Der stumme Zeuge - Edney Silvestre - E-Book

Der stumme Zeuge E-Book

Edney Silvestre

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  • Herausgeber: Limes
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Wo Geld alles ist, zählt das Leben eines Kindes nichts ...

São Paulo, Brasilien: Ein kleiner blonder Junge wird mit einer Luxuslimousine von der Schule abgeholt. Minuten später ist der Fahrer des Wagens tot, das Kind in der Gewalt einer Söldnertruppe. Mit der Entführung soll der Vater des Kindes, der mächtige Medienmogul Olavo Bettencourt, zur Aufdeckung eines Korruptionsskandals der brasilianischen Politikelite gezwungen werden. Doch Bettencourt reagiert nicht auf die Forderungen und den Entführern läuft die Zeit davon. Sie bekommen Zweifel: Haben sie den richtigen Jungen in ihrer Gewalt?

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Seitenzahl: 221

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Das Buch

São Paulo, Brasilien: Ein kleiner blonder Junge wird mit einer Luxuslimousine von der Schule abgeholt. Minuten später ist der Fahrer des Wagens tot, das Kind in der Gewalt einer Söldnertruppe. Mit der Entführung soll der Vater des Kindes, der mächtige Medienmogul Olavo ­Bettencourt, zur Aufdeckung eines Korruptionsskandals der brasilianischen Politikelite gezwungen werden. Doch Bettencourt reagiert nicht auf die Forderungen, und den Entführern läuft die Zeit davon. Sie bekommen Zweifel: Haben sie den richtigen Jungen in ihrer Gewalt?

Der Autor

Der Brasilianer Edney Silvestre, geboren 1950, ist in seinem Heimatland ein bekannter Journalist und Fernsehmoderator. Sein Debütroman Der letzte Tag der Unschuld wurde auf Anhieb ein Erfolg und mit renommierten Literaturpreisen wie dem Prêmio Jabuti und dem São-Paulo-Preis ausgezeichnet. Nach mehreren Jahren als Korrespondent in New York lebt Edney Silvestre heute wieder in Brasilien.

Von Edney Silvestre bei Limes bereits erschienen:

Der letzte Tag der Unschuld

Edney Silvestre

Der stumme Zeuge

Roman

Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Kirsten Brandt Limes

Die brasilianische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel»A felicidade é fácil« bei Record, Rio de Janeiro.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Juli 2016 bei Limes Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © Edney Silvestre 2011

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2016 by Limes, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: mauritius images/Loop Images, plainpicture/Millenium/Ruth Grimberg

JB · Herstellung: kw

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN 978-3-641-16052-4V002www.limes-verlag.de

Zum Gedenken an Edmond Silvestre

Als das Kind Kind war,

wusste es nicht, dass es Kind war,

alles war ihm beseelt,

und alle Seelen waren eins.

