Der Strick um den Hals - Emile Gaboriau - E-Book

Der Strick um den Hals E-Book

Emile Gaboriau

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Beschreibung

Emile Gaboriaus "Der Strick um den Hals" ist ein Meisterwerk des Kriminalromans aus dem 19. Jahrhundert. Das Buch folgt den Ermittlungen des Polizeiinspektors Lecoq, der auf der Suche nach einem rätselhaften Mörder ist, der sein Opfer mit einem Strick erwürgt. Gaboriaus Stil zeichnet sich durch präzise Beschreibungen, geschickt platzierte Hinweise und eine fesselnde Erzählweise aus, die den Leser bis zur letzten Seite in Atem hält. Das Werk gilt als wegweisend für die Entwicklung des Detektivromans und hat Einfluss auf spätere Autoren wie Arthur Conan Doyle und Agatha Christie.

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Emile Gaboriau

Der Strick um den Hals

KriminalromanÜbersetzer: Eduard Hallberger
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Inhaltsverzeichnis

Erstes Buch
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Zweites Buch
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Drittes Buch
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Viertes Buch
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44

Erstes Buch

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Inhaltsverzeichnis

Es war am 22. Juni 1871, etwa gegen ein Uhr nachts, als die Pariser Vorstadt, die bevölkertste Gegend der guten Stadt Sauveterre, plötzlich in Bewegung gesetzt wurde durch den rasenden, auf dem holperigen Pflaster laut widerhallenden Galopp eines Pferdes.

Alsbald sah man eine Menge Bürgersleute an die Fenster stürzen.

Bei der Dunkelheit der Nacht ließ sich nur undeutlich ein Bauer in Hemdsärmeln erkennen, der eine weiße Stute, die er ohne Sattel ritt, mit wütenden Hieben antrieb. Der Bauer wandte sich, nachdem er die Vorstadt durcheilt, in die Rue nationale, ehemals Rue impériale, ritt über den Neumarkt, lenkte dann zur Rue Mautrec ein und hielt vor dem schönen Hause an, das die Ecke der Rue du Château bildet.

Es war dies die Wohnung Herrn Sénéchals, des Bürgermeisters von Sauveterre, früher Staatsanwalt und Mitglied des Generalrats. Noch ehe er abgestiegen war, ergriff der Bauer die Klingel und begann so heftig zu läuten, daß augenblicklich das ganze Haus in Bewegung kam.

Einige Minuten später öffnete die große, wohlbeleibte Gestalt eines Bedienten die Türe und rief, die Augen noch voller Schlaf, in verdrießlichem Ton: »Wer seid Ihr, Mann? Was wollt Ihr? Wißt Ihr nicht, bei wem Ihr die Klingel zerreißt?«

»Ich will den Herrn Bürgermeister sprechen«, antwortete der Bauer, »weckt ihn auf, und zwar sofort!«

Herr Sénéchal aber war schon völlig munter. In einen weiten Schlafrock aus weichem Wollstoff gehüllt, ein Nachtlicht in der Hand, war er, seine Unruhe schlecht verbergend, eben im Vorzimmer erschienen und hatte alles angehört.

»Hier ist der Bürgermeister«, sprach er in mißvergnügtem Ton. »Was wollt Ihr von mir zu einer Stunde, wo alle anständigen Leute zu Bette sind?«

Den Bedienten zur Seite schiebend, trat der Bauer vor und antwortete, ohne die geringste Höflichkeitsform zu beobachten:

»Ich komme, Ihnen zu sagen, daß Sie uns die Feuerwehr schicken mögen!«

»Die Feuerwehr?«

»Ja, sogleich – beeilen Sie sich!«

Der Bürgermeister schüttelte den Kopf.

»Hm«, machte er, was bei ihm die Kundgebung der äußersten Verblüfftheit war. »Hm, hm.«

Und wer wäre nicht an seiner Stelle verblüfft gewesen?

Um die Feuerwehrleute zu rufen, mußte notwendig Alarm geschlagen werden. Mitten in der Nacht Alarm schlagen, hieß aber die ganze Stadt in Verwirrung setzen, die guten Bürger von Sauveterre aus ihrer Nachtruhe aufschrecken.

»Handelt es sich um eine ernstliche Feuersbrunst?« fragte Herr Sénéchal.

»Wie sollte es anders sein?« rief der Bauer, »bei einem Winde, der die Ziegel von den Dächern jagt.«

»Hm«, machte nochmals der Bürgermeister, »hm, hm!«

War es doch nicht das erste Mal, seit er Sauveterre verwaltete, daß er so ohne weiteres durch einen Bauernburschen aus dem Schlaf geweckt wurde, der in Nacht und Nebel mit dem Geschrei: »Zu Hilfe! Es brennt!« unter seine Fenster kam. – Durch die vernommenen Reden leicht zum Mitleid bewegt, entschloß er sich damals, die Feuerwehrleute zu versammeln; er stellte sich an ihre Spitze, und man eilte der Unglücksstätte zu. – Was aber fand man vor, nachdem man atemlos, schweißtriefend fünf oder sechs Kilometer im Sturmschritt zurückgelegt? Einige elende Misthaufen, kaum zehn Taler wert, die eben im Verlöschen begriffen waren.

»Nun«, begann Herr Sénéchal, »wo brennt es denn eigentlich?«

Außer sich über all den Aufschub, biß der Bauer vor Wut in den Stiel seiner Peitsche. »Muß ich es Ihnen nochmals wiederholen«, unterbrach er jenen, »daß alles in Flammen steht? Die Scheuern, die Meierei, die Ernte, die Nebenhäuser, das Schloß, alles! Wenn Sie noch zögern, werden Sie in Valpinson keinen Stein mehr auf dem andern finden.«

Die Wirkung, welche die Nennung dieses Namens hervorbrachte, war erstaunlich.

»Was?« fragte der Bürgermeister mit erstickter Stimme, »in Valpinson ist der Brand?«

»Ja.«

»Bei dem Grafen von Claudieuse?«

»Ganz recht!«

»Einfaltspinsel! Warum sagtest du das nicht gleich?« rief der Bürgermeister. – Er zögerte nicht länger. »Schnell«, sagte er zu seinem Bedienten, »komm, mich anzukleiden ... oder nein – Madame wird mir helfen, es ist keine Sekunde zu verlieren. Du läufst zu Bolton, du verstehst mich, zu dem Trommler, und befiehlst ihm, in meinem Namen Alarm zu schlagen, augenblicklich, überall ... – Alsdann eilst du zu dem Hauptmann Parenteau, du erklärst ihm, um was es sich handelt, und bittest ihn, aus der Magistratur die Schlüssel zu den Spritzen zu holen ... dann zu dem Beschließer ... Warte! – – Das heißt, du kehrst erst hierher zurück, spannst an ... Feuer in Valpinson! – Ich werde die Mannschaft selbst begleiten. Flugs! laufe, schlag an alle Türen! schrei überall Feuer aus! – Auf dem Neumarkt soll man sich versammeln.«

Als der Bediente, so schnell seine Beine ihn nur trugen, sich entfernt hatte, begann Herr Sénéchal von neuem, sich zu dem Bauern wendend: »Ihr aber, mein braver Bursche, besteigt Euer Pferd und eilt, Herrn von Claudieuse zu ermutigen, daß man die Hoffnung nicht verliere, daß man die Anstrengungen verdopple, die Hilfe nahe! ...«

»Bevor ich nach Valpinson zurückkehre, habe ich noch eine Besorgung in der Stadt zu machen.«

»Wie, Ihr sagt –?«

»Ich muß den Doktor, Herrn Seignebos, abholen, um ihn mit mir zu nehmen.«

»Den Doktor – ist denn jemand verletzt?«

»Ja, der Herr – Herr von Claudieuse.«

»Der Unvorsichtige; er wird sich nach seiner Gewohnheit in die Gefahr gestürzt haben!«

»O nein – er ist von zwei Flintenschüssen getroffen worden.«

Fast hätte der Bürgermeister seinen Handleuchter fallen lassen.

»Von zwei Flintenschüssen!« rief er. »Wo – wann? – wie? ... von wem?«

»Ach! Das weiß ich nicht.«

»Aber ...?«

»Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist, daß man ihn in eine kleine Scheune getragen, die noch nicht vom Feuer ergriffen war. Dort habe ich ihn auf einem Bund Stroh, weiß wie ein Stück Leinwand, die Augen geschlossen und ganz mit Blut bedeckt, liegen sehen.«

»Mein Gott, wäre er wohl gar tot?«

»Er war es nicht, als ich aufbrach.«

»Und die Gräfin?«

»Die Frau von Claudieuse«, antwortete der Bauer in einem von Ehrerbietung durchdrungenen Ton, »fand ich in der Scheune neben dem Herrn Grafen kniend, beschäftigt, seine Wunden mit frischem Wasser zu waschen. – Auch die beiden kleinen Fräulein waren bei ihr.«

Herr Sénéchal schauderte.

»Sollte hier ein Verbrechen geschehen sein?« murmelte er.

»Das ist gewiß.«

»Von wem? Zu welchem Zweck?«

»Ach, wer weiß!«

»Herr von Claudieuse ist sehr heftig, das ist wahr, sehr jähzornig, aber er ist der beste, rechtschaffenste Mensch, wie jedermann weiß –«

»Jedermann!«

»Er hat dem Lande immer nur Gutes erwiesen.«

»Niemand dürfte das Gegenteil behaupten!«

»Was die Gräfin betrifft –«

»Oh!« rief der Bauer mit Inbrunst, »die Frau Gräfin ist eine Heilige!«

Der Bürgermeister suchte sich seine Schlußfolgerungen. »Der Schuldige«, kombinierte er, »wäre also ein Fremder? Wir werden überlaufen von Vagabunden und durchziehenden Bettlern. Es vergeht kein Tag, wo nicht deren etliche in der Meierei erscheinen, um Reiseunterstützung zu bitten, Leute mit Galgengesichtern!«

Kopfschüttelnd bestätigte der Bauer: »Das war auch meine Meinung. Und – was Ihnen zum Beweise dienen mag – darum habe ich unterwegs gedacht, daß ich vielleicht gut daran täte, sobald der Arzt in Kenntnis gesetzt wäre, auch die Polizei zu benachrichtigen ...«

»Das ist unnötig«, unterbrach Herr Sénéchal den andern, »das ist eine Sorge, die mir zufällt. In zehn Minuten werde ich beim Staatsanwalt sein ... Und nun vorwärts, schont Euer Pferd nicht und sagt Frau von Claudieuse, daß wir folgen.«

Während seiner ganzen langen Amtstätigkeit war der Bürgermeister von Sauveterre noch nie so jählings aus seiner Ruhe aufgerüttelt worden.

