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Inge Löhnig

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Beschreibung

Mariaseeon, im Süden Münchens: Nach tagelanger Suche findet man den fünfjährigen Jakob nackt, gefesselt und verstört auf einem Holzstoß im Wald. Wenig später wird seine Erzieherin zu Tode gemartert. Eine biblische Opferszene, ein Mord nach Art der Inquisition – unter den Dorfbewohnern geht die Angst um. Einer von ihnen ist ein sadistischer Mörder und Kommissar Konstantin Dühnfort muss ihn finden, bevor er wieder zuschlägt.

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Das Buch

Kaum ist Agnes Gaudera in ihr neues Haus in Mariaseeon gezogen, verschwindet ein Junge aus dem Dorf spurlos. Eine Entführung, ein Mord oder ein Unfall? Der Münchner Kommissar Konstantin Dühnfort leitet die Ermittlungen. Trotz fieberhafter Suche bleibt der fünfjährige Jakob unauffindbar. Da entdeckt Agnes bei einem ihrer Waldläufe den kleinen Jungen nackt auf einem Holzstoß, äußerlich unversehrt, aber verstört und stumm. Die Suche nach Täter und Motiv geht weiter. Es gab keinen Missbrauch. Was also ist der Grund für die Entführung? Und für die seltsame Art und Weise, wie Jakob im Wald zurückgelassen wurde?

Bald darauf erschüttert ein grausamer Mord die kleine Gemeinde. Kommissar Dühnfort erkennt, dass ein Täter sein Unwesen treibt, der in einer Welt religiöser Wahnvorstellungen lebt, die sein Handeln bis hin zum Mord bestimmen. »Denn der Sünde Sold ist der Tod.« So steht es in der Bibel, und danach scheint der Mörder sich zu richten. Aber Sünder gibt es viele …

Die Autorin

Inge Löhnig hat an der renommierten Münchner Akademie U5 Grafikdesign studiert. Nach einer Karriere als Art-Directorin in verschiedenen Werbeagenturen hat sie sich mit einem Designstudio selbständig gemacht. Inge Löhnig wohnt mit ihrer Familie in der Nähe von München. Der Sünde Sold ist ihr erster Kriminalroman, der nächste mit Kommissar Dühnfort ist bereits in Arbeit.

Die Website der Autorin: www.inge-loehnig.de

Von Inge Löhnig sind in unserem Hause bereits erschienen:

Die Kommissar-Dühnfort-Serie:Der Sünde SoldIn weißer StilleSo unselig schönSchuld währt ewigVerflucht seist duDeiner Seele GrabNun ruhet sanftSieh nichts BösesAußerdem:Gedenke meinMörderkind

Inge Löhnig

DER SÜNDE SOLD

Kriminalroman

List Taschenbuch

Besuchen Sie uns im Internet:

www.ullstein-buchverlage.de

Die in diesem Roman beschriebenen Personen und Ereignisse sind Fiktion. Jegliche Übereinstimmung oder Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen oder Begebenheiten ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen,

wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung,

Speicherung oder Übertragung

können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch

Juni 2017

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2008

Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München

Titelabbildung: Arcangel / © Joanna Jankowska (Landschaft)

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

eBook ISBN 978-3-548-92102-0

Für meinen Vater

DONNERSTAG, 8. MAI

Lautlos schob er die Blende beiseite und spähte durch den schmalen Spalt ins Innere des Gewölbes. Eine Petroleumlampe verbreitete spärlich Licht. Die Flamme flackerte im Luftzug, ließ die Schatten tanzen und Bewegung vermuten, wo keine war. Trotzdem zog er die Mütze mit den Sehschlitzen über den Kopf. Sicher war sicher. Die Tür quietschte leise, als er sie öffnete. Er griff nach dem Tablett und betrat das Verlies, aus dem ihm modriger Geruch und klamme Kühle entgegenschlugen.

Einen Moment verharrte er, um sich zu vergewissern, dass der Junge auf dem Feldbett wirklich schlief. Erst dann zog er mit einem Fuß eine Kiste heran, stellte den Teller mit Banane und Butterbrot darauf ab und lockerte den Deckel der Thermoskanne, damit der Junge ihn aufbekam, wenn er hungrig und durstig erwachen würde. Das linke Handgelenk des Kleinen war mit einer Handschelle an eine Kette gefesselt. Die zarte Haut war dort bereits aufgescheuert.