Peter Handke / Wim Wenders, Der Himmel über Berlin

Kapitel 1

NachmittagMontag, 20. August15:43 Uhr

Der Junge erschrak, als die langgestreckte Limousine neben ihm hielt und der Mann am Steuer ihm bedeutete einzusteigen. Dann lächelte er, weil dies seine Art war, sich für Freundlichkeiten, die man ihm erwies oder in Aussicht stellte, erkenntlich zu zeigen. Der Junge lächelte in Vorfreude auf das Vergnügen, in das dunkelblaue glänzende Auto mit den hellen weichen Ledersitzen einzusteigen. Der Junge lächelte, denn er hatte gelernt, dass, wenn er lächelte, den Kopf ein wenig nach links geneigt wie gerade eben, und die Erwachsenen aus den blauen Augen ansah, die er von seinen pommerschen Urgroßeltern geerbt hatte, die Arbeitgeber seiner Eltern fast immer zurücklächelten und ihm über sein seidiges blondes Haar strichen, so wie ihm auch der dunkelhäutige Mann, der Besitzer des weitläufigen Hauses mit den hohen Mauern, in dem seine Eltern arbeiteten, dann manchmal ein paar Münzen oder einen Geldschein in die Hemdtasche oder in die Hand schob. Er lächelte, weil er gelernt hatte, dass ihm so die schwarz gekleideten Männer, die ständig durchs Haus patrouillierten und den Eingang bewachten, schneller das Tor öffneten, das er jeden Morgen auf dem Weg zur Schule in der großen Stadt durchqueren musste, in die ihn seine Eltern endlich geholt hatten. Er lächelte, wie er es während all der Monate getan hatte, in denen er darauf wartete, dass sie ihn wie versprochen zu sich holten. Damals hatte ihm sein Lächeln jedes Mal ein wenig mehr zu essen eingebracht oder eine Ohrfeige erspart, wenn er etwas falsch gemacht hatte, wie an dem Nachmittag, an dem er das Gatter der Weide geöffnet hatte und, ohne zu schreien und zu lärmen wie andere Kinder, mit den Schafen den Hügel hinaufgelaufen war. Als er daraufhin versucht hatte, eines der Lämmer einzufangen, waren mehrere Schafe im Unterholz verschwunden. Der Junge lächelte, weil er das immer tat, wenn jemand freundlich zu ihm war, so wie jetzt der Mann hinter dem Steuer. Er lächelte, weil er nicht reden konnte, weil er noch nie ein Wort gesprochen oder gehört hatte, weil er gar nicht wusste, was Wörter waren, obwohl er wusste, dass es sie gab und dass die Erwachsenen oder andere Kinder in seinem Alter mit ihnen zum Ausdruck brachten, was sie von ihm wollten oder erwarteten, was er aber nur verstand, wenn sie es ihm zeigten oder darauf deuteten.

Der Mann am Lenkrad stieg aus dem Auto, öffnete die hintere Wagentür und machte eine einladende Handbewegung.

Ein wenig mühsam kletterte der Junge in den Wa­­gen. Er setzte sich auf die Rückbank, für die seine Beine zu kurz waren, und streckte die Füße aus, damit seine Schuhsohlen nur ja nichts schmutzig machten. Dann nahm er den schwarz-grünen Rucksack ab, den Zeichentrickfiguren schmückten, die er nicht kannte, stellte ihn neben sich, öffnete ihn, entnahm ihm ein Heft und ein paar Buntstifte und begann zu malen. Er konnte weder lesen noch schreiben und würde es auch nie lernen, aber er war sich seines Unwissens nicht bewusst und fest davon überzeugt, Schulaufgaben zu machen. Und so arbeitete er sorgfältig, zog oben und an den Seiten Linien, zeichnete Formen, verlängerte da einen Strich, radierte anderswo etwas aus, wechselte die Farbe und malte auf diese Weise methodisch und gewissenhaft Zeichen, die für seine Umwelt keinerlei Sinn ergaben.

Der Mann am Steuer fuhr los und ließ nach und nach das Gewimmel aus Kindern und Müttern hinter sich, die zu den Bushaltestellen strömten. In diesem Teil der Stadt waren die Bürgersteige aus gerastertem Zement, und schmale Läden säumten die Straßen: ein Schreibwarengeschäft mit vollgestopftem Schaufenster, ein paar Tante-Emma-Läden, ein koreanischer Kramladen, eine Wäscherei.

Im Rückspiegel beobachtete der Mann bewundernd die Ruhe und völlige Selbstversunkenheit des Jungen.

