehen. Mit gesenkten Lidern. Beinahe schüchtern. Sie fragte sich, ob er geschrien hatte. Lauter Menschen waren in seiner Nähe gewesen, und keiner hatte ihn gehört. Das war wie ein böser Traum.

Ruhestand hin oder her, sie war Police Officer und musste handeln. Ihre Kollegen überall in der Stadt hatten es mit weit Schlimmerem zu tun. Man stelle sich nur die Szenen im Deadwall-Tunnel vor, wo die Autobombe hochgegangen war. Billy konnte zumindest verhindern, dass Schaulustige diesen Tatort verfälschten.

Als Erstes ging sie zu Pat Mackey, die in einer Reisetasche im Kofferraum ihres Golfs wühlte.

«Es ist wichtig, dass Sie mit niemandem über den Zustand des toten Fahrers reden», erinnerte Billy die Krankenschwester. «Der Wagen ist ein Tatort, und alles, was Sie gesehen haben, könnte Teil einer künftigen Ermittlung sein.»

«Schon gut, ich kenn’s aus dem Fernsehen.» Pat blickte nicht auf, während sie sprach. «Sie wollen nicht, dass die Todesursache öffentlich bekannt wird, damit Sie, wenn irgendein kleines Arschloch sagt, ‹Ich habe sie nicht erwürgt›, sagen können, ‹Woher wissen Sie, dass sie erwürgt wurde?›, und dann haben Sie ihn.»

«Stimmt, aber nicht nur das. Jedes noch so kleine Detail. Seine Verletzungen, seine Position, seine Kleidung, alles. Wenn den Leuten klar wird, was passiert ist, werden sie Sie fragen. Neugier liegt in der Natur des Menschen, aber ich muss mich darauf verlassen können, dass Sie nichts sagen. Gar nichts.»

Pat richtete sich auf und hielt einen Zipperbeutel voller Medikamente vor ihre Brust, während sie zu der schwarzen Limousine blickte. Sollte die Frau widersprechen, müsste Billy ihr mit einer Anzeige wegen Behinderung einer Ermittlung drohen. Doch sie sah wieder zu Billy und neigte sich vor.

«Eine der wichtigsten Fähigkeiten im Leben», sagte Pat, «ist die zu wissen, wann man etwas sagt und wann man verdammt noch mal die Klappe hält. Die können mich fragen, was sie wollen. Ich bin schon mit ganz anderen Kalibern als denen hier fertiggeworden.»

Was Billy irgendwie nicht bezweifelte.

«Dann werden Sie niemandem etwas darüber erzählen, was Sie in dem Wagen gesehen haben?»

Pat hielt eine Hand mit drei Fingern hoch. «Pfadfinderinnenehrenwort.»

«Ist das ein Ja?»

«Verfickt, ja, nein, ich werde keinem von dem Blut erzählen.»

Billy nickte zum Dank und wandte sich ab.

«Ihnen ist aber klar, dass die nur da rübergehen müssen, um sich selbst den toten Kerl anzugucken», sagte Pat hinter ihr.

Womit sie nicht unrecht hatte. Darum musste Billy sich kümmern. Sie überquerte die Spuren voller gestrandeter Fahrzeuge und ging zu den Fahrern, die auf dem Mittelstreifen standen. Sie unterhielten sich über die Geschehnisse im Stadtzentrum und vermieden alle, den Elefanten im Raum zu erwähnen. Allerdings verstummte ihr Gespräch, als sich die Polizistin näherte, die einen unverkennbaren Elefantengeruch mit sich brachte.

«Hat jemand etwas Ungewöhnliches gesehen, als es zum Verkehrsstillstand kam?», fragte Billy.

Charlotte McVie – die einen harten Tag gehabt hatte, da sie erst einen Strafzettel wegen Falschparkens bekam und dann eine Leiche entdeckte – stieß ein kurzes Wimmern aus. «Nur diesen Mann, der sich nicht bewegt hat.»

«Jemanden, der von dem Auto weggegangen oder -gerannt ist?»

«Das wäre uns auf der Autobahn doch allen aufgefallen, oder?», entgegnete Charlotte.

«Klar, man würde merken, wenn man den Idioten überfährt», ergänzte Olly.

«Nicht, wenn er auf der Standspur unterwegs ist», sagte Billy.