Er verlor den Kopf darüber nicht mehr und nicht weniger als an jenem andern verhängnisvollen Tage, an dem ihm unversehens neunhundert Mann Mobilgarde zugewiesen wurden, die er mit Kost und Wohnung versehen sollte. – Ohne die Hilfe seiner Frau wäre er nie in seine Kleider gekommen.

Doch war er bereit, als der Bediente wieder erschien.

»Bei Gott«, dachte er bei sich selbst, »wenn ich nur den Daubigeon zu Hause finde!«

Herr Daubigeon, der ehemals kaiserlicher Staatsanwalt, dann ein solcher der Republik gewesen, war einer von Herrn Sénéchals besten Freunden.

Er war ein Mann von etwa vierzig Jahren, mit schlauem Blick und lächelnden Mienen, der sich in den Kopf gesetzt hatte, Junggeselle zu bleiben, und sich dessen gern zu rühmen pflegte.

Man fand aber in Sauveterre, daß weder sein Wesen noch sein Äußeres sein gestrenges Amt verriet.

Übrigens war er allgemein geachtet, nur warf man ihm heftig seine optimistische Philosophie und seine Gutmütigkeit vor, besonders aber seine Nachlässigkeit bei den Untersuchungen, eine Nachlässigkeit, die in strafbare Schwäche ausartete und dem Verbrechen Vorschub leistete.

Er selbst warf sich vor, »das heilige Feuer« nicht zu besitzen und, wie er sich ausdrückte, der kalten Themis soviel Zeit als möglich zu rauben, um sie liebenswürdigeren Musen zu widmen.

Als »aufgeklärter Sammler« hatte er eine Passion für schöne Bücher, für seltene Ausgaben alter Werke, für kostbare Einbände, schöne Sammlungen von Stichen, und der größte Teil seiner zehntausend Francs jährlicher Rente wurde für diese seine »geliebten Scharteken« verausgabt.

Als Gelehrter »der alten Schule« widmete er den lateinischen Dichtern Vergil, Juvenal und namentlich Horaz eine Verehrung, welche sich in fortwährenden Zitaten kundtat.

Aus dem Schlaf emporgeschreckt, wie alle Welt, eilte dieser würdige und elegante Herr sich anzukleiden, um Erkundigungen einzuziehen, als seine alte Wirtschafterin ganz entsetzt hereinstürzte, um Herrn Sénéchals Besuch zu melden.

»Er trete ein«, rief er, »er trete ein!«

»Denn«, fuhr er fort, als der Bürgermeister kaum in der Türe erschienen war, »Sie werden mir doch Nachricht bringen, was all der Tumult, das Geschrei, das Trommelgewirbel zu bedeuten hat!

... ›Clamorque virum, clangorque tubarum!‹«

»Ein fürchterliches Unglück ist geschehen«, stieß Herr Sénéchal heraus in einem Ton, daß jedermann hätte schwören mögen, er selbst sei der Betroffene.

Das war auch so sehr Herrn Daubigeons Eindruck, daß er alsbald ausrief: »Was gibt es, mein teurer Freund? Quid? Mut, zum Henker! Erinnern Sie sich der Mahnung des Dichters, im Mißgeschick eine immer gleichmütige Seele zu bewahren!

› Aequam, memento, rebus in arduis Servare mentem ...‹«

»Der Graf von Claudieuse stirbt vielleicht in diesem Augenblick als Opfer eines feigen Mordversuches.«

»Oh!...«

»Die Trommel, die Sie vernehmen, vereinigt die Feuerwehrleute, die ich alsbald abschicken will, um das in Valpinson ausgebrochene Feuer zu löschen, und daß ich zu dieser Stunde bei Ihnen erscheine, geschieht aus amtlichen Gründen, um Ihnen das Verbrechen anzuzeigen und alsbald Gerechtigkeit zu fordern.«

Das war mehr als genug, um alle Zitate auf den Lippen des Staatsanwalts ersterben zu lassen.

»Genug«! rief er erschreckt. »Kommen Sie, wir wollen unsere Maßregeln treffen, daß die Schuldigen uns nicht entrinnen!«

Als sie in der Rue nationale ankamen, war diese belebter als sonst am hellen Tage; denn Sauveterre ist einer jener unbedeutenden Amtsbezirke, wo Zerstreuungen so selten vorkommen, daß jeder Anlaß zur Aufregung begierig ergriffen wird.

Schon war die traurige Begebenheit bekannt und besprochen worden. Anfangs hatte man gezweifelt, aber man war überzeugt, als man das Kabriolett des Doktors Seignebos in Begleitung eines reitenden Bauern in vollem Galopp vorbeieilen sah.

Die Feuerwehrleute ihrerseits hatten keine Zeit verloren.

Kaum wurde des Bürgermeisters und Herrn Daubigeons Ankunft auf dem Neumarkt angezeigt, als der Hauptmann Parenteau ihnen entgegenstürzte und, indem er die Hand militärisch an seinen Helm legte, ausrief: »Meine Leute sind bereit!«

»Alle?«

»Es fehlen ihrer nicht zehn. Als man erfuhr, daß es sich darum handele, dem Grafen und der Gräfin von Claudieuse beizuspringen, Donnerwetter ... Sie werden sich denken können, daß sich da keiner erst an den Ohren herbeiziehen ließ.«

»Dann fahrt ab und eilt euch«, befahl Herr Sénéchal. »Wir werden euch unterwegs einholen. Wir, das heißt Herr Daubigeon und ich, gehen sofort, Herrn Galpin-Daveline, den Untersuchungsrichter, abzuholen.«

Sie hatten nicht weit zu gehen.

Der Richter hatte sie selbst schon seit einer halben Stunde in der Stadt gesucht; auf dem Platze angelangt, ward er ihrer alsbald gewahr.

Der personifizierte Gegensatz des Staatsanwalts, war Herr Galpin-Daveline ganz und gar Mann seines Berufs, und mehr als das.

Alles an ihm von Kopf bis Fuß, von seinen Tuchgamaschen bis zu seinem hochblonden Backenbart, bekundete die Magistratsperson. Er war nicht nur ernst, er war die Verkörperung der Ernsthaftigkeit. Obgleich er noch jung war, konnte sich niemand rühmen, ihn jemals lächeln oder spaßen gesehen zu haben. Zugleich war er so steif, daß er, nach Herrn Daubigeons Ausdrucksweise, »das Schwert der Gerechtigkeit selbst verschluckt zu haben schien«.

Daher hielt er es auch unter seiner Würde, auf einem zu engen Spielraum zu operieren, die großen Fähigkeiten, die er zu besitzen glaubte, in alltäglichen Angelegenheiten zu vergeuden, wo es sich etwa nur um den Urheber eines Holzdiebstahls oder um den Einbruch in einen Hühnerstall handelte.

Doch alle seine verzweifelten Anstrengungen, einen bedeutenden Posten zu erlangen, waren bisher zunichte geworden. Vergebens hatte er sich sogar heimlich in die Politik gemischt, bereit, stets der Partei zu dienen, die ihm am besten dienen würde.

Aber Herr Galpin-Daveline war nicht einer von denen, deren Ehrgeiz sich entmutigen läßt. Auch hatte er, von einer Reise nach Paris zurückgekehrt, in letzter Zeit zu verstehen gegeben, daß eine brillante Heirat, die ihm in Aussicht stehe, nicht verfehlen werde, ihm die Protektionen zu verschaffen, welche seinen Verdiensten bisher gefehlt hatten.

»Wohlan«, rief er, als er Herrn Sénéchal und Herrn Daubigeon erreicht hatte, »da haben wir einen entsetzlichen Fall, der jedenfalls die weitesten Dimensionen annehmen wird!«

Der Bürgermeister wollte ihm die näheren Umstände mitteilen.

»Nicht nötig«, sagte jener; »alles, was Sie wissen, weiß ich auch. Ich bin dem Bauern begegnet, der Ihnen zugeschickt wurde, und habe ihn ausgefragt. – Ich denke«, sprach er alsdann, sich zu dem Staatsanwalt wendend, »daß es unsere Pflicht wäre, uns sofort auf den Schauplatz des Verbrechens zu begeben.«

»Ich wollte Ihnen eben dasselbe vorschlagen«, antwortete Herr Daubigeon.

»Man müßte die Gendarmerie benachrichtigen.«

»Herr Sénéchal hat sie soeben schon benachrichtigen lassen.«

Die Aufregung des Untersuchungsrichters war groß, so groß, daß sie sogar einigermaßen die Eisrinde undurchdringlicher Kälte zu durchbrechen schien.

»Da gilt's, auf frischer Tat zu ertappen«, sprach er.

»Augenscheinlich.«

»So daß wir gemeinsam handeln können, Sie, indem Sie untersuchen, ich, indem ich Ihrer Untersuchung gemäß nachforsche.«

Ein ironisches Lächeln glitt über die Lippen des Staatsanwalts.

»Sie müssen mich gut genug kennen«, antwortete er, »um zu wissen, daß, was mich betrifft, keine Eifersuchtskonflikte zu befürchten sind. Ich bin nur noch ein gutmütiger Hagestolz, dem nichts über seine Ruhe und seine Bücher geht.

