Der Stechlin - Theodor Fontane - E-Book

Der Stechlin E-Book

Theodor Fontane

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Beschreibung

Der Stechlin ist Fontanes letzter Roman. Seine Hauptfigur, der alte Dubslav von Stechlin, trägt den gleichen Namen wie der nahegelegene See, der in die märkische Landschaft eingebettet ist. Das Gewicht des Romans liegt nicht auf der Handlung, sondern auf den vielfältigen Dialogen, die die gesellschaftliche Wirklichkeit zur Wende vom 19. auf das 20. Jahrhundert offenbaren. "I, keineswegs. Und dann, Sie waren ja ganz unschuldig, die Gnäd'ge fing ja davon an; erinnern Sie sich, sie verliebte sich ordentlich in die Geschichte von den Rinnsteinbohlen, und wie sie drauf rumgetrampelt, bis die Ratten rauskamen. Ich glaube sogar, sie sagte ›Biester‹. Aber das schadet nicht. Das ist so Berliner Stil. Und unsre Gnäd'ge hier (beiläufig eine geborene Helfrich) is eine Vollblutberlinerin." Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 633

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Theodor Fontane

Der Stechlin

Theodor Fontane

Der Stechlin

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 2. Auflage, ISBN 978-3-954188-15-4

null-papier.de/392

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Vor­wort des Ver­le­gers

Schloß Stech­lin

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Klos­ter Wutz

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Nach dem »Eier­häus­chen«

Elf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel

Wahl in Rheins­berg-Wutz

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel

Neun­zehn­tes Ka­pi­tel

Zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

In Mis­si­on nach Eng­land

Ein­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Zwei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Drei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Vier­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Ver­lo­bung – Weih­nachts­rei­se nach Stech­lin

Fün­f­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Sechs­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Acht­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Neun­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Ein­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Hoch­zeit

Zwei­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Drei­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Vierund­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Fün­fund­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Son­nen­un­ter­gang

Sechs­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Achtund­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Neun­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Ver­wei­le doch. Tod. Be­gräb­nis. Neue Tage

Vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Ein­und­vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Zwei­und­vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Drei­und­vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Vierund­vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Fün­fund­vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Sechs­und­vier­zigs­tes Ka­pi­tel

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Vorwort des Verlegers

Zu Zei­ten des Au­tors wa­ren klei­ne, fran­zö­si­sche An­mer­kun­gen und Er­gän­zun­gen wie »coûte que coûte« oder »pour com­b­ler le bon­heur« noch weit ver­brei­tet. Heu­te gel­ten sie (laut Du­den) als ver­al­tet. Ich habe mir er­laubt, die Über­set­zun­gen der­sel­ben in Fuß­no­ten ein­zu­fü­gen. Eben­so ver­fah­ren bin ich bei den la­tei­ni­schen Pas­sa­gen.

Jür­gen Schul­ze, 11. Ok­to­ber 2016

Schloß Stechlin

Erstes Kapitel

Im Nor­den der Graf­schaft Rup­pin, hart an der meck­len­bur­gi­schen Gren­ze, zieht sich von dem Städt­chen Gran­see bis nach Rheins­berg hin (und noch dar­über hin­aus) eine meh­re­re Mei­len lan­ge Seen­ket­te durch eine men­schen­ar­me, nur hie und da mit ein paar Dör­fern, sonst aber aus­schließ­lich mit Förs­te­rei­en, Glas- und Teer­öfen be­setz­te Wal­dung. Ei­ner der Seen, die die­se Seen­ket­te bil­den, heißt »der Stech­lin«. Zwi­schen fla­chen, nur an ei­ner ein­zi­gen Stel­le steil und kaiar­tig an­stei­gen­den Ufern liegt er da, rund­um von al­ten Bu­chen ein­ge­faßt, de­ren Zwei­ge, von ih­rer eig­nen Schwe­re nach un­ten ge­zo­gen, den See mit ih­rer Spit­ze be­rüh­ren. Hie und da wächst ein we­ni­ges von Schilf und Bin­sen auf, aber kein Kahn zieht sei­ne Fur­chen, kein Vo­gel singt, und nur sel­ten, daß ein Ha­bicht drü­ber hin­fliegt und sei­nen Schat­ten auf die Spie­gel­flä­che wirft. Al­les still hier. Und doch, von Zeit zu Zeit wird es an eben­die­ser Stel­le le­ben­dig. Das ist, wenn es weit drau­ßen in der Welt, sei’s auf Is­land, sei’s auf Java zu rol­len und zu grol­len be­ginnt oder gar der Aschen­re­gen der ha­wai­ischen Vul­ka­ne bis weit auf die Süd­see hin­aus­ge­trie­ben wird. Dann regt sich’s auch hier, und ein Was­ser­strahl springt auf und sinkt wie­der in die Tie­fe. Das wis­sen alle, die den Stech­lin um­woh­nen, und wenn sie da­von spre­chen, so set­zen sie wohl auch hin­zu: »Das mit dem Was­ser­strahl, das ist nur das Klei­ne, das bei­nah All­täg­li­che; wenn’s aber drau­ßen was Gro­ßes gibt, wie vor hun­dert Jah­ren in Lissa­bon, dann bro­del­t’s hier nicht bloß und spru­delt und stru­delt, dann steigt statt des Was­ser­strahls ein ro­ter Hahn auf und kräht laut in die Lan­de hin­ein.«

Das ist der Stech­lin, der See Stech­lin.

*

Aber nicht nur der See führt die­sen Na­men, auch der Wald, der ihn um­schließt. Und Stech­lin heißt eben­so das lang­ge­streck­te Dorf, das sich, den Win­dun­gen des Sees fol­gend, um sei­ne Süd­spit­ze her­um­zieht. Etwa hun­dert Häu­ser und Hüt­ten bil­den hier eine lan­ge, schma­le Gas­se, die sich nur da, wo eine von Klos­ter Wutz her her­an­füh­ren­de Kas­ta­ni­en­al­lee die Gas­se durch­schnei­det, platz­ar­tig er­wei­tert. An eben­die­ser Stel­le fin­det sich denn auch die gan­ze Herr­lich­keit von Dorf Stech­lin zu­sam­men; das Pfarr­haus, die Schu­le, das Schul­zen­amt, der Krug, die­ser letz­te­re zu­gleich ein Eck- und Kram­la­den mit ei­nem klei­nen Moh­ren und ei­ner Gir­lan­de von Schwe­fel­fä­den in sei­nem Schau­fens­ter. Die­ser Ecke schräg ge­gen­über, un­mit­tel­bar hin­ter dem Pfarr­hau­se, steigt der Kirch­hof lehnan, auf ihm, so ziem­lich in sei­ner Mit­te, die früh­mit­tel­al­ter­li­che Feld­stein­kir­che mit ei­nem aus dem vo­ri­gen Jahr­hun­dert stam­men­den Dach­rei­ter und ei­nem zur Sei­te des al­ten Rund­bo­gen­por­tals an­ge­brach­ten Holzarm, dran eine Glo­cke hängt. Ne­ben die­sem Kirch­hof samt Kir­che setzt sich dann die von Klos­ter Wutz her her­an­füh­ren­de Kas­ta­ni­en­al­lee noch eine klei­ne Stre­cke wei­ter fort, bis sie vor ei­ner über einen sump­fi­gen Gra­ben sich hin­zie­hen­den und von zwei rie­si­gen Find­lings­blö­cken flan­kier­ten Boh­len­brücke halt­macht. Die­se Brücke ist sehr pri­mi­tiv. Jen­seits der­sel­ben aber steigt das Her­ren­haus auf, ein gelb­ge­tünch­ter Bau mit ho­hem Dach und zwei Blitz­ab­lei­tern.

Auch die­ses Her­ren­haus heißt Stech­lin, Schloß Stech­lin.

*

Et­li­che hun­dert Jah­re zu­rück stand hier ein wirk­li­ches Schloß, ein Back­stein­bau mit di­cken Rundtür­men, aus wel­cher Zeit her auch noch der Gra­ben stammt, der die von ihm durch­schnit­te­ne, sich in den See hin­ein er­stre­cken­de Land­zun­ge zu ei­ner klei­nen In­sel mach­te. Das ging so bis in die Tage der Re­for­ma­ti­on. Wäh­rend der Schwe­den­zeit aber wur­de das alte Schloß nie­der­ge­legt, und man schi­en es sei­nem gänz­li­chen Ver­fall über­las­sen, auch nichts an sei­ne Stel­le set­zen zu wol­len, bis kurz nach dem Re­gie­rungs­an­tritt Fried­rich Wil­helms I. die gan­ze Trüm­mer­mas­se bei­sei­te ge­schafft und ein Neu­bau be­liebt wur­de. Die­ser Neu­bau war das Haus, das jetzt noch stand. Es hat­te den­sel­ben nüch­ter­nen Cha­rak­ter wie fast al­les, was un­ter dem Sol­da­ten­kö­nig ent­stand, und war nichts wei­ter als ein ein­fa­ches Corps de lo­gis, des­sen zwei vor­sprin­gen­de, bis dicht an den Gra­ben rei­chen­de Sei­ten­flü­gel ein Huf­ei­sen und in­ner­halb des­sel­ben einen kah­len Vor­hof bil­de­ten, auf dem, als ein­zi­ges Schmuck­stück, eine große blan­ke Glas­ku­gel sich prä­sen­tier­te. Sonst sah man nichts als eine vor dem Hau­se sich hin­zie­hen­de Ram­pe, von de­ren dem Hofe zu­ge­kehr­ten Vor­der­wand der Kalk schon wie­der ab­fiel. Gleich­zei­tig war aber doch ein Be­stre­ben un­ver­kenn­bar, ge­ra­de die­se Ram­pe zu was Be­son­de­rem zu ma­chen, und zwar mit Hil­fe meh­re­rer Kü­bel mit exo­ti­schen Blatt­pflan­zen, dar­un­ter zwei Aloes, von de­nen die eine noch gut im Stan­de, die and­re da­ge­gen krank war. Aber ge­ra­de die­se kran­ke war der Lieb­ling des Schloß­herrn, weil sie je­den Som­mer in ei­ner ihr frei­lich nicht zu­kom­men­den Blü­te stand. Und das hing so zu­sam­men. Aus dem, sump­fi­gen Schloß­gra­ben hat­te der Wind vor lan­ger Zeit ein frem­des Sa­men­korn in den Kü­bel der kran­ken Aloe ge­weht, und all­jähr­lich schos­sen in­fol­ge da­von aus der Mit­te der schon an­ge­gelb­ten Alo­eblät­ter die weiß und ro­ten Dol­den des Was­ser­liesch oder des Bu­to­mus um­bel­la­tus auf. Je­der Frem­de, der kam, wenn er nicht zu­fäl­lig ein Ken­ner war, nahm die­se Dol­den für rich­ti­ge Alo­eblü­ten, und der Schloß­herr hü­te­te sich wohl, die­sen Glau­ben, der eine Quel­le der Er­hei­te­rung für ihn war, zu zer­stö­ren.

Und wie denn al­les hier her­um den Na­men Stech­lin führ­te, so na­tür­lich auch der Schloß­herr selbst. Auch er war ein Stech­lin.

Dubs­lav von Stech­lin, Ma­jor a. D. und schon ein gut Stück über Sech­zig hin­aus, war der Ty­pus ei­nes Mär­ki­schen von Adel, aber von der mil­de­ren Ob­ser­vanz, ei­nes je­ner er­quick­li­chen Ori­gi­na­le, bei de­nen sich selbst die Schwä­chen in Vor­zü­ge ver­wan­deln. Er hat­te noch ganz das ei­gen­tüm­lich sym­pa­thisch be­rüh­ren­de Selbst­ge­fühl all de­rer, die »schon vor den Ho­hen­zol­lern da wa­ren«, aber er heg­te die­ses Selbst­ge­fühl nur ganz im stil­len, und wenn es den­noch zum Aus­druck kam, so klei­de­te sich’s in Hu­mor, auch wohl in Selbstiro­nie, weil er sei­nem gan­zen We­sen nach über­haupt hin­ter al­les ein Fra­ge­zei­chen mach­te. Sein schöns­ter Zug war eine tie­fe, so recht aus dem Her­zen kom­men­de Hu­ma­ni­tät, und Dün­kel und Über­heb­lich­keit (wäh­rend er sonst eine Nei­gung hat­te, fünf ge­ra­de sein zu las­sen) wa­ren so ziem­lich die ein­zi­gen Din­ge, die ihn em­pör­ten. Er hör­te gern eine freie Mei­nung, je dras­ti­scher und ex­tre­mer, de­sto bes­ser. Daß sich die­se Mei­nung mit der sei­ni­gen deck­te, lag ihm fern zu wün­schen. Bei­nah das Ge­gen­teil. Pa­ra­do­xen wa­ren sei­ne Pas­si­on. »Ich bin nicht klug ge­nug, sel­ber wel­che zu ma­chen, aber ich freue mich, wenn’s and­re tun; es ist doch im­mer was drin. Unan­fecht­ba­re Wahr­hei­ten gibt es über­haupt nicht, und wenn es wel­che gibt, so sind sie lang­wei­lig.« Er ließ sich gern was vor­plau­dern und plau­der­te sel­ber gern.

