Der stille Koog - Ilka Dick - E-Book

Der stille Koog E-Book

Ilka Dick

5,0

Beschreibung

Leise Verbrechen an Büsums Küste Marlene Louven ist Kriminalhauptkommissarin und hat binnen kürzester Zeit ihr Gehör verloren. Dank Implantaten kann sie zwar wieder hören, doch nichts klingt mehr wie zuvor. Hinauskatapultiert aus ihrer vertrauten Welt, sucht sie Zuflucht bei ihrer Schwester, die in einem abgeschiedenen Koog nahe Büsum lebt. Während ihres Aufenthaltes wird der Bürgermeister der kleinen Gemeinde erschlagen aufgefunden. Unversehens steckt Marlene mitten in den Ermittlungen. Ihre Nachforschungen holen sie zurück ins Leben – und bringen sie gleichzeitig in tödliche Gefahr ...

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Ilka Dick, 1972 geboren, studierte nach dem Abitur Lehramt für Sonderschulen in Hamburg und ist seit vielen Jahren als Hörgeschädigtenpädagogin tätig. In ihrem zweiten Kriminalroman »Der stille Koog« verbindet sie nun ihre beruflichen Erfahrungen mit ihrer zweiten großen Leidenschaft – dem Schreiben. Die Autorin lebt mit ihrer fünfköpfigen Familie im Herzen Schleswig-Holsteins.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2019 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Olaf Bathke/Lookphotos

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Marit Obsen

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-461-2

Küsten Krimi

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Autoren- und Verlagsagentur Peter Molden, Köln.

Für Bastian, Jule und Till

Prolog

Es war ein Traum gewesen. Ein Traum von einem besseren Leben.

War es zu viel verlangt? Stand es nicht jedem zu?

Kein Mensch hatte das Recht, ihn zu zerstören.

Kein einziger.

Niemand.

1

Alles.

Das Prasseln der Regentropfen an den Fensterscheiben, das Knarren des Daches im Wind und das Läuten der Glocken vom nahe gelegenen Dom.

Das Streichen ihrer Hände über das Gesicht. Ihr Luftholen, Gähnen, ihr Ein- und Ausatmen.

Das Rascheln der Bettdecke. Nackte Füße auf dem Holzfußboden. Das Knacken der Dielen im Flur.

Auch das Knarzen der Badezimmertür und das Rauschen der Spülung, das Plätschern des Wassers im Waschbecken.

Nichts war ihr geblieben.

Alles weg.

Alles. Still.

Marlene Louven stand im Badezimmer vor dem Spiegel und trocknete sich das Gesicht und die Hände ab. Mit wenigen Handgriffen band sie ihre hellroten gelockten Haare zu einem Knoten zusammen, als sie spürte, wie ihr etwas Warmes, Weiches um die Beine strich. Sie sah hinab und blickte in die Augen ihres Katers. Bettelnd schauten sie Marlene an, während sich das Maul auffordernd öffnete und schloss.

»Na, alter Freund, schon wieder Hunger? Kleinen Moment noch, ich bin gleich so weit.« Marlene streichelte ihrem Kater über den Kopf. Dann ging sie in den Flur und griff im Regal nach der Box, in der sie über Nacht ihre Hörhilfen aufbewahrte. Sie nahm eines der beiden Cochlea-Implantate heraus. Es hatte Ähnlichkeit mit einem Hörgerät, nur war es ein klein wenig größer und besaß ein kurzes Kabel, an dessen Ende eine kreisförmige Magnetspule befestigt war. Kühl und glatt lag das Gerät in ihrer Hand. Sie brachte den Akku an und befestigte es hinter der rechten Ohrmuschel. Mit der Spule zwischen den Fingerspitzen suchte sie in den Haaren die Stelle hinter dem Ohr, an welcher sich der implantierte Magnet unter der Haut befand, der die Spule am Kopf hielt. Schnell hatte sie den Punkt gefunden, und die Spule saß fest.

Seit vier Monaten trug Marlene die Cochlea-Implantate. Vier Monate nachdem ihre Welt Wochen zuvor aus den Fugen geraten war.

Dabei hatte alles so schön werden sollen. Brasilien im März. Wandern, Kultur und der Atlantische Ozean. Ein Geschenk an sich selbst zum sechsundvierzigsten Geburtstag, ein Neustart nach einer gescheiterten Affäre. Sie hatte sich einen lang gehegten Wunsch erfüllt. Doch er endete in einer Katastrophe.

Die ersten Symptome hatte sie bereits auf dem Rückflug bemerkt. Dann war alles ganz schnell gegangen. Diagnose Hirnhautentzündung, Intensivstation, künstliches Koma. Sie war dem Tod nur knapp entronnen. Sie hatte Glück gehabt.

Alles Weitere jedoch fing damit erst an. Ihr Leben hatte sie zwar zurück, aber etwas anderes hatte sie durch die Krankheit unwiederbringlich verloren: ihr Gehör.

Binnen kürzester Zeit war Marlene taub geworden. Auf beiden Ohren. Die einzige Chance, jemals überhaupt wieder etwas hören zu können, war das Cochlea-Implantat. Sie entschied sich für die Operation und trug seitdem Hightech im Kopf. Auf beiden Seiten je eine Elektrode im Innenohr, kombiniert mit einem Magneten im Schädelknochen, und außen sichtbar ein abnehmbares Gerät hinter dem Ohr mit einer Spule im Haar.

Eine neue Welt.

Marlene griff nach dem zweiten CI, verband es mit dem Akku und setzte es an. Sie drehte sich zu ihrem Kater um, der mit erhobenem Schwanz ungeduldig wartete.

»So, jetzt geht’s wieder. Gleich bist du dran, Dule, dann bekommst du etwas zu fressen.«

Wieder sah Marlene, wie ihr Kater das Maul öffnete, doch dieses Mal hörte sie sein Maunzen. Allerdings hatte das Miauen mit den Lauten, die sie aus ihrer Erinnerung kannte, wenig zu tun. Es klang anders, irgendwie heller, blecherner. So wie ihre ganze Welt anders klang.

Alles um sie herum hörte sich ungewohnt und fremd an. Ob menschliche Stimmen oder der Klingelton eines Handys, das Rauschen der Ostseebrandung oder das Brummen der Waschmaschine im Schleudergang – nichts klang mehr wie zuvor. Mit den CIs konnte Marlene all diese Dinge zwar wieder hören, doch sie hörte sie nun elektronisch. Ihr Gehirn musste lernen, die elektrischen Impulse, die die Implantate an die Hörnerven sendeten, mit ihren gespeicherten Hörerfahrungen, mit ihren Erlebnissen und Erinnerungen eines ganzen Lebens von über vierzig Jahren in Einklang zu bringen. Ihre Festplatte im Kopf wurde nach und nach überschrieben. Und Marlene musste nicht nur das Hören, sondern, was noch viel entscheidender war, sie musste auch das Verstehen neu erlernen. Das Identifizieren und Zuordnen von Geräuschen und Klängen, von Lauten, von Sprache. Das war schwer. Aufreibend und anstrengend. Jeden Tag, jede Stunde eine Herausforderung.

