Der Sufi-Weg - Osho - E-Book

Der Sufi-Weg E-Book

OSHO

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Beschreibung

Osho spricht hier über das sprichwörtliche "Stirb und werde" der mystischen Erfahrung, das gerade bei den Sufis eine zentrale Rolle spielt. Was es damit auf sich hat, erläutert er anhand von Sufi-Geschichten. Islamische Mystiker haben mit dieser märchenhaften Erzählform ihre religiösen Wahrheiten unter das Volk gebracht, die im Widerspruch zu den "offiziellen" Lehren des Islam standen. Damals wie heute haben sie Gültigkeit. "Ein Sufi ist ein Mensch des Herzens, ein Mensch der Liebe. Er ist jemand, der sich keine Gedanken darüber macht, wo dieses Universum herkommt, der sich nicht darum kümmert, wer es erschaffen hat, der nicht fragt, wo die Reise hingeht. Ja, ein Sufi stellt überhaupt keine Fragen – nein, er fängt lieber gleich zu leben an."

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Dieses Buch ist eine gekürzte Version des unten genannten englischen Originaltitels. Alle Diskurse, die Osho vor einer internationalen Zuhörerschaft gehalten hat, sind als Originale publiziert worden und als Original-Audios erhältlich. Audios und das vollständige Text-Archiv finden sie unter der online- Bibliothek „Osho Library“ bei www.osho.com

Titel der englischen Originalausgabe:

Until You Die

Ebook-Ausgabe 2019

Umschlaggestaltung: Bunda S. Watermeier, www.watermeier.net

Kalligrafie: www.arabische-kalligrafie.ch

Übersetzung: Nirvano Spohr

Copyright © 2002 Osho International Foundation, Schweiz

www.osho.com

Copyright © 2007 Innenwelt Verlag GmbH, Köln

www.innenwelt-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

OSHO ® is a registered trademark of Osho International Foundation, Switzerland, used under license

eISBN 978-3-947508-28-0

INHALT

1. Nicht bevor du stirbst

2. Urteile nicht

3. Geh ohne Krücken

4. Direkt in die Freiheit

5. Wahrheit ist nie verschleiert

6. Das Außen ist nur ein Vorwand

7. Auch das geht vorüber

8. Wer hat dir den Weg gezeigt

9. Wörter können nicht viel sagen

Über Osho

1. KAPITEL

NICHT BEVOR DU STIRBST

In Bokhara lebte einst ein reicher und freigiebiger Mann.

Da er einen hohen Rang in der verborgenen Hierarchie einnahm,

war er als ‚Präsident der Welt‘ bekannt.

Jeden Tag verschenkte er an eine bestimmte Gruppe von

Leuten Gold – an die Kranken, die Witwen und so weiter.

Aber wer den Mund auftat, bekam nichts.

Nicht alle konnten den Mund halten.

Eines Tages waren die Advokaten an der Reihe,

ihren Anteil am Goldsegen einzuheimsen.

Einer von ihnen konnte sich nicht enthalten,

eine höchst umständliche Bittrede vorzutragen.

Er bekam nicht einen Heller.

Dabei ließ er es nun aber nicht bewenden.

Als am nächsten Tag die Invaliden ihre Unterstützung erhielten,

schmuggelte er sich als Krüppel getarnt unter sie.

Aber der ‚Präsident‘ erkannte ihn und gab ihm nichts.

Immer wieder versuchte er es von Neuem –

selbst als Frau verkleidet. Aber ohne Erfolg.

Schließlich wandte sich der Advokat an einen

Beerdigungsunternehmer und trug ihm auf,

ihn in ein Leichentuch einzuwickeln.

„Wenn dann der Präsident vorbeikommt, wird er mich für einen

Toten halten und vielleicht ein paar Münzen auf mich werfen,

für die Beerdigung. Dann bekommst du etwas von dem Geld ab.“

Und so kam es auch.

Ein Goldstück aus der Hand des Präsidenten fiel auf das

Leichentuch. Der Advokat griff sofort zu, aus Angst,

der Beerdigungsunternehmer könne ihm zuvorkommen.

Dann sagte er zu dem Wohltäter:

„Du hast mir dein Gold verweigert.

Schau, wie ich es mir dennoch geholt habe!“

„Du irrst“, erwiderte der Spender,

„du kannst nichts von mir bekommen,

bevor du nicht stirbst…“

Das ist die Bedeutung des geheimnisvollen Spruches:

„Der Mensch muss sterben, bevor er stirbt.“

Die Gabe erfolgt erst nach diesem ‚Tod‘, nicht vorher.

Und trotzdem kann ohne Hilfe dieser ‚Tod‘ nicht

geschehen.

Es gibt solche und solche Religionen, aber der Sufismus ist von allen Religionen das Herzstück, der innerste Kern, die eigentliche Seele. Der Sufismus gehört nicht zum Islam. Eher umgekehrt: der Islam gehört zum Sufismus. Den Sufismus gab es schon lange vor Mohammed, und es wird ihn noch geben, wenn Mohammed vergessen sein wird.

Die Islame kommen und gehen. Religionen bilden sich und lösen sich auf. Der Sufismus aber bleibt, er wird immer leben – weil er kein Dogma kennt. Er ist das Herz aller Religiosität.

Man kann ein Sufi sein, ohne je vom Sufismus gehört zu haben, solange du nur religiös bist. Krishna ist ein Sufi, Jesus ebenfalls. Mahavir ist ein Sufi, und Buddha auch. Dabei haben sie das Wort ‚Sufismus‘ nie gehört, sie hatten keine Ahnung, dass es so etwas gab.

Jede Religion ist nur so lange lebendig, als in ihr der Sufismus lebendig ist. Eine Religion stirbt, sobald sie den Geist, den Sufi-Geist, ausgehaucht hat. Jetzt bleibt nur noch der Leichnam zurück – mag er noch so schön hergerichtet sein mit Philosophien, Metaphysik, Dogmen und Doktrinen. Sobald eine Religion den Sufismus ausgehaucht hat, riecht sie nach Verwesung. Das war immer so. Und es geschieht auch jetzt fast überall auf der ganzen Welt. Wenn man nicht aufpasst, schleppt man sich noch lange mit einem toten Körper ab.

Aus dem Christentum ist der Sufismus heute verschwunden. Es ist eine tote Religion. Die Kirche hat sie umgebracht. Wenn die „Kirche“ überhand nimmt, muss der Sufismus den Körper verlassen. Er verträgt sich nicht mit Dogmen. Er verträgt sich nicht mit Theologie. Sie sind schlechte Weggenossen. Und mit Päpsten und Priestern hält er es überhaupt nicht aus. Sie sind sein absoluter Gegensatz! Der Sufismus hat keine Päpste und Priester nötig; er braucht keine Dogmen. Er hat nichts mit dem Kopf zu tun, sondern ist eine Sache des Herzens. Das Herz ist seine Kirche – keine organisierte Kirche, denn jede Organisation ist vom Verstand bestimmt. Und wenn erst einmal der Kopf das Regime übernimmt, dann muss das Herz ohne Widerrede die Stellung räumen. Das Haus ist für das Herz zu eng geworden. Es braucht den weiten, offenen Himmel. Alles andere ist ihm zu eng. Man kann das Herz nicht in Kirchen einsperren. Die Schöpfung ist die einzige Kirche, die es kennt. Nur unter freiem Himmel kann es schlagen. Nur in Freiheit kann es schlagen. Aber wird es in ein System eingezwängt, in eine organisierte Machtstruktur, ein Ritual, dann stirbt es… dann entschlüpft der „Sufi-Geist“ ganz einfach.