Des al­ten Schloß­herrn Le­bens­gang war mär­kisch-her­kömm­lich ge­we­sen. Von jung an lie­ber im Sat­tel als bei den Bü­chern, war er erst nach zwei­ma­li­ger Schei­te­rung sieg­reich durch das Fähn­richsex­amen ge­steu­ert und gleich da­nach bei den Bran­den­bur­gi­schen Küras­sie­ren ein­ge­tre­ten, bei de­nen selbst­ver­ständ­lich auch schon sein Va­ter ge­stan­den hat­te. Die­ser sein Ein­tritt ins Re­gi­ment fiel so ziem­lich mit dem Re­gie­rungs­an­tritt Fried­rich Wil­helms IV. zu­sam­men, und wenn er des­sen er­wähn­te, so hob er, sich selbst per­si­flie­rend, ger­ne her­vor, »daß al­les Gro­ße sei­ne Begleiter­schei­nun­gen habe«. Sei­ne Jah­re bei den Küras­sie­ren wa­ren im we­sent­li­chen Frie­dens­jah­re ge­we­sen; nur anno vierund­sech­zig war er mit in Schles­wig, aber auch hier, ohne »zur Ak­ti­on« zu kom­men. »Es kommt für einen Mär­ki­schen nur dar­auf an, über­haupt mit da­bei ge­we­sen zu sein; das and­re steht in Got­tes Hand.« Und er schmun­zel­te, wenn er der­glei­chen sag­te, sei­ne Hö­rer je­des­mal in Zwei­fel dar­über las­send, ob er’s ernst­haft oder scherz­haft ge­meint habe. We­nig mehr als ein Jahr vor Aus­bruch des vierund­sech­zi­ger Kriegs war ihm ein Sohn ge­bo­ren wor­den, und kaum wie­der in sei­ne Gar­ni­son Bran­den­burg ein­ge­rückt, nahm er den Ab­schied, um sich auf sein seit dem Tode des Va­ters halb ver­öde­tes Schloß Stech­lin zu­rück­zu­zie­hen. Hier war­te­ten sei­ner glück­li­che Tage, sei­ne glück­lichs­ten, aber sie wa­ren von kur­z­er Dau­er – schon das Jahr dar­auf starb ihm die Frau. Sich eine neue zu neh­men, wi­der­stand ihm, halb aus Ord­nungs­sinn und halb aus äs­the­ti­scher Rück­sicht. »Wir glau­ben doch alle mehr oder we­ni­ger an eine Au­fer­ste­hung« (das heißt, er per­sön­lich glaub­te ei­gent­lich nicht dar­an), »und wenn ich dann oben an­kom­me mit ei­ner rechts und ei­ner links, so ist das doch im­mer eine ge­nier­li­che Sa­che.« Die­se Wor­te – wie denn der El­tern Tun nur all­zu häu­fig der Miß­bil­li­gung der Kin­der be­geg­net – rich­te­ten sich in Wirk­lich­keit ge­gen sei­nen drei­mal ver­hei­ra­tet ge­we­se­nen Va­ter, an dem er über­haupt al­ler­lei Gro­ßes und Klei­nes aus­zu­set­zen hat­te, so bei­spiels­wei­se auch, daß man ihm, dem Soh­ne, den pom­mer­schen Na­men »Dubs­lav« bei­ge­legt hat­te. »Ge­wiß, mei­ne Mut­ter war eine Pom­mer­sche, noch dazu von der In­sel Use­dom, und ihr Bru­der, nun ja, der hieß Dubs­lav. Und so war denn ge­gen den Na­men schon um des On­kels wil­len nicht viel ein­zu­wen­den, und um so we­ni­ger, als er ein Erbon­kel war. (Daß er mich schließ­lich schänd­lich im Stich ge­las­sen, ist eine Sa­che für sich.) Aber trotz­dem bleib’ ich da­bei, sol­che Na­mens­man­sche­rei ver­wirrt bloß. Was ein Mär­ki­scher ist, der muß Joa­chim hei­ßen oder Wol­de­mar. Bleib im Lan­de und tau­fe dich red­lich. Wer aus Frie­sack is, darf nicht Raoul hei­ßen.«

Dubs­lav von Stech­lin blieb also Wit­wer. Das ging nun schon an die drei­ßig Jah­re. An­fangs war’s ihm schwer ge­wor­den, aber jetzt lag al­les hin­ter ihm, und er leb­te »com­me phi­lo­so­phe« nach dem Wort und Vor­bild des großen Kö­nigs, zu dem er je­der­zeit be­wun­dernd auf­blick­te. Das war sein Mann, mehr als ir­gend­wer, der sich seit­dem einen Na­men ge­macht hat­te. Das zeig­te sich je­des­mal, wenn ihm ge­sagt wur­de, daß er einen Bis­mar­ck­kopf habe. »Nun ja, ja, den hab’ ich; ich soll ihm so­gar ähn­lich se­hen. Aber die Leu­te sa­gen es im­mer so, als ob ich mich da­für be­dan­ken müß­te. Wenn ich nur wüß­te, bei wem; viel­leicht beim lie­ben Gott, oder am Ende gar bei Bis­marck selbst. Die Stech­li­ne sind aber auch nicht von schlech­ten El­tern. Au­ßer­dem, ich für mei­ne Per­son, ich habe bei den sechs­ten Küras­sie­ren ge­stan­den, und Bis­marck bloß bei den sie­ben­ten, und die klei­ne­re Zahl ist in Preu­ßen be­kannt­lich im­mer die grö­ße­re; – ich bin ihm also einen über. Und Fried­richs­ruh, wo al­les jetzt hin­pil­gert, soll auch bloß ’ne Kate sein. Da­rin sind wir uns also gleich. Und sol­chen See, wie den ›Stech­lin‹, nu, den hat er schon ganz ge­wiß nicht. So was kommt über­haupt bloß sel­ten vor.«

Ja, auf sei­nen See war Dubs­lav stolz, aber de­sto­we­ni­ger stolz war er auf sein Schloß, wes­halb es ihn auch ver­droß, wenn es über­haupt so ge­nannt wur­de. Von den ar­men Leu­ten ließ er sich’s ge­fal­len: »Für die ist es ein ›Schloß‹, aber sonst ist es ein al­ter Kas­ten und wei­ter nichts.« Und so sprach er denn lie­ber von sei­nem »Haus«, und wenn er einen Brief schrieb, so stand dar­über »Haus Stech­lin«. Er war sich auch be­wußt, daß es kein Schloß­le­ben war, das er führ­te. Vor­dem, als der alte Back­stein­bau noch stand, mit sei­nen di­cken Tür­men und sei­nem Lug­ins­land, von dem aus man, über die Kro­nen der Bäu­me weg, weit ins Land hin­aus­sah, ja, da­mals war hier ein Schloß­le­ben ge­we­sen, und die der­zei­ti­gen al­ten Stech­li­ne hat­ten teil­ge­nom­men an al­len Fest­lich­kei­ten, wie sie die Rup­pi­ner Gra­fen und die meck­len­bur­gi­schen Her­zö­ge ga­ben, und wa­ren mit den Boit­zen­bur­gern und den Bas­se­wit­zens ver­schwä­gert ge­we­sen. Aber heu­te wa­ren die Stech­li­ne Leu­te von schwa­chen Mit­teln, die sich nur eben noch hiel­ten und be­stän­dig be­müht wa­ren, durch eine »gute Par­tie« sich wie­der leid­lich in die Höhe zu brin­gen. Auch Dubs­lavs Va­ter war auf die Wei­se zu sei­nen drei Frau­en ge­kom­men, un­ter de­nen frei­lich nur die ers­te das in sie ge­setz­te Ver­trau­en ge­recht­fer­tigt hat­te. Für den jet­zi­gen Schloß­herrn, der von der zwei­ten Frau stamm­te, hat­te sich dar­aus lei­der kein un­mit­tel­ba­rer Vor­teil er­ge­ben, und Dubs­lav von Stech­lin wäre klei­ner und großer Sor­gen und Ver­le­gen­hei­ten nie los und le­dig ge­wor­den, wenn er nicht in dem be­nach­bar­ten Gran­see sei­nen al­ten Freund Ba­ruch Hirsch­feld ge­habt hät­te. Die­ser Alte, der den großen Tuch­la­den am Markt und au­ßer­dem die Mo­de­sa­chen und Da­men­hü­te hat­te, hin­sicht­lich de­ren es im­mer hieß, »Ger­son schi­cke ihm al­les zu­erst« – die­ser alte Ba­ruch, ohne das »Ge­schäft­li­che« dar­über zu ver­ges­sen, hing in der Tat mit ei­ner Art Zärt­lich­keit an dem Stech­li­ner Schloß­herrn, was, wenn es sich mal wie­der um eine neue Schuld­ver­schrei­bung han­del­te, re­gel­mä­ßig zu hei­keln Aus­ein­an­der­set­zun­gen zwi­schen Hirsch­feld Va­ter und Hirsch­feld Sohn führ­te.

»Gott, Isi­dor, ich weiß, du bist fürs Neue. Aber was ist das Neue? Das Neue ver­sam­melt sich im­mer auf un­serm Markt, und mal stürmt es uns den La­den und nimmt uns die Hüte, Stück für Stück, und die Rei­her­fe­dern und die Strau­ßen­fe­dern. Ich bin fürs Alte und für den gu­ten al­ten Herrn von Stech­lin. Is doch der Va­ter von sei­nem Groß­va­ter ge­fal­len in der großen Schlacht bei Prag und hat ge­zahlt mit sei­nem Le­ben.«

»Ja, der hat ge­zahlt; we­nigs­tens hat er ge­zahlt mit sei­nem Le­ben. Aber der von heu­te…«

»Der zahlt auch, wenn er kann und wenn er hat. Und wenn er nicht hat, und ich sage: ›Herr von Stech­lin, ich wer­de schrei­ben sie­ben­ein­halb‹, dann feilscht er nicht und dann zwackt er nicht. Und wenn er kippt, nu, da ha­ben wir das Ob­jekt: Mit­tel­bo­den und Wald und Jagd und viel Fisch­fang. Ich seh’ es im­mer so ganz klein in der Per­spek­ti­v’, und ich seh’ auch schon den Kirch­turm.«

»Aber, Va­ter­le­ben, was sol­len wir mit ’m Kirch­turm?«

In die­ser Rich­tung gin­gen öf­ters die Ge­sprä­che zwi­schen Va­ter und Sohn, und was der Alte vor­läu­fig noch in der »Per­spek­ti­ve« sah, das wäre viel­leicht schon Wirk­lich­keit ge­wor­den, wenn nicht des al­ten Dubs­lav um zehn Jah­re äl­te­re Schwes­ter mit ih­rem von der Mut­ter her er­erb­ten Ver­mö­gen ge­we­sen wäre: Schwes­ter Adel­heid, Do­mi­na zu Klos­ter Wutz. Die half und sag­te gut, wenn es schlecht stand oder gar zum Äu­ßers­ten zu kom­men schi­en. Aber sie half nicht aus Lie­be zu dem Bru­der – ge­gen den sie, ganz im Ge­gen­teil, viel ein­zu­wen­den hat­te -, son­dern le­dig­lich aus ei­nem all­ge­mei­nen Stech­lin­schen Fa­mi­li­en­ge­fühl. Preu­ßen war was und die Mark Bran­den­burg auch; aber das Wich­tigs­te wa­ren doch die Stech­lins, und der Ge­dan­ke, das alte Schloß in an­dern Be­sitz und nun gar in einen sol­chen über­ge­hen zu se­hen, war ihr un­er­träg­lich. Und über all dies hin­aus war ja noch ihr Pa­ten­kind da, ihr Nef­fe Wol­de­mar, für den sie all die Lie­be heg­te, die sie dem Bru­der ver­sag­te.