Durch die Ertaubung war Marlene aus ihrem vertrauten Leben katapultiert worden, von jetzt auf gleich abgeschnitten von der Welt, die sie kannte. Sie war durch ein lautloses Niemandsland gegangen, orientierungslos und entwurzelt. Nun war sie auf dem Weg, sich die hörende Welt in kleinen Schritten zurückzuerobern.

Marlene zog eine Strickjacke über ihr Nachthemd und ging in die Küche, die nicht viel mehr als eine Kochzeile in dem großen, offenen Wohn-Esszimmer war. Sie stellte ihrem Kater frisches Futter und Wasser hin und schaltete die Espressomaschine ein. Das dröhnende altersschwache Knattern war Marlene anfangs unangenehm gewesen, doch mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt. Sie bereitete sich einen Espresso zu, schäumte Milch auf. Der Duft nach frischem Kaffee stieg in die Luft. Mit einer Schale Müsli und der Sonntagszeitung setzte sie sich an den Esstisch unter der Dachschräge. Von hier aus konnte sie die Türme des Schleswiger Domes sehen. Sie sah auf die Turmuhr. Kurz nach neun. Ein wenig Zeit blieb ihr noch.

Nach dem Frühstück ließ sich Marlene mit einem zweiten Cappuccino in der Hand in der Fensternische auf der anderen Seite des Zimmers nieder. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die bunten Kissen. Sofort kam Dule angelaufen und sprang auf ihren Schoß. Schnurrend rollte er sich zusammen.

Dies war Marlenes Lieblingsplatz. Sie mochte die gemütliche Nische mit dem Ausblick über die kleine Dachterrasse und die Dächer bis hinüber zur Schlei. Heute schob der Wind dunkle Wolken über den Himmel, doch vereinzelt riss die Wolkendecke auf, und Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg nach unten, wo sie weit draußen das Wasser der Schlei zum Glitzern brachten.

Marlene drehte das Radio an. Früher hätte sie in solchen Augenblicken Musik gehört. Sie hatte fast immer Musik laufen lassen, sie liebte Musik, spielte selbst Klavier. Doch damit war es vorerst vorbei. Mit dem Cochlea-Implantat hörte sich Musik für Marlene fürchterlich an. Stattdessen hörte sie nun NDR Info, den Informationssender des Norddeutschen Rundfunks, in dem fast ausschließlich gesprochen wurde. Gesprochen mit geschulten, deutlichen Stimmen, die sich hervorragend zum Üben des Sprachverstehens eigneten. Und das musste Marlene: üben, üben und nochmals üben. Das Radio lief nicht mehr nebenbei, sondern als gezieltes Training. Zuhören war für sie zu einem aktiven Vorgang geworden, der hohe Konzentration erforderte.

Marlene machte gute Fortschritte, das wusste sie. Sie war vielen Patienten mit CIs im Sprachverstehen weit voraus, wie ihr der Audiologe im Universitätsklinikum in Kiel bei den Kontrollterminen jedes Mal versicherte. Auch was das betraf, hatte sie letztlich Glück gehabt. Dennoch, der Schock über die Diagnose saß tief. Und ihr Weg hatte gerade erst begonnen.

»Es ist neun Uhr siebenundvierzig. In unserem folgenden Beitrag –«

Marlene stand auf und schaltete das Radio aus. Wenn sie pünktlich zum Mittagessen bei ihrer Schwester sein wollte, musste sie sich allmählich beeilen. Rasch wusch sie das Frühstücksgeschirr ab und ging ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen und ihre Sachen zu packen.

Sie freute sich auf Johanne. Und sie sehnte sich nach Levke und Morten, ihrer Nichte und ihrem Neffen. Dennoch beschlich sie ein beklemmendes Gefühl. Sie hatte die Kinder seit der Implantation noch nicht wieder gesehen. Wie würden sich ihre Stimmen anhören? Würde sie Levke und Morten auf Anhieb verstehen können? Und wie würde für sie ihre eigene, Marlenes, Stimme klingen? Ob den Kindern ein Unterschied auffiel? Ob sie ihnen fremd vorkam oder womöglich gar abstoßend erschien?

Marlene holte ihre Reisetasche aus der Abseite und begann, Wäsche und Kleidung für ein paar Tage einzupacken.

Und dann war da noch Bahne, ihr Schwager. Auch ihn hatte sie seit seinem kurzen Besuch damals im Krankenhaus nicht mehr gesehen. Nur hätte sie in seinem Fall nichts dagegen einzuwenden, wenn es dabei bliebe. Aber der Wunsch, Johanne und die Kinder zu sehen, war stärker. Das seit jeher enge Verhältnis zu ihrer Schwester hatte durch die Ereignisse der letzten Monate weiter an Tiefe gewonnen. Johanne war an ihrer Seite gewesen, auf der Intensivstation, in der Klinik nach der Operation, zu Hause. Nun hatte sie Marlene überredet oder vielmehr genötigt, sie und ihre Familie für ein paar Tage auf ihrem Hof an der Nordseeküste zu besuchen.

Im Stillen wusste Marlene, dass ihre Schwester recht hatte. Seit ihrer Ertaubung war sie viel zu viel allein. Sie hatte sich aus ihrem sozialen Leben zurückgezogen, hatte Kontakte vermieden, sich regelrecht verkrochen. Sie hatte das gebraucht, sie musste zunächst allein mit der neuen Situation klarkommen. Ihr Selbstvertrauen hatte tiefe Risse davongetragen. Lange Zeit hatte sie ihre Wohnung nur für das Nötigste verlassen.

Mittlerweile war sie wieder häufiger draußen unterwegs, hatte ein Stück Normalität zurückerlangt. Einmal war sie sogar endlich wieder rudern gewesen, doch angesichts der Gefahr, dass ihre CIs ins Wasser fallen könnten, hatte sie die Geräte abgenommen. Eine irritierende Erfahrung. Sie hatte es nicht erneut probiert.

Vielleicht ist es wirklich an der Zeit, wieder mehr unter Leute zu gehen, dachte Marlene und stopfte Socken und Unterwäsche in die Reisetasche. Auf Dauer würde sie allein nicht weiterkommen. Und da war eine ruhige Umgebung in einem abgeschiedenen Koog unter vertrauten Menschen als erster Schritt vermutlich nicht das Schlechteste. Die Kröte mit Bahne musste sie eben schlucken.