«Was erst recht aufgefallen wäre», entgegnete Charlotte. «Ohne jede Deckung.»

Wohl wahr.

«Wer ist als Erster aus seinem Wagen gestiegen?», fragte Billy.

«Ich», antwortete Daisy. «Ich habe irre geschwitzt. Mein Wagen hat keine Klimaanlage.»

«Haben Sie sonst noch jemanden auf der Straße bemerkt? Vor oder hinter uns?»

«Nein, da war nur ich. Und ich habe mich umgeguckt, was die anderen machen. Es hat sich komisch angefühlt auszusteigen, irgendwie falsch, mitten auf der Autobahn. Als würde ich hier nicht hingehören. Und ich weiß noch, dass ich gedacht habe, ich bin vielleicht die Erste, die auf diesem Asphalt geht, was schräg ist, nicht?» Da ihr enges Kleid keine Taschen hatte, rang sie die Hände. «Ich dachte, dass es bestimmt verboten ist oder so. Aber dann ist er auch ausgestiegen» – sie zeigte auf Olly – «und die Anzeigen oben sagten, dass die Autobahn wegen eines Vorfalls gesperrt ist, und da habe ich gedacht, dass es wohl okay ist.»

Daisy konnte nicht älter als zwanzig sein. Wahrscheinlich Studentin. Jung, unsicher und tagsüber in einem Nachtklubkleid. Was für ein Alter! Alt genug, um all die guten Fehler zu machen, und jung genug, um nach Hause zu Mum zu laufen, wenn sie sich als schlimmer Fehler entpuppen.

Billy hielt nicht allzu lange an dem Gedanken fest, denn Mutterschaft war ein Terrain, das sie tunlichst mied. Ihre eigenen Erfahrungen damit waren kurz und wundervoll gewesen und hatten vor langer Zeit ein jähes Ende genommen. Vor etwas über zwanzig Jahren, um genau zu sein – das Datum würde sie nie vergessen. Auch wenn die Zeit alle Wunden heilte, wie so oft beschworen, blieb die Narbe empfindlich und konnte jederzeit aufgekratzt werden.

«Solange man sein Fahrzeug nicht unbeaufsichtigt lässt, ist es in Ordnung», versicherte sie dem Mädchen.

Pat kam und reichte Charlotte eine Packung Mentholtaschentücher.

«Warum fragen Sie eigentlich?» Daisy knabberte an einem Niednagel. «Und wie ist er gestorben?»

«Das wird die Autopsie klären», antwortete Billy.

«Eine Autopsie wie in Silent Witness?», fragte Daisy und legte die Hand auf ihr Herz. «Oh wow, den hat einer gekillt!»

Na, er wird wohl kaum im Schlaf gestorben sein …

«Ich meine, ist er ermordet worden?», korrigierte sie sich und verzog das Gesicht, weil sie womöglich für dumm oder naiv gehalten wurde.

Charlotte wimmerte wieder und drehte sich weg.

Pat runzelte die Stirn, doch Billy sah sie an und verdrehte die Augen, und tatsächlich hielt die Krankenschwester Wort und blieb still.

Das Metallding war nicht von allein in den Nacken des Kerls gelangt. Und wenn niemand einen Verdächtigen hatte fliehen sehen, konnte der Täter nicht weg sein. Aber Billy war allein hier, ein einzelner Police Officer. Abgesehen vom Sichern eines Tatorts – wie könnte sie all diese Leute vor einem Mörder beschützen?

Kapitel vier

17:14 Uhr

Von erfahrenen Police Officers wurde erwartet, dass sie der Welt eine «ungerührte Miene» präsentierten, die nichts verriet. Nur war Geheimnisse zu hüten noch nie Billys Stärke gewesen. Andere schienen es förmlich zu riechen, wenn sie etwas wusste.

Und obwohl sie hier auf der Autobahn mit keiner Silbe von Mord, Totschlag oder gewaltsamem Tod gesprochen hatte, kursierte bereits das Gerücht, dass der Mann ermordet, getötet oder gewaltsam zu Tode gebracht worden war, und es schien sich zu verbreiten wie die flirrende Hitze, die vom sonnengetränkten Asphalt aufstieg. Mehr Fahrer und Insassen näherten sich, angelockt von dem Drama.