Ja, die Do­mi­na half, aber sol­cher Hil­fen un­er­ach­tet wuchs das Ge­fühl der Ent­frem­dung zwi­schen den Ge­schwis­tern, und so kam es denn, daß der alte Dubs­lav, der die Schwes­ter in Klos­ter Wutz we­der gern be­such­te noch auch ih­ren Be­such gern emp­fing, nichts von Um­gang be­saß als sei­nen Pas­tor Lo­ren­zen (den frü­he­ren Er­zie­her Wol­de­mars) und sei­nen Küs­ter und Dorf­schul­leh­rer Krip­pen­sta­pel, zu de­nen sich al­len­falls noch Ober­förs­ter Katz­ler ge­sell­te, Katz­ler, der Feld­jä­ger ge­we­sen war und ein gut Stück Welt ge­se­hen hat­te. Doch auch die­se drei ka­men nur, wenn sie ge­ru­fen wur­den, und so war ei­gent­lich nur ei­ner da, der in je­dem Au­gen­bli­cke Red’ und Ant­wort stand. Das war En­gel­ke, sein al­ter Die­ner, der seit bei­na­he fünf­zig Jah­ren al­les mit sei­nem Herrn durch­lebt hat­te, sei­ne glück­li­chen Leut­nants­ta­ge, sei­ne kur­ze Ehe und sei­ne lan­ge Ein­sam­keit. En­gel­ke, noch um ein Jahr äl­ter als sein Herr, war des­sen Ver­trau­ter ge­wor­den, aber ohne Ver­trau­lich­keit. Dubs­lav ver­stand es, die Schei­de­wand zu zie­hen. Üb­ri­gens wär’ es auch ohne die­se Kunst ge­gan­gen. Denn En­gel­ke war ei­ner von den gu­ten Men­schen, die nicht aus Be­rech­nung oder Klug­heit, son­dern von Na­tur hin­ge­bend und de­mü­tig sind und in ei­nem treu­en Die­nen ihr Ge­nü­ge fin­den. All­tags war er, so Win­ter wie Som­mer, in ein Lein­wand­ha­bit ge­klei­det, und nur wenn es zu Tisch ging, trug er eine rich­ti­ge Li­vree von sand­far­be­nem Tuch mit großen Knöp­fen dran. Es wa­ren Knöp­fe, die noch die Zei­ten des Rheins­ber­ger Prin­zen Hein­rich ge­se­hen hat­ten, wes­halb Dubs­lav, als er mal wie­der in Ver­le­gen­heit ge­ra­ten war, zu dem jüngst ver­stor­be­nen al­ten Herrn von Kort­schä­del ge­sagt hat­te: »Ja, Kort­schä­del, wenn ich so mei­nen En­gel­ke, wie er da geht und steht, ins mär­ki­sche Pro­vin­zial­mu­se­um ab­lie­fern könn­te, so krieg­t’ ich ein Jahr­ge­halt und wäre raus.«

*

Das war im Mai, daß der alte Stech­lin die­se Wor­te zu sei­nem Freun­de Kort­schä­del ge­spro­chen hat­te. Heu­te aber war drit­ter Ok­to­ber und ein wun­der­vol­ler Herbst­tag dazu. Dubs­lav, sonst emp­find­lich ge­gen Zug, hat­te die Tü­ren auf­ma­chen las­sen, und von dem großen Por­tal her zog ein er­quick­li­cher Luft­strom bis auf die mit weiß und schwar­zen Flie­sen ge­deck­te Ve­ran­da hin­aus. Eine große, et­was schad­haf­te Mar­ki­se war hier her­ab­ge­las­sen und gab Schutz ge­gen die Son­ne, de­ren Lich­ter durch die schad­haf­ten Stel­len hin­durch­schie­nen und auf den Flie­sen ein Schat­ten­spiel auf­führ­ten. Gar­ten­stüh­le stan­den um­her, vor ei­ner Bank aber, die sich an die Haus­wand lehn­te, wa­ren dop­pel­te Stroh­mat­ten ge­legt. Auf eben die­ser Bank, ein Bild des Be­ha­gens, saß der alte Stech­lin in Jop­pe und breit­krem­pi­gem Filz­hut und sah, wäh­rend er aus sei­nem Meer­schaum al­ler­lei Rin­ge blies, auf ein Run­dell, in des­sen Mit­te, von Blu­men ein­ge­faßt, eine klei­ne Fon­tä­ne plät­scher­te. Rechts da­ne­ben lief ein so­ge­nann­ter Poe­ten­steig, an des­sen Aus­gang ein ziem­lich ho­her, aus al­ler­lei Ge­bälk zu­sam­men­ge­zim­mer­ter Aus­sichtsturm auf­rag­te. Ganz oben eine Platt­form mit Fah­nen­stan­ge, dar­an die preu­ßi­sche Flag­ge weh­te, schwarz und weiß, al­les schon ziem­lich ver­schlis­sen.

En­gel­ke hat­te vor kur­z­en einen ro­ten Strei­fen an­nä­hen wol­len, war aber mit sei­nem Vor­schlag nicht durch­ge­drun­gen. »Laß. Ich bin nicht da­für. Das alte Schwarz und Weiß hält ge­ra­de noch; aber wenn du was Ro­tes dran nähst, dann reißt es ge­wiß.«

Die Pfei­fe war aus­ge­gan­gen, und Dubs­lav woll­te sich eben von sei­nem Platz er­he­ben und nach En­gel­ke ru­fen, als die­ser vom Gar­ten­saal her auf die Ve­ran­da her­austrat.

»Das ist recht, En­gel­ke, daß du kommst… Aber du hast da ja was wie ’n Te­le­gramm in der Hand. Ich kann Te­le­gramms nicht lei­den. Im­mer is ei­ner dod, oder es kommt wer, der bes­ser zu Hau­se ge­blie­ben wäre.«

En­gel­ke grien­te. »Der jun­ge Herr kommt.«

»Und das weißt du schon?«

»Ja, Bro­se hat es mir ge­sagt.«

»So, so. Dienst­ge­heim­nis. Na, gib her.«

Und un­ter die­sen Wor­ten brach er das Te­le­gramm auf und las: »Lie­ber Papa. Bin sechs Uhr bei dir. Rex und von Cz­a­ko be­glei­ten mich. Dein Wol­de­mar.«

En­gel­ke stand und war­te­te.

»Ja, was da tun, En­gel­ke?«, sag­te Dubs­lav und dreh­te das Te­le­gramm hin und her. »Und aus Crem­men und von heu­te früh«, fuhr er fort. »Da müs­sen sie also die Nacht über schon in Crem­men ge­we­sen sein. Auch kein Spaß.«

»Aber Crem­men is doch so­weit ganz gut.«

»Nu, ge­wiß, ge­wiß. Bloß sie ha­ben da so kur­ze Bet­ten… Und wenn man, wie Wol­de­mar, Ka­val­le­rist ist, kann man ja doch auch die acht Mei­len von Ber­lin bis Stech­lin in ei­ner Pace ma­chen. Wa­rum also Nacht­quar­tier? Und Rex und von Cz­a­ko be­glei­ten mich. Ich ken­ne Rex nicht und ken­ne von Cz­a­ko nicht. Wahr­schein­lich Re­gi­ments­ka­me­ra­den. Ha­ben wir denn was?«

»Ich denk’ doch, gnä­di­ger Herr. Und wo­vor ha­ben wir denn uns­re Mam­sell? Die wird schon was fin­den.«

»Nu gut. Also wir ha­ben was. Aber wen la­den wir dazu ein? So bloß ich, das geht nicht. Ich mag mich kei­nem Men­schen mehr vor­set­zen. Cz­a­ko, das gin­ge viel­leicht noch. Aber Rex, wenn ich ihn auch nicht ken­ne, zu so was Fei­nem wie Rex pass’ ich nicht mehr; ich bin zu alt­mo­disch ge­wor­den. Was meinst du, ob die Gun­der­manns wohl kön­nen?«

»Ach, die kön­nen schon. Er ge­wiß, und sie kluckt auch bloß im­mer so rum.«

»Also Gun­der­manns. Gut. Und dann viel­leicht Ober­förs­ters. Das äl­tes­te Kind hat frei­lich die Ma­sern, und die Frau, das heißt die Ge­mah­lin (und Ge­mah­lin is ei­gent­lich auch noch nicht das rech­te Wort), die er­war­tet wie­der. Man weiß nie recht, wie man mit ihr dran ist und wie man sie nen­nen soll, Ober­förs­te­rin Katz­ler oder Durch­laucht. Aber man kann’s am Ende ver­su­chen. Und dann un­ser Pas­tor. Der hat doch we­nigs­tens die Bil­dung. Gun­der­mann al­lein ist zu we­nig und ei­gent­lich bloß ein Kluten­tre­ter. Und seit­dem er die Sie­ben­müh­len hat, ist er noch we­ni­ger ge­wor­den.«

En­gel­ke nick­te.

»Na, dann schick also Mar­tin. Aber er soll sich pro­per ma­chen. Oder viel­leicht ist Bro­se noch da; der kann ja auf sei­nem Re­tour­gang bei Gun­der­manns mit ran­ge­hen. Und soll ih­nen sa­gen sie­ben Uhr, aber nicht frü­her; sie sit­zen sonst so lan­ge rum, und man weiß nicht, wo­von man re­den soll. Das heißt mit ihm, sie re­d’t im­mer­zu… Und gib Bro­sen auch ’nen Kor­nus und funf­zig Pfen­nig.«

»Ich werd’ ihm drei­ßig ge­ben.«

»Nein, nein, funf­zig. Erst hat er ja doch was ge­bracht, und nu nimmt er wie­der was mit. Das ist ja so gut wie dop­pelt. Also funf­zig. Knaps ihm nichts ab.«

Zweites Kapitel

Ziem­lich um die­sel­be Zeit, wo der Te­le­gra­phen­bo­te bei Gun­der­manns vor­sprach, um die Be­stel­lung des al­ten Herrn von Stech­lin aus­zu­rich­ten, rit­ten Wol­de­mar, Rex und Cz­a­ko, die sich für sechs Uhr an­ge­mel­det hat­ten, in brei­ter Front von Crem­men ab; Fritz, Wol­de­mars Reit­knecht, folg­te den drei­en. Der Weg ging über Wutz. Als sie bis in die Nähe von Dorf und Klos­ter die­ses Na­mens ge­kom­men wa­ren, bog Wol­de­mar vor­sich­tig nach links hin aus, weil er der Mög­lich­keit ent­ge­hen woll­te, sei­ner Tan­te Adel­heid, der Do­mi­na des Klos­ters, zu be­geg­nen. Er stand zwar gut mit die­ser und hat­te so­gar vor, ihr, wie her­kömm­lich, auf dem Rück­we­ge nach Ber­lin sei­nen Be­such zu ma­chen, aber in die­sem Au­gen­blick paß­te ihm sol­che Be­geg­nung, die sein pünkt­li­ches Ein­tref­fen in Stech­lin ge­hin­dert ha­ben wür­de, herz­lich schlecht. So be­schrieb er denn einen wei­ten Halb­kreis und hat­te das Klos­ter schon um eine Vier­tel­stun­de hin­ter sich, als er sich wie­der der Haupt­stra­ße zu­wand­te. Die­se, durch Moor- und Wie­sen­grün­de füh­rend, war ein vor­züg­li­cher Reit­weg, der an vie­len Stel­len noch eine Gras­nar­be trug, wes­halb es an­dert­halb Mei­len lang in ei­nem schar­fen Tra­be vor­wärts ging, bis an eine Ave­nue her­an, die grad­li­nig auf Schloß Stech­lin zu­führ­te. Hier lie­ßen alle drei die Zü­gel fal­len und rit­ten im Schritt wei­ter. Über ih­nen wölb­ten sich die schö­nen, al­ten Kas­ta­ni­en­bäu­me, was ih­rem An­ritt et­was An­hei­meln­des und zu­gleich et­was bei­nah Fei­er­li­ches gab.