Sie schloss die Türen des Kleiderschrankes und machte flüchtig das Bett. Am Nachttisch blieb sie stehen. Sie nahm den Bilderrahmen in die Hand und wischte mit dem Ärmel die feine Staubschicht vom Glas. Für einen Augenblick betrachtete sie die Fotografie. Anfangs hatte sie das Bild ihres Mannes überall mit hingenommen, aus Angst, es könnte verblassen. Doch sie trug ihn sicher in ihrer Seele. Und sie hatte den Ring. Den legte sie niemals ab. Vorsichtig stellte Marlene den Rahmen zurück und ging in den Flur, gefolgt von ihrem Kater, der sie nicht aus den Augen ließ. Dule spürte, dass irgendetwas anders war als sonst.

Neben ihrer Schwester war auch Mats in den letzten Wochen und Monaten sooft er es ermöglichen konnte bei ihr gewesen. Doch ihr Sohn studierte am anderen Ende der Republik, und das neue Semester hatte gerade begonnen. Er hatte sein eigenes Leben, auch wenn Marlene ihn schmerzlich vermisste. Vor Ort hatte sie nur Hilde und Werner, ihre Vermieter und guten Seelen des Hauses. Ihren Elternersatz. Ihnen musste sie nichts vormachen.

Und natürlich ihre Kollegen von der Dienststelle. Doch mit ihnen war es anders.

Marlene durfte ihr technisches Zubehör nicht vergessen. Akkus zum Wechseln, Ladestation, Fernbedienung. Auch die Trockenbox musste sie mitnehmen. Sie war seit ihrem Klinikaufenthalt nicht mehr länger von zu Hause fort gewesen. Marlene ertappte sich dabei, wie sie das Sammelsurium an technischen Geräten, die sie in der Reisetasche verstaut hatte, befremdlich anstarrte. All diese Dinge gehörten jetzt zu ihr. Für immer. Es gab Momente, da konnte sie einfach noch nicht glauben, dass dies nun wirklich ihr Leben war. Sie zog den Reißverschluss der Tasche zu und stellte sie neben die Wohnungstür.

Seit der Hirnhautentzündung und der anschließenden Diagnose war Marlene krankgeschrieben. Sie war seitdem auch nicht mehr auf der Kriminalpolizeistelle gewesen. Ihre Kollegen hatten rege Anteilnahme gezeigt, doch Marlene hatte alle Besuchsanfragen abgeblockt. Einzig ihr Teampartner Simon Fährmann hatte sich davon nicht beeindrucken lassen und stand eines Abends einfach vor ihrer Tür. Doch dann hatte auch er verstanden: Marlene brauchte Zeit.

Denn sie, Kriminalhauptkommissarin Marlene Louven, die nichts so schnell aus der Spur warf, immer Profi, immer tough, sie war tief verwundet und verunsichert. Und eine grundlegende, alles entscheidende Frage lag zentnerschwer auf ihrer Seele: Wie würde sie je wieder als Kommissarin arbeiten können?

2

»Und zum Schluss noch eine Bitte: Lasst meinem alten Herrn nicht zu viele Leckereien angedeihen. Dule sollte wenigstens noch durch die Katzenklappe passen.« Marlene grinste.

Hilde Thomsen nickte zustimmend, doch Marlene wusste, dass ihr Kater trotzdem ausgiebig verwöhnt werden würde. Sie nahm es Hilde nicht übel, ganz im Gegenteil, und umarmte die kleine alte Frau zum Abschied. Sie reichte ihr gerade knapp über die Schulter.

»Na, mien Deern, brauchst du mal wieder einen vernünftigen Pott Kaffee anstatt diesen neumodischen Krams?« Werner Thomsen erschien hinter seiner Frau in der Wohnungstür.

Hilde drehte sich zu ihm um. »Nein, Marlene möchte sich nur verabschieden. Sie fährt für ein paar Tage zu ihrer Schwester in den Koog.«

»Was ist mit dem Fenster oben?« Werner zog fragend die Augenbrauen zusammen.

Hilde seufzte. »Nichts ist mit dem Fenster oben. Marlene fährt zu ihrer Schwester, nach Theresienkoog, nach Dithmarschen. Sind deine Batterien wieder leer?« Sie tippte sich mit dem Finger ans Ohr.

Werner schaute hilfesuchend zu Marlene. Sie lächelte ihm aufmunternd zu. »Du weißt doch, ohne Strom kommen wir beide nicht mehr klar«, sagte sie.

Werner nickte. »Ach so, oben ist alles klar.«

Hilde rollte mit den Augen.

Marlene verabschiedete sich und trat auf die Straße. Sofort empfing sie ein kalter Wind. Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke zu und stellte den Kragen hoch. Der erste Herbststurm war gestern über das Land gefegt. Zahlreiche Zweige und Blätter auf der Straße zeugten von einer unruhigen Nacht. Mittlerweile hatte der Wind ein wenig nachgelassen, und es hatte aufgehört zu regnen. Immer mehr blaue Lücken zeigten sich zwischen den Wolken, die mit der Sonne um die Vorherrschaft am Himmel kämpften. Vielleicht würde es doch noch ein schöner Tag werden.

Marlene wohnte auf dem Holm, dem kleinen historischen Fischerviertel in Schleswig am Ufer der Schlei. In den engen kopfsteingepflasterten Gassen gab es kaum Platz zum Parken, sodass die Anwohner ihre Autos in den angrenzenden Straßen abstellen mussten. Deshalb ging Marlene die Süderholmstraße hinunter, die an einem kleinen Friedhof entlangführte, der das Zentrum eines kreisförmigen Platzes bildete. Seinen Rand säumten niedrige alte Häuser, die meisten von ihnen sorgsam restauriert, mit Sprossenfenstern, bunten Holztüren und Jahreszahlen aus Gusseisen an den Giebeln. Die Rosenstöcke an den Hauswänden waren jetzt, Mitte Oktober, allesamt verblüht.

Marlene holte eine Packung Zigaretten aus ihrer Jackentasche, hielt ihre Hand schützend vor das Feuerzeug und steckte sich eine an. Nach der Implantation hatte sie wieder mit dem Rauchen angefangen. Das hatte sie auch nach Nils’ Tod getan, um es sich dann mühsam wieder abzugewöhnen, als es ihr langsam besser ging. Marlene war nicht stolz auf diese Schwäche, doch sie hatte im Augenblick nicht die Kraft, dagegen anzugehen. Immerhin besser als Alkohol, redete sie sich ein.

Sie hatte ihren Bus vor dem St.-Johannis-Kloster geparkt. Seine leuchtend orange Farbe sah Marlene schon von Weitem. Sie hatte den alten T4 vor Jahren von den Stadtwerken gekauft. Der Schriftzug »Entstörungsdienst« war an der Seite noch immer zu erkennen. Der Bus hatte mittlerweile ein gesegnetes Alter erreicht, und jede TÜV-Untersuchung verursachte bei Marlene Schweißausbrüche. Doch entgegen jeder Vernunft hatte sie sich bisher noch nicht von ihrem Gefährt trennen können. Zu viele Erinnerungen hingen daran. Marlene hatte ihn gemeinsam mit Mats ausgebaut und einige schöne Campingurlaube mit ihm darin verbracht. Nein, ein wenig musste der Bus noch durchhalten. Ganz abgesehen davon, dass sie sich einen neuen Campingbus finanziell gar nicht leisten konnte.