› Sum piger et senior Pieridumque comes ...‹«

»Dann hält uns nichts mehr zurück«, rief Herr Sénéchal, der vor Ungeduld brannte, »mein Wagen ist angespannt – brechen wir auf!«

Kapitel 2

Inhaltsverzeichnis

Von Sauveterre nach Valpinson rechnet man ungefähr eine Meile Entfernung, das heißt eine Landmeile von sieben Kilometern.

Aber Herr Sénéchal hatte ein gutes Pferd, vielleicht das beste des Bezirks, wie er, als er den Wagen bestieg, seinen beiden Reisegefährten versicherte.

In der Tat hatten sie in kaum zehn Minuten die Feuerwehrleute erreicht, die eine gute Weile früher abgezogen waren.

Und doch beeilten sich diese braven Leute, meist Handwerksmeister, Maurer, Schieferdecker und Zimmerleute von Sauveterre, aus allen ihren Kräften. Von einem halben Dutzend dampfender Pechfackeln beleuchtet, zogen sie keuchend den holprigen Weg entlang, indem sie die beiden Spritzen und den Karren mit den Rettungsgeräten vor sich herschoben.

»Mut, meine Freunde, Mut!« rief ihnen der Bürgermeister zu, während er an ihnen vorbeifuhr.

Etwa drei Minuten später erschien ein Bauer zu Pferde, durch die Nacht dahinsausend gleich einem fahrenden Ritter.

Herr Daubigeon befahl ihm anzuhalten. Er gehorchte.

»Ihr kehrt aus Valpinson zurück?« fragte Herr Sénéchal.

»Ja«, antwortete der Bauer.

»Wie steht es mit dem Grafen von Claudieuse?«

»Er ist zu sich gekommen.«

»Was hat der Arzt gesagt?«

»Daß er vermutlich durchkommen wird. Und ich eile zur Apotheke, um Arznei zu holen.«

Um besser zu hören, beugte sich Herr Galpin-Daveline aus dem Wagen.

»Wird durch das Gerücht noch niemand beschuldigt?« fragte er.

»Niemand.«

»Und das Feuer?«

»Wasser zum Löschen ist genug vorhanden«, antwortete der Bauer, »aber die Spritzen fehlen ...«

»Was ist zu tun? ... bei dem immer stärker werdenden Winde?«

»Oh, welch ein Unglück! Welch ein Unglück!«

Mit diesen Worten gab er seinem Pferd die Sporen.

Der unglückliche Bürgermeister geriet, je mehr er die Sache überlegte, außer sich.

Das verübte Verbrechen erschien ihm wie eine Herausforderung an seine Geschicklichkeit, wie die grausamste Schmähung, die seiner Verwaltung widerfahren konnte.

»Denn in der Tat«, wiederholte er zum zehnten Male seinen Reisegefährten, »ist es erklärlich, ist es logisch, daß ein Übeltäter es gerade auf den Grafen und die Gräfin von Claudieuse abgesehen haben sollte, auf den vortrefflichsten, den hochgeachtetsten Mann des Bezirks, und auf eine Frau, deren Namen mit Tugend und Herzensgüte gleichbedeutend ist.«

Und eifrig begann der Bürgermeister, ohne sich durch die derben Stöße des Wagens stören zu lassen, alles, was er von der Geschichte des Besitzers von Valpinson wußte, zu erzählen.

Der Graf Trivulce von Claudieuse war der letzte Nachkomme einer der ältesten Familien des Landes. Mit sechzehn Jahren hatte er, etwa um 1829, seine Heimat verlassen und war dann lange Zeit nur selten und zu ganz kurzen Besuchen nach Valpinson zurückgekehrt.

Im Jahre 1859 war er Schiffskapitän geworden und zum Konteradmiral bestimmt, als er plötzlich seinen Abschied eingereicht und sich in Valpinson niedergelassen hatte, wo übrigens von dem einstigen Glanz des alten Schlosses wenig mehr übrig war als zwei Türme, die auch schon halb in Trümmern lagen und von mächtigen Haufen geschwärzter und bemooster Steine umgeben waren.

Zwei Jahre lang hatte er einsam hier für sich gelebt, sich, so gut es eben ging, eine Wohnung hergerichtet und sich mit den Vermögensresten seiner Vorfahren, dank seinem unablässigen Fleiße, ein bescheidenes Wohlleben gesichert.

Da meinte wohl jedermann, daß er auch in dieser Weise sein Leben beschließen würde, als das Gerücht sich verbreitete, der Graf würde sich verheiraten.

Und ausnahmsweise war diesmal das Gerücht wahr.

Eines schönen Tages war Herr von Claudieuse nach Paris gereist, und bald darauf erfuhr man durch schriftliche Anzeigen, daß er sich mit der Tochter eines seiner ehemaligen Kollegen, dem Fräulein Geneviève von Tassar, vermählt habe.

Das allgemeine Erstaunen war groß. Zwar war der Graf noch ein wohlaussehender Mann, sogar von auffallend stattlicher Erscheinung; aber er zählte bereits siebenundvierzig Jahre, und Fräulein Tassar de Bruc hatte kaum das zwanzigste erreicht.

Ja, wenn die Neuvermählte arm gewesen wäre, hätte man die Sache begriffen und für ganz in der Ordnung gehalten. Es ist ja so natürlich, daß ein Mädchen ohne Aussteuer die Wünsche des Herzens der Frage äußerlicher Wohlfahrt opfert. Aber dies war nicht der Fall. Der Marquis Tassar de Bruc galt für reich und hatte, wie man behauptete, seinem Schwiegersohn fünfzigtausend Taler ausbezahlt.

Dann, hatte man weiter geschlossen, müßte die junge Gräfin häßlich zum Erschrecken sein, gebrechlich, schwachsinnig vielleicht und verwachsen – oder wenigstens von unausstehlichem Charakter.

Aber weit gefehlt! Sie erschien in ihrem neuen Wohnort – und alles war hingerissen von ihrer edlen und sanften Schönheit; sie sprach zu den Leuten – und alles gab sich dem Zauber ihrer Rede gefangen.

Sollte in der Tat diese Verbindung, wie man in Sauveterre behauptete, eine Heirat aus Neigung gewesen sein?

Wirklich fing man an, es zu glauben, was aber zahlreiche alte Jungfern nicht hinderte, den Kopf zu schütteln und zu behaupten, siebenundzwanzig Jahre Unterschied sei zuviel zwischen zwei Gatten, und die Ehe werde keine glückliche sein.

Die Tatsachen aber hatten diese üble Prophezeiung durchaus Lügen gestraft. Auf zehn Meilen in der Runde gab es keinen friedlicheren Hausstand als den des Herrn und der Frau von Claudieuse. Durch zwei Töchter, die ihnen im Zeitraum von zwei Jahren geboren wurden, schien das friedliche Glück ihres häuslichen Herdes völlig gesichert.

Aus der Zeit seiner früheren Tätigkeit, als er seine entlegenen Güter in Frankreich verwaltete, hatte der Graf freilich den stolzen Ton eines Befehlshabers, eine strenge und kalte Haltung, eine kurze Redeweise beibehalten.

Er war außerdem von so großer Heftigkeit, daß der geringste Widerspruch ihm das Blut ins Gesicht trieb.

Aber die Gräfin war die Ruhe und die Sanftmut selbst, und da sie immer vermittelnd zwischen den Zorn ihres Gatten und denjenigen zu treten wußte, der ihn erregt, da sie beide gerecht, gut bis zur Schwäche, großmütig und mitleidig gegen Notleidende waren, so wurden sie angebetet.

Es gab nur einen Punkt, in welchem der Graf keinen Scherz verstand. Das war die Jagd. Als passionierter Jäger bewachte er das ganze Jahr hindurch sein Wild mit der Ängstlichkeit eines Geizhalses, indem er die Schutzwerke und die Zahl der Jagdhüter verdoppelte und die Wilderer mit einer solchen Wut verfolgte, daß die Bauern sagten: »Es wäre besser, ihn um hundert Pistolen bestehlen, als ihm eine seiner Amseln töten.«

Herr und Frau von Claudieuse lebten im übrigen ziemlich abgeschlossen, ganz durch die Besorgung einer ausgedehnten Landwirtschaft und die Erziehung ihrer beiden Töchter in Anspruch genommen. Nur selten pflegten sie Gäste bei sich zu empfangen, und kaum viermal des Winters sah man sie in Sauveterre bei den Fräulein von Lavarande oder bei dem alten Baron von Chandoré. In jedem Sommer aber zogen sie auf einen Monat nach Royan, wo sie ein Landhaus besaßen. Ebenso pflegte die Gräfin zum Beginn der Jagdzeit mit ihren Töchtern einige Wochen bei ihren in Paris ansässigen Eltern zu verbringen.

Um dieses friedliche Dasein aus seinen Fugen zu heben, bedurfte es keines geringeren Stoßes als der Katastrophe von 1870.

Als der Graf erfuhr, wie die siegreichen Preußen den heiligen Boden des Vaterlandes überfluteten, erwachte in dem alten Schiffskapitän mit aller Macht der Franzose und der Soldat.

Obwohl hartnäckiger Legitimist, erklärte er sich doch bereit, für die Republik zu sterben, wenn nur Frankreich gerettet würde. Ohne den Schatten eines Zögerns bot er Gambetta, den er haßte, seinen Degen dar.

Zum Obersten eines Infanterie-Regiments ernannt, schlug er sich wie ein Löwe vom ersten bis zum letzten Tag.

Als er nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandes nach Valpinson zurückkehrte, gelang es niemandem außer seiner Frau, ihm ein Wort über den unglücklichen Feldzug zu entlocken.

Man forderte ihn auf, sich für die Wahlen zu melden, und gewiß wäre er gewählt worden, aber er schlug es aus und sagte, er wisse wohl zu kämpfen, das Reden aber sei seine Sache nicht.