»Das ist ja wie ein Kir­chen­schiff«, sag­te Rex, der am lin­ken Flü­gel ritt. »Fin­den Sie nicht auch, Cz­a­ko?«

»Wenn Sie wol­len, ja. Aber Par­don, Rex, ich fin­de die Wen­dung et­was tri­vi­al für einen Mi­nis­te­ri­al­as­ses­sor.«

»Nun gut, dann sa­gen Sie was Bes­se­res.«

»Ich wer­de mich hü­ten. Wer un­ter sol­chen Um­stän­den was Bes­se­res sa­gen will, sagt im­mer was Schlech­te­res.«

Un­ter die­sem sich noch eine Wei­le fort­set­zen­den Ge­sprä­che wa­ren sie bis an einen Punkt ge­kom­men, von dem aus man das am Ende der Ave­nue sich auf­bau­en­de Bild in al­ler Klar­heit über­bli­cken konn­te. Da­bei war das Bild nicht bloß klar, son­dern auch so frap­pie­rend, daß Rex und Cz­a­ko un­will­kür­lich an­hiel­ten.

»Alle Wet­ter, Stech­lin, das ist ja rei­zend«, wand­te sich Cz­a­ko zu dem am an­dern Flü­gel rei­ten­den Wol­de­mar. »Ich fin­d’ es ge­ra­de­zu mär­chen­haft, Fata Mor­ga­na – das heißt, ich habe noch kei­ne ge­sehn. Die gel­be Wand, die da noch das letz­te Ta­ges­licht auf­fängt, das ist wohl Ihr Zau­ber­schloß? Und das Stück­chen Grau da links, das ta­xier’ ich auf eine Kir­chen­e­cke. Bleibt nur noch der Sta­ket­zaun an der an­dern Sei­te; – da wohnt na­tür­lich der Schul­meis­ter. Ich ver­bür­ge mich, daß ich’s da­mit ge­trof­fen. Aber die zwei schwar­zen Rie­sen, die da grad in der Mit­te stehn und sich von der gel­ben Wand ab­he­ben (›ab­he­ben‹ ist üb­ri­gens auch tri­vi­al; ent­schul­di­gen Sie, Rex), die ste­hen ja da wie die Che­ru­bim. Al­ler­dings et­was zu schwarz. Was sind das für Leu­te?«

»Das sind Find­lin­ge.«

»Find­lin­ge?«

»Ja, Find­lin­ge«, wie­der­hol­te Wol­de­mar. »Aber wenn Ih­nen das Wort an­stö­ßig ist, so kön­nen Sie sie auch Mo­no­li­the nen­nen. Es ist merk­wür­dig, Cz­a­ko, wie hoch­gra­dig ver­wöhnt im Aus­druck Sie sind, wenn Sie nicht ge­ra­de sel­ber das Wort ha­ben… Aber nun, mei­ne Her­ren, müs­sen wir uns wie­der in Trab set­zen. Ich bin über­zeugt, mein Papa steht schon un­ge­dul­dig auf sei­ner Ram­pe, und wenn er uns so im Schritt an­kom­men sieht, denkt er, wir brin­gen eine Trau­er­nach­richt oder einen Ver­wun­de­ten.«

We­ni­ge Mi­nu­ten spä­ter, und alle drei trab­ten denn auch wirk­lich, von Fritz ge­folgt, über die Boh­len­brücke fort, erst in den Vor­hof hin­ein und dann an der blan­ken Glas­ku­gel vor­über. Der Alte stand be­reits auf der Ram­pe, En­gel­ke hin­ter ihm und hin­ter die­sem Mar­tin, der alte Kut­scher. Im Nu wa­ren alle drei Rei­ter aus dem Sat­tel, und Mar­tin und Fritz nah­men die Pfer­de. So trat man in den Flur. »Er­lau­be, lie­ber Papa, dir zwei lie­be Freun­de von mir vor­zu­stel­len. As­ses­sor von Rex, Haupt­mann von Cz­a­ko.«

Der alte Stech­lin schüt­tel­te je­dem die Hand und sprach ih­nen aus, wie glück­lich er über ih­ren Be­such sei. »Sei­en Sie mir herz­lich will­kom­men, mei­ne Her­ren. Sie ha­ben kei­ne Ah­nung, wel­che Freu­de Sie mir ma­chen, ei­nem ver­grätz­ten al­ten Ein­sied­ler. Man sieht nichts mehr, hört nichts mehr. Ich hof­fe auf einen gan­zen Sack voll Neu­ig­kei­ten.«

»Ach, Herr Ma­jor«, sag­te Cz­a­ko, »wir sind ja schon vier­und­zwan­zig Stun­den fort. Und, ganz ab­ge­se­hen da­von, wer kann heut­zu­ta­ge noch mit den Zei­tun­gen kon­kur­rie­ren! Ein Glück, daß man­che prin­zi­pi­ell einen Post­tag zu spät kom­men. Ich mei­ne mit den neues­ten Nach­rich­ten. Vi­el­leicht auch sonst noch.«

»Sehr wahr«, lach­te Dubs­lav. »Der Kon­ser­va­tis­mus soll üb­ri­gens, sei­nem We­sen nach, eine Brem­se sein; da­mit muß man vie­les ent­schul­di­gen. Aber da kom­men Ihre Man­tel­sä­cke, mei­ne Her­ren. En­gel­ke, füh­re die Her­ren auf ihr Zim­mer. Wir ha­ben jetzt sech­sein­vier­tel. Um sie­ben, wenn ich bit­ten darf.«

En­gel­ke hat­te mitt­ler­wei­le die bei­den von Dubs­lav et­was alt­mo­disch als »Man­tel­sä­cke« be­zeich­ne­ten Plai­drol­len in die Hand ge­nom­men und ging da­mit, den bei­den Her­ren vor­an, auf die dop­pel­ar­mi­ge Trep­pe zu, die ge­ra­de da, wo die bei­den Arme der­sel­ben sich kreuz­ten, einen ziem­lich ge­räu­mi­gen Po­dest mit Säul­chen­ga­le­rie bil­de­te. Zwi­schen den Säul­chen aber, und zwar mit Blick auf den Flur, war eine Ro­ko­k­ouhr an­ge­bracht, mit ei­nem Zeit­gott dar­über, der eine Hip­pe führ­te. Cz­a­ko wies dar­auf hin und sag­te lei­se zu Rex: »Ein biß­chen grau­lich«, – ein Ge­fühl, drin er sich be­stärkt sah, als man bis auf den mit un­ge­heu­rer Raum­ver­schwen­dung an­ge­leg­ten Ober­flur ge­kom­men war. Über ei­ner nach hin­ten zu ge­le­ge­nen Saal­tür hing eine Holz­ta­fel mit der In­schrift: »Mu­se­um«, wäh­rend hü­ben und drü­ben, an den Flur­wän­den links und rechts, mäch­ti­ge Bir­ken­ma­ser- und Eben­holz­schrän­ke stan­den, wah­re Pracht­stücke, mit zwei großen Bil­dern da­zwi­schen, ei­nes eine Burg mit di­cken Back­stein­tür­men, das and­re ein über­le­bens­großer Rit­ter, au­gen­schein­lich aus der Frunds­ber­g­zeit, wo das bunt Lands­knecht­li­che schon die Rüs­tung zu dra­pie­ren be­gann.

»Is wohl ein Ahn?«, frag­te Cz­a­ko.

»Ja, Herr Haupt­mann. Und er ist auch un­ten in der Kir­che.«

»Auch so wie hier?«

»Nein, bloß Grab­stein und schon et­was ab­ge­tre­ten. Aber man sieht doch noch, daß es der­sel­be ist.«

Cz­a­ko nick­te. Da­bei wa­ren sie bis an ein Eck­zim­mer ge­kom­men, das mit der einen Sei­te nach dem Flur, mit der an­dern Sei­te nach ei­nem schma­len Gang hin lag. Hier war auch die Tür. En­gel­ke, vor­an­ge­hend, öff­ne­te und hing die bei­den Plai­drol­len an die Ha­ken ei­nes hier gleich an der Tür ste­hen­den Klei­der­stän­ders. Un­mit­tel­bar da­ne­ben war ein Klin­gel­zug mit ei­ner grü­nen, et­was aus­ge­fran­s­ten Pu­schel dar­an. En­gel­ke wies dar­auf hin und sag­te: »Wenn die Her­ren noch et­was wün­schen… Und um sie­ben… Zwei­mal wird an­ge­schla­gen.«

Und da­mit ging er, die bei­den ih­rer Be­quem­lich­keit über­las­send.

Es wa­ren zwei ne­ben­ein­an­der ge­le­ge­ne Zim­mer, in de­nen man Rex und Cz­a­ko un­ter­ge­bracht hat­te, das vor­de­re grö­ßer und mit et­was mehr Auf­wand ein­ge­rich­tet, mit Steh­spie­gel und Toi­let­te, der Spie­gel so­gar zum Kip­pen. Das Bett in die­sem vor­de­ren Zim­mer hat­te einen klei­nen Him­mel und da­ne­ben eine Eta­ge­re, auf de­ren obe­rem Brett­chen eine Meiß­ner Fi­gur stand, ihr oh­ne­hin kur­z­es Röck­chen lüp­fend, wäh­rend auf dem un­te­ren Brett ein Neu­es Te­sta­ment lag, mit Kelch und Kreuz und ei­nem Pal­men­zweig auf dem De­ckel.

Cz­a­ko nahm das Meiß­ner Püpp­chen und sag­te: »Wenn nicht un­ser Freund Wol­de­mar bei die­sem Ar­ran­ge­ment sei­ne Hand mit im Spie­le ge­habt hat, so ha­ben wir hier in be­zug auf Re­qui­si­ten ein Ah­nungs­ver­mö­gen, wie’s nicht grö­ßer ge­dacht wer­den kann. Das Püpp­chen pour moi, das Te­sta­ment pour vous.«

»Cz­a­ko, wenn Sie doch bloß das Ne­cken las­sen könn­ten!«

»Ach, sa­gen Sie doch so was nicht, Rex; Sie lie­ben mich ja bloß um mei­ner Ne­cke­rei­en wil­len.«

Und nun tra­ten sie, von dem Vor­der­zim­mer her, in den et­was klei­ne­ren Wohn­raum, in dem Spie­gel und Toi­let­te fehl­ten. Da­für aber war ein Ro­ko­ko­so­fa da, mit hell­blau­em At­las und wei­ßen Blu­men dar­auf.

»Ja, Rex«, sag­te Cz­a­ko, »wie tei­len wir nun? Ich den­ke, Sie neh­men ne­ben­an den Him­mel, und ich neh­me das Ro­ko­ko­so­fa, noch dazu mit wei­ßen Blu­men, viel­leicht Li­li­en. Ich wet­te, das klei­ne Ding von Sofa hat eine Ge­schich­te.«

»Ro­ko­ko hat im­mer eine Ge­schich­te«, be­stä­tig­te Rex. »Aber hun­dert Jah­re zu­rück. Was jetzt hier haust, sieht mir, Gott sei Dank, nicht da­nach aus. Ein biß­chen Spuk trau’ ich die­sem al­ten Kas­ten al­ler­dings schon zu; aber kei­ne Ro­ko­ko­ge­schich­te. Ro­ko­ko ist doch im­mer un­sitt­lich. Wie ge­fällt Ih­nen üb­ri­gens der Alte?«

»Vor­züg­lich. Ich hät­te nicht ge­dacht, daß un­ser Freund Wol­de­mar sol­chen fa­mo­sen Al­ten ha­ben könn­te.«

»Das klingt ja bei­nah«, sag­te Rex, »Wie wenn Sie ge­gen un­sern Stech­lin et­was hät­ten.«

»Was durch­aus nicht der Fall ist. Un­ser Stech­lin ist der bes­te Kerl von der Welt, und wenn ich das ver­damm­te Wort nicht haß­te, würd’ ich ihn so­gar einen ›per­fek­ten Gent­le­man‹ nen­nen müs­sen. Aber…«

»Nun…«

»Aber er paßt doch nicht recht an sei­ne Stel­le.«

»An wel­che?«

»In sein Re­gi­ment.«

»Aber, Cz­a­ko, ich ver­ste­he Sie nicht. Er ist ja bril­lant an­ge­schrie­ben. Lieb­ling bei je­dem. Der Oberst hält große Stücke von ihm, und die Prin­zen ma­chen ihm bei­nah den Hof…«

»Ja, das ist es ja eben. Die Prin­zen, die Prin­zen.«

»Was denn, wie denn?«

»Ach, das ist eine lan­ge Ge­schich­te, viel zu lang, um sie hier vor Tisch noch aus­zu­kra­men. Denn es ist be­reits halb, und wir müs­sen uns ei­len. Üb­ri­gens trifft es vie­le, nicht bloß un­sern Stech­lin.«

»Im­mer dunk­ler, im­mer rät­sel­vol­ler«, sag­te Rex.