Marlene warf die Zigarettenkippe in einen Mülleimer, öffnete die Schiebetür und stellte die Reisetasche in den Bus. Dann kletterte sie nach vorn, warf ihre Handtasche auf den Beifahrersitz und setzte sich hinter das Lenkrad. Sie ließ ihre Hände sinken und hielt inne.

Seit ihrer CI-Operation war Marlene nur selten Auto gefahren. Sie vertraute ihrem neuen Sinn noch nicht. Die Geräusche anderer Verkehrsteilnehmer aus dem lauten, eintönigen Brummen des Dieselmotors herauszuhören fiel ihr schwer. Besonders schwierig war es für Marlene, die Richtung zu erkennen, aus der ein Geräusch kam. Einmal hatte sie nur durch einen zufälligen Blick in den Rückspiegel bemerkt, dass ein Rettungswagen mit Blaulicht schon direkt hinter ihr war. Sie hatte vor Schreck auf die Bremse getreten und hätte beinahe einen Auffahrunfall verursacht.

Marlene musste bei jeder Fahrt ihre volle Konzentration aufwenden. Sie atmete tief durch und straffte die Schultern. Dann steckte sie den Schlüssel ins Zündschloss und startete den Motor.

Um von Schleswig nahe der Ostsee nach Theresienkoog an der Nordseeküste zu gelangen, musste Marlene Schleswig-Holstein einmal von Ost nach West durchqueren. Gleich hinter Heide, der Kreisstadt Dithmarschens, begann das Land der Windräder. Und je weiter sich Marlene der Küste näherte, desto mehr Windräder reckten sich in den weiten Himmel. Gleichförmig drehten sich ihre Rotoren im Takt, den der stetig gehende Wind vorgab. Auf den Wiesen neben der Bundesstraße weideten Schafe. Etwas weiter abseits folgte eine Schar Möwen einem Trecker, der ein Feld pflügte. Weiße Tupfen auf dunklem, schwerem Marschboden.

Marlene musste abbremsen und schaltete in den zweiten Gang hinunter. Vor ihr hatte sich hinter einem Trecker eine lange Autoschlange gebildet. Sie konnte sehen, dass seine beiden Anhänger bis über den Rand mit Kohlköpfen beladen waren. Kohlernte. Marlene lehnte sich in ihrem Autositz zurück. Das konnte dauern. Willkommen in Dithmarschen.

Das Autofahren hatte bis hierhin gut geklappt, stellte Marlene zufrieden fest. Wieder war ein kleiner Schritt in die richtige Richtung geschafft. Sie beugte sich zum Beifahrersitz hinüber und kramte in ihrer Handtasche, bis sie die Tüte mit den salzigen Lakritzheringen gefunden hatte. Sie fischte sich zwei, drei heraus und ließ sie nacheinander im Mund verschwinden.

Bis kurz vor Büsum kroch Marlene hinter dem Trecker her, dann konnte sie in Oesterdeichstrich endlich von der Bundesstraße abbiegen. Bald darauf erreichte sie die lang gezogene Koogchaussee, die nach Theresienkoog führte. Durch eine Deichscharte passierte sie den am weitesten landeinwärts liegenden Deich, und vor ihr breitete sich der Koog aus. Wohin Marlene auch sah, überall fiel ihr Blick auf Windräder. Erhaben überragten sie die weiten, ebenen Ackerflächen und die vereinzelten Höfe, die verstreut zwischen Feldern und Wiesen lagen. Der Rand ihres Blickfeldes wurde von den Deichen bestimmt, die den Koog zu allen Seiten umschlossen.

Wirklich sehr viel Gegend, dachte Marlene nicht zum ersten Mal, während sie die schmale, schnurgerade Chaussee entlangfuhr. Sicherlich war auch Schleswig nicht gerade das, was man den Nabel der Welt nannte, aber hier in Theresienkoog gab es nicht viel mehr als Schafe, Windräder, ein paar Höfe und einige einsame Touristen. Marlene konnte dieser spröden Provinz durchaus etwas abgewinnen. Für ein paar Tage oder auch zwei, drei Wochen konnte sie es gut in dieser Abgeschiedenheit aushalten. Die Weite und die Klarheit der Landschaft, die Grenzenlosigkeit des Himmels und der nahen Nordsee, sie hatten etwas ganz Besonderes, etwas Befreiendes. Aber Marlene fragte sich trotzdem, wie ihre Schwester auf Dauer hier leben konnte.

Sie konnte den Hof von Johanne und ihrer Familie schon sehen, bevor sie von der Hauptstraße in die Stichstraße einbog, die direkt darauf zuführte. An der Abzweigung stand, angebracht an einem alten Wagenrad, ein kunstvoll gestaltetes Schild aus Holz mit der Aufschrift »Hof Seehusen – Ferienwohnungen und Hofladen«.

Auf der anderen Seite des Stichweges war ein zweites Schild an einem Pfahl in den Boden gerammt. Das Plakat darauf zeigte den roten Kreis des Verkehrsschildes »Durchfahrt verboten«, in dessen Mitte mehrere Windräder von einem kräftigen roten Balken durchgestrichen waren. »Bürgerinitiative Proteststurm« konnte Marlene im Vorbeifahren lesen. »Wir haben genug! Keine neuen Windkraftanlagen in Theresienkoog!«

Da hat Bahne ja mal wieder ein neues Projekt, dachte Marlene. Sie lenkte den Bus auf den kopfsteingepflasterten Hofplatz und parkte vor dem ehemaligen Pferdestall, in dem sich die Ferienwohnungen befanden. Hier wohnte Marlene für gewöhnlich, wenn sie bei ihrer Schwester zu Besuch war, und gerade in ihrer jetzigen Situation war die Aussicht auf einen Rückzugsort, an dem sie hin und wieder ganz für sich allein sein konnte, sehr verlockend.

Sie schaltete den Motor aus. Als sie nach ihrer Handtasche griff, fiel Marlenes Blick in den Rückspiegel. Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Saßen die CIs richtig hinter dem Ohr? Stand auch nichts ab? Erst jetzt bemerkte sie, dass sie ein flaues Gefühl in der Magengegend hatte.

Sie stieg aus und holte tief Luft. Es roch nach Salz und Meer. Das war etwas, was sie hier im Koog wirklich liebte. Sie schaute sich um. Wo waren Levke und Morten? Normalerweise kamen die beiden sofort angerannt.