Nur mit halbem Ohr hatten der Staatsanwalt und der Untersuchungsrichter allen diesen Geschichten zugehört, die sie ebenso gut kannten wie Herr Sénéchal.

»Aber«, rief endlich Herr Galpin-Daveline, »kommen wir denn gar nicht vorwärts? Soviel ich um mich schaue, so seh' ich doch keine Spur einer Feuersbrunst.«

»Das ist, weil wir uns in einer Senke befinden«, antwortete der Bürgermeister. »Aber wir kommen schon vorwärts, und wenn wir auf der Höhe des Hügels sein werden, zu der wir eben hinauffahren, dann – beruhigen Sie sich –, dann werden Sie schon sehen –«

Dieser Hügel ist sehr bekannt in dem Bezirk, ja geradezu berühmt unter dem Namen des Berges von Sauveterre. Er ist steil und aus so hartem Granit geformt, daß die Ingenieure, welche die große Straße von Bordeaux nach Nantes anlegten, einen Umweg von einer halben Meile machten, um ihn zu umgehen.

Er beherrscht somit die ganze Landschaft, und auf seinem Gipfel angelangt, konnten Herr Sénéchal und seine Gefährten sich eines Aufschreis kaum erwehren.

»Horesco«, murmelte der Staatsanwalt. Das Feuer selbst war ihnen noch verborgen durch den Hochwald von Rochepommier, aber die Strahlen der Flammen schossen weit über die großen Bäume – den ganzen Horizont mit ihren unseligen Gluten erhellend. – Die ganze Umgegend war in Bewegung. Die Sturmglocke läutete mit eiligen Schlägen von der Kirche zu Bréchy, deren verfallener Turm sich schwarz an dem purpurnen Himmel abzeichnete.

»Die Hilfe kommt zu spät«, sagte Herr Galpin-Daveline.

»Ein so schönes Gut!« rief der Bürgermeister, »und so wohl geordnet.«

Und er trieb sein Pferd den Hügel hinab zum Galopp an, denn Valpinson hegt im Grunde des Tales, fünfhundert Meter von dem kleinen Fluß entfernt.

Hier war alles in Schreck, Verwirrung, Unordnung aufgelöst. Und doch fehlte es weder an Händen noch an gutem Willen. Beim ersten Alarmschrei waren alle Bewohner der Umgegend herbeigeeilt, und es kamen deren noch mit jeder Minute neue an, aber es war niemand da, sie zu leiten.

Vor allem war es die Rettung des Mobiliars, die sie beschäftigte. Die Mutigsten verweilten in den Gemächern und warfen, von einer Art Schwindel befallen, alles aus den Fenstern, was ihnen nur in die Hände fiel. So häuften sich in der Mitte des Hofes drunter und drüber Betten, Matratzen, Stühle, Wäsche, Bücher und Kleider an.

Mit einer gewaltigen Aufregung wurde die Ankunft des Herrn Sénéchal und seiner Begleiter begrüßt.

»Da ist der Herr Bürgermeister!« schrien die Bauern, durch seine Anwesenheit schon ermutigt und bereit, ihm zu gehorchen.

Herrn Sénéchal aber genügte ein Blick, um den Stand der Dinge zu übersehen.

»Ja, ich bin es, meine Freunde«, sagte er, »und ich freue mich über euren Eifer. Es handelt sich in diesem Augenblick darum, unsere Kräfte nicht zu zersplittern. Die Pächterei und die Wirtschaftsgebäude sind verloren, geben wir sie auf. – Vereinigen wir unsere Anstrengungen auf das Schloß. Organisieren wir uns. Der Ruß ist ganz nah; alles heran zur Kette, Männer und Weiber! – Wasser, Wasser! – Da sind die Spritzen!«

In der Tat hörte man sie mit Donnergetöse heranrollen. Die Feuerwehrleute erschienen. Der Hauptmann Parenteau übernahm die Leitung. Jetzt endlich konnte Herr Sénéchal sich nach dem Grafen von Claudieuse erkundigen.

»Der Herr ist dort«, antwortete ihm ein altes Weib, indem sie auf eine etwa hundert Fuß entfernte Hütte mit einem Strohdach zeigte. »Der Doktor hat ihn dorthin tragen lassen.«

»Wir wollen zu ihm gehen«, sprach hastig der Bürgermeister zum Staatsanwalt und zum Untersuchungsrichter.

Auf der Schwelle der einzigen Stube, welche die ärmliche Wohnung enthielt, blieben sie aber stehen.

Es war ein großes Zimmer mit Lehmboden, mit geschwärzten Balken und angefüllt mit Handwerkszeug und Säcken. Zwei Betten mit gewundenen Säulen und mit Vorhängen aus gelbem Serge füllten den Hintergrund aus. Auf dem zur Linken schlief ein kleines Mädchen von vier oder fünf Jahren in eine Decke gehüllt, von der etwa zwei oder drei Jahre älteren Schwester bewacht.

Auf dem Bett zur Rechten lag oder saß vielmehr der Graf von Claudieuse, denn man hatte hinter seinem Rücken alle Kissen aufgehäuft, die man der Feuersbrunst zu entreißen vermocht.

Er saß mit entblößtem und blutbedecktem Rücken da, und der Doktor Seignebos beugte sich in Hemdsärmeln, die er bis zu den Ellenbogen aufgekrempelt hatte, über ihn und schien, einen Schwamm in der einen Hand, ein Skalpell in der andern, in eine ernste und bedenkliche Operation vertieft.

In einem weißen Musselinkleide stand die Gräfin von Claudieuse zu Füßen des Lagers, auf dem ihr Gatte ruhte – bleich, aber mit gefaßter Ruhe und voll standhafter Resignation. Eine Lampe in der Hand, leuchtete sie dem Doktor nach seinen Anweisungen.

In einem Winkel kauerten mit über den Kopf gezogenen Schürzen zwei Mägde und weinten.

Tief erschüttert entschloß der Bürgermeister sich endlich einzutreten.

Der Graf von Claudieuse war der erste, der ihn bemerkte. »Ah! da ist der brave Sénéchal!« sagte er. »Treten Sie näher, lieber Freund, treten Sie näher! ... Das Jahr 1871 ist, wie Sie sehen, ein verhängnisvolles Jahr. Von allem, was ich besaß, wird bei Tagesgrauen nichts mehr übrig sein als ein paar Schaufeln Asche.«

»Es ist ein großes Unglück«, antwortete der würdige Bürgermeister, »aber wir befürchteten eins, das noch viel unersetzlicher wäre ... doch Gott sei Dank, Sie werden am Leben bleiben ...«

»Wer weiß, ich leide fürchterlich!« ...

Bei diesen Worten fuhr Frau von Claudieuse zusammen.

»Trivulce«, flüsterte sie mit sanft flehender Stimme, »Trivulce!«

Nie mag ein Liebender auf die Freundin seines Herzens einen zärtlicheren Blick geworfen haben als der, den Herr von Claudieuse auf seine Gemahlin warf.

»Vergib mir, liebe Geneviève, vergib mir meinen Mangel an Mut –«

Ein nervöser Krampf schnitt ihm die Worte ab; gleich darauf rief er mit gellender Stimme: »Himmel und Hölle, Doktor, Sie foltern mich!«

»Hier habe ich Chloroform«, entgegnete kaltblütig der Arzt.

»Ich will keines.«

»Dann entschließen Sie sich, den Schmerz auszuhalten, und bleiben Sie still, denn jede Ihrer Bewegungen vermehrt ihr Leiden.«

Darauf wischte er mit dem Schwamm den feinen Blutfaden ab, der über sein Skalpell rieselte. »Übrigens«, fügte er hinzu, »wollen wir einige Minuten Pause machen ... Meine Augen und meine Hände werden müde; ich bin eben nicht mehr jung.«

Der Doktor Seignebos zählte sechzig Jahre. Er war ein kleiner Mann mit galligem Teint, mager, kahlköpfig, von einer mehr als nachlässigen Haltung, stets eine goldene Brille auf der Nase, die abzunehmen, sauberzuwischen und wieder aufzusetzen seine Hauptbeschäftigung schien. Sein medizinischer Ruf war groß, man führte in Sauveterre Wunder von Heilungen an, die er vollbracht; dennoch habe er wenig Freunde. Die Arbeiter warfen ihm seine hochmütige Amtsmiene vor, die Bauern seine Gewinnsucht, die Bürger seine politischen Ansichten. Man erzählte sich, eines Abends bei einem Gelage hätte er mit erhobenem Glase ausgerufen: »Ich trinke auf das Gedächtnis des einzigen Arztes, dessen reinen und edlen Ruf ich beneide, auf das Gedächtnis meines Landsmannes, des Doktors Guillotin de Saintes.«

Hatte er wirklich diesen Toast ausgebracht? Gewiß ist, daß er den wütenden Demokraten spielte und daß er die Seele und das Orakel der kleinen sozialistischen Zusammenkünfte der Nachbarschaft war. Er erregte Erstaunen, wenn er das Kapitel der Reformen und die Fortschrittspläne erörterte, von denen er träumte.

Er setzte seine Zuhörer in Schreck durch den Ton, in dem er davon sprach, daß man mit Feuer und Schwert bis auf den Grund der verfaulten Eingeweide der Gesellschaft dringen müsse.

Diese oft wunderlichen Ansichten und Wohlfahrtstheorien und die oft noch wunderlicheren Grundsätze, die er offen kundgab, hatten dann und wann sogar Zweifel an der normalen Verstandesbeschaffenheit des Doktors Seignebos erregt.