»Nun, viel­leicht daß ich Ih­nen das Rät­sel löse. Schließ­lich kann man ja Toi­let­te ma­chen und noch sei­nen Dis­kurs da­ne­ben ha­ben. ›Die Prin­zen ma­chen ihm den Hof‹, so ge­ruh­ten Sie zu be­mer­ken, und ich ant­wor­te­te: ›Ja, das ist es eben.‹ Und die­se Wor­te kann ich ih­nen nur wie­der­ho­len. Die Prin­zen – ja, da­mit hängt es zu­sam­men und noch mehr da­mit, daß die fei­nen Re­gi­men­ter im­mer fei­ner wer­den. Gu­cken Sie sich mal die al­ten Ran­glis­ten an, das heißt wirk­lich alte, vo­ri­ges Jahr­hun­dert und dann so bis anno sechs. Da fin­den Sie bei Re­gi­ment Gar­de du Corps oder bei Re­gi­ment Gens­dar­mes un­se­re gu­ten al­ten Na­men: Mar­witz, Wa­ke­nitz, Kracht, Lö­sche­brand, Bre­dow, Rochow, höchs­tens daß sich mal ein hö­her be­ti­tel­ter Schle­si­scher mit hin­ein­ver­irrt. Na­tür­lich gab es auch Prin­zen da­mals, aber der Adel gab den Ton an, und die paar Prin­zen muß­ten noch froh sein, wenn sie nicht stör­ten. Da­mit ist es nun aber, seit wir Kai­ser und Reich sind, to­tal vor­bei. Na­tür­lich sprech’ ich nicht von der Pro­vinz, nicht von Li­tau­en und Ma­su­ren, son­dern von der Gar­de, von den Re­gi­men­tern un­ter den Au­gen Sei­ner Ma­je­stät. Und nun gar erst die­se Gar­de­dra­go­ner! Die wa­ren im­mer piek, aber seit sie, pour com­b­ler le bon­heur,1 auch noch ›Kö­ni­gin von Groß­bri­tan­ni­en und Ir­lan­d‹ sind, wird es im­mer mehr da­von, und je pie­ker sie wer­den, de­sto mehr Prin­zen kom­men hin­ein, von de­nen üb­ri­gens auch jetzt schon mehr da sind, als es so oben­hin aus­sieht, denn man­che sind ei­gent­lich wel­che und dür­fen es bloß nicht sa­gen. Und wenn man dann gar noch die al­ten mit­rech­net, die bloß à la sui­te stehn, aber doch im­mer noch mit da­bei sind, wenn ir­gend­was los ist, so ha­ben wir, wenn der Kreis ge­schlos­sen wird, zwar kein Par­kett von Kö­ni­gen, aber doch einen Zir­kus von Prin­zen. Und da hin­ein ist nun un­ser gu­ter Stech­lin ge­stellt. Na­tür­lich tut er, was er kann, und macht so ge­wis­se Lu­xus­se mit, Ge­fühls­lu­xus­se, Ge­sin­nungs­lu­xus­se und, wenn es sein muß, auch Frei­heits­lu­xus­se. So ’nen Schim­mer von So­zi­al­de­mo­kra­tie. Das ist aber auf die Dau­er schwie­rig. Rich­ti­ge Prin­zen kön­nen sich das leis­ten, die ver­be­beln nicht leicht. Aber Stech­lin! Stech­lin ist ein rei­zen­der Kerl, aber er ist doch bloß ein Mensch.«

»Und das sa­gen Sie, Cz­a­ko, ge­ra­de Sie, der Sie das Men­sch­li­che stets be­to­nen?«

»Ja, Rex, das tu’ ich. Heut’ wie im­mer. Aber ei­nes schickt sich nicht für alle. Der eine dar­f’s, der and­re nicht. Wenn un­ser Freund Stech­lin sich in die­se sei­ne alte Schloß­ka­te zu­rück­zieht, so darf er Mensch sein, so­viel er will, aber als Gar­de­dra­go­ner kommt er da­mit nicht aus. Vom al­ten Adam will ich nicht spre­chen, das hat im­mer noch so ’ne Ne­ben­be­deu­tung.«

*

Wäh­rend Rex und Cz­a­ko Toi­let­te mach­ten und ab­wech­selnd über den al­ten und den jun­gen Stech­lin ver­han­del­ten, schrit­ten die, die den Ge­gen­stand die­ser Un­ter­hal­tung bil­de­ten, Va­ter und Sohn, im Gar­ten auf und ab und hat­ten auch ih­rer­seits ihr Ge­spräch.

»Ich bin dir dank­bar, daß du mir dei­ne Freun­de mit­ge­bracht hast. Hof­fent­lich kom­men sie auf ihre Kos­ten. Mein Le­ben ver­läuft ein biß­chen zu ein­sam, und es wird oh­ne­hin gut sein, wenn ich mich wie­der an Men­schen ge­wöh­ne. Du wirst ge­le­sen ha­ben, daß un­ser gu­ter al­ter Kort­schä­del ge­stor­ben ist, und in etwa vier­zehn Ta­gen ha­ben wir hier ’ne Neu­wahl. Da muß ich dann ran und mich po­pu­lär ma­chen. Die Kon­ser­va­ti­ven wol­len mich ha­ben und kei­nen an­dern. Ei­gent­lich mag ich nicht, aber ich soll, und da paßt es mir denn, daß du mir Leu­te bringst, an de­nen ich mich für die Welt so­zu­sa­gen wie­der wie ein­üben kann. Sind sie denn aus­gie­big und plau­der­haft?«

»O sehr, Papa, viel­leicht zu sehr. We­nigs­tens der eine.«

»Das is ge­wiß der Cz­a­ko. Son­der­bar, die von Alex­an­der re­den alle gern. Aber ich bin sehr da­für; Schwei­gen klei­d’t nicht je­den. Und dann sol­len wir uns ja auch durch die Spra­che vom Tier un­ter­schei­den. Also wer am meis­ten re­d’t, ist der reins­te Mensch. Und die­sem Cz­a­ko, dem hab’ ich es gleich an­ge­sehn. Aber der Rex. Du sagst Mi­nis­te­ri­al­as­ses­sor; ist er denn von der from­men Fa­mi­lie?«

»Nein, Papa. Du machst die­sel­be Ver­wechs­lung, die bei­nah alle ma­chen. Die from­me Fa­mi­lie, das sind die Reckes, gräf­lich und sehr vor­nehm. Die Rex na­tür­lich auch, aber doch nicht so hoch hin­aus und auch nicht so fromm. Al­ler­dings nimmt mein Freund, der Mi­nis­te­ri­al­as­ses­sor, einen An­lauf dazu, die Reckes wo­mög­lich ein­zu­ho­len.«

»Dann hab’ ich also recht ge­se­hen. Er hat so die Fi­gur, die so was ver­mu­ten läßt, ein biß­chen we­nig Fleisch und so glatt ra­siert. Habt ihr denn beim Ra­sie­ren in Crem­men gleich einen ge­fun­den?«

»Er hat al­les im­mer bei sich; lau­ter eng­li­sche. Von So­lin­gen oder Suhl will er nichts wis­sen.«

»Und muß man ihn denn vor­sich­tig an­fas­sen, wenn das Ge­spräch auf kirch­li­che Din­ge kommt? Ich bin ja, wie du weißt, ei­gent­lich kirch­lich, we­nigs­tens kirch­li­cher als mein gu­ter Pas­tor (es wird im­mer schlim­mer mit ihm), aber ich bin so im Aus­druck mit­un­ter un­ge­nier­ter, als man viel­leicht sein soll, und bei ›nie­der­ge­fah­ren zur Höl­le‹ kann mir’s pas­sie­ren, daß ich no­lens vo­lens ein biß­chen tol­les Zeug rede. Wie steht es denn da mit ihm? Muß ich mich in acht neh­men? Oder macht er bloß so mit?«

»Das will ich nicht ge­ra­de­zu be­haup­ten. Ich den­ke mir, er steht so wie die meis­ten stehn; das heißt, er weiß es nicht recht.«

»Ja, ja, den Zu­stand kenn’ ich.«

»Und weil er es nicht recht weiß, hat er so­zu­sa­gen die Aus­wahl und wählt das, was ge­ra­de gilt und nach oben hin emp­fiehlt. Ich kann das auch so schlimm nicht fin­den. Ei­ni­ge nen­nen ihn einen ›Stre­ber‹. Aber wenn er es ist, ist er je­den­falls kei­ner von den schlimms­ten. Er hat ei­gent­lich einen gu­ten Cha­rak­ter, und im cer­cle in­ti­me2 kann er rei­zend sein. Er ver­än­dert sich dann nicht in dem, was er sagt, oder doch nur ganz we­nig, aber ich möch­te sa­gen, er ver­än­dert sich in der Art, wie er zu­hört. Cz­a­ko meint, un­ser Freund Rex hal­te sich mit dem Ohr für das schad­los, was er mit dem Mun­de ver­säumt. Cz­a­ko wird über­haupt am bes­ten mit ihm fer­tig; er schraubt ihn be­stän­dig, und Rex, was ich rei­zend fin­de, läßt sich die­se Schrau­be­rei­en ge­fal­len. Da­ran siehst du schon, daß sich mit ihm le­ben läßt. Sei­ne Fröm­mig­keit ist kei­ne Lüge, bloß Er­zie­hung, An­ge­wohn­heit, und so schließ­lich sei­ne zwei­te Na­tur ge­wor­den.«

»Ich wer­de ihn bei Tisch ne­ben Lo­ren­zen set­zen; die mö­gen dann bei­de sehn, wie sie mit­ein­an­der fer­tig wer­den. Vi­el­leicht er­le­ben wir ’ne Be­keh­rung. Das heißt Rex den Pas­tor. Aber da höre ich eine Kut­sche die Dorf­stra­ße rauf­kom­men. Das sind na­tür­lich Gun­der­manns; die kom­men im­mer zu früh. Der arme Kerl hat mal was von der Höf­lich­keit der Kö­ni­ge ge­hört und macht jetzt einen zu weit­ge­hen­den Ge­brauch da­von. Au­to­di­dak­ten über­trei­ben im­mer. Ich bin sel­ber ei­ner und kann also mit­re­den. Nun, wir spre­chen mor­gen früh wei­ter; heu­te wird es nichts mehr. Du wirst dich auch noch ein biß­chen strie­geln müs­sen, und ich will mir ’nen schwar­zen Rock an­ziehn. Das bin ich der gu­ten Frau von Gun­der­mann doch schul­dig; sie putzt sich üb­ri­gens nach wie vor wie ’n Schlit­ten­pferd und hat im­mer noch den merk­wür­di­gen Fe­der­busch in ih­rem Zopf – das heißt, wenn’s ih­rer ist.«

um das Glück voll­kom­men zu ma­chen  <<<

(im) ver­trau­tem Kreis  <<<

Drittes Kapitel

En­gel­ke schlug un­ten im Flur zwei­mal an einen al­ten, als Tamtam fun­gie­ren­den Schild, der an ei­nem der zwei vor­sprin­gen­den und zu­gleich die gan­ze Trep­pe tra­gen­den Pfei­ler hing. Eben die­se zwei Pfei­ler bil­de­ten denn auch mit dem Po­dest und der in Front des­sel­ben an­ge­brach­ten Ro­ko­k­ouhr einen zum Gar­ten­sa­lon, die­sem Haupt­zim­mer des Erd­ge­schos­ses, füh­ren­den, ziem­lich pit­to­res­ken Por­ti­kus, von dem ein auf Be­such an­we­sen­der haupt­städ­ti­scher Archi­tekt mal ge­sagt hat­te: sämt­li­che Bau­sün­den von Schloß Stech­lin wür­den durch die­sen ver­dreh­ten, aber ma­le­ri­schen Ein­fall wie­der gut­ge­macht.