Da flog die Haustür des Wohnhauses auf, und die Kinder kamen über den Hofplatz gestürmt.

»Du hast ja gar nicht gehupt!«, rief Levke. »Du hupst doch sonst immer!«

»Oh, daran habe ich heute gar nicht gedacht.« Marlene schloss ihre Nichte in die Arme. Innerlich atmete sie auf. Levkes Stimme klang viel zu hoch und blechern. Und natürlich gänzlich ungewohnt. Aber die ersten Sätze hatte Marlene wenigstens schon einmal verstanden. »Wie schön, dich zu sehen, meine Große.«

Morten blieb vor Marlene stehen. »Sind das da diese Dinger? Deine neuen Ohren?« Er zeigte auf Marlenes CIs und lief einmal um sie herum. »Und da… du …tig hören? Cool.«

Marlene sah Morten an. »Entschuldige, aber das habe ich nicht ganz verstanden. Kannst du das bitte wiederholen?«

»Ob … ob das deine neuen Ohren sind. Mit denen du wieder hören kannst«, wiederholte er verunsichert.

»Ja, das sind meine Cochlea-Implantate, meine CIs. Damit kann ich gut hören. Du musst mich nur beim Sprechen anschauen, dann kann ich dich besser verstehen.«

»Ach so …« Morten schaute etwas betreten zu Boden.

»Aber nun komm erst mal her!« Marlene ging in die Knie und drückte ihren Neffen an sich. Dann schob sie ihn mit ausgestreckten Armen von sich weg und betrachtete ihn. »Hey, du bist ja schon wieder gewachsen! Und hast du einen neuen Pullover? Mit einem echten John Deere drauf!« Sie nickte anerkennend.

Mortens Augen leuchteten augenblicklich auf. »Ja, den habe ich bekommen, weil ich bei der Ernte geholfen habe. Ich durfte einmal sogar den Trecker lenken. Hast du mir auch etwas mitgebracht?«

»Na klar. Du kannst ja schon mal die Tasche aus dem Auto holen.«

»Morten, nun lass doch Marlene erst einmal ankommen.« Johanne war aus dem Haus gekommen und warf ihrem Sohn einen tadelnden Blick zu. »Wie schön, dass du da bist, Schwester!«

Die beiden umarmten sich herzlich.

»War die Fahrt okay?«

Marlene nickte. »Bis auf einen der Kohltrecker, die gerade unterwegs sind, lief alles wunderbar.«

»Ja, wem sagst du das?« Johanne grinste. »Bahne ist noch mit Senta bei den Schafen, aber er wollte gleich zum Mittagessen kommen.«

Senta war das fünfte Mitglied der Familie, ein schwarz-weißer Border-Collie. Johanne wandte sich zum Gehen und begann zu sprechen, hielt dann aber inne, drehte sich wieder zu Marlene um und fing von Neuem an: »Leider ist deine Ferienwohnung gestern kurzfristig gebucht worden, und du weißt ja, wir müssen das gerade in der Nachsaison unbedingt annehmen. Die anderen zwei Wohnungen sind auch belegt. Deshalb musst du mit bei uns im Haus schlafen. Levke hat ihr Zimmer für dich geräumt, dann hast du dort dein Reich und kannst ungestört sein.«

Marlene seufzte innerlich, aber sie ließ sich ihre Enttäuschung nach außen hin nicht anmerken. »Das ist aber lieb von dir«, sagte sie zu ihrer Nichte und legte ihr den Arm um die Schulter. Gemeinsam gingen sie zum Haus hinüber. Es war aus rotem Backstein gebaut und hatte hohe, schlanke Holzfenster, deren Rahmen grün-weiß lackiert waren.

Im Flur duftete es verführerisch nach Essen.

»Lamm?«, fragte Marlene ihre Schwester. »Mit Rosmarinkartoffeln?«

»Na klar.«

»Du bist die Beste.« Marlene drückte Johanne einen Kuss auf die Wange. Sie selbst war eine miserable Köchin.

»Ist auch klar.« Lachend verschwand Johanne in der Küche.

Marlene überreichte den Kindern ihre Mitbringsel.

»Die neue THW Inside, wow! Das ist toll. Vielen Dank!« Levke strahlte über das ganze Gesicht. Sie teilte Marlenes Begeisterung für den Handballsport und den THW Kiel. Gemeinsam hatten sie Marlenes Kater nach dem Mannschaftskapitän auf dessen Spitznamen »Dule« getauft. Mit der Zeitschrift über ihren Lieblingsverein ließ sich Levke auf der Eckbank in der gemütlichen Wohnküche nieder.

»Und für dich habe ich etwas für deine Sammlung.« Marlene gab Morten ein kleines Päckchen. Gespannt zerriss er das Geschenkpapier.

»Der 9000er von John Deere! Mit Doppelreifen. Cool!«

»Als ob ich das mit dem Pulli geahnt hätte … Diesen Trecker hast du doch noch nicht, oder?«

Morten schüttelte den Kopf. »Nee, der fehlte noch. Danke!«

Da wurde die Küchentür mit Schwung geöffnet, und Bahne kam herein. »Moin!« Er zog seine Lederweste mit Lammfellfutter aus und warf sie über die Rückenlehne eines Stuhles. Mit einer flüchtigen Umarmung begrüßte er seine Schwägerin. »Hallo, Marlene, alles klar?«

»Jep.« Marlene nickte.

»Warm hier drin.« Er krempelte die Ärmel seines karierten Holzfällerhemdes hoch. »Bei den Schafen habe ich alles geregelt. Das Gatter klemmt jetzt nicht mehr. War ’ne Sache von fünf Minuten.«

»Papa, guck mal, ich habe von Leni einen neuen John Deere geschenkt bekommen.« Morten hob den Trecker in die Luft und hielt ihn seinem Vater hin.

»Ja, schön. Aber zum Mittagessen kommt er auf die Seite.«

»Och Papa, bitte!« Morten schob die Unterlippe vor. »Er ist doch ganz neu.«

»Nein, kein Spielzeug auf dem Tisch. Und Levke, deine Zeitschrift oder was du da hast, wird auch weggepackt. Apropos Essen, ist es bald fertig? Ich habe einen Mordshunger.« Er gab Johanne einen Kuss. »Mmh, riecht das gut.«

Während sie aßen, entwickelte sich ein lebhaftes Gespräch, bei dem Marlene jedoch mehr und mehr zum stillen Zuschauer wurde. Die verschiedenen hohen und tiefen Stimmen, die alle durcheinanderredeten, dazu das helle, klirrende Geklapper des Bestecks, es wurde ihr alles zu viel. Dem Inhalt des Gesprächs konnte sie nur in Bruchstücken folgen.