Es waren die Wohlwollendsten, die sich damit begnügten, ihn »ein Original« zu nennen. Dieses »Original« war selbstverständlich Herrn Sénéchal, dem einstigen reaktionären Sachwalter, nicht sehr zugetan. Auf den Staatsanwalt der Republik sah er verächtlich wie auf einen unnützen Spürhund alter Scharteken herab. Herrn Galpin-Daveline aber haßte er von Herzen. Dennoch grüßte er sie alle drei, und ohne sich darum zu kümmern, ob er von seinem Patienten gehört wurde oder nicht, sagte er: »Sie sehen, meine Herren, Herr von Claudieuse ist in einer sehr mißlichen Lage ... Es ist eine mit Schrot geladene Flinte gewesen, die man auf ihn abgeschossen, und die Wirkung, die durch Wunden dieser Art entsteht, ist unberechenbar. Ich wäre wohl geneigt zu glauben, daß kein wesentliches Organ angegriffen ist, aber dafür einstehen kann ich nicht. Ich habe oft in meiner Praxis winzige Verletzungen beobachtet, wie eben ein Schrotkorn sie hervorbringen kann, Verletzungen, die dennoch tödlich waren und erst nach zwölf oder fünfzehn Tagen es erwiesen.«

Er hätte vermutlich noch lange so fortgefahren, wäre er nicht in barschem Ton unterbrochen worden. »Herr Doktor«, sprach der Untersuchungsrichter, »um eines Verbrechens willen, das vollbracht worden ist, bin ich hier. Der Schuldige muß entdeckt und bestraft werden. Und im Namen der Justiz fordere ich von diesem Augenblick an die Beihilfe Ihrer Aufklärungen.«

Kapitel 3

Inhaltsverzeichnis

Durch diesen einzigen Satz bemächtigte Herr Galpin-Daveline sich eigenmächtig der Situation und wies dem Doktor Seignebos, Herrn Sénéchal und selbst dem Staatsanwalt die zweite Stelle zu.

Es existierte nichts mehr als ein Verbrechen, dessen Urheber entdeckt werden mußte, und der Richter in seiner Person.

Aber wie sehr er sich auch bemühte, seine gewohnte Steifheit und jene Verachtung jedes menschlichen Gefühls zu steigern, die der Justiz mehr Feinde zugezogen als ihre grausamsten Fehlgriffe, alles an ihm bebte vor verhaltener Genugtuung, alles bis auf die Haare seines wie die Buchsbäume von Versailles zugespitzten Bartes.

»Also, Herr Doktor«, fuhr er fort, »haben Sie etwas dagegen, daß ich den Verletzten verhöre?«

»Besser wäre es ohne Zweifel«, brummte der Doktor Seignebos, »ihn in Ruhe zu lassen, soeben habe ich ihn eine Stunde lang gemartert, und in einigen Augenblicken werde ich von neuem anfangen, die Schrotkörner herauszuziehen, die in dem Fleisch stecken ... Doch wenn Sie darauf bestehen ...«

»Ich bestehe darauf ...«

»Nun, dann beeilen Sie sich, das Fieber wird nicht mehr lange ausbleiben.«

»Daveline«, sagte Herr Daubigeon, der seine Unzufriedenheit ohne Hehl sehen ließ, »Daveline!«

Der andere schien es nicht zu hören.

»Fühlen Sie sich imstande, auf meine Fragen zu antworten, Herr Graf?« fragte er.

»Oh, vollkommen!«

»Dann haben Sie die Güte, mir zu sagen, was Sie von den unheilvollen Begebenheiten dieser Nacht wissen.«

Von seiner Gemahlin und dem Doktor Seignebos unterstützt, richtete der Graf von Claudieuse sich in seinen Kissen auf.

»Was ich weiß«, begann er, »wird leider der Nachforschung der Justiz nichts helfen. Es mochte etwa elf Uhr sein, denn ich könnte nicht einmal die Stunde genau angeben, ich hatte mich niedergelegt und seit geraumer Weile mein Licht ausgelöscht, als ein sehr greller Schein durch die Fensterscheiben brach. Ich wunderte mich darüber, aber ohne mich zu bedenken, denn ich befand mich bereits in jenem Stadium von Halbschlummer, der, ohne eigentlicher Schlaf zu sein, doch auch kein Wachen mehr ist. Ich fragte mich wohl was das sei, stand aber nicht auf. Erst ein lautes Geräusch, wie von einer einstürzenden Mauer, brachte mich zum Bewußtsein. – Aber dann sprang ich aus meinem Bett und wußte: es brennt.

Meine Unruhe verdoppelte sich, als mir zum Bewußtsein kam, daß in meinem Hof und um die Gebäude sechzehntausend Holzhaufen vom Schlag des vergangenen Winters lagen. Halb angekleidet stürzte ich auf die Treppe hinaus. Ich war sehr verstört, ja ich gestehe, ich war es in solchem Grade, daß es mir nur mit der größten Mühe gelang, die äußere Türe zu öffnen. – Ich brachte es dennoch zustande. Aber kaum hatte ich den Fuß auf die Schwelle gesetzt, als ich auf der rechten Seite einen furchtbaren Schmerz empfand und dicht neben mir einen lauten Knall hörte.«

Mit einer Handbewegung unterbrach der Untersuchungsrichter: »Ihre Erzählung, Herr Graf, ist vollkommen klar; dennoch ist es notwendig, einen Umstand genauer anzugeben. Schoß man genau in dem Augenblick, als Sie erschienen, die Flinte auf Sie ab?«

»Ja, mein Herr.«

»Also war der Mörder ganz bereit, auf der Lauer ... Er wußte, daß die Feuersbrunst Sie unvermeidlich heraustreiben würde, und wartete.«

»Das war und das ist auch jetzt noch mein Eindruck«, erklärte der Graf.

Herr Galpin-Daveline wandte sich zu Herrn Daubigeon. »Also«, sagte er, »ist der Mord das Hauptfaktum, welches die Anklage im Auge behalten muß. Die Feuersbrunst ist nur ein die Strafbarkeit erhöhender Umstand, das von dem Schuldigen ersonnene Mittel, um der Vollführung des Verbrechens sicherer zu sein« ... worauf der Untersuchungsrichter mit den Worten: »Fahren Sie fort, mein Herr!« sich wieder zu dem Grafen wandte.

»Da ich mich verwundet fühlte«, fuhr Herr von Claudieuse fort, »war meine erste, übrigens ganz instinktive Bewegung, dem Orte zuzustürzen, von wo, wie mir schien, der Schuß gefallen war. Ich hatte nicht drei Schritte gemacht, als ich mich von neuem an der Schulter und am Halse getroffen fühlte ... Diese zweite Verletzung war ernsthafter als die erste, denn mein Herz hörte auf zu schlagen, mein Kopf schwindelte, ich fiel nieder ...«

»Sie wurden des Mörders nicht einmal gewahr?«

»Doch – im Augenblick, als ich stürzte, glaubte ich zu sehen, wie ein Mann hinter einem Holzhaufen hervorstürzte, den Hof durcheilte und draußen im Felde verschwand ...«

»Würden Sie ihn wiedererkennen?«

»Nein.«

»Aber haben Sie gesehen, wie er gekleidet war, können Sie mir sein Signalement angeben?«

»Auch das nicht. Es war wie ein Nebel vor meinen Augen, und er glitt vorbei gleich einem Schatten.«

Es gelang dem Untersuchungsrichter nur schlecht, eine Bewegung des Unmuts zu unterdrücken.

»Gleichviel, wir werden ihn auffinden ... Aber fahren Sie fort, mein Herr!«

Der Graf schüttelte den Kopf.

»Ich habe Ihnen nichts mehr mitzuteilen, mein Herr«, sagte er. »Ich war ohnmächtig geworden und bin erst einige Stunden später, hier auf diesem Bett, wieder zum Bewußtsein gekommen.«

Mit der äußersten Sorgfalt notierte Herr Galpin-Daveline die Antworten des Grafen.

»Wir werden«, sagte er, nachdem er seine Notizen beendet, »auf das Sorgfältigste auf die näheren Umstände des Mordes zurückkommen. Für den Augenblick ist es wichtig, Herr Graf, zu wissen, was nach Ihrem Sturz weiter vorfiel. Wer kann mir darüber Auskunft geben?«

»Die Gräfin, mein Herr.«

»So dachte ich auch. Die Frau Gräfin ist vermutlich mit Ihnen zugleich aufgestanden?«

»Meine Frau schlief noch nicht.«

Hastig wandte der Richter sich zur Gräfin um, und ein Blick genügte ihm, um sich zu überzeugen, daß die Toilette der Gräfin nicht die einer durch den Brand ihres Hauses aus dem Schlaf geweckten Frau war.

»In der Tat«, murmelte er.

»Berthe, unsere jüngste Tochter, die Sie dort in Decken gehüllt auf dem Bette liegen sehen, ist von den Masern befallen und ernstlich krank ... Meine Frau war bei ihr geblieben. Unglücklicherweise gehen die Fenster meiner Töchter auf den Garten, auf die entgegengesetzte Seite des Flügels, wo man das Feuer angelegt hatte.«

»Und auf welche Weise wurde die Frau Gräfin von dem Unglück benachrichtigt?« fragte der Untersuchungsrichter.

Ohne eine direktere Frage abzuwarten, trat Frau von Claudieuse vor.

»Wie mein Mann Ihnen soeben sagte«, antwortete sie, »hatte ich darauf bestanden, bei meiner kleinen Berthe zu wachen. Da ich schon die vorhergehende Nacht bei ihr verbracht hatte, war ich ein wenig müde und endlich eingeschlafen, als ich durch einen Schuß geweckt wurde ... so schien es mir wenigstens. Ich fragte mich, ob es nicht eine Einbildung gewesen, als fast unmittelbar darauf ein zweiter Knall folgte. Mehr erstaunt als beunruhigt, verließ ich das Zimmer meiner Töchter... Oh, mein Herr, so groß war schon die Wut des Feuers, daß es auf der Treppe hell war wie am Tage... Ich eilte die Treppe hinab. Die äußere Türe war offen, ich trat hinaus. – Auf fünf oder sechs Schritt sah ich beim Lichte der Flammen den Körper meines Gatten liegen ... Ich warf mich über ihn, er hörte mich nicht mehr; sein Herz hatte aufgehört zu schlagen, ich glaubte ihn tot, ich rief mit verzweifelter Stimme um Hilfe ...«

Man hörte Herr Sénéchal und Herrn Daubigeon aufseufzen.