Die Uhr mit dem Hip­pen­mann schlug ge­ra­de sie­ben, als Rex und Cz­a­ko die Trep­pe her­un­ter­ka­men und, eine Bie­gung ma­chend, auf den von be­ru­fe­ner Sei­te so glimpf­lich be­ur­teil­ten son­der­ba­ren Vor­bau zu­steu­er­ten. Als die Freun­de die­sen pas­sier­ten, sa­hen sie – die Türflü­gel wa­ren schon ge­öff­net – in al­ler Be­quem­lich­keit in den Sa­lon hin­ein und nah­men hier wahr, daß et­li­che, ih­nen zu Ehren ge­la­de­ne Gäs­te be­reits er­schie­nen wa­ren. Dubs­lav, in dun­kelm Ober­rock und die Bänd­chen­ro­set­te so­wohl des preu­ßi­schen wie des wen­di­schen Kro­nen­or­dens im Knopf­loch, ging den Ein­tre­ten­den ent­ge­gen, be­grüß­te sie noch­mals mit der ihm eig­nen Herz­lich­keit, und bei­de Her­ren gleich da­nach in den Kreis der schon Ver­sam­mel­ten ein­füh­rend, sag­te er: »Bit­te die Herr­schaf­ten mit­ein­an­der be­kannt ma­chen zu dür­fen: Herr und Frau von Gun­der­mann auf Sie­ben­müh­len, Pas­tor Lo­ren­zen, Ober­förs­ter Katz­ler«, und dann, nach links sich wen­dend, »Mi­nis­te­ri­al­as­ses­sor Rex, Haupt­mann von Cz­a­ko vom Re­gi­ment Alex­an­der.« Man ver­neig­te sich ge­gen­sei­tig, wor­auf Dubs­lav zwi­schen Rex und Pas­tor Lo­ren­zen, Wol­de­mar aber, als Ad­la­tus sei­nes Va­ters, zwi­schen Cz­a­ko und Katz­ler eine Ver­bin­dung her­zu­stel­len such­te, was auch ohne wei­te­res ge­lang, weil es hü­ben und drü­ben we­der an ge­sell­schaft­li­cher Ge­wandt­heit noch an gu­tem Wil­len ge­brach. Nur konn­te Rex nicht um­hin, die Sie­ben­müh­le­ner et­was ein­dring­lich zu mus­tern, trotz­dem Herr von Gun­der­mann in Frack und wei­ßer Bin­de, Frau von Gun­der­mann aber in ge­blüm­tem At­las mit Ma­ra­bu­fä­cher er­schie­nen war, – er au­gen­schein­lich Par­ve­nu, sie Ber­li­ne­rin aus ei­nem nord­öst­li­chen Vor­stadt­ge­biet.

Rex sah das al­les. Er kam aber nicht in die Lage, sich lan­ge da­mit zu be­schäf­ti­gen, weil Dubs­lav eben jetzt den Arm der Frau von Gun­der­mann nahm und da­durch das Zei­chen zum Auf­bruch zu der im Ne­ben­zim­mer ge­deck­ten Ta­fel gab. Alle folg­ten paar­wei­se, wie sie sich vor­her zu­sam­men­ge­fun­den, ka­men aber durch die von sei­ten Dubs­lavs schon vor­her fest­ge­setz­te Ta­fel­ord­nung wie­der aus­ein­an­der. Die bei­den Stech­lins, Va­ter und Sohn, pla­cier­ten sich an den bei­den Schmal­sei­ten ein­an­der ge­gen­über, wäh­rend zur Rech­ten und Lin­ken von Dubs­lav Herr und Frau von Gun­der­mann, rechts und links von Wol­de­mar aber Rex und Lo­ren­zen sa­ßen. Die Mit­tel­plät­ze hat­ten Katz­ler und Cz­a­ko inne. Ne­ben ei­nem großen al­ten Ei­chen­bü­fett, ganz in Nähe der Tür, stan­den En­gel­ke und Mar­tin, En­gel­ke in sei­ner sand­far­be­nen Li­vree mit den großen Knöp­fen, Mar­tin, dem nur ob­lag, mit der Kü­che Ver­bin­dung zu hal­ten, ein­fach in schwar­zem Rock und Stulps­tie­feln.

Der alte Dubs­lav war in bes­ter Lau­ne, stieß gleich nach den ers­ten Löf­feln Sup­pe mit Frau von Gun­der­mann ver­trau­lich an, dank­te ihr für ihr Er­schei­nen und ent­schul­dig­te sich we­gen der spä­ten Ein­la­dung: »Aber erst um zwölf kam Wol­de­mars Te­le­gramm. Es ist das mit dem Te­le­gra­phie­ren sol­che Sa­che, man­ches wird bes­ser, aber man­ches wird auch schlech­ter, und die fei­ne­re Sit­te lei­det nun schon ganz ge­wiß. Schon die Form, die Ab­fas­sung. Kür­ze soll eine Tu­gend sein, aber sich kurz fas­sen, heißt meis­tens auch, sich grob fas­sen. Jede Spur von Ver­bind­lich­keit fällt fort, und das Wort ›Herr‹ ist bei­spiels­wei­se gar nicht mehr an­zu­tref­fen. Ich hat­te mal einen Freund, der ganz ernst­haft ver­si­cher­te: ›Der häß­lichs­te Mops sei der schöns­te‹; so läßt sich jetzt bei­na­he sa­gen: ›Das gröbs­te Te­le­gramm ist das feins­te‹. We­nigs­tens das in sei­ner Art vollen­dets­te. Je­der, der wie­der eine neue Fünf­pfen­ni­ger­spar­nis her­aus­dok­tert, ist ein Ge­nie.«

Die­se Wor­te Dubs­lavs hat­ten sich an­fäng­lich an die Frau von Gun­der­mann, sehr bald aber mehr an Gun­der­mann selbst ge­rich­tet, wes­halb die­ser letz­te­re denn auch ant­wor­te­te: »Ja, Herr von Stech­lin, al­les Zei­chen der Zeit. Und ganz be­zeich­nend, daß ge­ra­de das Wort ›Herr‹, wie Sie schon her­vor­zu­he­ben die Güte hat­ten, so gut wie ab­ge­schafft ist. ›Herr‹ ist Un­sinn ge­wor­den, ›Herr‹ paßt den Her­ren nicht mehr, – ich mei­ne na­tür­lich die, die jetzt die Welt re­gie­ren wol­len. Aber es ist auch da­nach. Alle die­se Neue­run­gen, an de­nen sich lei­der auch der Staat be­tei­ligt, was sind sie? Be­güns­ti­gun­gen der Un­bot­mä­ßig­keit, also Was­ser auf die Müh­len der So­zi­al­de­mo­kra­tie. Wei­ter nichts. Und nie­mand da, der Lust und Kraft hät­te, dies Was­ser ab­zu­stel­len. Aber trotz­dem, Herr von Stech­lin – ich wür­de nicht wi­der­spre­chen, wenn mich das Tat­säch­li­che nicht dazu zwän­ge -, trotz­dem geht es nicht ohne Te­le­gra­phie, ge­ra­de hier in uns­rer Ein­sam­keit. Und da­bei das be­stän­di­ge Schwan­ken der Kur­se. Na­ment­lich auch in der Müh­len- und Brett­schnei­de­bran­che…«

»Ver­steht sich, lie­ber Gun­der­mann. Was ich da ge­sagt ha­be… Wenn ich das Ge­gen­teil ge­sagt hät­te, wäre es eben­so rich­tig. Der Teu­fel is nich so schwarz, wie er ge­malt wird, und die Te­le­gra­phie auch nicht, und wir auch nicht. Schließ­lich ist es doch was Gro­ßes, die­se Na­tur­wis­sen­schaf­ten, die­ser elek­tri­sche Strom, tipp, tipp, tipp, und wenn uns dar­an läge (aber uns liegt nichts dar­an), so könn­ten wir den Kai­ser von Chi­na wis­sen las­sen, daß wir hier ver­sam­melt sind und sei­ner ge­dacht ha­ben. Und da­bei die­se merk­wür­di­gen Ver­schie­bun­gen in Zeit und Stun­de. Bei­na­he ko­misch. Als anno sieb­zig die Pa­ri­ser Sep­tem­ber­re­vo­lu­ti­on aus­brach, wuß­te man’s in Ame­ri­ka drü­ben um ein paar Stun­den frü­her, als die Re­vo­lu­ti­on über­haupt da war. Ich sag­te: Sep­tem­ber­re­vo­lu­ti­on. Es kann aber auch ’ne and­re ge­we­sen sein; sie ha­ben da so vie­le, daß man sie leicht ver­wech­selt. Eine war im Juni, ’ne and­re war im Juli, – wer nich ein Bom­ben­ge­dächt­nis hat, muß da not­wen­dig rein­fal­len… En­gel­ke, prä­sen­tie­re der gnä­di­gen Frau den Fisch noch mal. Und viel­leicht nimmt auch Herr von Cz­a­ko…«

»Ge­wiß, Herr von Stech­lin«, sag­te Cz­a­ko. »Erst­lich aus rei­ner Gour­man­di­se, dann aber auch aus For­scher­trieb oder Fort­schritts­be­dürf­nis. Man will doch an dem, was ge­ra­de gilt oder über­haupt Mensch­heits­ent­wick­lung be­deu­tet, auch sei­ner­seits nach Mög­lich­keit teil­neh­men, und da steht denn Fisch­nah­rung jetzt oben­an. Fi­sche sol­len au­ßer­dem viel Phos­phor ent­hal­ten, und Phos­phor, so heißt es, macht ›hel­le‹.«

»Ge­wiß«, ki­cher­te Frau von Gun­der­mann, die sich bei dem Wort »hel­le« wie per­sön­lich ge­trof­fen fühl­te. »Phos­phor war ja auch schon, eh die Schwe­di­schen auf­ka­men.«

»Oh, lan­ge vor­her«, be­stä­tig­te Cz­a­ko. »Was mich aber«, fuhr er, sich an Dubs­lav wen­dend, fort, »an die­sen Kar­pfen noch ganz be­son­ders fes­selt – bei­läu­fig ein Pracht­ex­em­plar -, das ist das, daß er doch höchst­wahr­schein­lich aus Ihrem be­rühm­ten See stammt, über den ich durch Wol­de­mar, Ihren Herrn Sohn, be­reits un­ter­rich­tet bin. Die­ser merk­wür­di­ge See, die­ser Stech­lin! Und da frag’ ich mich denn un­will­kür­lich (denn Kar­pfen wer­den alt; da­her bei­spiels­wei­se die Moo­s­karp­fen), wel­che Re­vo­lu­tio­nen sind an die­sem her­vor­ra­gen­den Exem­plar sei­ner Gat­tung wohl schon vor­über­ge­gan­gen? Ich weiß nicht, ob ich ihn auf hun­dert­fünf­zig Jah­re ta­xie­ren darf, wenn aber, so wür­de er als Jüng­ling die Lissa­bo­ner Ak­ti­on und als Ur­greis den neu­er­li­chen Aus­bruch des Kra­ka­to­wa mit­ge­macht ha­ben. Und all das er­wo­gen, drängt sich mir die Fra­ge auf…«

Dubs­lav lä­chel­te zu­stim­mend.

»… Und all das er­wo­gen, drängt sich mir die Fra­ge auf, wenn’s nun in Ihrem Stech­lin­see zu bro­deln be­ginnt oder gar die große Trich­ter­bil­dung an­hebt, aus der dann und wann, wenn ich recht ge­hört habe, der krä­hen­de Hahn auf­steigt, wie ver­hält sich da der Stech­lin­karp­fen, die­ser doch of­fen­bar Nächst­be­tei­lig­te, bei dem An­po­chen der­ar­ti­ger Wel­ter­eig­nis­se? Be­nei­det er den Hahn, dem es ver­gönnt ist, in die Rup­pi­ner Lan­de hin­ein­zu­krä­hen, oder ist er um­ge­kehrt ein Feig­ling, der sich in sei­nem Moor­grund ver­kriecht, also ein Bour­geois, der am an­de­ren Mor­gen fragt: ›Schie­ßen sie noch?‹«

»Mein lie­ber Herr von Cz­a­ko, die Beant­worung Ih­rer Fra­ge hat selbst für einen An­woh­ner des Stech­lin sei­ne Schwie­rig­kei­ten. Ins In­ne­re der Na­tur dringt kein er­schaf­fe­ner Geist. Und zu dem In­ner­lichs­ten und Ver­schlos­sens­ten zählt der Kar­pfen; er ist näm­lich sehr dumm. Aber nach der Wahr­schein­lich­keits­rech­nung wird er sich beim Ein­tre­ten der großen Erup­ti­on wohl ver­kro­chen ha­ben. Wir ver­krie­chen uns näm­lich alle. Hel­den­tum ist Aus­nah­me­zu­stand und meist Pro­dukt ei­ner Zwangs­la­ge. Sie brau­chen mir üb­ri­gens nicht zu­zu­stim­men, denn Sie sind noch im Dienst.«

»Bit­te, bit­te«, sag­te Cz­a­ko.