Johanne beugte sich zu ihr herüber und legte ihr die Hand auf den Unterarm. »Alles okay bei dir? Du bist so still.«

Marlene lächelte entschuldigend. »Tut mir leid, aber es ist einfach noch ein wenig schwer für mich, alles zu verstehen.«

»Ist es zu laut für dich? Oder zu schnell?«

»Nein, nein, es ist nicht zu laut, aber vielleicht könntet ihr versuchen, mehr nacheinander zu reden, nicht alle auf einmal. Dann ist es für mich leichter.«

»Oh ja, natürlich«, antwortete Johanne schnell. Sie errötete. »Wir müssen das auch erst lernen.«

»Na klar. Alles gut.«

»Warum hast du denn heute gar keinen Nagellack auf deinen Fingernägeln?«, fragte Levke. Marlene bemerkte, dass ihre Nichte sich bemühte, klar und deutlich zu sprechen.

»Ach, weißt du, das habe ich in letzter Zeit ganz vergessen. Aber du hast recht, vielleicht sollte ich das mal wieder in Angriff nehmen.« Sie lächelte Levke zu.

»Für dich ist Nagellack sowieso noch nichts, Levke.« Bahne tat sich eine zweite Portion Fleisch und Kartoffeln auf. »Das Lamm ist dir übrigens wieder vorzüglich gelungen, Schatz.« Er sah seiner Frau in die Augen. »Muss von einem guten Züchter stammen.« Er lachte selbstgefällig über seinen Scherz.

»Papa hat gesagt, dass deine Stimme ein bisschen anders geworden ist«, sagte Morten leichthin. »Aber ich finde sie ganz normal.«

»Na ja, ganz so habe ich das nicht gesagt«, widersprach Bahne. »Aber wenn man nicht gut hören kann, dann kann man auch seine Stimme nur schwer kontrollieren. Und du redest seit der OP etwas lauter, Marlene. Hat dich bisher noch keiner darauf hingewiesen? Du brauchst nämlich gar nicht so laut zu sprechen. Aber das ist bestimmt bloß eine Frage der technischen Einstellung an deinen Geräten. Wie heißen die noch mal? CIs?«

Da war er wieder, Bahne Allwissend. Feinfühlig wie immer.

Bevor Marlene etwas erwidern konnte, warf Johanne ein: »Mir ist das gar nicht aufgefallen. Du sprichst sehr gut. Genauso wie früher.«

»Und du hast wirklich einen Magneten im Kopf? So richtig drin?«, fragte Morten neugierig. »Kannst du mir das nachher mal zeigen?«

Johanne wollte sich für ihren Sohn entschuldigen, aber Marlene winkte ab. »Lass gut sein, das ist völlig in Ordnung.« Sie schaute Morten an. »Ja, es sind sogar zwei Magnete, an jeder Seite einer.« Sie deutete rechts und links auf die Stellen hinter ihren Ohren. »Sie sitzen hier drunter, unter den Spulen. Ich zeige dir das nachher mal in Ruhe.«

Levke rief: »Mir auch!«

»Jetzt ist aber mal gut, lasst Marlene bitte in Ruhe essen.« Johanne nahm die Fleischplatte. »Möchtest du noch etwas von dem Lamm?«

Der Rest des Essens verlief vergleichsweise ruhig. Bahne hielt irgendeinen Monolog über seine Umbaupläne im Schafstall, während Marlene sich nach und nach ausklinkte. Sie musste sich eingestehen, dass sie sich allmählich erschöpft und müde fühlte.

Nach dem Nachtisch stand Bahne auf und verabschiedete sich. »Ich gehe kurz rüber zu Uwe. Ich will wegen der letzten Versammlung etwas mit ihm besprechen. Senta nehme ich mit.« Er schaute sich suchend um. »Hatte ich mein Spray nicht hier auf der Ablage liegen gelassen?«

»Ich habe es in den Schrank gestellt, damit es nicht wegkommt«, antwortete Johanne.

»Aha«, brummte Bahne. Er öffnete die Schranktür, nahm sein Asthmaspray heraus, inhalierte zwei Spraystöße und stellte das Medikament zurück in den Schrank.

Als er den Türgriff schon in der Hand hielt, blieb er noch einmal kurz stehen und drehte sich zu Marlene um. Beinahe beiläufig sagte er: »Du kannst wirklich froh sein, dass es solche Implantate gibt. Jetzt kannst du wieder richtig hören. Da hast du enormes Glück gehabt. Aber so ein Asthma wie bei mir«, er hustete demonstrativ, »das kannst du nicht einfach wegoperieren.«

3

»Dieses ignorante, selbstverliebte Arschloch!«

Marlene hielt inne. Verdammt, war ihr der Gedanke etwa gerade laut über die Lippen gerutscht? Sie sah zu Levke und Morten, doch die beiden schienen nichts gehört zu haben. Levke blickte konzentriert geradeaus, bedacht darauf, mit ihrem Waveboard die Spur zu halten, während Morten mit seinem Roller schon ein Stück weiter vorn auf dem Radweg in Richtung Deich unterwegs war. Das war noch einmal gut gegangen.

Nach der anstrengenden Konversation beim Essen und Bahnes Abgang hatte Marlene rausgemusst. Sie brauchte frische Luft. Deshalb war sie mit ihrer Nichte und ihrem Neffen zu einem Spaziergang aufgebrochen und stapfte nun, eine Mütze auf dem Kopf und die Hände tief in den Jackentaschen vergraben, den beiden Kindern auf ihren Fahrzeugen hinterher. Johanne war auf dem Hof geblieben, um auf die Ankunft der neuen Feriengäste zu warten.

Der Wind hatte aufgefrischt und die Wolken ins Landesinnere vertrieben. So war es kühl, aber sonnig, ein Wetter, das Marlene an sich liebte. Doch im Augenblick hatte sie keinen Sinn dafür. Denn sie ärgerte sich noch immer.

»Du kannst wirklich froh sein.« Froh! Als ob Bahne das auch nur annähernd beurteilen könnte! Marlene wollte kein Mitleid oder dergleichen, ganz und gar nicht. Aber was wusste Bahne schon? Was wusste er von der lautlosen Hölle, durch die sie gegangen war, was? Wenn alles um einen herum in Stille versinkt. Wenn die Musik verstummt. Und man seine eigene Stimme und die seines Sohnes nicht mehr hören kann. Was wusste er davon, wie es sich anfühlt, wenn die Welt ihre klingende Seele verliert?

Marlene schreckte aus ihren Gedanken hoch. Hatte Levke nach ihr gerufen? Sie sah auf. Ihre Nichte rief ihr irgendetwas zu, lachte und winkte und fuhr dann unbeirrt weiter. Gleich hatte sie ihren Bruder eingeholt. Marlene lächelte und winkte pflichtbewusst zurück, aber sie hatte nichts verstanden. War hoffentlich nicht so wichtig. Sie seufzte.