Jesus wurde vom Christentum ermordet. Die Juden haben es nicht geschafft. Sie haben ihn natürlich gekreuzigt, aber umsonst. Töten konnten sie ihn nicht. Er überlebte die Kreuzigung. Das ist die Bedeutung der Auferstehung. Nicht etwa, dass Jesus körperlich überlebte, sondern die Kreuzigung erwies sich als Fehlschlag. Die Juden konnten ihn nicht töten. Sie versuchten es, aber Jesus überlebte. Was den Juden nicht gelang, erledigten die Christen. Sie töteten ihn ohne Kreuzigung. Sie brachten ihn mit Gebeten um. Sie brachten ihn mit Dogmen um. Sie brachten ihn durch kirchliche Organisation um. Den Anhängern ist gelungen, was den Feinden nicht gelang. Den Aposteln gelingt, was den Feinden misslingt.

Das Christentum ist heute tot, weil es kein Herz für den Sufismus hat. Es hat vor dem Sufismus Angst. Alle dogmatischen Religionen haben vor ihm Angst, weil der Sufismus für die totale Freiheit steht – ohne Einschränkung, ohne Grenzen. Er hat mehr mit Liebe und weniger mit logischen Spitzfindigkeiten zu tun. Er hat mehr mit Poesie, und weniger mit Prosa zu tun. Er ist irrational.

Kein Wunder, dass jede rationale Theologie Angst vor ihm hat. Wenn man dem Irrationalen erstmal Tür und Tor öffnet, weiß niemand, wo das hinführen wird. Und vergesst nicht: Gott selber ist irrational, und das ist auch wunderschön so, sonst wäre Gott nämlich Philosophieprofessor an irgendeiner Universität, oder irgendwo Papst oder Oberpriester – aber nicht das Universum selber.

Der Sufismus ist schon manchen Tod gestorben, in manch einer Religion. Auch der Jainismus ist so eine tote Religion. Es gab eine Zeit, da lebte er in vollen Zügen und schenkte einem so bedeutenden Mystiker wie Mahavir das Leben. Dann aber plötzlich versiegte der Strom und ließ nur ein trockenes Flussbett zurück. Da fließt jetzt kein Wasser mehr, und die Ufer grünen nicht mehr. Der Jainismus ist zur Wüste geworden – öd und verlassen. Wie konnte es dazu kommen? Die Jainas waren zu intellektuell, zu mathematisch, zu logisch geworden. Sie konnten das Geheimnis, das Mahavir umgab, nicht auf sich beruhen lassen und schufen dogmatische Systeme aus Lehrsätzen und Beweisen. Dadurch wurden sie zu berechnend, zu clever, und töteten so den Geist.

Aus dem Christentum musste sich der Sufismus deshalb zurückziehen, weil allmählich alles zum Ritual gemacht wurde. Aus dem Jainismus musste er sich zurückziehen, weil alles zu kopflasstig wurde, weil zuviel Gewicht auf Philosophie und Theologie gelegt wurde.

Vergesst es nicht: der Sufismus ist keine Kirche. Und er gehört keiner Religion an. Aber alle Religionen, sofern sie lebendig sind, gehören zum Sufismus. Er ist der weite Himmel, der sich über ein ganz bestimmtes Bewusstsein spannt.

Was bedeutet das? Wie wird man ein Sufi? Jedenfalls nicht, indem man einem ganz bestimmten Orden beitritt; sondern indem man sich vom Kopf zum Herzen fallen lässt. So wird man zum Sufi. Man kann sein Leben von zwei verschiedenen Punkten her leben. Entweder man lebt vom Kopf her – das bringt Erfolg in der Welt. So kommt man zu Reichtum, Ansehen, Macht. Zum Beispiel wird man ein erfolgreicher Politiker. In den Augen der Welt wird man so zum beispielhaften Vorbild. Innen allerdings scheitert so einer völlig, scheitert er restlos – denn der Kopfmensch kann die Innenwelt nicht betreten. Der Kopf orientiert sich nach außen; er öffnet sich für das „Andere“. Das Herz geht nach innen; es öffnet sich zu dir selber hin. Und man kann entweder als Kopfmensch leben oder man kann als Herzensmensch leben. Wenn sich deine Energie, deine Lebensenergie, vom Kopf zum Herzen verlagert, wirst du zum Sufi.

Ein Sufi ist ein Mensch des Herzens, ein Mensch der Liebe. Er ist jemand, der sich keine Gedanken darüber macht, wo dieses Universum herkommt, der sich nicht darum kümmert, wer es erschaffen hat, der nicht fragt, wo die Reise hingeht. Ja, ein Sufi stellt überhaupt keine Fragen – nein, er fängt lieber gleich zu leben an. Das Dasein ist da: nur Narren befassen sich mit der Frage, woher es kommt. Ich sage: nur Narren. Sie mögen sich noch so sehr mit klugem philosophischem Abrakadabra tarnen, aber Narren sind sie trotzdem. Ein weiser Mensch lebt das Leben. Es findet hier und jetzt statt. Warum sich also darüber Gedanken machen, wo das Leben herkommt? Wen kümmert es dann, woher es kommt? Ob es nun jemand geschaffen hat oder nicht, ist doch völlig irrelevant. Du bist da, in dir pocht ein Herz, in deinen Adern fließt Leben – tanze mit der Schöpfung! Lebe das Leben! Sei es! Und öffne ihm und seinem unendlichen Geheimnis dein ganzes Inneres.

Und das Wunder ist: einer, der sich nicht fragt, woher es kommt, einer, der überhaupt nicht fragt – genau der erhält Antwort. Ein Mensch, der nicht neugierig ist, sondern lieber gleich das jetzige Leben feiert – der es feiert, ohne wie und was und warum zu fragen – der stößt plötzlich auf die Quelle, auf den Ursprung, auf den Angelpunkt aller Dinge. Anfang und Ende treffen sich in ihm selbst – denn nun ist er zum Mysterium geworden.

Jetzt ist das Mysterium nicht länger etwas „da draußen“, ein Gegenstand, um den man immerzu kreist, den man beäugt und von außen beguckt und begutachtet. Nein – das führt zu gar nichts, so geht man immer nur daran vorbei. Ihr könnt bis in alle Ewigkeit im Kreis herumgehen, aber damit dringt ihr niemals bis zur Mitte vor. Wie könnt ihr sie jemals so kennen lernen? Ihr geht um den heißen Brei herum! Ihr wollt in die Mitte vorstoßen, indem ihr auf der Kreislinie bleibt. Es geht aber leider nicht anders: ihr müsst schon selber in den Kreis eindringen und bis zur Mitte vorstoßen… selber zur Mitte werden. Und das ist möglich: denn du bist Teil der Mitte.

Ja, du kannst zur Mitte werden, denn sie ist Teil von dir… Dann plötzlich lösen sich alle Fragen in Rauch auf. Plötzlich ist die Antwort da. Nicht etwa, dass ihr endlich die Lösung eurer Probleme gefunden hättet. Nein. Es gibt überhaupt keine Probleme mehr. Und wenn es keine Probleme gibt, habt ihr zum ersten Mal eure ganzen Kräfte voll zur Verfügung: die Kraft, jenes Geheimnis zu leben, das sich Leben nennt; die Kraft, Gott zu leben; die Kraft, selber Gott zu sein.

Ein berühmter Sufi – vielleicht kennt ihr seinen Namen schon – Al Hillaj Mansoor – wurde von den Muslimen getötet, weil er gesagt hatte: „Anal Hak“ – Ich bin Gott. Wer in das Geheimnis des Lebens eindringt, ist kein Beobachter mehr, denn ein Beobachter ist immer ein unbeteiligter Außenseiter; nein, man verschmilzt mit ihm. Du schwimmst nicht etwa im Fluss, du treibst nicht etwa mit der Strömung, du kämpfst nicht etwa gegen sie an – nein, du wirst zum Fluss. Plötzlich erkennst du: die Welle gehört untrennbar zum Fluss. Wir sind nicht nur Teil von Gott – Gott ist auch Teil von uns.