*

Sehr, sehr an­ders ging das Ge­spräch an der ent­ge­gen­ge­setz­ten Sei­te der Ta­fel. Rex, der, wenn er dienst­lich oder au­ßer­dienst­lich aufs Land kam, im­mer eine Nei­gung spür­te, so­zia­len Fra­gen nach­zu­hän­gen, und bei­spiels­wei­se je­des­mal mit Vor­lie­be dar­auf aus war, an das Zah­len­ver­hält­nis der in und au­ßer der Ehe ge­bo­re­nen Kin­der alle mög­li­chen, teils dem Ge­mein­wohl, teils der Sitt­lich­keit zu­gu­te kom­men­de Be­trach­tun­gen zu knüp­fen, hat­te sich auch heu­te wie­der in ei­nem mit Pas­tor Lo­ren­zen an­ge­knüpf­ten Zwie­ge­spräch sei­nem Lieb­lings­the­ma zu­ge­wandt, war aber, weil Dubs­lav durch eine Zwi­schen­fra­ge den Fa­den ab­schnitt, in die Lage ge­kom­men, sich vor­über­ge­hend statt mit Lo­ren­zen mit Katz­ler be­schäf­ti­gen zu müs­sen, von dem er zu­fäl­lig in Er­fah­rung ge­bracht hat­te, daß er frü­her Feld­jä­ger ge­we­sen sei. Das gab ihm einen gu­ten Ge­sprächss­toff und ließ ihn fra­gen, ob der Herr Ober­förs­ter nicht mit­un­ter schmerz­lich den zwi­schen sei­ner Ver­gan­gen­heit und sei­ner Ge­gen­wart lie­gen­den Ge­gen­satz emp­fin­de, – sein frü­he­rer Feld­jä­ger­be­ruf, so neh­me er an, habe ihn in die wei­te Welt hin­aus­ge­führt, wäh­rend er jetzt »sta­bi­liert« sei. »Sta­bi­lie­rung« zähl­te zu Rex’ Lieb­lings­wen­dun­gen und ent­stamm­te je­nem sorg­lich aus­ge­wähl­ten Fremd­wör­ter­schatz, den er sich – er hat­te die­se Din­ge dienst­lich zu be­ar­bei­ten ge­habt – aus den Er­las­sen Kö­nig Fried­rich Wil­helms I. an­ge­eig­net und mit in sein Ak­ten­deutsch her­über­ge­nom­men hat­te. Katz­ler, ein vor­züg­li­cher Herr, aber auf dem Ge­bie­te der Kon­ver­sa­ti­on doch nur von ei­ner oft un­aus­rei­chen­den Ori­en­tie­rungs­fä­hig­keit, fand sich in des Mi­nis­te­ri­al­as­ses­sors et­was gedrech­sel­tem Ge­dan­ken­gan­ge nicht gleich zu­recht und war froh, als ihm der hell­hö­ri­ge, mitt­ler­wei­le wie­der frei ge­wor­de­ne Pas­tor in der durch Rex auf­ge­wor­fe­nen Fra­ge zu Hil­fe kam. »Ich glau­be her­aus­zu­hö­ren«, sag­te Lo­ren­zen, »daß Herr von Rex ge­neigt ist, dem Le­ben drau­ßen in der Welt vor dem in uns­rer stil­len Graf­schaft den Vor­zug zu ge­ben. Ich weiß aber nicht, ob wir ihm dar­in fol­gen kön­nen, ich nun schon ge­wiß nicht; aber auch un­ser Herr Ober­förs­ter wird mut­maß­lich froh sein, sei­ne vor­dem im Ei­sen­bahn­ku­pee ver­brach­ten Feld­jä­ger­ta­ge hin­ter sich zu ha­ben. Es heißt frei­lich: ›Im en­gen Kreis ver­en­gen sich der Sinn‹, und in den meis­ten Fäl­len mag es zu­tref­fen. Aber doch nicht im­mer, und je­den­falls hat das Welt­frem­de be­stimm­te große Vor­zü­ge.«

»Sie spre­chen mir durch­aus aus der See­le, Herr Pas­tor Lo­ren­zen«, sag­te Rex. »Wenn es einen Au­gen­blick viel­leicht so klang, als ob der ›Glo­be­trot­ter‹ mein Ide­al sei, so bin ich sehr ge­neigt, mit mir han­deln zu las­sen. Aber et­was hat es doch mit dem ›Auch-drau­ßen-zu-Hau­se-Sein‹ auf sich, und wenn Sie trotz­dem für Ein­sam­keit und Stil­le plä­die­ren, so plä­die­ren Sie wohl in eig­ner Sa­che. Denn wie sich der Herr Ober­förs­ter aus der Welt zu­rück­ge­zo­gen hat, so wohl auch Sie. Sie sind bei­de dar­in, ganz in­di­vi­du­ell, ei­nem Her­zens­zu­ge ge­folgt, und viel­leicht, daß mei­ne per­sön­li­che Nei­gung die­sel­ben Wege gin­ge. Den­noch wird es and­re ge­ben, die von ei­nem sol­chen Sich­zu­rück­zie­hen aus der Welt nichts wis­sen wol­len, die viel­leicht um­ge­kehrt, statt in ei­nem Sich­hin­ge­ben an den ein­zel­nen, in der Be­schäf­ti­gung mit ei­ner Viel­heit ihre Be­stim­mung fin­den. Ich glau­be durch Freund Stech­lin zu wis­sen, wel­che Fra­gen Sie seit lan­ge be­schäf­ti­gen, und bit­te, Sie dazu be­glück­wün­schen zu dür­fen. Sie ste­hen in der christ­lich-so­zia­len Be­we­gung. Aber neh­men Sie de­ren Schöp­fer, der Ih­nen per­sön­lich viel­leicht na­he­steht, er und sein Tun spre­chen doch recht ei­gent­lich für mich; sein Feld ist nicht ein­zel­ne Seel­sor­ge, nicht eine Land­ge­mein­de, son­dern eine Welt­stadt. Stöckers Auf­tre­ten und sei­ne Mis­si­on sind eine Wi­der­le­gung da­von, daß das Schaf­fen im En­gen und Um­grenz­ten not­wen­dig das Se­gens­rei­che­re sein müs­se.«

Lo­ren­zen war dar­an ge­wöhnt, sei’s zu Lob, sei’s zu Ta­del, sich mit dem eben­so ge­fei­er­ten wie be­feh­de­ten Hof­pre­di­ger in Par­al­le­le ge­stellt zu se­hen, und emp­fand dies je­des­mal als eine Hul­di­gung. Aber nicht min­der emp­fand er da­bei re­gel­mä­ßig den tie­fen Un­ter­schied, der zwi­schen dem großen Agi­ta­tor und sei­ner stil­len Wei­se lag. »Ich glau­be, Herr von Rex«, nahm er wie­der das Wort, »daß Sie den ›Va­ter der Ber­li­ner Be­we­gung‹ sehr rich­tig ge­schil­dert ha­ben, viel­leicht so­gar zur Zufrie­den­heit des Ge­schil­der­ten selbst, was, wie man sagt, nicht eben leicht sein soll. Er hat viel er­reicht und steht an­schei­nend in ei­nem Sie­ges­zei­chen; hü­ben und drü­ben hat er Wur­zel ge­schla­gen und sieht sich ge­liebt und ge­hul­digt, nicht nur sei­tens de­rer, de­nen er mild­tä­tig die Schu­he schnei­det, son­dern bei­nah mehr noch im La­ger de­rer, de­nen er das Le­der zu den Schu­hen nimmt. Er hat schon so vie­le Bein­amen, und der des hei­li­gen Kri­spin wäre nicht der schlimms­te. Vie­le wird es ge­ben, die sein Tun im gu­ten Sin­ne be­nei­den. Aber ich fürch­te, der Tag ist nahe, wo der so Ru­hi­ge und zu­gleich so Mu­ti­ge, der sei­ne Zie­le so weit steck­te, sich in die Enge des Da­seins zu­rück­seh­nen wird. Er be­sitzt, wenn ich recht be­rich­tet bin, ein klei­nes Bau­ern­gut ir­gend­wo in Fran­ken, und wohl mög­lich, ja, mir per­sön­lich ge­ra­de­zu wahr­schein­lich, daß ihm an je­ner stil­len Stel­le frü­her oder spä­ter ein ech­te­res Glück er­blüht, als er es jetzt hat. Es heißt wohl: ›Ge­het hin und leh­ret alle Hei­den‹, aber schö­ner ist es doch, wenn die Welt, uns su­chend, an uns her­an­kommt. Und die Welt kommt schon, wenn die rich­ti­ge Per­sön­lich­keit sich ihr auf­tut. Da ist die­ser Wö­ris­ho­fe­ner Pfar­rer – er sucht nicht die Men­schen, die Men­schen su­chen ihn. Und wenn sie kom­men, so heilt er sie, heilt sie mit dem Ein­fachs­ten und Na­tür­lichs­ten. Über­tra­gen Sie das vom Äu­ßern aufs In­ne­re, so ha­ben Sie mein Ide­al. Ei­nen Brun­nen gra­ben just an der Stel­le, wo man ge­ra­de steht. In­ne­re Mis­si­on in nächs­ter Nähe, sei’s mit dem Al­ten, sei’s mit et­was Neu­em.«

»Also mit dem Neu­en«, sag­te Wol­de­mar und reich­te sei­nem al­ten Leh­rer die Hand.

Aber die­ser ant­wor­te­te: »Nicht so ganz un­be­dingt mit dem Neu­en. Lie­ber mit dem Al­ten, so­weit es ir­gend geht, und mit dem Neu­en nur, so­weit es muß.«

*

Das Mahl war in­zwi­schen vor­ge­schrit­ten und bei ei­nem Gan­ge an­ge­langt, der eine Spe­zia­li­tät von Schloß Stech­lin war und je­des­mal die Be­wun­de­rung sei­ner Gäs­te: los­ge­lös­te Kram­mets­vö­gel­brüs­te, mit ei­ner dunklen Kraft­brü­he an­ge­rich­tet, die, wenn die Herbst- und Ebe­re­schen­ta­ge da wa­ren, als eine hö­he­re Form von Schwarz­sau­er auf den Tisch zu kom­men pfleg­ten. En­gel­ke prä­sen­tier­te Bur­gun­der dazu, der schon lan­ge lag, noch aus al­ten, bes­se­ren Ta­gen her, und als je­der da­von ge­nom­men, er­hob sich Dubs­lav, um erst kurz sei­ne lie­ben Gäs­te zu be­grü­ßen, dann aber die Da­men le­ben zu las­sen. Er müs­se bei die­sem Plu­ral blei­ben, trotz­dem die Da­men­welt nur in ei­ner Ein­heit ver­tre­ten sei; doch er ge­den­ke da­bei ne­ben sei­ner lie­ben Freun­din und Tischnach­ba­rin (er küß­te die­ser hul­di­gend die Hand) zu­gleich auch der »Ge­mah­lin« sei­nes Freun­des Katz­ler, die lei­der – wenn auch vom Fa­mi­li­en­stand­punkt aus in hoch­er­freu­lichs­ter Ver­an­las­sung – am Er­schei­nen in ih­rer Mit­te ver­hin­dert sei: »Mei­ne Her­ren, Frau Ober­förs­ter Katz­ler« – er mach­te hier eine klei­ne Pau­se, wie wenn er eine hö­he­re Ti­tu­la­tur ganz ernst­haft in Er­wä­gung ge­zo­gen hät­te -, »Frau Ober­förs­ter Katz­ler und Frau von Gun­der­mann, sie le­ben hoch!« Rex, Cz­a­ko, Katz­ler er­ho­ben sich, um mit Frau von Gun­der­mann an­zu­sto­ßen, als aber je­der von ih­nen auf sei­nen Platz zu­rück­ge­kehrt war, nah­men sie die durch den Toast un­ter­bro­che­nen Pri­vat­ge­sprä­che wie­der auf, wo­bei Dubs­lav als gu­ter Wirt sich dar­auf be­schränk­te, kur­ze Be­mer­kun­gen nach links und rechts hin ein­zu­streu­en. Dies war in­des­sen nicht im­mer leicht, am we­nigs­ten leicht bei dem Ge­plau­der, das der Haupt­mann und Frau von Gun­der­mann führ­ten und das so pau­sen­los ver­lief, daß ein Ein­ha­ken sich kaum er­mög­lich­te. Cz­a­ko war ein gu­ter Spre­cher, aber er ver­schwand ne­ben sei­ner Part­ne­rin. Ihres Va­ters Lauf­bahn, der es (ur­sprüng­lich Schreib- und Zei­chen­leh­rer) in ei­ner lan­gen, schon mit anno 13 be­gin­nen­den Dienst­zeit bis zum Haupt­mann in der »Plan­kam­mer« ge­bracht hat­te, gab ihr in ih­ren Au­gen eine ge­wis­se mi­li­tä­ri­sche Zu­ge­hö­rig­keit, und als sie, nach mehr­ma­li­gem Aus­lu­gen, end­lich den ihr wohl­be­kann­ten Na­mens­zug des Re­gi­ments Alex­an­der auf Cz­a­kos Ach­sel­klap­pe er­kannt hat­te, sag­te sie: »Got­t…, Alex­an­der. Nein, ich sage. Mir war aber doch auch gleich so. Münz­stra­ße. Wir wohn­ten ja Li­ni­en­stra­ße, Ecke der Wein­meis­ter – das heißt, als ich mei­nen Mann ken­nen­lern­te. Vor­her drau­ßen, Schön­hau­ser Al­lee. Wenn man so wen aus sei­ner Ge­gend wie­der sieht! Ich bin ganz glück­lich, Herr Haupt­mann. Ach, es ist zu trau­rig hier. Und wenn wir nicht den Herrn von Stech­lin hät­ten, so hät­ten wir so gut wie gar nichts. Mit Katz­lers«, aber dies flüs­ter­te sie nur lei­se, »mit Katz­lers ist es nichts; die sind zu hoch raus. Da muß man sich denn klein ma­chen. Und so toll ist es am Ende doch auch noch nicht. Jetzt pas­sen sie ja noch leid­lich. Aber ab­war­ten.«