Natürlich waren die Cochlea-Implantate ein Segen für sie, und Marlene war dankbar und glücklich, dass es diese Technik gab. Wenn sie nur an den Augenblick zurückdachte, in dem die Geräte das erste Mal aktiviert wurden, an das Gesicht des Audiologen, seine freundliche und gleichzeitig ernste, erwartungsvolle Miene. Dann der erste Satz: »Können Sie mich verstehen?« Und Marlene konnte es. Wie jedes Mal, wenn sie daran dachte, spürte sie auch jetzt, wie Gänsehaut ihre Arme hinaufkroch und ihr die Tränen in die Augen schossen.

Verstohlen fuhr sich Marlene mit den Handrücken über die Wangen. Dann vergrub sie ihre Hände noch tiefer in den Jackentaschen.

Aber von wegen »richtig hören«! So leicht, wie Bahne meinte, war es ganz gewiss nicht. Immer gab es ein »Noch«: »Noch hören sich die Stimmen ungewohnt an, aber das wird für Sie ganz normal werden.« – »Noch können Sie nicht alle Geräusche identifizieren, aber das wird sich bald ändern.« – »Noch ist das Telefonieren schwierig, aber Sie werden darin Übung bekommen.«

Oft drohten diese »Nochs« Marlene den Mut zu nehmen. Doch sie wusste, dass sie dranbleiben musste. Sie wollte dranbleiben, wollte weiterkommen, immer besser werden und letztendlich irgendwann wieder so etwas wie einen normalen Alltag leben. Ihr Problem war nicht die Disziplin – da konnte Marlene sehr eisern sein –, sondern vielmehr die Geduld. Die zählte nicht gerade zu ihren Stärken. Und was das Hören anging, musste Marlene sehr geduldig sein. Sie musste ihren hohen Anspruch an sich selbst herunterschrauben. Hören lernen funktionierte nicht von heute auf morgen. Und nicht mit der Brechstange.

Ihre Finger fühlten die Zigarettenpackung in der Jackentasche. Wie gern würde sie sich jetzt eine anstecken. Allerdings nicht vor den Kindern. So weit hatte Marlene sich im Griff. Sie zog sich die Mütze tiefer ins Gesicht.

Inzwischen waren sie auf dem Rad- und Wanderweg ein gutes Stück vorangekommen. Immer geradeaus ging es durch abgeerntete Kohlfelder und Schafwiesen, vorbei an vereinzelten Hofstellen und riesigen Windrädern, die sich behäbig im Wind drehten. Die lang gezogenen Schlagschatten der Rotorblätter wanderten im steten Rhythmus über die Landschaft. Der Deich rückte immer näher. Marlene konnte die Nordsee zwar noch nicht sehen, aber sie konnte sie immer intensiver riechen. Tief atmete sie die salzige Luft ein und streckte ihr Gesicht dem Wind und der Sonne entgegen.

Als Bahne vorhin nach dem Essen die Küche verlassen hatte, hatte Johanne wie immer versucht, ihren Mann zu entschuldigen und seiner Aussage die Schärfe zu nehmen, er meine es ja gar nicht so. Doch Marlene wusste, dass dem nicht so war. Von ihrer ersten Begegnung an hatten sie und Bahne keinen Hehl aus ihrer gegenseitigen Abneigung gemacht. Bahne brauchte die große Bühne, und Marlene war dies zuwider. Sie gab ihm nicht den Applaus, nach dem er sich so sehr sehnte. Aber Johanne und den Kindern zuliebe hatten sie so etwas wie einen Burgfrieden geschlossen. Ganz ohne den anderen ging es nicht, Johanne wollte und brauchte sie beide. Also blieb Marlene ruhig und biss sich ein ums andere Mal auf die Zunge, auch wenn es ihr schwerfiel.

An einer Weggabelung hatten Levke und Morten haltgemacht und warteten auf sie. Gemeinsam setzten sie ihren Spaziergang fort.

Als sie an der einzigen Kuhweide im Koog vorbeikamen, sahen sie einen jungen Mann am Gatter stehen. Einige Kühe waren zu ihm an den Zaun gekommen. Sein weißblondes Haar leuchtete in der Sonne.

Morten hielt mit seinem Roller an und wechselte ein paar Worte mit dem Mann, während Marlene und Levke weitergingen. Dann schloss er wieder zu ihnen auf.

»Das ist Sö…«, sagte er zu Marlene.

»Sönke?«

»Nein, Sö-ren.«

»Ach so.« Marlene drehte sich noch einmal nach ihm um. »Sag mal, hat dieser Sören gerade mit den Kühen geredet?«

»Ja, das macht er oft. Manchmal muht er auch«, antwortete Morten ganz selbstverständlich.

»Muht?«

»Muht.«

»Aha.«

»Sören ist ein bisschen schnagge… aber voll in Ordnung.«

»Schna… was?«

Morten blickte Marlene in die Augen und betonte jede einzelne Silbe: »Schnag-ge-lig.«

»Das heißt, er ist behindert, geistig behindert«, schaltete sich Levke ein.

»Und das nennt ihr schnaggelig?« Marlene runzelte die Stirn. »Du weißt schon, dass man das auch anders sagen kann?«

»Wieso?«

»Na ja, man sollte vielleicht besser von einem Menschen mit einer Behinderung reden.«

Levke zuckte mit den Schultern. »Aber das alles ist doch sowieso ganz normal. Jeder kennt Sören hier. Er ist der Sohn von den Brodersens, vom Hof gleich bei uns nebenan. Allerdings wohnt er jetzt bei den Lüt… da vorn, kurz vorm Deich. Er hilft da im Stall.«

»Bei den Lü…«

»Lüt-jes.«

»Und die haben eine Treckersammlung, die musst du mal sehen! Die ganze Scheune steht voll!«, warf Morten ein. »Viele sind schon total alt, aber die meisten fahren noch. Immer zum Kohlfest holt Uwe einen raus. Und dann dürfen wir Kinder mitfahren. Diesmal war es ein alter Fendt. Sören ist auch mitgefahren.« Er strahlte über das ganze Gesicht.

»Na dann …« Marlene grinste. Sie gab Morten auf seinem Roller kräftig Anschwung und lief ihm hinterher. »Auf geht’s!«

»Hey, wartet!«, protestierte Levke lachend und folgte den beiden, so schnell sie konnte.

Bald darauf erreichten sie den Deich. Sie ließen die Fahrzeuge am Fuß der Treppe liegen und gingen nach oben. Auf der Deichkrone empfing sie ein noch kräftigerer Wind. Marlenes Blick schweifte über das Wasser und den weiten Horizont. Wie jedes Mal, wenn sie hier stand, erinnerte sie sich daran, wie sie als Kind zum ersten Mal mit Johanne und ihren Eltern an die schleswig-holsteinische Nordseeküste gefahren war. Wie sie voller Vorfreude den Deich erklommen hatte – und dann maßlos enttäuscht gewesen war. In ihrem kindlichen Unwissen hatte sie sich unter »Küste« und »Meer« einen breiten weißen Sandstrand mit Dünen und tosenden Wellen vorgestellt. Und nicht eine riesige matschige Fläche mit wenig Wasser, langen Reihen von Holzpflöcken und Steinen an der Deichkante.