Gebannt starrte er darauf; die rot entzündeten Wundränder ließen ihn erschauern. Ohne die Augen abzuwenden, zog er den Schlüsselbund aus der Hosentasche und stellte die Fessel enger. Der Anblick des schlafenden Kindes weckte Erinnerungen, die vage aus einem Nebel traten. Bilder, die ihn quälten, die er vergessen wollte, die ihn nun umringten, seinen Herzschlag zum Stolpern brachten und stinkenden Schweiß aus seinen Poren trieben. Nicht jetzt! Er musste sie abschütteln.

Für einen Moment schloss er die Augen, besann sich auf seinen Auftrag und spürte eine Kraft in sich fließen wie einen nie versiegenden Strom. Die Schemen wichen, gaben ihn frei. Und er wusste, alles, was er tat, würde gelingen. Sie würden das Zeichen verstehen. Und selbst wenn nicht … Unwillkürlich griff er sich an die Kehle; dann sollte ihr Wille geschehen. Letztlich lag es nicht in seinen Händen. Er atmete auf und konnte nicht widerstehen: Mit den Fingerspitzen strich er dem Jungen durch das blonde Haar, über die vom Schlaf geröteten Wangen und die Schrammen am Kinn. Die Kratzer waren schon verschorft. Doch an einer nässenden Stelle hatte sich eitriger Belag gebildet, der nun an den Fingern kleben blieb. Der Mann zuckte zurück. Würgen setzte sich in seine Kehle. Rasch wischte er die Hand mit einem Papiertaschentuch ab.

Die Augäpfel des Jungen begannen unruhig hinter den Lidern zu rollen, seufzend drehte er sich auf den Rücken. Bald würde er aufwachen. Das Schlafmittel im Kaba war bitter, aber er würde ihn schon trinken, wenn er durstig war. Er sollte schlafen. Nicht um zu verhindern, dass er schrie. Das würde er, ganz sicher, aber niemand konnte ihn hören. Er sollte schlafen, damit er nicht mitbekam, was mit ihm geschah. Damit ihn die quälenden Bilder nicht ein Leben lang begleiteten.

Noch einmal strich er über das blonde Haar, berührte es kaum. Er hoffte, dass es ein langes Leben werden würde. Aber es lag nicht in seiner Macht.

***

Agnes stand auf der Haustreppe und umarmte ihren Bruder Michael. »Danke für deine Hilfe.«

»Was man in der ersten Nacht im neuen Heim träumt, geht in Erfüllung. Also träum was Schönes. Ja?« Er zwinkerte ihr zu und versuchte, mit einem Lächeln seine Besorgnis zu kaschieren. »Wenn ich aus London zurück bin, besuche ich dich.«

»Mach dir keine Sorgen. Mir geht es gut.« Sie wünschte ihm einen guten Flug und viel Erfolg bei dem Workshop, den er leiten würde, dann schob sie ihn sanft die Treppe hinunter.

»Du kommst wirklich alleine klar?«

Sie nickte. »Michael, ich bin fünfunddreißig. Die Zeiten, in denen ich mich im Dunkeln gefürchtet habe, sind vorbei.«

»Also gut. Dann überlasse ich dich diesem alten Gemäuer.« Er warf einen kritischen Blick auf das Haus, als befürchtete er, Geister könnten darin spuken. Sollte ich tatsächlich von Gespenstern heimgesucht werden, dachte Agnes, dann sind sie heute mit mir eingezogen.

Michael drückte sie an sich, dann stieg er in den Umzugswagen und winkte ihr im Anfahren zu. Als der Wagen oben am Weg hupend hinter der Kurve verschwand, ging Agnes ins Haus. Die Tür fiel ins Schloss. Sie blieb im Flur stehen. »So«, sagte sie laut und lauschte dem nachhallenden Klang ihrer Stimme. »Und nun?« Nun gab es nicht mehr viel zu tun. Alle Möbelstücke standen an ihrem Platz. Die letzte Umzugskiste war ausgepackt und ihre wenigen Habseligkeiten waren verstaut.