»Sehr wahr, sehr wahr«, sag­te Cz­a­ko, der, ohne was Si­che­res zu ver­ste­hen, nur ein wäh­rend des Dubs­lavschen Toas­tes schon ge­hab­tes Ge­fühl be­stä­tigt sah, daß es mit den Katz­lers was Be­son­de­res auf sich ha­ben müs­se. Frau von Gun­der­mann aber, den ihr un­be­que­men Flüs­ter­ton auf­ge­bend, fuhr mit wie­der lau­ter wer­den­der Stim­me fort: »Wir ha­ben den Herrn von Stech­lin, und das ist ein Glück, und es ist auch bloß eine gute hal­be Mei­le. Die meis­ten an­de­re woh­nen viel zu weit, und wenn sie auch nä­her wohn­ten, sie wol­len alle nicht recht; die Leu­te hier, mit de­nen wir ei­gent­lich Um­gang ha­ben müß­ten, sind so dif­fi­zil und le­gen al­les auf die Gold­waa­ge. Das heißt, vie­les le­gen sie nicht auf die Gold­waa­ge, dazu reicht es bei den meis­ten nicht aus; nur im­mer die Ah­nen. Und sech­zehn ist das we­nigs­te. Ja, wer hat gleich sech­zehn? Gun­der­mann ist erst ge­adelt, und wenn er nicht Glück ge­habt hät­te, so wär’ es gar nichts. Er hat näm­lich klein an­ge­fan­gen, bloß mit ei­ner Müh­le; jetzt ha­ben wir nun frei­lich sie­ben, im­mer den Rhin ent­lang, lau­ter Schnei­de­müh­len, Boh­len und Bret­ter, ein­zöl­lig, zwei­zöl­lig und noch mehr. Und die Ber­li­ner Die­len, die sind fast alle von uns.«

»Aber, mei­ne gnä­digs­te Frau, das muß Ih­nen doch ein Hoch­ge­fühl ge­ben. Alle Ber­li­ner Die­len! Und die­ser Rhin­fluß, von dem Sie spre­chen, der viel­leicht eine gan­ze Seen­ket­te ver­bin­det und wor­an mut­maß­lich eine rei­zen­de Vil­la liegt! Und dar­in hö­ren Sie Tag und Nacht, wie ne­ben­an in der Müh­le die Säge geht, und die dicht her­um­ste­hen­den Bäu­me be­we­gen sich lei­se. Mit­un­ter na­tür­lich ist auch Sturm. Und Sie ha­ben eine Pony-Equi­pa­ge für Ihre Kin­der. Ich darf doch an­neh­men, daß Sie Kin­der ha­ben? Wenn man so ab­ge­schie­den lebt und so be­stän­dig auf­ein­an­der an­ge­wie­sen ist…«

»Es ist, wie Sie sa­gen, Herr Haupt­mann; ich habe Kin­der, aber schon er­wach­sen, bei­nah alle, denn ich habe mich jung ver­hei­ra­tet. Ja, Herr von Cz­a­ko, man ist auch ein­mal jung ge­we­sen. Und es ist ein Glück, daß ich Kin­der habe. Sonst ist kein Mensch da, mit dem man ein ge­bil­de­tes Ge­spräch füh­ren kann. Mein Mann hat sei­ne Po­li­tik und möch­te sich wäh­len las­sen, aber es wird nichts, und wenn ich die Jour­na­le brin­ge, nicht mal die Bil­der sieht er sich an. Und die Ge­schich­ten, sagt er, sei­en bloß dum­mes Zeug und bloß Was­ser auf die Müh­len der So­zi­al­de­mo­kra­tie. Sei­ne Müh­len, was ich üb­ri­gens recht und bil­lig fin­de, sind ihm lie­ber.«

»Aber Sie müs­sen doch vie­le Men­schen um sich her­um ha­ben, schon in Ih­rer Wirt­schaft.«

»Ja, die hab’ ich, und die Mam­sells, die man so kriegt, ja, ein paar Wo­chen geht es; aber dann bän­deln sie gleich an, am liebs­ten mit ’nem Vo­lon­tär, wir ha­ben näm­lich auch Vo­lon­tärs in der Müh­len­bran­che. Und die meis­ten sind aus ganz gu­tem Hau­se. Die jun­gen Men­schen pas­sen aber nicht auf, und da hat man’s denn, und im­mer gleich Knall und Fall. All das ist doch trau­rig, und mit­un­ter ist es auch so, daß man sich ge­ra­de­zu ge­nie­ren muß.«

Cz­a­ko seufz­te. »Mir ein Greu­el, all der­glei­chen. Aber ich weiß vom Ma­nö­ver her, was al­les vor­kommt. Und mit ei­ner Schläu­e… nichts schlau­er als ver­lieb­te Men­schen. Ach, das ist ein Ka­pi­tel, wo­mit man nicht fer­tig wird. Aber Sie sag­ten Li­ni­en­stra­ße, mei­ne Gnä­digs­te. Wel­che Num­mer denn? Ich ken­ne da bei­nah je­des Haus, klei­ne, net­te Häu­ser, im­mer bloß Bel-Eta­ge, höchs­tens mal ein Oeil de Boeuf.«

»Wie? was?«

»Gro­ßes run­des Fens­ter ohne Glas. Aber ich lie­be die­se Häu­ser.«

»Ja, das kann ich auch von mir sa­gen, und in ge­ra­de sol­chen Häu­sern hab’ ich mei­ne bes­te Zeit ver­bracht, als ich noch ein Quack war, höchs­tens vier­zehn. Und so grau­sam wild. Da­mals wa­ren näm­lich noch die Rinn­stei­ne, und wenn es dann reg­ne­te und al­les über­schwemmt war und die Bret­ter an­fin­gen, sich zu he­ben, und schon so halb her­um­schwam­men, und die Rat­ten, die da drun­ter steck­ten, nicht mehr wuß­ten, wo sie hin soll­ten, dann spran­gen wir auf die Boh­len rauf, und nun die Bies­ter raus, links und rechts, und die Jun­gens hin­ter­her, im­mer auf­ge­krem­pelt und ganz nackigt. Und ein­mal, weil der eine Jun­ge nicht abließ und mit sei­nen Holz­pan­ti­nen im­mer drauf­los­schlug, da wur­de das Un­tier falsch und biß den Jun­gen so, daß er schrie! Nein, so hab’ ich noch kei­nen Men­schen wie­der schrei­en hö­ren. Und es war auch fürch­ter­lich.«

»Ja, das ist es. Und da hel­fen bloß Rat­ten­fän­ger.«

»Ja, Rat­ten­fän­ger, da­von hab’ ich auch ge­hört – Rat­ten­fän­ger von Ha­meln. Aber die gibt es doch nicht mehr.«

»Nein, gnä­di­ge Frau, die gibt es nicht mehr, we­nigs­tens nicht mehr sol­che He­xen­meis­ter mit Zau­ber­spruch und ei­ner Pfei­fe zum Pfei­fen. Aber die mei­ne ich auch gar nicht. Ich mei­ne über­haupt nicht Men­schen, die der­glei­chen als Me­tier be­trei­ben und sich in den Zei­tun­gen an­zei­gen, un­heim­li­che Ge­sich­ter mit ei­ner Pelz­kap­pe. Was ich mei­ne, sind bloß Pin­scher, die ne­ben­her auch noch ›Rat­ten­fän­ger‹ hei­ßen und es auch wirk­lich sind. Und mit ei­nem sol­chen Rat­ten­fän­ger auf die Jagd ge­hen, das ist ei­gent­lich das Schöns­te, was es gibt.«

»Aber mit ei­nem Pin­scher kann man doch nicht auf die Jagd ge­hen!«

»Doch, doch, mei­ne gnä­digs­te Frau. Als ich in Pa­ris war (ich war da näm­lich mal hin­kom­man­diert), da bin ich mit run­ter­ge­stie­gen in die so­ge­nann­ten Ka­ta­kom­ben, hoch­ge­wölb­te Kanä­le, die sich un­ter der Erde hin­zie­hen. Und die­se Kanä­le sind das wah­re Rat­te­nel­do­ra­do; da sind sie zu Mil­lio­nen. Oben drei Mil­lio­nen Fran­zo­sen, un­ten drei Mil­lio­nen Rat­ten. Und ein­mal, wie ge­sagt, bin ich da mit run­ter­ge­klet­tert und in ei­nem Boo­te durch die­se Un­ter­welt hin­ge­fah­ren, im­mer mit­ten in die Rat­ten hin­ein.«

»Gräß­lich, gräß­lich. Und sind Sie heil wie­der raus­ge­kom­men?«

»Im gan­zen, ja. Denn, mei­ne gnä­digs­te Frau, ei­gent­lich war es doch ein Ver­gnü­gen. In un­serm Kahn hat­ten wir näm­lich zwei sol­che Rat­ten­fän­ger, einen vorn und einen hin­ten. Und nun hät­ten Sie se­hen sol­len, wie das los­ging. ›Schnapp‹ und das Tier um die Ohren ge­schla­gen, und tot war es. Und so wei­ter, so schnell wie Sie nur zäh­len kön­nen, und mit­un­ter noch schnel­ler. Ich kann es nur ver­glei­chen mit Mr. Car­ver, dem be­kann­ten Mr. Car­ver, von dem Sie ge­wiß ein­mal ge­le­sen ha­ben, der in der Se­kun­de drei Glas­ku­geln weg­schoß. Und so im­mer­zu, vie­le hun­dert. Ja, so was wie die­se Rat­ten­jagd da un­ten, das ver­gißt man nicht wie­der. Es war aber auch das Bes­te da. Denn was sonst noch von Pa­ris ge­re­det wird, das ist al­les über­trie­ben; meist dum­mes Zeug. Was ha­ben sie denn Gro­ßes? Opern und Zir­kus und Mu­se­um, und in ei­nem Saal ’ne Ve­nus, die man sich nicht recht an­sieht, weil sie das Ge­fühl ver­letzt, na­ment­lich wenn man mit Da­men da ist. Und das al­les ha­ben wir schließ­lich auch, und man­ches ha­ben wir noch bes­ser. So zum Bei­spiel Nie­mann und die dell’Era. Aber sol­che Rat­ten­schlacht, das muß wahr sein, die ha­ben wir nicht. Und warum nicht? Weil wir kei­ne Ka­ta­kom­ben ha­ben.«