Er sah sich selbst in diesem Alter durch die ungepflasterten, ewig unfertigen Straßen der Vorstadt laufen, die bei jedem stärkeren Regen im Wasser versank. Immer hatte er geschrien, ganz gleich, ob er Drachen steigen ließ oder die Blechtöpfe mit dem Essen austrug, das seine Großmutter in ihrer dunklen Küche zubereitete, kreuz und quer durch die Favela, von der er damals nicht wusste, dass sie Favela hieß. Die Favela war einfach nur der Ort, an den seine Mutter ihn gebracht hatte, um dann zu verschwinden, und er war ein Junge gewesen, der Blechtöpfe austrug und ständig schrie, sei es, um die halbverhungerten Straßenköter zu vertreiben, sei es, um den Kunden seine Ankunft anzukündigen. Ein Junge, der sich in den engen Gassen, eine Entschuldigung murmelnd, zwischen den Passanten hindurchdrängte, weil er es eilig hatte, weil er, kaum hatte er den ersten Topf abgegeben, den nächsten holen und abliefern musste. Und dann noch einen und noch einen, bis es Zeit für die Schule war, die im unteren Teil der Stadt lag und wo ihn das, was die Lehrer erzählten, nicht interessierte, wo er einfach nicht stillsitzen konnte, wo er aber trotzdem Zahlen und Namen hören und aufschreiben musste, ungeduldig darauf wartend, dass er wieder hinausdurfte und sich in das Gewühl zwischen den Baracken und Lädchen stürzen konnte, die ihm weder klein noch elend vor­kamen, weil er nichts anderes kannte und weil ihn noch nie jemand von dort weggeholt hatte. Bis seine Mutter es eines Tages doch tat, diesmal in Begleitung eines Mannes, den er nie zuvor gesehen hatte und der ihn regelmäßig verdrosch, damit er still war und aufhörte zu schreien und zu lachen und im Garten des großen Hauses herumzulaufen, wo die Mutter und der Mann arbeiteten. Bis er eines Tages ganz von selbst damit aufgehört hatte. Von da an war er immer ein ruhiger Junge gewesen, ein ruhiger Jugend­licher, ein ruhiger Soldat, der ruhigste unter den Rekruten der Militärpolizei, ein ruhiger Einsatzleiter bei den Patrouillengängen, ein ruhiger Leutnant bei den Razzien gegen die Drogenhöhlen, ein ruhiger Patient, als er sich von dem Schuss erholte, der sein Knie zertrümmert hatte, ein ruhiger Ex-Militär in seiner spärlich möblierten Wohnung in der Innenstadt und schließlich ein schweigsamer Wachmann und Fahrer, den die anderen Angestellten mit Hochachtung behandelten und »Major« nannten, obwohl er diesen Rang nie erreicht hatte.

Der Junge tat ihm nicht leid. Er mochte ihn nicht besonders. Er mochte niemanden besonders. Außer vielleicht seine Tochter. Ob er einen anderen Menschen, einen Gegenstand, eine bestimmte Speise, was auch immer mochte oder nicht, spielte für ihn keine Rolle. Andere Menschen waren ihm gleichgültig. Alle anderen Menschen.

Redete er sich jedenfalls ein.

Normalerweise hätte er den Jungen nicht abgeholt. Dafür war der Kleinbus zuständig, der die Kinder der Hausangestellten von Jardim Paulistano zur Schule und wieder zurück fuhr. Eigentlich war seine Aufgabe bereits erledigt, als er den anderen Jungen nach Hause gefahren hatte, der untersetzt und dunkel war wie sein Vater, der Besitzer des Wagens, in dem er saß. Aber die Chefin hatte es befohlen. Ein merkwürdiger Auftrag, so merkwürdig wie der ganze Tag. So merkwürdig wie das Gefühl, das ihn überkommen hatte, als er den Sohn des Hausmeisterehepaars am Schultor gesehen hatte, den Rucksack geschultert, so blond, so blass, so klein, so … unpassend.

Er fuhr den gleichen Weg zurück wie mit dem Sohn des Chefs.

Bald hatten sie die Avenida Rebouças erreicht, wo wie üblich angenehm wenig los war. Er schaltete das Radio ein und hörte die Nachrichten, die, täglich um neue Details ergänzt, schon seit Monatsanfang die Schlagzeilen beherrschten: Der irakische Diktator war in Kuwait eingefallen. Mit sechzigtausend Soldaten hatte sich Saddam Hussein eines Fünftels der weltweiten Ölvorräte bemächtigt. Der Major suchte einen anderen Sender, gab es aber schließlich auf und schaltete das Radio wieder aus. Er hatte es satt, in immer neuen Worten die ewig gleiche Litanei von der Rezession zu hören, die das von der Regierung Collor verfügte Einfrieren sämt­licher Guthaben einschließlich privater Ersparnisse von mehr als fünfzigtausend Cruzeiros ausgelöst hatte. Er hasste Politik, die Kommentatoren gingen ihm auf die Nerven, Musik interessierte ihn nicht, und um diese Zeit gab es keinen Fußball. Da war ihm die Stille lieber.