Als Al Hillaj Mansoor erklärte: „Ich bin Gott!“, brachten ihn die Muslime um. Der Sufismus wird immer umgebracht – und zwar von den religiösen Leuten, den so genannten religiösen Leuten; denn sie können ihn nicht ertragen. Sie können es nicht mit anhören, wenn ein Mann von sich behauptet, er sei Gott! Das verletzt ihr Ego zutiefst. Wie kann ein Mensch Gott sein? Aber wenn ein Mansoor sagt, „Ich bin Gott“, dann will er damit keineswegs sagen: „Ich bin Gott, aber nicht ihr!“ Er sagt nicht: „Ich bin Gott – die Bäume dagegen nicht.“ Er sagt nicht: „Ich bin Gott – aber nicht diese Steine und Felsen.“ Wenn er sagt: „Ich bin Gott“, dann meint er damit, dass alles und jedes göttlich und heilig ist. Alles ist göttlich.

Was taten also diese Leute, diese Fanatiker und orthodoxen Dogmatiker? Sie argumentierten so: Gott hat den Menschen erschaffen, der Mensch ist also nur Kreatur, niemals der Schöpfer selbst; also ist es Gotteslästerung – eine unerhörte Gotteslästerung, die schlimmste, die es geben kann – zu behaupten, man sei selber Gott. Also töteten sie ihn…

Und was sagte Mansoor, während sie ihn umbrachten? Er rief laut zum Himmel: „Du kannst mich nicht täuschen! Selbst in diesen Mördern kann ich dich erkennen – du kannst mich nicht täuschen. Du bist hier, sogar in diesen Mördern! Gleich in welcher Form du kommst, mein Gott, ich erkenne dich doch, denn ich habe dich längst erkannt.“

Der Sufismus denkt nicht über das Dasein nach – Sufismus heißt, das Dasein selbst zu sein. Er denkt nicht nach und greift nicht irgendwie in das Dasein ein. Er ist weder Gedanke noch Tat. Er ist Sein. Und jetzt in diesem Augenblick kannst du ohne weiteres Sufi sein.

Wenn du zu denken aufhörst und dich von der Zwangsvorstellung, irgendetwas tun zu müssen, wenn du also die fixe Idee aufgeben kannst, ein denkender und tätiger Mensch sein zu müssen, wenn du dich damit begnügst, einfach nur zu sein – dann ist plötzlich ein Sufi aus dir geworden. Und allein darum geht es mir bei diesen Gesprächen über den Sufismus: nicht darum, euch zu indoktrinieren oder euch noch gescheiter zu machen, sondern darum, euch in Sufis zu verwandeln.

Die Sufis singen; sie predigen nicht. Denn das Leben ist ein Lied und keine Kanzelpredigt. Und sie tanzen, anstatt über Dogmen zu reden, denn Tanz ist lebendig, das Tanzen ist der Schöpfung viel näher – den Vögeln, die in den Bäumen zwitschern, dem Wind, der durch die Föhren rauscht. Tanzen ist wie das Rauschen des Wasserfalls, wie das Niederprasseln des Regens, wie das Gras, das wächst. Das ganze Leben ist ein Tanz, bebend und pulsierend vor unerschöpflicher Lebendigkeit.

Die Sufis tanzen gern. Sie interessieren sich nicht für Dogmen. Und schöne Geschichten erzählen sie. Das Leben ist nicht Geschichte, sondern eine Geschichte. Und die Sufis haben herrliche kleine Geschichtchen erfunden. Sie sind leicht misszuverstehen, wenn man nicht tiefer blickt. Oberflächlich betrachtet sind sie eher wie ganz gewöhnliche Anekdoten. Aber wenn ihr tiefer blickt, sind Sufi-Geschichten voll Bedeutung, sind sie voll von bedeutsamen Hinweisen auf die höchsten und letzten Dinge. Ich werde euch also ein paar von diesen Geschichten erzählen und sie im Einzelnen besprechen, damit ihr zu diesem versteckten Kern vordringen könnt. Aber auch, damit ihr ein paar Dinge über das Herz verstehen lernt; und damit ihr ermuntert werdet, mit eurer ganzen Energie, eurem ganzen Wesen die Reise zum Herzen anzutreten.

Um euch einen Anstoß zu geben – denn ihr werdet Angst bekommen! Das Herz ist das allergefährlichste Ding von der Welt. Jede Kultur, jede Zivilisation, jede so genannte Religion sorgt dafür, dass schon die Kinder den Kontakt mit dem Herzen verlieren. Es ist so gefährlich! Alles, was gefährlich werden kann, kommt aus dem Herzen. Der Verstand ist sicherer, mit dem Verstand kennt man sich aus. Mit dem Herzen kennt sich kein Mensch aus. Mit dem Verstand lässt sich alles berechnen, vermessen, abwägen. Und man hat immer die Masse hinter sich, vor sich, neben sich. Die meisten halten sich nur an den Verstand; er ist eine Autobahn – zementiert, solide, man fühlt sich sicher. Mit dem Herzen bist du allein. Keiner ist bei dir. Die Angst packt dich, ergreift Besitz von dir. Wohin geht die Reise? Du weißt es jetzt nicht mehr. Solange du noch mit der Masse auf der Autobahn fährst, glaubst du zu wissen, wohin die Reise geht, weil du denkst, ‚die andern werden es schon wissen.‘

Und den andern geht es ganz genauso. Jeder denkt – wenn so viele Leute in diese Richtung laufen, muss es ja irgendwo hingehen. Warum wären sonst so viele Menschen unterwegs? Tausende und Abertausende – irgendwo müssen sie ja hin wollen! Und so denkt jeder! Aber in Wirklichkeit geht die Reise nirgends hin.

Eine Masse ist noch nie irgendwo angekommen. Aber Massen sind ununterbrochen unterwegs. Du wirst geboren – in die Masse hinein. Und die Masse war schon unterwegs, als du noch nicht geboren warst. Und irgendwann bist du erledigt und stirbst, und die Masse rennt weiter, denn immerzu werden neue Menschen geboren. Die Masse kommt nie an! – aber sie gibt dir ein Gefühl von Geborgenheit. Du fühlst dich wie in Watte gepackt, du bist ja von so vielen Leuten umringt, die klüger sind als du, älter und erfahrener. Die werden schon wissen, wo die Reise hingeht – mit ihnen bist du sicher.

Aber sobald du anfängst, zum Herzen hinabzufallen… Und es ist ein Fallen, wie wenn man in einen Abgrund fällt. Deshalb heißt es im Englischen, wenn man sich verliebt, ‚falling in love‘. Es ist ein Fall – für den Kopf ist es wie ein Fall, eine Verirrung, ein Verrat.

Wenn du beginnst, zum Herzen hinunterzufallen, wird es einsam um dich, denn dorthin kann dir niemand folgen. Nur du – in deinem totalen Alleinsein. Dir wird ängstlich und furchtsam zumute sein. Jetzt weißt du nicht, wohin die Reise geht, denn es ist niemand sonst da, und Kilometersteine gibt es nicht. Es gibt noch nicht einmal einen festen Weg. Das Herz wurde nie vermessen, nie befahren, es gibt keine Wanderkarten.