Mutter und Tochter aus dem Minivan vor dem Toten waren ausgestiegen, um sich auf die Standspur zu stellen. Ihre Gesichter ähnelten sich sehr, aber außerhalb des Wagens wurde ein Unterschied deutlich – das Mädchen war spargeldürr. Sie mussten kapiert haben, dass hinter ihnen ein Toter im Wagen saß, denn die Tochter blickte sich immer wieder zu der Limousine um. Mit einer Hand drehte sie das dünne Haar oben auf ihrem Kopf auf. Die hagere neben der fülligen Gestalt, zusammen mit dieser Geste, ließ Billy unwillkürlich an Laurel und Hardy denken. Die Mutter zog an der Hand des Mädchens, damit sie wegschaute, und beschloss augenscheinlich, dass sie sich lieber wieder ins Auto setzten, von wo aus der Tote nicht zu sehen war. Die Tochter warf noch einen letzten Blick hinter sich, bevor sie brav auf den Beifahrersitz stieg.

Von der anderen Seite der Autobahn rief jemand herüber. Der Verkehr Richtung Süden war ebenfalls zum Halten gekommen. Es ging anscheinend nirgends vor oder zurück, weil sämtliche Straßen in die und aus der Stadt gesperrt sein mussten. Sie erwiderte der männlichen Stimme, es bestünde kein Grund zur Besorgnis, es gäbe nichts zu sehen, und er möge bitte im Wagen bleiben, nicht in der prallen Sonne stehen. Ihr entging indes nicht, dass er murmelte, was sie mal mit sich tun könne. Es scherte sie nicht, sie hatte schon alle dummen Sprüche gehört, und sie musste dafür sorgen, dass alle auf Abstand blieben und Ruhe bewahrten.

Die Gerüchte bewirkten, dass die Temperaturen auf der ohnehin kochend heißen Autobahn noch weiter in die Höhe stiegen. Wenn sie das nicht im Griff behielt – was für eine Polizistin in Uniform schwer genug war, für eine in Jeans und T-Shirt, die sie gestern in Australien angezogen hatte, umso mehr –, wäre ihr Tatort nicht mehr zu gebrauchen. Und das Letzte, was sie für den Toten tun konnte, war, dafür zu sorgen, dass sein Tod richtig untersucht wurde. Sie musste alle Beweise sichern.

Billy prüfte, ob alle genug Abstand hielten, und öffnete nochmals die hintere Wagentür. Sie durfte nichts anfassen – keine Handschuhe –, sah sich jedoch den schwarzen Metallspieß im Nacken genauer an. Sie machte Fotos mit ihrem Mobiltelefon; von der Leiche, dem Wageninneren, der Straße drum herum und dem Bereich unter dem Auto; sogar vom Grasstreifen und den Wagen rechts und links, um die Position der Fahrzeuge zu dokumentieren.

Auf dem Display zoomte sie die im Nacken steckende Waffe heran, um sie deutlicher zu erkennen. Sie war seltsam: dünn und schwarz, mit einem Ende, das sich um neunzig Grad zu einem flachen Kopf ähnlich wie bei einem Nagel bog. So etwas hatte Billy noch nie gesehen.

Vorsichtig hob sie den baumelnden Arm auf seinen Schoß und schloss sämtliche Türen um den toten Fahrer. Sie fühlte sich mies, weil sie ihn im Kopf so nannte, konnte seinen Namen jedoch unmöglich herausbekommen, ohne seine Taschen zu durchsuchen. John Doe, Max Mustermann, toter Fahrer – letztlich spielte es keine Rolle, oder? Das Entscheidende war herauszufinden, was ihm passiert war. Billy war schleierhaft, wie das Verbrechen begangen wurde, doch es war geschehen, und das Wie war von der Spurensicherung zu klären, wenn sie hier eintraf. Jedenfalls würde Billy es ihnen nicht schwerer als nötig machen. Ja, ausnahmsweise würde sie sich bemühen, es nicht schlimmer zu machen.

Sie blickte sich um und sah, dass Pat mit einer Packung Feuchttücher winkte.

O Gott!

Ich habe es schon schlimmer gemacht.

Sie hatte zugelassen, dass die Krankenschwester sich in den Wagen beugte und den Toten anfasste. Überall auf dem toten Fahrer war ihre und Pats DNS. Die «Unflätige» war wütend gewesen, als der Verkehr zum Erliegen kam, richtig außer sich, hatte wild geflucht. Was, wenn Pat es getan hatte? Sie hätten keine Spuren. Und sie hatte das Blut gesehen und wusste, dass etwas in seinem Nacken steckte.