Ein paar Blocks weiter bog er nach rechts in die Rua Joaquim Antunes. Sie befanden sich jetzt in einem Viertel mit Alleen und eleganten freistehenden Häusern aus der Zeit des ersten Baubooms zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, als die wohlhabenden Paulistanos sich in dieser westlich der damaligen Hauptstadt gelegenen Flussaue niedergelassen hatten.

Die Straßen waren leer, und auf den Bürgersteigen war kein Mensch zu sehen. Wenn die Bewohner dieses Viertels irgendwohin mussten, benutzten sie unweigerlich das Auto. Das Gedränge fremder Autofahrer, die diese Straßen nutzten, um die Staus zu umfahren, würde jedoch erst später einsetzen.

Der Major fuhr langsam und bedächtig durch den Kreisverkehr, damit die weiche Federung den deutschen Wagen nicht zu sehr in Schräglage brachte und den Jungen, den er gerade wieder einmal im Rückspiegel musterte, nicht aus seiner Versunkenheit riss.

Einen Augenblick lang beneidete er ihn, ohne zu wissen, warum.

Es ist so einfach, glücklich zu sein. Ein Blatt Papier und eine Schachtel Buntstifte, mehr braucht es nicht, sagte er sich – als ihn die erste Kugel traf.

Sein geübtes Auge und sein geübter Geist registrierten ihn sofort, den großen, mit einer schwarzen Kapuzenjacke bekleideten Mann, der, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, mit einer langläufigen Magnum in der Linken auf ihn zielte und abdrückte. Der Mann war aus einem schwarzen Lieferwagen gesprungen, der sich dem Mercedes in den Weg gestellt hatte, während zwei kleinere Wagen den Fluchtweg nach hinten abschnitten. Gleichzeitig hatte hinter diesen eine schwarze Limousine angehalten. Aus den Kleinwagen sprangen weitere Vermummte und rannten auf ihn zu, zwei, drei, vier, fünf Männer mit gezückten Waffen, was ha­­ben die vor, was wollen die, fragte der Major sich, während seine rechte Schulter von der Kugel brannte, die sie durchschlagen hatte, und er sich zu dem Jungen umwandte, der aufgehört hatte zu zeichnen und ihn mit verständnisloser Neugier ansah, während er auf das Kind einschrie, ohne daran zu denken, dass es ihn nicht hören konnte, während er ihm zurief, es solle sich ducken, auf den Boden des Wagens legen, während er beobachtete, wie die vermummten Männer näher kamen, nur einer schoss, der mit der versilberten Magnum, der Hüne, der aus dem schwarzen Lieferwagen gesprungen war, aber der Junge rührte sich nicht, und der Major kam nicht an ihn heran, er spürte, wie ihn die nächste Kugel traf, diesmal in die linke Schulter, offenbar war der Kerl ein Elitekämpfer, der ihn nicht töten wollte, sonst hätte er auf seinen Kopf gezielt, er hat ein geübtes Auge für so was, sagte sich der Major und machte sich lang, bekam aber nur den schwarz-grünen Rucksack mit den Comicfiguren zu fassen, während gleichzeitig zwei Vermummte die Hinter­türen des Benz aufrissen, worauf er sich auf den Vordersitz zurückfallen ließ, um nach der halbauto­matischen Glock zu greifen, die er hinten im Hosenbund trug, er verfluchte sich dafür, das nicht gleich getan zu haben, aber da stand schon der mit der dunklen Kapuzenjacke neben ihm und feuerte drei Mal die .357 Magnum auf seinen Hals und Nacken ab.

Der Junge wurde von den Vermummten fortgezerrt, die aus den Kleinwagen gesprungen waren, sie stülpten ihm einen Sack über den Kopf und reichten ihn an den Fahrer des dunklen Lieferwagens weiter, der ihn zu seinem Wagen schleppte und in den Kofferraum warf.