Eine nie gekannte Angst überkommt dich. Und meine ganze Anstrengung geht dahin, euch die Angst zu nehmen, denn nur durch das Herz kommt ihr zur Neugeburt. Aber bevor ihr neugeboren werden könnt, müsst ihr sterben. Keiner kann neu geboren werden, bevor er nicht gestorben ist. Sufismus, Zen, Chassidismus – alles Formen des Sufismus – lehren nur dies eine: wie man stirbt; die Kunst zu sterben ist das eigentliche Fundament. Ich lehre euch hier nichts anderes als das: die Kunst zu sterben.

Wenn du stirbst, öffnest du dich den unendlichen Quellen des Lebens. Du stirbst tatsächlich in der Form, in der du gegenwärtig lebst. Denn sie ist zu eng geworden. Du kannst gerade noch in ihr überleben – aber leben kannst du nicht. Die ungeheuren Möglichkeiten des Lebens sind dir total verschlossen, und du fühlst dich eingekerkert, eingeengt. Überall stößt du auf Schranken und Grenzen. Wohin du dich wendest – Mauern, Felswände. Eine einzige Mauer.

Ich will nichts anderes, als euch helfen, diese Mauern niederzureißen. Aber sie sind nicht aus Stein – sie sind aus Gedanken. Und kein Stein ist so hart wie Gedanken. Eure Mauern sind aus Ideologien gebaut, aus Bibeln. Ihr seid von ihnen umzingelt. Und ihr schleppt sie mit euch herum, wohin ihr auch geht. Ihr tragt euer Gefängnis mit euch herum. Es klebt ständig an euch. Wie könnt ihr es einreißen?

Diese Mauern zu durchbrechen, wird euch wie Sterben vorkommen. Und in gewisser Weise stimmt das auch, denn du verlierst deine gegenwärtige Identität dabei. Was du jetzt bist, bist du dann nicht mehr. Plötzlich ist etwas anderes da…

Es war schon immer da, verborgen in dir, nur hast du es nicht gewusst. Ein plötzlicher Sprung – das Alte ist nicht mehr, und etwas absolut Neues ist eingetreten. Dieses Neue hängt mit dem Alten nicht zusammen. Darum ist es richtig, von einem Tod zu sprechen. Es gibt keinen Zusammenhang – eine Lücke klafft. Und wenn du zurückschaust, kommt dir alles, was vor dieser Wiederauferstehung lag, unwirklich vor. Du glaubst, du hättest geträumt. Oder ein anderer hätte dir seine Geschichte erzählt – mit dir jedenfalls hat sie nie etwas zu tun gehabt; es muss ein anderer gewesen sein. Das Alte verschwindet vollkommen. Darum sprechen wir von einem Tod. Eine absolut neue Welt zeigt sich dir. Und wenn ich sage „absolut“, dann meine ich „absolut“. Sie hat mit der alten Welt nicht das Geringste gemeinsam, sie ist nicht das Altbekannte in neuem Gewand. Es ist eine Transfiguration. Aber ohne die Bereitschaft zum Tod ist Transfiguration nicht möglich. Sufismus ist Tod und Transfiguration. Deshalb nenne ich ihn die Religion. Lasst uns jetzt auf diese wunderbare Geschichte eingehen.

In Bokhara lebte einst ein reicher und freigebiger Mann.

Da er einen hohen Rang in der verborgenen Hierarchie einnahm,

war er als ‚Präsident der Welt‘ bekannt.

Jeden Tag verschenkte er an eine bestimmte Gruppe von

Leuten Gold – an die Kranken, die Witwen und so weiter.

Aber wer den Mund auftat, bekam nichts.

Nicht alle konnten den Mund halten.

Ich will ganz langsam vorgehen:

In Bokhara lebte einst ein reicher und freigebiger Mann.

Das ist eine seltene Verbindung: reich und freigebig. Die Armen sind immer freigebig, die Reichen nie. Nur so konnten sie reich werden. Wenn ein Reicher freigebig ist, muss eine Revolution in dem Mann vor sich gegangen sein. Ein Reicher wird erst dann freigebig, wenn er wirklich verstanden hat, dass Reichtümer sinnlos sind. Nur wer eingesehen hat, dass nichts von dem, was diese Welt zu bieten hat, wert ist in Besitz genommen zu werden, erst der wird freigebig und fängt an zu geben. Andernfalls geht das Raffen einfach nur endlos weiter.

Der Verstand kennt nur ein Gesetz: immer mehr und mehr zu fordern. Unersättlich. Solange dir das noch nicht klar ist, können dich alle Schätze der Welt nicht befriedigen. Denn dem Verstand ist es egal, wie viel du hast. Er kennt nur ein Prinzip: „Mehr!“

Es heißt, dass Alexander der Große auf seinem Feldzug nach Indien Diogenes kennen lernte, einen großen Mystiker. Diogenes ist einer der großen Sufis. Er lebte nackt, gerade so wie die Tiere. Und er war außerordentlich schön in seiner Nacktheit… denn nur das Hässliche verbergen wir, nicht das Schöne.

Warum wollt ihr euren Körper vor andern verstecken? Was ist verkehrt an ihm? Die Gesellschaft, die Zivilisation, der Anstand, hat euch eingeredet, dass etwas mit eurem Körper nicht stimmt. Wenn dich jemand nackt sieht, schämst du dich. Und Nacktheit wird sogar gesetzlich und gerichtlich verfolgt. Dabei ist die ganze Natur nackt! Und sie ist so schön! Nur der Mensch ist irgendwann, irgendwie hässlich geworden.

Eines Tages, wenn die Menschen bewusster geworden sind, werden Kleider nicht mehr so wichtig sein. Kleidung mag dann zwar noch ihren Zweck haben: wenn es kalt ist, muss man sich natürlich warm anziehen. Aber wenn das Wetter angenehm ist, und man einfach wie ein unschuldiges Tier leben kann, darf niemand und nichts es verhindern. Versteckt unter Kleidern, haben eure Körper ihre Feinfühligkeit verloren. Ihr habt die Sprache des Körpers völlig vergessen – wie es sich anfühlt, wenn die Sonnenstrahlen ihn streicheln, wie genussvoll das ist… den Wind auf eurem nackten Körper zu spüren, so wie die Bäume es fühlen und dabei tanzen – das habt ihr völlig vergessen. Nur euer Gesicht ist freigeblieben, nur euer Kopf. Aber den ganzen übrigen Körper habt ihr abstumpfen lassen.

Diogenes lebte also nackt, und in seiner Nacktheit war er ausgesprochen anmutig – denn er war unschuldig. Man kann auch auf perverse Art nackt sein. Dann fehlt jede Anmut. Es ist dann Exhibitionismus – irgendein psychischer Schaden steckt dahinter. Diogenes lebte nackt, wie Gott ihn schuf. Und Alexander, so heißt es, wurde neidisch. Er selbst war in die denkbar prächtigsten Kleider gehüllt und wurde bei dem Anblick des nackten Diogenes, so wird berichtet, von Neid erfüllt. Wie herrlich Diogenes war! – Neid… Er fragte: „Wie kann ich so werden wie du? – so unschuldig, so schön?“

Diogenes sagte lachend: „Da gibt es kein Wie!“ – und legte sich in den Sand am Ufer des Flusses. Es war Morgen und die Sonne ging eben auf. Er wollte sich nicht die Liebkosungen entgehen lassen, die heimlichen Botschaften, die der Sand seinem nackten Körper zuflüsterte, und die warmen Sonnenstrahlen, die auf ihn fielen.