Sie ging in die neu eingebaute Küche und freute sich erneut über die Farbkombination aus maigrün gestrichenen Wänden und vanillegelben Möbelfronten. Frühlingsatmosphäre, Aufbruchsstimmung. Sie füllte den Wasserkocher und holte aus dem Schrank ein Päckchen Seelenharmonie, das sie im Teeladen neben der Kirche gekauft hatte. Der Name war zu verlockend gewesen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie war nicht so naiv, zu glauben, dass ein Ortswechsel und eine Tasse Tee ihrem Leben wieder Sinn geben konnten. Aber irgendwie musste sie beginnen; und mit dem Umzug hatte sie den längst überfälligen Schlussstrich gezogen.

Sie fühlte sich erleichtert und befreit und trotzdem schämte sie sich ein wenig. Ihre Eltern hatten es nur gut gemeint. Aber die Fürsorge ihrer Mutter hätte sie nicht einen Tag länger ertragen und die stumme Anteilnahme ihres Vaters hatte sie zunehmend zornig gemacht. Er behandelte sie wie eine Kranke. Sie wusste, dass er nicht anders konnte, und hatte ihm keinen Vorwurf gemacht, aber sein Verhalten hatte ihren Entschluss bestärkt, ihr Leben endlich wieder selbst in die Hand zu nehmen.

Das Wasser kochte, sie brühte den Tee auf und trug Thermoskanne und Tasse ins Wohnzimmer. Nachdem sie beides auf dem Couchtisch abgestellt hatte, ging sie ans Fenster. Ihr Blick glitt durch den verwilderten Garten hinüber zum See. Das luftige Blau des Himmels hatte mittlerweile in ein schimmerndes Lichtgrau gewechselt. Die Wasseroberfläche lag wie in Silber gegossen. Sie fühlte sich ruhig, als habe der Sturm sich für immer gelegt, der seit über einem Jahr mal mehr, mal weniger heftig in ihr wütete. Doch, dachte sie, es war richtig gewesen, das Haus zu kaufen.

Eigentlich hatte sie das Geld nicht anrühren wollen. Von Rainers Tod zu profitieren war ihr ebenso unvorstellbar erschienen, wie noch länger bei ihren Eltern zu wohnen. In diesem Dilemma hatte sie gesteckt, als sie das Haus entdeckt hatte. Eine kleine dreigiebelige Jugendstilvilla direkt am Kirchsee gelegen. Sie hatte gespürt, wenn überhaupt ein Neuanfang möglich war, dann hier, in diesem hundert Jahre alten Haus mit seinen knarrenden Böden, ausgetretenen Stufen und hohen Räumen. Ihre Mutter hatte sie gescholten. Sie sei unvernünftig, da die finanziellen Reserven mit diesem Kauf beinahe erschöpft waren. »Kind, du wirst wieder arbeiten müssen«, hatte sie gesagt, als sei das eine schreckliche Vorstellung. Genau wie für Rainer.

Agnes spürte ein leichtes Unbehagen. Ein Gefühl, als nähere sich der Sturm wieder. Eilig ging sie zum Sofa zurück und schenkte sich eine Tasse Tee ein. Während sie ihn trank, wanderte ihr Blick durchs Zimmer. Ihr Mobiliar bestand aus einer Mischung alter und neuer Möbel. Teils neu gekauft, teils von Michael und ihren Eltern ausrangiert. Aber Vorhänge und Teppiche fehlten noch. Im Regal standen nur einige CDs und ein paar Bücher. Auf einmal konnte sie die Leere der Räume, die sie umgaben, körperlich fühlen. Vielleicht gehörte sie doch nicht hierher. Agnes versuchte, eine aufsteigende Erinnerung zurückzudrängen: zwei winzige leere Zimmer, ein Sprossenfenster stand offen, gab den Blick in einen öden Hinterhof frei, eine handtuchbreite Küche, ein verbeulter Gasherd. Hastig fasste Agnes die langen Haare zusammen, schlang sie zu einem Knoten, stopfte sie in den Ausschnitt des Sweatshirts. Sie hatte sich eben für ein Leben auf dem Land entschieden.

Ihr Blick fiel auf den Biedermeiersekretär, das Geschenk ihrer Eltern zum Einzug. Ein Gläschen mit Fensterlack, das sie nach dem Ausbessern einer abgestoßenen Stelle nicht aufgeräumt hatte, stand noch dort. Auf dem Sekretär würde sich das Foto gut machen. Sie ging nach oben und holte den Silberrahmen aus dem Schlafzimmer. Das Bild, das er enthielt und das sie wie einen Schatz hütete, war vor zwei Jahren am Atlantik entstanden. Für einen Moment konnte Agnes die salzige Luft schmecken, das Kreischen der Möwen und Yvonnes Lachen hören, konnte Rainer sehen, wie er ihr half, den knallroten Lenkdrachen im auflandigen Wind zu steuern. Sie versuchte, diesen Eindruck festzuhalten, aber durch diese Bemühung brachte sie ihn zum Verschwinden.