Wach auf!

Benutz dein Gehirn.

Billy nahm drei Feuchttücher von Pat an und fragte sich, ob sie schlau genug war, sich aus genau diesem Grund am Tatort zu schaffen zu machen. Und das Vertrauen eines Police Officers zu gewinnen. Billy reinigte sich die Hände und die Fingernägel.

«Dies ist ein Tatort», rief sie jedem in Hörweite zu. «Nähern Sie sich bitte nicht dem Fahrzeug.»

Überall wurde genickt, und die Augen wurden weit aufgerissen.

«Hat jemand Einmalhandschuhe, Plastiktüten oder so etwas bei sich?»

Was würde sie für einen gut ausgestatteten Streifenwagen geben!

Latexhandschuhe. Beweismitteltüten. Absperrband.

Schlagstock, Pfefferspray, Taser.

Eine Uniform wäre hilfreich.

Ein Funkgerät.

Aber sie hatte nichts von alldem, also musste sie improvisieren.

Und vorsichtig sein.

«Kann sein, dass ich einige Plastiktüten habe», sagte Charlotte und duckte sich in ihren SUV.

Billy holte ihr Telefon hervor und versuchte wieder anzurufen.

Während sie wartete, dass der Anruf zur Zentrale durchging, betrachtete sie die Fahrzeuge in ihrer unmittelbaren Nähe, die von hinten nach vorn ein hilfreiches Raster bildeten. Ganz rechts: toter Fahrer, dickes und dünnes Mutter-Tochter-Gespann und Pat Mackey, die unflätige Krankenschwester. Auf der mittleren Spur die teure Charlotte McVie in ihrem SUV, Billys Mietwagen und ein Renault mit Babysitzen, dessen Fahrer bisher nicht ausgestiegen war; auf der linken Spur der Campervan des vornehmen Olly Sims, Daisy Finchs pinker Micra und der BMW des grauhaarigen Schnösels. Der kam nun näher und wirkte nervös.

«Können wir ihn irgendwie …?», begann er.

«Sie ist von der Polizei», ranzte Pat ihn sofort an und trat aggressiv auf ihn zu. «Sie fassen nichts an, solange sie es nicht sagt.»

Der Silberfuchs hob die Hände und zog sich schnell wieder zurück. Billy schaffte es gerade noch zu erfragen, dass er Nigel Heathcote hieß.

«Kommt hier rüber mit seinem Mansplaining», murmelte Pat.

Billy versuchte nach wie vor, einen Notruf abzusetzen, und endlich ging er zur Einsatzzentrale durch.

«Notdienst. Welcher Service?»

Billy verlangte die Polizei, wurde durchgestellt und ging zum Grünstreifen, um die Situation zu schildern, ohne dass alle Welt mithörte. Sie sei Sergeant in einer nahen Ortschaft und müsse einen Verkehrsunfall melden.

«Wo hat sich der VU ereignet?», fragte die Person in der Vermittlung. Bei dem Lärm im Hintergrund kribbelte es in Billy; das war der klassische Adrenalinrausch einer Einsatzzentrale im Ernstfall.

«Es ist eigentlich kein Unfall, sondern … Na ja, ich bin mir nicht sicher, was es ist. Der Fahrer ist tot, und wir stecken alle im Stau fest.»

«Ist dort ein gefährlich hohes oder exzessives Verkehrsaufkommen?»

«Ja, wir stecken in einem Stau.»

«Und der VU hat den Stau verursacht?»

«Nein, die Straße wurde wegen der Autobombe im Deadwall-Tunnel gesperrt. Dann haben wir festgestellt, dass ein Fahrer tot ist.»

«Haben Sie es mit Wiederbelebung versucht?»

«Ihm steckt ein Metallspieß im Rücken.»

«Er ist erstochen worden?»

«Mir ist rätselhaft, wie. Er war allein in seinem Wagen.»

Es entstand eine Pause. «Telefonstreiche beim Notdienst sind strafbar. Wir zeigen jeden an, der das Kommunikationssystem missbraucht. Und es ist strafbar, sich als Polizeibedienstete auszugeben.»