»Gut«, bestätigte mit befriedigter Miene Herr Galpin-Daveline, »sehr gut!« –

»Sie wissen«, fuhr die Gräfin fort, »wie tief der Schlaf der Bauern ist... Es scheint mir, daß ich sehr lange Zeit neben meinem Gatten kniend allein blieb. Endlich aber weckte die Helle der Feuersbrunst unsere Pächter, unsere Arbeiter und die Dienstboten. Mit dem Rufe: ›Es brennt! Es brennt!‹ stürzten sie jetzt heraus. Als sie mich erblickten, kamen sie herbei und halfen mir meinen Gatten einer Gefahr zu entziehen, die mit jedem Augenblicke wuchs. Durch einen heftigen Wind angefacht, verbreitete sich das Feuer mit erschreckender Schnelligkeit. Die Scheunen waren nur noch ein mächtiger Glutofen, die Meierei brannte, die mit Branntwein gefüllten Keller standen in Flammen, das Dach unseres Hauses entzündete sich von allen Seiten... Und dabei niemand, der Geistesgegenwart behielt! Mein Kopf war dermaßen verwirrt, daß ich meine Kinder vergaß und daß ihr Zimmer schon voll Rauch war, als ein braver, mutiger Bursche hinging, sie dem entsetzlichsten Untergange zu entreißen. Um mich wieder zu mir selbst zu bringen, bedurfte es der Ankunft des Doktors Seignebos und seines hoffnungsvollen Zuspruchs ... Diese Feuersbrunst richtet uns vielleicht zugrunde; sei es darum – wenn nur meine Kinder und mein Mann gerettet sind!«

Mit verächtlicher Ungeduld hörte der Doktor Seignebos diese unvermeidlichen Auslassungen an.

Die andern, Herr Sénéchal, der Staatsanwalt, selbst die beiden Mägde, gewannen es kaum über sich, ihre Bewegung zu meistern.

Er aber zuckte die Achseln und murmelte zwischen den Zähnen: »Formalitäten! Kleinigkeiten! Kindereien!«

Nachdem er seine goldene Brille abgenommen, getrocknet und wieder auf die Nase gesetzt hatte, setzte sich der Doktor an den einzigen wackligen Tisch der ärmlichen Stube und zählte in einer Schale die Schrotkörner, die er aus den Wunden des Grafen gezogen hatte.

Nach den letzten Worten der Gräfin aber erhob er sich und sprach, sich in kurzem Tone an Herrn Galpin-Daveline wendend: »Jetzt werden Sie mir ohne Zweifel meinen Kranken wieder überlassen?«

Offenbar beleidigt – und das nicht ganz ohne Grund – runzelte der Untersuchungsrichter die Brauen und erwiderte kalt: »Ich begreife die Wichtigkeit Ihrer Verrichtungen sehr wohl, meine Aufgabe aber ist weder weniger ernst, noch weniger dringend.«

»Oh!«

»Deshalb werden Sie mir noch fünf Minuten bewilligen, Herr Doktor?«

»Zehn, wenn Sie es verlangen. Doch erkläre ich Ihnen, daß jede Minute, die von jetzt an verrinnt, das Leben des Verwundeten gefährdet.«

Sie waren aufeinander zugetreten, und mit zurückgeworfenem Kopf maßen sich gegenseitig ihre Blicke, aus denen der wütendste Haß blitzte. Fast schienen sie im Begriff, angesichts des Kranken in Streit zu geraten. Wenigstens schien die Gräfin es zu fürchten, denn mit vorwurfsvollem Tone sprach sie: »Meine Herren, um Gottes willen, meine Herren!«

Vielleicht hätte auch ihr Einschreiten nicht genügt, wären nicht Herr Sénéchal und Herr Daubigeon dazwischengetreten.

Von den beiden Gegnern schien Herr Galpin-Daveline der hartnäckigste; denn trotz alledem nahm er noch einmal das Wort: »Ich habe«, sprach er zu dem Grafen, »nur noch eine Frage zu stellen. Wie und wo standen Sie? Und welches war die Stellung Ihres Mörders in dem Augenblick, als er das Verbrechen ausführte?«

»Mein Herr«, sprach der Graf mit deutlich ermüdeter Stimme, »ich sagte Ihnen bereits, daß ich auf der Schwelle meiner Türe dem Hof gegenüberstand. Der Mörder mußte sich etwa auf zwanzig Schritt mir zur Rechten hinter einem Holzhaufen aufgestellt haben.«

Nachdem er die Antwort des Verwundeten notiert, wandte der Richter sich dem Arzt zu: »Sie haben gehört, Herr Doktor«, sprach er. »Jetzt ist es an Ihnen, die Voraussetzung über diesen entscheidenden Punkt näher zu bestimmen. In welcher Entfernung befand sich der Mörder in dem Augenblick, als er Feuer gab?«

»Ich bin kein Wahrsager«, antwortete der Doktor in barschem Ton.

»Oh! nehmen Sie sich in acht, Herr Doktor, das Gericht, dessen Repräsentant ich bin, hat sowohl das Recht als die Mittel, sich in Respekt zu setzen. Sie sind Arzt, und heutzutage ist die Medizin in der Lage, mit fast mathematischer Gewißheit auf die Frage, die ich an Sie richte, zu antworten.«

Herr Seignebos lächelte höhnisch.

»In der Tat, die Medizin ist zu solchen Wundern gelangt!« sagte er. »Welche Art von Medizin? – Vermutlich nur die gerichtliche, die den Gerichten zu Befehl steht und dem Präsidenten des Schwurgerichts insbesondere ganz und gar ergeben ist?«

»Herr Doktor –«

Aber der Doktor hatte nicht das Temperament, einen zweiten Stoß zu ertragen.

»Ich weiß, was Sie mir sagen werden«, fuhr er ruhig fort. »Es gibt kein Handbuch der ›gerichtlichen Medizin‹, das nicht vollgültig die Frage, um die es sich handelt, löste. – Ich habe sie studiert, diese Handbücher, deren sich die Herren Untersuchungsbeamten als Waffen zu bedienen belieben. Ich kenne die Ansicht Devergies und Orfilas, das Prinzip Caspers, Tardieus und Briant de Chaudeys ... Ich weiß sehr wohl, daß diese Herren behaupten, bis auf einen Zentimeter die Distanz bestimmen zu können, aus welcher ein Flintenschuß gefallen ist. Ich aber bin nicht so klug. Ich bin nur ein armer, einfacher Landarzt ... Und wenn ich eine Ansicht aufgeben soll, die einem armen Teufel, und vielleicht einem Unschuldigen, den Kopf kosten kann, so muß ich Zeit haben nachzudenken, mich mit mir selbst beraten und zuvor eigene Erfahrungstatsachen durchgehen.«

Er hatte, wenn nicht in der Form, so doch in seinen Gründen so vollkommen recht, daß Herr Galpin-Daveline sich besänftigte.

»Es ist zum Zweck der Untersuchung, Herr Doktor«, sagte er, »daß ich Sie nach Ihrer Ansicht frage. Ihre begründete Aussage wird notwendig der Gegenstand eines von Beweisen unterstützten Berichts sein ...«

»Ah – wenn es so ist ...«

»Wollen Sie mir also aus Gefälligkeit die Mutmaßungen mitteilen, die Sie aus der Untersuchung der Wunden gezogen haben?«

Mit einer anspruchsvollen Gebärde setzte Herr Seignebos seine Brille zurecht.

»Mein Gutachten«, antwortete er, »ist unter allem Vorbehalt, daß Herr von Claudieuse sich von allem vollständig Rechenschaft gegeben hat. Ich bin ganz geneigt zu glauben, daß der Mörder sich in der Entfernung, die er angibt, versteckt hatte. Was ich zum Beispiel bestätigen kann, ist, daß die beiden Flintenschüsse aus sehr verschiedener Entfernung gefallen sind; der eine aus viel geringerer Distanz als der andere. – Der Beweis dafür ist, daß der eine Schuß in die Hüfte, wie der Jäger zu sagen pflegt, sich nur leicht versprungen hat, während der andere scharf getroffen hat.«

»Aber man weiß, auf wieviel Meter eine Flintenkugel scharf treffen kann«, unterbrach Herr Sénéchal, den der dogmatische Ton des Doktors ärgerte.

Herr Seignebos verneigte sich.

»Man weiß das?« rief er. »Wer? Sie, Herr Bürgermeister? Ich aber erkläre, es nicht zu wissen. Freilich vergesse ich nicht, was Sie zu vergessen scheinen, daß wir nicht mehr nur zwei oder drei Arten von Jagdflinten haben wie früher. Erinnern Sie sich nicht der unendlichen Mannigfaltigkeit französischer, englischer, amerikanischer und deutscher Waffen, die heutzutage überall verbreitet sind? Woraufhin erkühnen Sie sich, das so zuversichtlich auszusprechen? Wissen Sie nicht, als einstiger Staatsanwalt und Beamter der Gemeinde, daß auf diese wichtige Frage alle Debatten des Schwurgerichts hinausgehen werden?«

Entschlossen, keine Antwort weiter zu geben, zog der Doktor wieder sein Skalpell und seine Pinzetten hervor, als draußen ein so entsetzliches Geschrei erschallte, daß Herr Sénéchal, Herr Daubigeon und selbst Frau von Claudieuse ans Fenster stürzten.

Ach, und dieses Geschrei war nur zu begründet!

Das Dach des Hauptgebäudes war soeben eingestürzt und hatte unter seinen brennenden Trümmern Bolton, den armen Trommler, der noch vor zwei Stunden Alarm geschlagen, und den Feuerwehrmann Guillebault, einen der geachtetsten Zimmerleute von Sauveterre, Vater von fünf Kindern, begraben.