Der Hüne mit der Magnum warf ein Stück Pappe auf den reglosen Körper des Majors. Zwei lange Nummern standen darauf. Ein mit einem Textmarker gemalter Pfeil wies von der ersten Zahlenreihe zur zweiten. Mit demselben Stift war auf die Rückseite der Pappe geschrieben: »Wir haben deinen Sohn.«

Die schwarze Limousine, eine Spezialanfertigung für Rollstuhlfahrer, und die beiden Kleinwagen wendeten und fuhren auf demselben Weg davon, auf dem sie zweiundvierzig Sekunden zuvor gekommen waren. Am Kreisverkehr trennten sie sich. Der Liefer­wagen fuhr, nachdem er seine Passagiere wieder an Bord ge­­nommen hatte, geradeaus weiter.

Jetzt stand nur noch der große blaue deutsche Wagen auf der leeren Straße.

Neben ihm lagen die Buntstifte verstreut auf dem Asphalt.

Kapitel 2

MorgenMontag, 20. August10:56 Uhr

Selbst Kanaillen können gerührt sein, dachte Olavo Guaimiaba Bettencourt beim Anblick der tränenfeuchten Augen des Vorsitzenden der staat­lichen Energie­gesellschaft, als das Licht anging und die Vorhänge vor den großen Fenstern des Büros, die auf die Avenida Cidade Jardim hinausgingen, zurückgezogen wurden. Soeben hatten sie die Kurzfilme gezeigt, in denen die Bewohner einer abgelegenen Gegend ihre Freude über den Bau eines neuen Wasserkraftwerks bekundeten, dank dessen sie jetzt ans Stromnetz angeschlossen waren, gespeist aus einem großen See, der die Städte und Dörfer ebendieser Bewohner verschlungen hatte. Die bewegendste Aussage – sie stammte aus seiner Feder und war unter seiner Regie entstanden – war die einer Wäscherin mit faltenzerfurchtem Gesicht gewesen, die berichtet hatte, wie vor Jahren eines ihrer Kinder gestorben war, weil es damals noch keinen Brutkasten gegeben hatte, wie er seit Neuestem in der nahegelegenen Krankenstation zu finden war, und wie das elektrische Licht in der Abendschule es ihr nun ermöglichte, sich mit fast sechzig Jahren ihren Lebenstraum zu erfüllen: Lesen und Schreiben zu lernen. Zum Beweis hatte sie vor laufender Kamera in ungelenken Buchstaben auf eine Tafel die drei Worte gekritzelt: Danke, Herr Präsident.

Als der Chef der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit des staat­lichen Energiekonzerns Beifall zu klatschen begann, taten alle Anwesenden es ihm nach. Ernesto Passeri, dem es zu verdanken war, dass Bettencourts Agentur den lohnenden Werbeauftrag erhalten hatte, zeigte lächelnd sein strahlendes Gebiss, das er dem teuersten Zahnarzt Brasiliens zu verdanken hatte. Er war hochzufrieden, weniger wegen des Eindrucks, den die Werbekampagne offenbar gemacht hatte – die Agentur hätte die Ausschreibung in jedem Fall gewonnen –, sondern wegen des Geflechts aus Gefälligkeiten, die dieser Auftrag nach sich ziehen würde – mit ihm, durch ihn und für ihn.