«Das ist kein Streich, und ich bin wirklich Police Officer!» Billy nannte ihre Dienstnummer. «Ich weiß, dass es mehrere Terroranschläge gegeben hat und sehr viel zu tun ist, also können Sie gerade vermutlich keine Kollegen herschicken, aber ich muss einen Todesfall melden und brauche so bald wie möglich Hilfe.» Mit der Warnung, dass es noch dauern könne, bis Officers oder Krankenwagen kämen, beendete die Frau in der Vermittlung das Gespräch, wobei sie nach wie vor klang, als würde sie Billy nicht recht glauben.

Billy schaute vom eingefrorenen Gesicht des Toten zu den belebteren der anderen um sie herum. Alle Blicke waren auf sie gerichtet. Manchmal schienen die Leute Polizisten mehr zu misstrauen als den verdammten Kriminellen.

Einzig Nigel Heathcotes Blick ging in die Richtung, in die sich eigentlich der Verkehr bewegen müsste. Er lehnte an seiner Beifahrertür, die Arme verschränkt, und massierte seine Bizepse. Wie ein Nigel sah er nicht aus. Modischer Haarschnitt. Eine Ray-Ban im Mai. Der Silberfuchs wirkte ein bisschen selbstverliebt.

«Die hier habe ich gefunden.» Charlotte kam zu ihr mit einer Packung parfümierter Tüten, die für benutzte Windeln gedacht waren. In der anderen Hand hielt sie eine gelbe Dose mit «Rescue Remedy»-Kräuterbonbons. Sie hatte die drahtige Statur und das verhärmte Gesicht einer Hardcore-Sportlerin, vielleicht lief sie Marathons oder Triathlons. Ein Vorwand, um von zu Hause wegzukommen? Schon zog sie sich wieder in ihren Wagen zurück. Ohne Frage war sie am liebsten allein.

Andererseits war sie freundlich genug, Daisy und Olly vorher Kräuterbonbons zu geben. Der Kerl verzog das Gesicht und nahm die Pastille aus seinem Mund, worauf das Mädchen sie schnappte und sich in den Mund steckte. Verdammt. Wie schnell konnte man diese Stufe der Vertrautheit erreichen, in der man Speichel austauschte? Im Fall der beiden bedurfte es keiner halben Stunde.

Es sei denn, sie waren einander nicht so fremd, wie sie vorgaben, dachte Billy.

Daisy, die Billys Blick zu bemerken schien, sah auf.

«Verzeihung?», fragte sie. «Warum gucken Sie auf seinen Hinterkopf?»

«Ich denke nur nach», antwortete Billy so unbeteiligt wie möglich.

«Schicken sie mehr Leute?» Daisy fingerte an einer Paillettenreihe vorn an ihrem Kleid und strich sie glatt, damit sie weniger auffällig waren. Dennoch fingen sie bei jeder Bewegung die Sonne ein, wie Fische, die unter der Wasseroberfläche schimmerten.

Die Antwort war Nein, niemand käme, um sie zu unterstützen, nicht bei all den Terroranschlägen. Was Billy jedoch nicht vor versammelter Mannschaft auf der Autobahn verkünden wollte. Der Mörder sollte nicht wissen, dass das Einzige, was ihn von seiner Freiheit trennte, eine fast pensionierte Polizistin war.

«Sie schicken die Spurensicherung, sowie eine Einheit verfügbar ist.»

«Haben Sie die Spuren nicht schon kontaminiert?», beharrte Daisy.

«Meine oberste Pflicht ist, Leben zu erhalten», sagte Billy, «wenn ich es kann.» Sie wandte sich ab, um zu signalisieren, dass die Unterrichtsstunde vorbei war.

Daisy war ungefähr so alt, wie Billys Tochter heute wäre. Doch dies war nicht der Zeitpunkt für irgendwelche persönlichen Schwachstellen.

Konzentrier dich, Billy.

Weg von diesem Abgrund.

Das Mädchen war die Tochter von jemand anderem. Und sie interessierte sich ein bisschen zu sehr für die Details dieses Falls. Deshalb musste Billy sie auf dem Schirm behalten, und nur deshalb.

Sie benetzte sich die Lippen und schmeckte Benzin. Von weiter hinten wehten Fetzen von Stimmen, Musik und sogar Essensdüfte heran, als wäre das hier ein Picknick im Park. Was es nicht war. Ein Mann wurde ermordet. Es war ein Tatort.