Der Hauptmann Parenteau schien dem Wahnsinn nah. Aber alle Versuche, ihnen beizuspringen, mußten scheitern.

Ein Gendarm und ein Pächter aus der Umgegend, die versucht hatten, bis zu ihnen vorzudringen, wären fast selbst in dem Glutofen geblieben; nur mit unerhörter Anstrengung gelang es, beide in dem traurigsten Zustande herauszuziehen.

Jetzt erst fing man an, sich vollständig Rechenschaft über das fluchwürdige Verbrechen des Brandstifters zu geben.

Während die Rauchsäulen und die aufwirbelnden Funken zum Himmel stiegen, hörte man das Rachegeschrei: »Nieder, nieder mit dem Brandstifter!«

In diesem Augenblick gab der gerechteste Zorn dem Bürgermeister, Herrn Sénéchal, einen Gedanken ein: Er wußte sehr wohl, wie groß die Vorsicht der Landleute ist, und wie schwer es fällt, einem Bauern zu entlocken, was er weiß.

Indem er einen Trümmerhaufen bestieg, begann er mit klarer, starker Stimme: »Ja, meine Freunde, ihr habt recht, nieder mit ihm! Ja die tapferen Opfer des schändlichsten Verbrechens müssen gerächt werden. Das ist euer Wille, nicht wahr? Es hängt von euch ab. – Es ist unmöglich, daß unter euch nicht einer ist, der etwas weiß ... Er möge vortreten und reden. – Erinnert euch, daß der geringste Hinweis das Gericht auf die Spur bringen kann. – Hier schweigen, das hieße, meine Freunde, sich selbst zum Mitverbrecher machen. Bedenkt, beratet euch ...«

Ein hastiges Geflüster durchlief die Menge.

Plötzlich sagte eine Stimme: »Es ist einer da, der reden kann.«

»Wer?«

»Cocoleu! ... Er war von Anfang an zugegen. Er war es, der die Töchter der Gräfin aus ihrem Zimmer getragen hat. Was ist aus ihm geworden? Cocoleu! ... Cocoleu!«

Man muß selbst unter dem eigentlichen Landvolk in Dorf und Feld gelebt haben, um die Aufregung und den Zorn all der braven Leute ganz zu begreifen, die sich um die brennenden Ruinen von Valpinson drängten. Der Stadtbewohner kennt die Angst vor dem unheilvollen Verbrecher, der nur um zu stehlen, Mordtaten begeht, kaum. Die Polizei bewacht seinen Schlaf. Er fürchtet das Feuer wenig. Bei dem ersten aufsteigenden Funken ist immer einer oder der andere der Nachbarn da, der »Feuer« ruft. Die Spritzen erscheinen, das Wasser strömt wie durch Zauberkraft herbeigeschafft.

Der Bauer dagegen kennt und fürchtet die Gefahren seiner Einsamkeit. Ein einfacher Holzriegel schließt seine Hütte. Wird er von einem Mörder überrascht, so verhallt sein Geschrei, wenn er um Hilfe ruft, ohne gehört zu werden. Wenn sein Haus in Brand gesteckt wird, so liegt es vielleicht schon in Asche, ehe die erste Hilfe naht; und er muß sich glücklich schätzen, wenn es ihm gelingt, sich selbst und die Seinigen aus den Flammen zu retten.

Durch Herrn Sénéchals Worte in Erregung versetzt, machten sich auch die Bauern jetzt mit fieberhaftem Eifer daran, denjenigen aufzufinden, der, wie sie meinten, etwas wissen mochte: den Cocoleu.

Sie kannten ihn alle und seit langer Zeit.

Es war nicht einer unter ihnen, der ihm nicht ein Stück Brot oder einen Löffel Suppe gegeben hätte, wenn ihn hungerte; nicht einer, der ihm nicht einen Bund Stroh in irgendeinem Winkel seiner Ställe überlassen hätte, wenn es regnete oder kalt war und er schlafen wollte. Denn Cocoleu war einer jener Unglücklichen, welche irgendein fürchterliches Gebrechen, physischer oder moralischer Natur, mit sich durchs Leben schleppen.

Es war vor einigen zwanzig Jahren, da hatte ein wohlhabender Besitzer von Bréchy für die Bauten, die er errichten ließ, ein halbes Dutzend Dekorationsmaler aus Angoulême kommen lassen, die fast den ganzen Sommer bei ihm verbrachten.

Einer dieser Maler hatte ein armes Mädchen namens Colette aus der Umgegend der Pächterei verführt. Aber dann war der Verführer mit seinen Kameraden auf und davon gezogen, ohne sich um die Unglückliche mehr zu kümmern als um die letzte Zigarre, die er geraucht.

Und doch war sie in gesegnetem Zustande.

Als sie ihre Umstände nicht mehr verbergen konnte, wurde sie aus dem Hause, wo sie gedient, zur Tür hinausgewiesen, und ihre Eltern, die selbst kaum ihr Dasein fristen konnten, verstießen sie unbarmherzig.

Von da an irrte sie, durch Kummer, Schande und Reue fast stumpfsinnig geworden, um Almosen flehend, beleidigt, verspottet, zuweilen selbst mißhandelt, von Haus zu Haus. In einer entlegenen Waldecke brachte sie an einem Winterabend, verlassen, ohne Hilfeleistung, einen Knaben zur Welt. Wie war es aber nur möglich, daß Mutter und Kind nicht vor Hunger, Kälte und Elend umkamen? – Es geschehen gleichwohl derartige Wunderdinge, die unbegreiflich bleiben.

Während mehrerer Jahre sah man sie in ihren Lumpen in der Gegend von Sauveterre herumziehen, von der schwer erkauften Großmut der Bauern lebend. Dann starb die Mutter verlassen, wie sie gelebt hatte. Vom Rande eines Grabens las man eines Morgens ihren Leichnam auf.

So war das Kind allein geblieben. Es stand im Alter von acht Jahren und sah verhältnismäßig stark aus. Ein Pächter erbarmte sich seiner und gab ihm seine Kühe zu hüten.

Das kleine, unglückliche Geschöpf aber war dessen nicht fähig.

Als er noch bei seiner Mutter war, schrieb man seine Stummheit, seine verstörten Blicke, die Gebärden eines gehetzten Wildes, die er an sich hatte, seinem wilden Leben zu. Aber als man anfing, sich mit ihm zu beschäftigen, sah man, daß in dem armen, verwahrlosten Gehirn keine Spur von Intelligenz sich entwickelt hatte.

Er war schwachsinnig und überdies einer jener entsetzlichen nervösen Krankheiten unterworfen, die den ganzen Körper, besonders aber die Gesichtsmuskeln in krankhafte Zuckungen versetzen.

Er war nicht stumm, aber nur unter unerhörten Anstrengungen und unter jämmerlichem Stottern gelang es ihm, einige Silben zu artikulieren.

Zuweilen, um sich einen Spaß zu machen, riefen die Bauern ihm zu: »Sag uns, wie du heißt, du sollst einen Groschen dafür bekommen.«

Dann dauerte es wohl fünf Minuten, bis er unter allerlei Grimassen den Namen seiner Mutter hervorstotterte: » – Co ... co ... co ... lette.«

Daher sein Spitzname.

Man war darüber einig geworden, daß er zu nichts taugte; man hörte auf, sich für ihn zu interessieren. – Er fing wieder an, wie früher umherzuvagabundieren.

Es war um diese Zeit, daß der Doktor Seignebos ihm eines Morgens auf der Hauptstraße begegnete.

Unser vortrefflicher Doktor behauptete damals unter anderen außergewöhnlichen Theorien, der Schwachsinn sei nichts als eine gewisse Eigentümlichkeit des Gehirns, ein Vergessen der Natur, das durch gewisse Substanzen, zum Beispiel Phosphor, leicht behoben würde. Die Gelegenheit, ein denkwürdiges Experiment zu machen, war zu günstig, als daß er sie nicht begierig ergriffen hätte.

Er ließ Cocoleu neben sich in sein Kabriolett steigen, quartierte ihn in seinem Hause ein und unterwarf ihn einer Behandlung, deren Geheimnis zwischen ihm und einem für seine seltsamen Ansichten in Sauveterre bekannten Apotheker geblieben ist.

Nach achtzehn Monaten hatte Cocoleu zusehends abgenommen. Er sprach vielleicht etwas weniger schwerfällig, aber in seinem Denkvermögen ließ sich kein merklicher Fortschritt spüren.

Auf sein Resultat verzichtend, machte der Doktor ein Bündel aus den wenigen Sachen, die er seinem Pflegebefohlenen geschenkt, gab es ihm in die Hand und warf ihn hinaus, indem er ihm verbot, jemals wiederzukommen.

In der Tat ein trauriger Dienst, den er so dem Cocoleu geleistet.

Der Entbehrungen entwöhnt, sowie des Wanderns von Haus zu Haus, um sein Brot zu erbetteln, wäre der arme Blödsinnige aus Not umgekommen, hätte sein guter Stern ihn nicht nach Valpinson geführt.

Durch sein Elend gerührt, beschlossen der Graf und die Gräfin von Claudieuse, sich seiner anzunehmen.

Vergebens versuchten sie, ihn in einer ihrer Meiereien festzuhalten, wo sie ihm ein Bett geben ließen. Cocoleus Vagabunden-Natur trug den Sieg über alles, selbst über den Hunger davon. Im Winter, bei Schnee und Kälte, hielt man ihn noch zurück. Aber beim ersten Grün des Frühlings unternahm er von neuem seine Wanderungen kreuz und quer durch Wald und Feld und ließ sich dann wochenlang nicht sehen. Mit der Zeit aber entwickelte sich doch etwas in ihm, gleich dem Instinkt eines mit Geduld dressierten Haustieres.