Diogenes sagte: „Du brauchst nicht nach dem Wie zu fragen. Dies Ufer ist für uns beide groß genug. Wirf deine Kleider ab und leg dich her zu mir!“

Es gibt kein Wie. Warum nach dem Wie fragen? Das Wie ist eine List des Verstandes, damit er aufschieben kann. Wer nach dem Wie fragt, möchte aufschieben. Man tut so, als müsste erst noch viel geübt werden. Und Übung braucht Zeit. Und natürlich kannst du nicht gleich jetzt üben. Das Morgen tritt auf den Plan. Und wenn erst einmal das Morgen wichtig wird, kannst du gleich einpacken.

Diogenes also: „Da gibt’s kein Wie! Leg dich einfach her und ruh dich aus. Dies Ufer ist breit genug für zwei.“ Alexander antwortete: „Eines Tages – ich träume immer davon, dass es eines Tages möglich sein wird – wenn ich die ganze Welt erobert habe. Auf den Tag warte ich, dann kann ich mich entspannen und ausruhen.“

Diogenes lachte und sagte: „Dann bist du ein Narr, denn Diogenes kann sich auch ausruhen und entspannen, ohne erst die Welt erobert zu haben. Warum stellst du die Bedingung, dass du erst die ganze Welt erobern musst, bevor du dich entspannen und ausruhen kannst? Und das kann ich dir sagen: unter der Bedingung kann es nie dazu kommen, denn du wirst immer nur noch mehr fordern. Und selbst wenn du diese ganze Welt beherrschst, wird dein Verstand fragen: „Gibt es nicht noch andere Welten zu erobern?“

Und es wird berichtet, dass Alexander bei der Vorstellung, keine andere Welten außer dieser einen erobern zu können, plötzlich sehr traurig wurde. Die Traurigkeit war im gleichen Augenblick da, wie er gewahr wurde, dass es keine andere Welt zu erobern gab. Was tun, wenn diese Welt erobert ist? Eine andere Welt gibt es nicht zu erobern. Der Verstand findet diesen Gedanken unerträglich.

Der Verstand verlangt nach mehr und mehr und mehr. Ihm ist gleichgültig, was du schon hast; du magst ein Bettler sein, er fragt nach mehr; du magst ein Kaiser sein, und er fragt nach mehr. Das ist die Natur des Verstandes: immer mehr zu fordern. Was du schon hast, ist irrelevant. Der Verstand kann nicht anders, als mehr zu fordern. Ein reicher Mann will mehr, trotzdem bleibt er arm. Er möchte immer mehr haben, aber bleibt arm. Es ist wirklich nicht leicht, einen wahrhaft reichen Mann zu finden.

In meinem ganzen Leben ist mir nur ein einziger Reicher begegnet, der wirklich reich war. Mir sind viele, viele Reiche begegnet, aber nur einer von ihnen war wirklich reich. Und was machte ihn wirklich reich? Er war reich, weil er die Sinnlosigkeit allen Reichtums einsah. Als wir zum ersten Mal zusammentrafen, schüttete er mir Tausende von Rupien vor die Füße. Ich sagte zu ihm – „Im Augenblick brauch ich das Geld nicht, aber wenn ich es brauche, dann geb ich dir Bescheid.“

Der Alte weinte und schluchzte. Ich fragte, was los sei, und er antwortete mir: „Bitte sag das nicht, ich bin so arm! Ich hab nichts, was ich dir sonst geben könnte – nur mein Geld.“ Er sagte – hört genau hin – „ich bin so arm, ich habe nichts, was ich dir sonst geben könnte – nur mein Geld. Und wenn du mein Geld zurückweist, dann hast du mich zurückgewiesen, denn ich habe sonst nichts. Geld kann ich dir geben. Nur das habe ich – sonst nichts.“ Dieser Mann hatte verstanden, dass Reichtum nicht wirklicher Reichtum ist, dass der Mensch immer arm bleibt.

In Bokhara lebte einst ein reicher und freigebiger Mann

„Freigebig“ besagt, dass er seinen Reichtum genügend ausgekostet und die Welt erfahren hatte und nun zu dem Schluss gekommen war, dass sie nichts anderes ist als ein Traum. Dass Reichtum dir nur die Illusion gibt, reich zu sein, aber dich nicht wirklich reich macht. Dieser Mann hat keine Illusionen mehr. Und so konnte er freigebig werden. Jetzt kann er mit andern teilen; jetzt kann er alles weggeben. Das ist für ihn kein Problem. Er will nicht noch mehr dazu. Im Gegenteil, jetzt verteilt er alles, was er hat, an andere.

Da er einen hohen Rang in der verborgenen Hierarchie einnahm…

Und so ein Mann nimmt sofort einen hohen Rang in der Welt des Bewusstseins ein. Wenn du mit andern teilen kannst, egal, was du hast, steigst du plötzlich in der unsichtbaren Hierarchie auf. In den Augen der Welt magst du nur ein Bettler sein, aber in der ‚andern‘ Welt bist du zum ersten Mal Kaiser.

Buddha verzichtete auf seine Paläste, sein Reich, seine Schätze und wurde Bettler. Als er zur Hauptstadt zurückkehrte, war sein Vater sehr böse mit ihm – wie alle Väter. Es ist nicht leicht, einen Vater zu finden, der nicht auf seinen Sohn böse ist, ganz egal, was der Sohn im Einzelnen macht. Wird der Sohn kriminell, ist der Vater böse. Wird er zum Heiligen, ist der Vater auch böse. Selbst wenn du zum Buddha wirst. Der Vater war also böse. Denn die Erwartungen eines andern kannst du nie erfüllen. Wie soll das geschehen? Er kann sie selbst nicht erfüllen, und nun erwartet er es von dir. Du kannst also anstellen, was du willst, es ist immer verkehrt.

Der Vater war bitterböse. Buddha war inzwischen erleuchtet; er war als vollkommen veränderter Mensch, als ‚Auferstandener‘ zurückgekehrt. Unendliches Licht umstrahlte ihn, er war von tiefer Stille umgeben. Man sagt von Buddha, dass die Bäume, wo er auch ging und stand, seine Gegenwart spürten und blühten, selbst wenn es nicht die Jahreszeit dafür war. Wo immer Buddha sich aufhielt, ging von ihm im Umkreis von zwölf Meilen eine tiefe Stille aus. Aber ein Vater ist eben eine Ausnahme.

Der Vater war böse. Er konnte nicht die Stille spüren, nicht das Licht, das ihn umgab – er sah nur den Landstreicher, den Bettler. Und er sagte: „Jetzt ist es aber genug! Du hast dich jetzt lange genug herumgetrieben. Komm heim! Meine Türen stehen dir immer noch offen. Sieh dich doch an: der Sohn eines Kaisers, der in der eigenen Hauptstadt sein Essen erbettelt. Sieh dir deine Bettelschale an, deine zerrissenen Kleider, geradezu Lumpen. Was tust du dir selber an? Ich schäme mich für dich, abgrundtief. Aber ich habe ein Herz, das Herz eines Vaters, und meine Türe ist dir nicht verschlossen. Du hast mich zutiefst verletzt, aber mein Vaterherz schlägt noch. Komm zurück! Streife nicht wie ein Bettler durch die Lande – sei ein Kaiser!“

Und Buddha soll geantwortet haben: „Solange ich Prinz war, war ich ein Bettler. Jetzt erst bin ich ein Kaiser. Aber wie soll ich mich dir verständlich machen? Ich war ein Bettler hier im Palast. Damals, als du noch glaubtest, dass ich einmal dein Erbe antreten würde, war ich ein Bettler und saß gefangen. Jetzt bin ich vollkommen frei. Und zum ersten Mal begreife ich überhaupt, was es bedeutet, ein Kaiser zu sein. Aber wie soll ich dir das klar machen?“

Vom Augenblick an, wo du anfängst, mit andern zu teilen, zeigst du damit, dass sich dein Bewusstsein zu einem bestimmten Grad erhoben hat, dass du gewachsen bist. Ein erwachsener Mensch teilt immer mit andern. Wer an seinen Sachen festhält, ist unreif, ist kindisch. Warum? Weil du ein Ding erst dann besitzt, wenn du es mit andern teilst. Einen anderen Besitz gibt es nicht. Wenn du dich an ein Ding klammerst, dann zeigt das nur, dass das Ding größer ist als du, größer als deine Liebe, größer als dein Wesen. Nur darum hältst du dich an dem Ding fest. Deine Seele steckt in dem, was du besitzt. Du kannst nicht teilen, du kannst nicht freigebig sein.