Auch jetzt bot sich Marlene wieder dieser Anblick. Weite Wattflächen breiteten sich vor ihr aus, hier und da durchschnitten von einzelnen Lahnungen, die senkrecht zum Küstenverlauf tief ins Watt hineinragten. Nur mit dem Unterschied, dass sie heute, als erwachsene Frau, durchaus Gefallen an dieser herben Landschaft fand.

Sie lief auf der anderen Seite den Deich hinunter und schloss zu ihrem Neffen und ihrer Nichte auf, die schon längst unten an der Badestelle in ihren Gummistiefeln im Watt spielten. Gemeinsam spazierten sie ein kleines Stück an der Wasserkante entlang, bevor sie sich wieder auf den Rückweg machten. Allmählich wurde es dunkel, und der Hunger trieb sie nach Hause. Zwar war die Aussicht auf ein weiteres Essen mit ihrem Schwager im Augenblick nicht gerade das, was Marlene sich sehnlichst wünschte. Doch als sie den Hof fast erreicht hatten, sah Marlene Bahne in seinem Jeep auf der langen Stichstraße, die vom Hof zur Hauptstraße führte, davonfahren. Sie atmete innerlich auf.

Jetzt konnte es doch noch ein netter Abend werden.

4

Es war nicht viel mehr als ein zarter Luftzug. Ein dunkler Schatten an der Wand.

Der Schürhaken fuhr nieder. Das Splittern des Schädelknochens zerriss die Stille.

Längs schlug der Körper hin, ohne Reaktion. Dunkel und dumpf der Aufprall.

Ein gefälltes Leben. Mit einem einzigen Schlag.

Wie schnell es ging. Und wie leicht.

Nur noch das Ticken der Wanduhr, sonst nichts.

Es war vorbei.

Jetzt konnte alles so bleiben, wie es war.

5

Gleich nebenan ist gut, dachte Marlene, als sie auf dem mächtigen Findling die Inschrift »Hof Brodersen« las und ihr Levkes Worte vom Nachmittag in den Sinn kamen. Sie war mit Johanne und Senta zu einer letzten Hunderunde für diesen Tag aufgebrochen. Der Hof Brodersen lag zwar tatsächlich in nächster Nachbarschaft und in Sichtweite zum Hof ihrer Schwester, aber dennoch trennten sie einige Felder und mindestens sechshundert Meter Luftlinie.

Der Abend war klar, der Wind hatte abgeflaut. Zwei alte ehrwürdige Kastanienbäume erhoben sich links und rechts der Hofeinfahrt in den dunklen Himmel. Im Licht der Straßenlaterne sah Marlene ihre braunen Früchte zwischen den Blättern auf dem Boden glänzen. Sie bückte sich und ließ eine Kastanie in ihrer Jackentasche verschwinden. Glatt und kühl spürte sie die Rundungen in ihrer Hand. Sie liebte dieses Gefühl.

Dann kam das Geräusch. Es war durchdringend. Marlene stutzte. Was war das? Hatte ein Mensch geschrien? Oder ein Tier? Sie schaute sich um. Sie konnte den Ursprung nicht identifizieren und erst recht nicht feststellen, aus welcher Richtung das Geräusch kam. Sie sah zu ihrer Schwester. Auch Johanne schien etwas gehört zu haben. Irritiert blickte sie in Richtung Hofeinfahrt.

Marlene folgte ihrem Blick und entdeckte seitlich des großen Wohnhauses eine Frau, die aus dem Dunkeln auftauchte. Sie rannte auf den Vorplatz. Im Schein der Lampe zwischen den Säulen am Hauseingang war ihre Gestalt nun gut zu erkennen. Und sie war zu hören. Sie schrie.

Als die Frau Marlene und Johanne bemerkte, rannte sie wild gestikulierend auf sie zu. Einige Haarsträhnen hatten sich aus ihrem langen blonden Zopf gelöst und hingen ihr wirr ins Gesicht, der bunte Wollmantel flatterte offen hinter ihr her. Sie stürzte sich regelrecht in Johannes Arme, schluchzte und brabbelte auf sie ein.

Marlene verstand kein Wort. Verwirrt suchte sie Johannes Blick. Was ging hier vor?

Johanne versuchte, die Frau zu beruhigen. Schließlich schaffte sie es, sie mit den Armen von sich wegzuschieben. Sie sah Marlene an. Ihre Augen waren vor Schreck geweitet. »Das … das ist Sabine Sommer«, sagte Johanne, sichtlich um Fassung ringend, »sie hat gesehen, dass Hermann … also, der Besitzer des Hofes, sie hat gesehen, dass Hermann Brodersen im Wohnzimmer auf dem Boden liegt. Er ist tot! Und sein Kopf ist voller Blut. Vielleicht wurde er erschlagen!«

Sabine Sommer kreischte erneut auf und rief etwas. Bei Marlene kamen nur die Fetzen »müssen sofort« und »Polizei« an. Senta begann laut zu bellen. Sie schien die Aufregung der Frau zu spüren.

Johanne bemühte sich, Senta zum Schweigen zu bringen. Gleichzeitig erklärte sie der Frau etwas, von dem Marlene vermutete, dass es um sie ging, denn sie vernahm die Worte »Schwester« und »Kriminalhauptkommissarin«. Daraufhin wandte sich die Frau Marlene zu. »Er ist tot! Erschlagen! Ermordet!« Ihr Gesicht war zu einer dramatischen Fratze verzogen. Unter Tränen brachte sie hervor: »Ich wollte …«

Marlene versuchte sich zu konzentrieren, starrte auf die Lippen der Frau. Doch zwischen dem Geschluchze konnte sie nur Bruchstücke verstehen: »Sprechen wegen … kam keiner … Tür … brannte ja Licht …«

Sabine Sommer schlug die Hände vor das Gesicht.

Marlene berührte sie an der Schulter. »Versuchen Sie, sich zu beruhigen. Und schauen Sie mich an. Sie wollten Hermann Brodersen besuchen, und keiner öffnete die Tür?«

Die Frau ließ die Hände sinken. Ihr Kajalstift war verlaufen und hatte hässliche schwarze Ränder unter den Augen hinterlassen. »Ja.« Sie zog geräuschvoll die Nase hoch. »Ja, aber es brannte Licht im Haus. Da bin ich hintenrum, durch den Garten. Ich wollte nachsehen, ob er das Klingeln vielleicht einfach nicht gehört hat. Und dann …«

Marlene reichte ihr ein Taschentuch. »Und dann?«