Nun war es an dem Mann in dem in London maßgeschneiderten Nadelstreifenanzug mit Hermès-Krawatte, dessen gedrungene Gestalt seine indianische Abstammung verriet, zu verhandeln, wie viel Prozent des für die Werbekampagne in Rechnung gestellten Budgets auf den Privatkonten landen würden, die der Präsident, der Minister und Passeri selbst in diversen Steuerparadiesen in der Karibik unterhielten. Das Budget war großzügig genug bemessen für ganzseitige Anzeigen in mehreren landesweit erscheinenden Zeitungen und Zeitschriften und einminütige Spots in den Werbepausen der wichtigsten Nachrichtensendung und der Acht-Uhr-Telenovela sowie für Anzeigen in diversen angesehenen ausländischen Magazinen. Welche das sein würden, stand noch nicht genau fest, aber sicherlich waren die New York Times, Le Monde, Der Spiegel, El País und Clarín darunter, unter Umständen sogar eine doppelseitige Anzeige im Time Magazine – ein langgehegter Traum des Ministers. Es war an der Zeit, der Regierung des jungen und charismatischen brasilianischen Präsidenten auch interna­tional ein positives Image zu verpassen – samt aller guter Geschäfte, die sich daraus ergeben mochten. Natürlich war es einfacher, Prozente von nicht verbuchten Gewinnen aus Geschäften mit Ländern und Unternehmen in Asien einzustreichen. Aber das würde sich mit der Zeit noch ergeben, in zwei, drei Jahren vielleicht. Es machte keinen großen Unterschied. Der Präsident, vor fünf Monaten an die Macht gekommen, schwamm auf einer Woge der Beliebtheit wie kein anderer vor ihm seit Getúlio Vargas, die Opposition war kraft- und orientierungslos, alles in allem würde die Wiederwahl ein Kinderspiel werden, wie einer der beliebtesten Fernsehkommentatoren Brasiliens unermüdlich betonte. Jeder, der irgendwie von Interesse war, war gekauft. Überall in den Werbeagenturen und Medien fielen ein paar Peanuts ab, und in den Steueroasen häufte sich so allmählich ein Vermögen an, sechs Prozent hier, sieben dort, und von den größeren Rechnungen sogar elf oder fünfzehn. Bald würde er sich das neue Apartment in Manhattan zulegen können.

Immer noch applaudierend, stand Ernesto Passeri auf und ging um den Saarinen-Tisch mit der Marmorplatte herum zu Olavo Bettencourt, der es vorzog, nur seinen zweiten, französisch klingenden Nachnamen zu verwenden. Der Werbemann lächelte ihm mit jener falschen Bescheidenheit entgegen, die Ernesto schon aus den Zeiten kannte, als beide noch ganz am Anfang ihrer beruf­lichen Laufbahn gestanden hatten, damals, als sie für die Buchführung einer Supermarktkette verantwortlich gewesen waren, die von den arroganten Kindern des Gründers der Kette geführt wurde, eines Portugiesen, der kaum lesen und schreiben konnte, es aber dank der Inflation und seiner Skrupellosigkeit in weniger als zehn Jahren zum Millionär gebracht hatte. Olavo und er hatten sich bei den drei Jungen re­­vanchiert, indem sie ihnen Markenuhren, Skiurlaube und Begleiterinnen verschafften – ehemalige Schönheitsköniginnen und Seriendarstellerinnen, diskret für die beiden Älteren, ungeniert im Fall des jüngsten Sprösslings der Familie, von dem immer wieder in den Klatschspalten über Neu­reiche zu lesen war. Um den alten Liborio Freitas hatte Ernesto sich höchstpersönlich gekümmert und sich stundenlang immer wieder die Geschichten über den jungen Burschen aus Póvoa de Varzim angehört, der mit nichts als einem kleinen Bündel und der Adresse eines Onkels in Santos gelandet war, den Onkel jedoch nicht gefunden hatte und gezwungen gewesen war, sich in der neuen Heimat allein durchzuschlagen. Sie hatten beinahe so etwas wie Zuneigung zueinander entwickelt, der alte Mann und er, oder doch zumindest eine Gewohnheit, die die leeren Stunden des von seinen Söhnen verachteten Einwanderers füllte und so weit ging, dass der Alte ihm eines Tages – fast wie ein Warenpaket – Adélia ausgehändigt hatte, seine schüchterne und scheinbar beschränkte einzige Tochter. Ernesto hatte sie geheiratet, und sie hatte sich als gewieft genug erwiesen, ihre Brüder noch vor dem Tod des Alten aus dem stetig wachsenden Geschäft zu drängen. Zur Supermarktkette war inzwischen eine Handelskette mit preiswerten Textilien und eine weitere mit Möbeln und Haushaltsgeräten gekommen, und neuerdings kooperierte man mit einer Gruppe spanischer Unternehmer, die die großen Städte des brasilianischen Nordostens für den Massentourismus erschließen wollten. In diesen neuen Geschäftszweig hatten Adélia und er allerdings keinen einzigen Centavo gesteckt: Als Mitglied der neu gebildeten Regierung wurde er großzügig für seine Verbindungen entlohnt, die es ihm ermöglichten, die bürokratischen Hürden zu umgehen.

ENDE DER LESEPROBE