Da er einen hohen Rang in der verborgenen Hierarchie einnahm,

war er als ‚Präsident der Welt‘ bekannt.

Solche Titel übertragen die Sufis oft auf ihre Bettler: „Präsident der Welt“. Missversteht das nicht. Er ist nicht in dem Sinn ein Präsident, wie jetzt Ford oder früher Nixon. Das sind die Allerärmsten, die Allerletzten; Opfer der abgrundtiefen Illusion, die Ersten zu sein. Nein – dieser Mann muss sich selber zum Allerletzten gemacht haben. Nur diejenigen, die mit der Welt fertig sind, können sich ganz hinten in der Schlange anstellen. Sie können zu den Letzten werden. Und Jesus sagt: „Diejenigen, die die Letzten in dieser Welt sind, werden die Ersten sein im Königreich meines Vaters.“

Jesus muss dabei an solche Männer gedacht haben, Männer, die reich und freigebig waren. Denn das kann ich euch versichern: bist du freigebig, dann bist du auch reich. Und bist du nicht freigebig, dann magst du dich zwar in dem Glauben wiegen, reich zu sein, aber du bist trotzdem arm.

Freigebigkeit ist wirklicher Reichtum. Und um freigebig zu sein, um zu teilen, brauchst du nicht viel, brauchst du nur das zu teilen, was du hast. Du magst nur wenig haben – darum geht es nicht. Wer hat schon viel? Wer kann je genug haben? Es ist nie viel, nie genug. Du magst überhaupt nichts haben, du magst ein Bettler sein, der auf der Straße lebt, aber freigebig kannst du trotzdem sein.

Kannst du nicht wenigstens lächeln, wenn ein Fremder vorbei geht? Lächeln kannst du doch, und wenn du so dein Dasein mit einem Fremden teilst, bist du freigebig. Oder kannst du nicht singen, wenn jemand traurig ist? Du kannst jederzeit freigebig sein. Lächeln und Singen kostet nichts. Aber du bist so geizig, dass du es dir dreimal überlegst: soll ich nun lächeln oder nicht? Soll ich singen oder nicht? Tanzen oder nicht? Ja – letzten Endes – sein oder nicht sein?

Teile dein Dasein mit andern, wenn du sonst nichts hast. Und das ist der größte Schatz, jeder wird damit geboren. Teile dein Dasein mit andern: Breite die Arme aus, geh auf den andern zu, mit Liebe im Herzen. Niemand ist ein Fremder – niemand! Oder jeder ist es. Wenn du offen bist, ist niemand ein Fremder. Wenn du verschlossen bist, dann ist jeder einer.

Du kannst steinreich sein und doch ein Geizkragen – einer, der nicht geben kann. Dann werden dir deine eigenen Kinder fremd und auch deine Frau – denn wer kann schon an einen Geizigen herankommen? Er ist verschlossen. Er ist bereits gestorben und begraben. Wie kann man sich einem Geizigen nähern? Wenn er dich kommen sieht, ergreift er die Flucht. Er lebt beständig in Angst, denn sobald ihm jemand zu nahe kommt, heißt es teilen. Für einen Geizigen ist selbst ein Händedruck schon gefährlich, denn – wer weiß? – das könnte ja zu einer Freundschaft führen, und dann ist sein Besitz in Gefahr.

Ein Geizhals ist immer auf der Hut, er hat immer ein wachsames Auge, damit ihm nur ja keiner zu nahe kommt. Er hält die andern auf Abstand. Schon ein Lächeln ist gefährlich; es könnte die Distanz brechen. Wenn du einem Bettler auf der Straße zulächelst, ist der Abstand gebrochen. Er ist jetzt kein Bettler mehr, sondern ein Freund. Ist er hungrig, musst du jetzt etwas unternehmen. Besser geht man also ohne Lächeln weiter. Das ist sicherer, man spart sein Geld und setzt sich keinem Risiko aus.

Es geht nicht darum, was du teilst, sondern darum, dass du teilst – gleich, was du hast. Wenn du nichts hast als deinen warmen Körper, kannst du dich neben einen andern setzen und ihm deine Wärme geben. Du kannst lächeln, du kannst tanzen, du kannst singen; du kannst lachen und den andern zum Lachen bringen. Und wenn zwei Menschen zusammen lachen, gehen sie für einen Augenblick lang ineinander auf. Wenn sich zwei anlächeln, verschwindet jeder Abstand, und eine Brücke entsteht.

Macht euch also nicht vor, dass ihr erst reich sein müsstet, um geben zu können. Es ist nämlich genau umgekehrt: wenn du reich sein willst, sei freigebig. Und an Schätzen fehlt es nie: Du bringst ungeheuren Reichtum ins Leben mit, und nimmst ihn wieder fort, wenn du stirbst! Hättest du ihn ausgeteilt, wäre dir dadurch bewusst geworden, wie reich du geschaffen wurdest, und wie armselig du trotzdem lebst. Je mehr du gibst, desto mehr fängt dein Leben zu fließen an. Und je mehr es fließt, desto mehr Quellen entspringen, die den Fluss immer von Neuem speisen. Und so bleibst du frisch und klar.

Nur ein großzügiger Mensch bleibt ungetrübt; ein zurückhaltender, ein verschlossener Mensch, einer, der immer geizt, wird zum abgestandenen und fauligen Tümpel. Das ist unausweichlich so. Es ist wie bei einem Brunnen. Wenn niemand zu ihm kommt, weil der Brunnen sich weigert, sein Wasser herauszugeben – was passiert dann? Es kommt kein frisches Wasser nach, weil das alte bleibt; und so verschmutzt es immer mehr. So ein Brunnen ist bald tot. Keine frischen und lebendigen Quellen versorgen ihn mehr. Vielen von euch ist genau das passiert.

Lade die andern ein, aus dir zu schöpfen. Lade die andern ein, dich zu trinken. Das meint Jesus, wenn er sagt: „Trinket und esset mich!“ Je mehr du von Jesus isst, desto mehr wächst er.

Je mehr du ihn trinkst, desto mehr sprudeln seine Quellen. Die Reichtümer, mit denen dich das Leben ausgestattet hat, sind unbegrenzt. Aber dies erfährt nur einer, der mit vollen Händen gibt: sie sind wirklich unbegrenzt! Ihr seid keine GmbH, deren Kapital begrenzt ist. Euer Kapital ist unbegrenzt. In euch liegt das Göttliche verborgen. Niemand kann es erschöpfen. Sing so viele Lieder, wie du nur kannst, der Schatz wird nie ausgehen, im Gegenteil – es kommen nur immer noch bessere und schönere Lieder nach…

Von Rabindranath Tagore, einem der größten Dichter Indiens, wird erzählt, dass er, als er im Sterben lag, von einem Freund, einem literarischen Freund und großen Kritiker, besucht wurde.