Seine Anhänglichkeit für Frau von Claudieuse äußerte sich, wie bei einem Hunde, durch Freudengeschrei und Sprünge, sobald er ihrer ansichtig wurde. Ebenso liebte er die beiden kleinen Mädchen und schien darunter zu leiden, daß man sie von ihm entfernt hielt; denn man erlaubte ihm die Annäherung nicht, weil man bei so zarten Kindern die Ansteckung seines nervösen Leidens fürchtete.

Mit der Zeit war er sogar fähig, einige kleine Dienstleistungen zu verrichten. Es gab gewisse Besorgungen, die man ihm auftragen konnte. Er begoß die Blumen, man schickte ihn hin und wieder nach einem Dienstboten; er wußte einen Brief richtig auf die Post nach Bréchy zu bringen.

Diese Fortschritte waren sogar fühlbar genug, um in einigen mißtrauischen Bauersleuten allerlei Zweifel zu erregen; sie behaupteten, Cocoleu sei gar nicht so unschuldig, wie er aussehe; er sei ganz im Gegenteil ein Spitzbube, der den Einfältigen spiele, um ohne Arbeit leben zu können ...

»Da haben wir ihn«, riefen plötzlich einige Stimmen. »Da – da ist er!«

Die Menge teilte sich hastig; zu gleicher Zeit erschien ein junger Bursche, von mehreren Männern gehalten und vorwärts gestoßen.

»Er hatte sich dort in einer Hecke versteckt und wollte nicht kommen ... der Hund!«

Die Unordnung, in der sich Cocoleus Kleider befanden, bezeugte in der Tat einen hartnäckigen Widerstand.

Er war ein großer Bursche von achtzehn Jahren, bartlos, sehr groß, außergewöhnlich mager und von so schlotterigem Körperbau, daß er fast mißwachsen schien. Ein Wald roter struppiger Haare erhob sich über seiner flachen, zurückweichenden Stirn.

Seine kleinen Augen, der große Mund mit seinen spitzen Zähnen, die breite platte Nase und die mächtigen Ohren gaben seiner Physiognomie einen unheimlichen Ausdruck von Schwachsinn und Verstörtheit und doch zugleich von bestialischer Schlauheit.

»Was werden wir mit ihm machen?» sagte einer der Bauern zu Herrn Sénéchal.

»Man muß ihn zum Untersuchungsrichter führen, meine Freunde«, antwortete der Bürgermeister, »dort in dem kleinen Hause, wo ihr Herrn von Claudieuse hingetragen.«

»Und auf jeden Fall muß man ihn zum Sprechen bringen«, brummten die Bauern. »Verstehst du uns? Nur vorwärts, vorwärts mit ihm!«

Kapitel 4

Inhaltsverzeichnis

Weder der Doktor Seignebos noch Herr Galpin-Daveline, die ihren Ehrgeiz darein setzten, die Sache mit stoischer Unempfindlichkeit auszufechten, hatten sich die geringste Bewegung erlaubt, um zu erfahren, was draußen vorging.

Der Doktor hielt sich bereit, seine Operation von neuem vorzunehmen, und so methodisch, so kaltblütig, als wäre er zu Hause in seinem Kabinett, wusch er den Schwamm, dessen er sich soeben bediente, und trocknete seine Pinzetten und sein Skalpell.

Der Untersuchungsrichter seinerseits stand mitten im Zimmer mit gekreuzten Armen aufrecht da und schien, indem sein Auge ins Weite starrte, unergründlichen Grübeleien nachzuhängen. Vielleicht träumte er, daß sein guter Stern ihm endlich zu dem großen Schlag verholfen, den er so lange mit seinen heißesten Wünschen herbeigesehnt hatte.

Herr von Claudieuse dagegen war weit entfernt, solche Seelenruhe zu teilen. Unruhig warf er sich auf seinem Bett hin und her und rief, als Herr Sénéchal und Herr Daubigeon bleich und bestürzt eintraten: »Warum all der Tumult draußen?«

»Mein Gott!« seufzte er, nachdem er die Katastrophe erfahren, »und ich seufzte hier darüber, daß ich mich halb ruiniert sah. – Zwei Menschen umgekommen! Das ist das wahre Unglück! O über die armen Opfer ihres Mutes! Bolton, ein Bursche von dreißig Jahren! Guillebault, ein Familienvater, der fünf Kinder unversorgt zurückläßt!«

Die Gräfin, die soeben eintrat, hatte die letzten Worte ihres Gatten gehört. »Solange uns noch ein Bissen Brot übrigbleibt«, unterbrach sie ihn mit tief erschütterter Stimme, »soll es weder den Kindern Guillebaults noch Boltons Mutter an irgend etwas mangeln!«

Sie konnte nicht weiterreden.

Die Bauern, die Cocoleu entdeckt hatten, drängten sich in das Zimmer, indem sie ihren Gefangenen vor sich herstießen.

»Wo ist der Richter?« fragten sie. »Da ist ein Augenzeuge.«

»Was? Cocoleu?« rief der Graf.

»Ja, er weiß etwas, er hat es gesagt; er muß es vor dem Gericht wiederholen, damit der Brandstifter aufgefunden werde!«

Herr Seignebos hatte die Augenbrauen gerunzelt.

Er verabscheute Cocoleu, und aus guten Gründen; denn sein Anblick erinnerte ihn an jenes drastische Experiment, von welchem man sich so viel in Sauveterre erzählt hatte und noch jetzt erzählte.

»Werden Sie ihn wirklich verhören?« fragte er Herrn Galpin-Daveline.

»Warum nicht?« antwortete der Richter in trockenem Ton.

»Weil er vollständig schwachsinnig, stupid – mit einem Wort ein Idiot ist. Weil er unfähig ist, die Bedeutung Ihrer Fragen und die Tragweite seiner Antworten zu erfassen.«

»Er kann uns die wichtigsten Aussagen liefern ...«

»Der? ... Ein der Vernunft beraubtes Geschöpf? Das kann nicht Ihr Ernst sein! Es ist unmöglich, daß die Justiz die unzusammenhängenden Aussagen eines Wahnsinnigen in Rechnung bringe!«

Herrn Galpin-Davelines Unzufriedenheit äußerte sich nur in verdoppelter Schroffheit.

»Ich weiß, was ich zu tun habe«, sagte er.

»Und ich«, bestand der Doktor, »ich kenne meine Pflicht. Sie haben die Beihilfe meiner Kenntnisse gefordert; ich biete sie Ihnen. Ich erkläre, daß der geistige Zustand dieses Burschen derartig ist, daß er nicht einmal unter der Form einfacher Aufklärung vernommen werden kann. Ich appelliere aus diesem Grunde an den Herrn Staatsanwalt.«

Er hoffte auf ein Wort der Ermutigung von Seiten des Herrn Daubigeon.

Als aber dieses ausblieb, fuhr er fort: »Hüten Sie sich, meine Herren, Sie begeben sich auf einen Weg, der keinen Ausgang hat. Was werden Sie beginnen, wenn dieser Unglückliche auf Ihre Fragen mit einer formellen Anschuldigung antwortet? Werden Sie denjenigen, den er beschuldigt, verfolgen?«

Die Bauern hörten mit offenem Munde diesem Streite zu.

»Oh! Cocoleu ist nicht so unschuldig, wie man glaubt«, sagte einer von ihnen.

»Der Hund – er weiß sehr wohl zu sagen, was er will«, setzte ein anderer hinzu.

»Ich verdanke ihm jedenfalls das Leben meiner Kinder«, sprach Frau von Claudieuse mit sanfter Stimme. »Er erinnerte sich ihrer, als ich mich wie von einem Schwindel befallen fühlte und als sie von aller Welt vergessen waren. Komm her, Cocoleu, komm her, mein Freund; es will dir niemand etwas Übles tun ...«

Er bedurfte nur zu sehr dieser guten Worte.

Über alle Begriffe erschrocken durch die Brutalitäten, deren Opfer er soeben gewesen war, zitterte der arme Schwachsinnige so heftig, daß ihm die Zähne klapperten.

»Ich habe keine ... keine ... Furcht«, stotterte er.

»Nochmals – ich protestiere!« beharrte der Doktor.

Er hatte soeben gemerkt, daß er in seiner Ansicht nicht allein dastand.

»Ich glaube in der Tat, daß es gefährlich wäre, Cocoleu zu verhören«, sagte der Graf von Claudieuse.

»Ich glaube es auch«, versicherte Herr Daubigeon.

Aber der Richter, mit den fast unumschränkten Rechten ausgerüstet, wie das Gesetz sie den Untersuchungsbeamten einräumt, war Herr der Situation.

»Ich bitte Sie, meine Herren«, sprach er in einem Ton, der keinen Einwand mehr gestattete, »lassen Sie mich nach meinem Ermessen handeln.«

»Laß sehen«, fuhr er mit seiner sanftesten Stimme fort, indem er sich niedersetzte und gegen Cocoleu wandte. »Hör mich an und versuche mich zu verstehen. Weißt du, was es in dieser Nacht in Valpinson gegeben hat?«

»Feuer«, antwortete der Idiot.

»Ja, mein Freund, ein Feuer, durch welches das Haus deines Wohltäters zerstört wurde; ein Feuer, in dem soeben zwei arme Feuerwehrleute umgekommen sind. Und das ist nicht alles. Man hat einen Mordversuch auf den Grafen von Claudieuse gemacht. Siehst du ihn dort auf seinem Bette liegen, verwundet und mit Blut bedeckt? Siehst du den Schmerz der Frau von Claudieuse?«

»Verwegenheit, Starrsinn, Torheit!« brummte der Doktor in den Bart.

Herr Galpin-Daveline hatte es gehört.

»Mein Herr«, sprach er heftig, »zwingen Sie mich nicht, mich daran zu erinnern, daß Leute da sind, welche in jedem Augenblick bereit sein müssen, meine Würde aufrechtzuerhalten!«