Dieser Polizisten eigene Drang, in die Gefahr hineinzulaufen, wenn der gängigere Impuls wäre, vor ihr zu fliehen, war ihr selbst manchmal unverständlich. War es angeboren oder anerzogen? Mut oder Borniertheit? Sie hatte ihr Leben der Polizeiarbeit gewidmet, und die letzten Jahre hatten ihr wenig zurückgegeben.

Jetzt aber fühlte sie das vertraute Ziehen der Pflicht, gleich einer unsichtbaren Kette.

Vielleicht war es Selbsterhaltungstrieb – irgendwo hier war ein Mörder – oder ein Wunsch, sich zu beweisen. Vielleicht auch ein schräges Symptom der blöden Wechseljahre. So oder so wusste ihr rasendes Herz noch vor ihrem sich sträubenden Verstand, dass sie immer in diese Gefahr hineinlaufen würde.

Charlotte alias Strafzettelfrau

Audi Q7 (2023er-Modell, Hybrid-SUV)

Ich ertappe mich dabei, wie ich mit geschürzten Lippen Motorengeräusche nachahme. Brrr-rum-brum. Das machen die Zwillinge auch, wenn sie in dieses Auto dürfen.

Was, wenn sie weinen? Was, wenn sie Angst haben? Was, wenn alles nach hinten losgeht?

Sie werden die sein, die leiden.

Meine Hände lösen sich mit einem feuchten Schmatzen vom Lenkrad.

Die Jungs sind sicher.

Beruhige dich.

Ich muss sie als Erster finden!

Seine Stimme in meinem Kopf. Er findet es witzig, doch er muss alles kleinmachen, was er nicht versteht oder wofür ihm die Geduld fehlt, und empfindet es als bedrohlich, dass ich mich zu bessern versuche. Das zumindest sagt Jemima, und sie hat genug Urkunden an ihrer Wand, um hundertzwanzig Pfund für eine fünfundvierzigminütige Therapiesitzung zu verlangen. Also sollte sie es wissen, denn sie ist eine wahre Lebensretterin, in manchen Fällen im buchstäblichen Sinne, auch wenn er behauptet, sie sei keine echte Ärztin, sondern bloß eine Kopfärztin, die mit Selbstmitleid Geld macht.

Nimm eine Rescue Remedy.

Und natürlich geht der Deckel nicht auf. Tut. Er. Nie.

Dieser Junge mit der Mähne hat ihn zu fest draufgedrückt.

«Es ist typisch für das Patriarchat, ein Gesundheitsprodukt für Frauen mit einem Stress verursachenden Verschluss zu versehen. Geschieht das schlicht aus Unfähigkeit, oder ist es eine Form von Gaslighting?»

Solche Beschwerdebriefe zu verfassen, ist auch eine Art, durch den Tag zu kommen.

Wenn ich meine Fingernägel unter den Deckel stemme und etwas Luft in den Vakuumverschluss oder was auch immer bekomme … ja, das kleine Zischen verrät, dass er sich löst, was eine Wohltat nach dem winzigen Kampf mit dem Patriarchat ist, aus dem ich als Siegerin hervorgegangen bin. Meine Hände flattern. Reiß dich zusammen, im Ernst. Pack dir eine in den Mund, du dämliche Kuh.

Der Geschmack ist beruhigend.

Beruhig deine Gedanken.

Ich muss die Dose später aus dem Wagen nehmen. Es darf nichts Verräterisches zurückbleiben. Und der Innenraum muss ausgewischt werden. Es sei denn, der Wagen geht in den Stausee. Was das angeht, habe ich mich noch nicht entschieden. Vielleicht ist es mit diesem Plan wie mit den Beschwerdebriefen: Stressabbau, Wunscherfüllung, Rachefantasie, was auch immer, und alles wirkt im Konzept besser als in der Realität. Ich schicke die Briefe ja nie ab. Und sowieso, Stausee oder nicht, es gibt kein Zurück. Jetzt müsste es besser werden; das muss es. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Ist das ein Song? Die Hoffnung ist ewig. Die Hoffnung lebt ewig. Es ist ein Gedicht. Oder aus der Bibel. Warum weiß ich so was nicht? Er würde es wissen, weil er verdammt immer alles weiß. Oder es behauptet …

Fang nicht wieder damit an.

Mach was anderes. Schalte das Radio ein.