Der Freund sagte: „Du kannst auf ein erfülltes Leben zurückblicken: du hast mehr Gedichte geschrieben als irgendjemand vor dir.“ Rabindranath hatte über sechstausend Lieder und Gedichte geschrieben. Bei dem großen englischen Dichter Shelley waren es nur zweitausend. Bei Rabindranath sechstausend. Und jedes Gedicht ist ein Wunderwerk, ein herrlicher, einmaliger Edelstein. Der Freund hatte Recht, wenn er sagte, dass Rabindranath nach einem erfüllten Leben zufrieden sterben könne. Dass er mit seinen so schönen und so vielen Gedichten selbst einen Kalidas oder Shelley in den Schatten stellte. Aber während er dies alles sagte, flossen Rabindranath die Tränen über die Backen. Der Freund konnte es nicht glauben: „Was? – du weinst? Hast du etwa Angst vor dem Tod? Du – der du dein ganzes Leben immer nur vom Tod als dem großen Freund gesungen hast – du hast Angst vor ihm?“

Rabindranath antwortete, „Nein, es ist nicht Angst vor dem Tod. Der Tod ist schön, so schön wie das Leben. Ich muss weinen, weil mir in letzter Zeit immer schönere und bessere Gedichte eingefallen sind. Was ich bisher gemacht habe, ist nur Kinderkram. Jetzt ist endlich die Reifezeit gekommen, und Gott hat mich mit immer größeren Gaben beschenkt. Je mehr ich dichtete, desto reicher strömte es aus mir. Jetzt endlich war das Instrument richtig gestimmt – und jetzt muss ich gehen! Es ist ungerecht. Endlich bin ich soweit, dass ich wirklich meinen Gesang anstimmen könnte.“

Aber ich kann euch sagen: Selbst wenn Rabindranath noch tausend Jahre länger gelebt hätte, am Ende wäre es genauso gewesen – weil der Schatz unerschöpflich fließt. Du teilst ihn an andere aus, teilst ihn andern mit, und er fließt ständig nach. Du singst und weißt: es hört nicht auf. Es gibt kein Ende. Selbst nach tausend Jahren wäre Rabindranath noch mit Tränen in den Augen gestorben, denn die Quelle hätte weiter gesprudelt. Keiner kann sie leeren. Gott ist unerschöpflich. Und ihr tragt Gott in euch. Warum also geizt ihr so?

Wer geizt, wird arm. Wer gibt, wird reich. Und freigebig kannst du in diesem Augenblick werden, so wie du bist, denn mehr gehört nicht dazu. Du brauchst nur zu verstehen, worauf es ankommt – und schon bist du es! Es fehlt an nichts. Alles was du dazu haben musst, hast du bereits. Kein Wunder also: dieser Reiche war als ‚Präsident der Welt‘ bekannt.

Jeden Tag verschenkte er Gold an eine bestimmte Gruppe von

Leuten Gold – an die Kranken, die Witwen und so weiter.

Aber wer den Mund auftat, bekam nichts.

Nicht alle konnten den Mund halten.

Sehr sehr bedeutungsvolle, tiefe Worte. Wenn du zur Kirche gehst und dafür betest, dass dir ein Wunsch in Erfüllung gehen möge, wird dein Gebet niemals erhört. Denn Beten ist nur möglich, wenn alles Wünschen aufgehört hat. Aus Wünschen kommen nie Gebete. Bitten ist nicht beten. Beten ist etwas anderes. Und was du brauchst, weiß Gott sowieso.

Ein Sufi-Mystiker namens Bayazid sagte immer wieder: „Gott weiß, was ich brauche, also bitte ich ihn um nichts. Das wäre ja albern: was sollte ich denn sagen? Er weiß es doch schon. Ihm etwas zu sagen, was er sowieso schon weiß, ist einfach dumm. Und mir etwas aus den Fingern zu saugen, was er vielleicht noch nicht weiß, ist erst recht dumm. Denn wer sollte das wohl sein? Also mache ich mir die ganze Mühe erst gar nicht. Was ich brauche, das gibt er mir.“

Einmal war er nun hungrig und ohne Geld aus der Stadt gewiesen worden, durch die er gerade kam. Keiner wollte ihm Obdach für die Nacht geben. Es war stockfinster, und er saß unter einem Baum, draußen vor der Stadt, umringt von Gefahren.

Und da sagte einer seiner Jünger: „So – und jetzt? Gott weiß, dass sein geliebter Bayazid in Schwierigkeiten steckt; dass ihn die Stadt ausgewiesen hat, dass er keinen Bissen zu essen hat und mit knurrendem Magen unter einem Baum sitzt, während die wilden Tiere herumstreifen und ihn noch nicht einmal schlafen lassen. Was ist das eigentlich für ein guter Gott, von dem du immer sprichst und der dir immer alles gibt, was du brauchst?“

Bayazid lachte und sagte: „Er weiß, dass ich im Augenblick genau das hier brauche. Ich brauche das. Warum wäre es sonst, wie es ist? Wie hätte es so kommen können? Gott weiß genau, wann du Armut brauchst“, sagte Bayazid weiter, „und Gott weiß, wann du Wohlstand brauchst. Und Gott weiß, wann du fasten musst, und wann du an einem Festmahl teilnehmen sollst. Er weiß es! Und was ich jetzt habe, das brauche ich jetzt.“

Bitten kannst du nicht. Wenn du bittest, wird dir nicht gegeben. Indem du fragst, beweist du, dass du noch nicht so weit bist, es in Empfang zu nehmen. Beten geschieht still. Wenn sich Wörter einmischen, folgt das Wünschen auf dem Fuße nach. Denn Wörter sind die Vehikel der Wünsche. Wie kann man stillschweigen und dabei wünschen? Versucht es einmal! Lässt sich in aller Stille etwas wünschen? Wie wohl? Ohne Sprache geht es nicht. Alle Sprache gehört zum Reich des Wünschens. Genau deswegen bestehen alle Weisen darauf, dass man still werden muss; denn nur, wenn kein Wort mehr in dir übrig bleibt, hört alles Verlangen auf. Solange das nicht so ist, lauert hinter jedem Wort ein Wunsch.

Was du sagst, ist unwichtig. Selbst wenn du in deinem Tempel, deiner Moschee oder Kirche nur sagst: „Ich bin wunschlos glücklich“, dann ist das schon ein Wunsch. Du brauchst nur genauer hinzuschauen – irgendwo versteckt sich ein Wunsch. Aber da du weißt, dass du erst wunschlos werden musst, damit dir gegeben werde, sagst du: „Ich bin wunschlos…“ – damit du es doch bekommst! Es versteckt sich nur im Hintergrund; irgendwo im Schatten lauert es. Warum sagst du sonst so ausdrücklich, dass du wunschlos bist?

Sei still. Nur Stille ist Beten. Alle Gebete, die du kennst, sind falsch. Alle Gebete, die man dir beigebracht hat, sind gar keine Gebete, sondern totes Ritual. Es gibt nur ein Gebet, und das ist Schweigen. Ein solches Schweigen, dass kein Wort mehr den glatten See deines Bewusstseins kräuselt. Nicht die leiseste Welle. Der See ist vollkommen still. Er ist zum Spiegel geworden. Er spiegelt die Schöpfung wider, er spiegelt Gott wider. In einem solchen Augenblick völliger Stille geht alles in Erfüllung. Und daher heißt es in unserer Geschichte:

Jeden Tag verschenkte er Gold an eine bestimmte Gruppe von

Leuten Gold – an die Kranken, die Witwen und so weiter.

Aber wer den Mund auftat, bekam nichts.

Nicht alle konnten den Mund halten.

Das ist eine alte Sufi-Regel: „Halte absolut den Mund – nicht nur äußerlich, sondern auch innen. Dann wird dir vieles gegeben werden. Wenn du nicht fragst, wird dir viel gegeben, wenn du fragst, wird dir nichts gegeben. Das sieht paradox aus, aber es ist ein fundamentales Gesetz des Daseins.

Bitte um nichts – und plötzlich wirst du überschüttet. Es kam einmal ein Mann zu Bayazid und sagte: „Deine Lehren haben mich ruiniert. Vor zwanzig Jahren kam ich zu dir und du sagtest: ‚Wenn du um nichts bittest, wirst du von Reichtum überschüttet. Wenn du nicht suchst, wird dir alles gegeben. Wenn du die schönste Frau der Welt nicht begehrst, bekommst du sie.‘ Zwanzig Jahre habe ich umsonst gewartet. Keine einzige, nicht einmal eine hässliche Frau hat sich gezeigt. Und erst recht kein Reichtum – ich bin so arm wie eh und je. Das verdanke ich dir. Was hast du dazu zu sagen?“

Bayazid antwortete: „Es wäre bestimmt alles eingetroffen, wenn du dich nicht zu oft umgedreht hättest, um nachzusehen, ob die schöne Frau schon unterwegs ist. Der Wunsch danach war da. Dass du Frau und Geld verpasst hast, musst du dir selber zuschreiben, nicht mir. Du hast ständig auf der Lauer gelegen: ‚Ob wohl gleich die schönste Frau an meine Tür klopft? Ob sie die Göttin des Reichtums sein wird?‘ Still warst du jedenfalls nicht. Wunschlos warst du nicht.“

Die Sufis sagen: „Wer nicht bittet, dem wird gegeben.“ Und diese Lehre geht tiefer als die Lehre von Jesus, der sagt: „Bitte und dir wird gegeben werden. Klopfe und die Tür öffnet sich.“ Aber die Sufis sagen: „Bitte und dir wird nichts gegeben werden. Klopfe an oder stoße mit dem Kopf gegen die Tür – und sie wird sich dir immer mehr verschließen.“

Nicht alle konnten den Mund halten…

Obwohl sie genau wussten, dass dieser Mann, dieser freigebige Mann aus Bokhara nur denen etwas gab, die still blieben. Aber es ist eben nicht so leicht…

Der Verstand argumentiert so: „Mach es ausdrücklich klar, wie nötig du es hast, stell ihm deine ganze Situation vor Augen, dann ist sicherlich noch ein bisschen mehr aus ihm herauszuholen.“

Und das Schöne an der Geschichte ist, dass es ein Advokat ist. Jeder andere hätte vielleicht seinen Mund halten können, aber nicht der Advokat. Er weiß, wie man das Gericht erweichen, wie man den Richter umstimmen und verführen kann. Er weiß, dass man den Fall verliert, wenn man den Mund hält.

Für die Geschäfte der Welt sind Worte unerlässlich. Ein Rechtsanwalt lebt geradezu von Worten, und die Gerichte sind die eigentlichen Tempel dieser Welt. Seht euch einmal die Gebäude der obersten Gerichtshöfe an: das sind die heutigen Tempel. Sie kosten Unsummen. Warum? Selbst Tempel und Kirchen sind daneben zusammengeschrumpft, aber die Gerichte werden ständig dicker und breiter. Denn da sitzt die Macht. Die Macht der Gewalt und des Mordes, die Macht von Gesetz und Sprache und Logik. Ein Advokat ist ein Logiker.

Er wusste genau, welche Bedingung dieser Reiche aufgestellt hatte: „Nur wenn du still bleibst, bekommst du was. Wenn du drum bittest, bekommst du nichts…“ Und trotzdem konnte er nicht den Mund halten.

Warum ist es nur so schwer, nichts zu sagen? Ihr müsst es wissen, denn ich muss euch immer von neuem daran erinnern: Seid still! Aber werdet ihr still? Ich sage tausendmal zu euch: „Gott wartet nur darauf, zu euch zu kommen, aber ihr müsst ihm eure Bereitschaft damit beweisen, dass ihr still werdet.“ Aber diesen Beweis bleibt ihr schuldig. Ihr erzählt Gott lieber etwas von eurem wirklich sehr großen Unglück, euren Problemen, Schmerzen und Ängsten – damit vielleicht etwas mehr aus ihm herauszuholen ist…

Eines Tages waren die Advokaten an der Reihe,

ihren Anteil am Goldregen einzuheimsen.

Einer von ihnen konnte sich nicht enthalten,

eine höchst umständliche Bittrede vorzutragen.

Er bekam nicht einen Heller.

Dabei ließ er es nun aber nicht bewenden.

Einen Advokaten wird man so schnell nicht wieder los. Er findet andere Schleichwege. Wenn es auf dem einen nicht weitergeht, dann versucht er es mit einem andern. Irgendwo ist sicher eine Lücke. Dann versucht er eben, von der Rückseite ins Haus zu kommen… durch die Hintertür.

Ich habe einen guten Freund. Er ist ein berühmter Rechtsanwalt. Er erzählte mir einmal, wie er einen Fall durchgefochten hat, bei dem der Richter ein sehr frommer Mann war… und den Richter kenne ich auch, ein wirklich ausgesprochen frommer Mann, völlig unbestechlich. So unbestechlich, dass einer, der ihn zu bestechen versuchte, sicher sein konnte, dass er den Fall verlor. Was also tat mein Freund? Er versuchte, den Richter im Namen der andern Partei zu bestechen. Irgendwie brachte er es zustande. Und natürlich verlor die Gegenpartei.

Er schickte einen Mann zum Richter, der vorgab, für die andere Partei Bestechungsgeld anzubieten. Der Richter war empört über die Annäherungsversuche, und so verlor die Gegenpartei. Dabei war sie völlig im Recht. Kein Mensch begriff, wieso sie den Fall verlor. Die Gegenpartei war sprachlos. Bei einem so unbestechlichen Richter konnte es überhaupt keinen Zweifel über den Ausgang der Sache geben. Es lag so klar auf der Hand, dass sie im Recht war. Nichts stand auf dem Spiel, es gab keine Komplikationen. Wie konnte sie nur verlieren?!

Ein Advokat findet immer einen Weg. Wenn es durch den Haupteingang geht – gut. Wenn nicht, dann durch die Hintertür. Wenn es bei Tage geht – gut. Wenn nicht, dann bei Nacht.

Dabei ließ er es nun aber nicht bewenden.

Als am nächsten Tag die Invaliden ihre Unterstützung erhielten,

schmuggelte er sich als Krüppel getarnt unter sie.

Aber der Präsident erkannte ihn und gab ihm nichts.

‚Präsident‘ ist hier symbolisch zu verstehen. ‚Präsident‘ steht für das höhere Bewusstsein, das sich mit dem niederen Bewusstsein genau auskennt und sich nie von ihm täuschen lässt. Außer, wenn das höhere Bewusstsein aus ganz bestimmten Gründen die Täuschung zulässt. Sonst aber nicht. Wie sollte das niedere Bewusstsein das Höhere täuschen können?

Aber der ‚Präsident‘ erkannte ihn und gab ihm nichts.

Immer wieder versuchte er es von neuem,

selbst als Frau verkleidet…

In muslimischen Ländern kann man sich als Frau verkleiden, ohne dass jemand sagen kann, ob man Frau oder Mann ist.

… Aber ohne Erfolg.

Man kann das höhere Bewusstsein nicht täuschen. Versucht nie, einen Meister zu täuschen. Aber ihr versucht es trotzdem, denn euer logischer Verstand, euer Winkeladvokat, versucht alles, was in seinen Kräften steht. Hier bei mir passiert das jeden Tag. Es kommt selten vor, dass mich mal jemand von euch nicht täuschen will oder zu täuschen versucht.