Autobomben.

Schusswechsel.

Verkehrskollaps.

Schalte das aus.

Aus!

Zu spät …

Ich ertappe mich dabei, wie ich wieder das Geräusch mache. Brr-rum-brum. Und der Troll ist frei. Er ist hier. In mir gefangen. Panik ist der böse kleine Kobold, der im Wageninnenraum umherhüpft und mir die Atemluft direkt aus dem Mund saugt. Seine scharfen Krallen flitzen über meine Schulter, kratzen mich …

Nein!

Jemima sagt, wenn man sich die Angst als Kobold vorstellt, nimmt man sich selbst die Kontrolle. Als wäre sie ein wildes Tier, dabei sind es nur die eigenen Gedanken.

Scheußliche, blöde Frauengedanken.

Ich muss sie als Erster finden!

Kontrollier dich, verdammt noch mal; du klingst genau wie er.

Atme.

Es ist kein Kobold.

Atme.

Der Kobold beruhigt sich.

Und sieh nach draußen. Der Himmel. Welche Farbe? Leuchtend blau. Streng dich mehr an, sei genauer. Lulworth-Blau. Das ist es. Farrow & Ball nennen es Lulworth-Blau. Und die Blätter? Ausgeblichen. Eher grau als grün. Mizzle, Nieselregen, so heißt der Ton. Die Straße ist natürlich in der Anthrazit-Nuance Railings. Die Polizistin trägt ein weißes Top, das so oft gewaschen wurde, dass es wie Blackened oder Dimpse aussieht, mit feinen schwarzen Pigmenten angereichert oder leicht bläulich grau. Ihr würde eine lebendigere Farbe wie Arsenic besser stehen, ein mattes helles Grün mit Blaustich.

Sieh sie an. Wo will die Polizistin hin? Sie sucht etwas unter den Bäumen. Wie ist sie in dieser Jahreszeit so braun geworden? Sie hat diesen Blick, den sie alle haben. Alle Polizisten. Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen. Tja, und was ist, wenn es etwas zu sehen gibt und keiner hinschaut, nicht mal die Polizei? Zum Teufel mit ihr. Zum. Teufel. Mit. Ihr. Soll sie doch unter den Bäumen herumschnüffeln. Was denkt sie, was sie da drüben findet? Einen Jungbrunnen?

Oh …

Die Hoffnung sprießt immer. So heißt das.

Der Stau wird sich bald auflösen. Wir werden weiterfahren – es ist noch Zeit.

Kapitel fünf

17:21 Uhr

Billy wollte sich den Bereich neben dem schwarzen Wagen am Fahrbahnrand ansehen. Sie überquerte den löchrigen roten Teer und betrat den breiten Grasstreifen, wo die Bäume mit ihren skelettartigen Ästen Plastiktüten eingefangen und zerrissen hatten; ihr Dad nannte sie früher Hexenschlüpfer. Aufgeweichter Unrat auf dem zotteligen Gras – ein Tetrapak Joghurt, eine zerrissene Durex-Verpackung; wie kommt die überhaupt hierher?

Hinter der Baumreihe ragte die Wand aus Kunststoffpaneelen auf. Das verblasste Muster hatte die Farbe von Körperflüssigkeiten. Die Barriere ragte hoch über ihr auf, genau wie das Pendant auf der anderen Seite der Autobahn. Unwillkürlich dachte Billy an einen Gulag. Und sie dachte, was für ein trostloser Ort zum Sterben dies hier war. Sie legte eine Hand an eine hagere junge Weißbirke. Diese armen Bäume können nur eine begrenzte Menge CO2 schlucken. Ihre Gedanken schweiften zu den Tierversuchen mit Beagles ab, die gezwungen wurden, Zigarettenqualm zu inhalieren.

Konzentration, Belinda!

Der Punkt war, dass es kein Baum verdient hatte, an einer englischen Autobahn zu stehen. Billy drängte sich zwischen den monoxidgrauen Ästen hindurch zur Plastikwand. Sie war viel zu hoch, zu steil und zu glatt, um hinüberzuklettern. Und es gab nirgends Türen oder Spalte über dem Boden, durch die man kriechen könnte. Auf diesem Weg war niemand vom Tatort geflohen. Sie schlug dreimal mit der Hand gegen die Wand.

Der dumpfe Klang verstummte sofort.