Im vergangenen Jahr, wenn sie nachts in ihrem ehemaligen Kinderzimmer wachgelegen und ihre Gedanken ein gespenstisches Eigenleben entwickelt hatten, wurde sie manchmal von der Frage gequält, ob alles nur ein Traum gewesen war. Vielleicht hatte sie ihr Elternhaus nie verlassen, hatte nie geheiratet, war nie Mutter gewesen. Dann hatte sie das Licht anmachen und sich mit einem Blick auf das Bild vergewissern müssen.

Agnes atmete durch und verscheuchte so den Druck, der sich auf ihre Brust legen wollte. Sie stellte das Bild an seinen neuen Platz. Dann blickte sie auf die Uhr. Es war schon nach sechs, höchste Zeit, eine Runde zu laufen. Sie ging nach oben und schlüpfte in ihre Joggingsachen. Als sie die Laufschuhe anzog, klingelte es an der Haustür. Sie blickte auf. Wer konnte das sein? Eigentlich hatte sie keine Lust, zu öffnen. Sie wollte nicht aufdringlichen Nachbarn die Hände schütteln und nett sein müssen. Andererseits konnte sie hier, in diesem Dorf, nur heimisch werden, wenn sie sich nicht in ihrem Haus verkroch. Aber sie musste ja nicht heute damit anfangen. Es klingelte erneut. Man konnte die Nachbarn ja auch nicht vor der Tür stehen lassen. Verdammte gute Kinderstube, dachte sie, während sie in den Flur hinunterging. Die Versuche, ihre gute Erziehung wie einen zu eng gewordenen Mantel abzulegen, scheiterten meistens. Sie warf einen raschen Blick in den Spiegel. Im letzten Jahr hatte sie abgenommen. Jetzt steckte sie in einem schlanken, durchtrainierten Körper, der ihr merkwürdig fremd war. Nur die langen blonden Haare, die Rainer so sehr geliebt hatte, erinnerten sie an früher. Es klingelte wieder. Agnes ging zur Tür und öffnete. Eine junge Frau stand atemlos auf der Haustreppe. Raspelkurze blonde Haare standen zerzaust von einem knochigen Schädel ab.

»Grüß Gott. Ich bin Ihre Nachbarin. Melanie Berger.« Sie hatte wasserblaue, scheinbar wimpernlose Augen und eine schnabelartig gebogene Nase. Aufgeregt unterstrich sie jedes Wort mit flatternden Armen. Sie erinnerte Agnes an das sprichwörtliche aufgescheuchte Huhn. Ihre Stimme war allerdings voll und angenehm und wollte nicht zu der kindlichen, mageren Figur passen.

»Wir brauchen Ihre Hilfe. Ein Junge ist verschwunden. Der Jakob. Wie vom Erdboden verschluckt. Jetzt suchen wir alle nach ihm.«

»Und ich soll dabei helfen?« Die Frage hallte in Agnes’ Schädel nach wie in einem Fahrstuhlschacht.

»Alle suchen ihre Häuser und Grundstücke ab. Wir sind schon fertig. Mein Freund ist jetzt mit der Feuerwehr unten am See. Da habe ich gedacht, ich könnte Ihnen helfen. Das Grundstück ist ja ziemlich groß«, sagte Melanie Berger und breitete die Arme aus.

Sie war ins Dorf gezogen, um zur Ruhe zu kommen, um zu vergessen, und nun das. Gleich am ersten Tag. »Ich wollte eigentlich gerade joggen«, erwiderte Agnes.

Melanie Berger starrte sie an. »Jakob ist erst fünf. Vielleicht hat er sich bei Ihnen im Haus versteckt. Die Türen standen ja den ganzen Nachmittag offen.« Ihre Stimme klang mühsam beherrscht.

»Meinen Sie, ich würde es nicht merken, wenn ein kleiner Junge sich bei mir herumtreibt? Seine Eltern sollten sich an die Polizei wenden.« Agnes trat einen Schritt ins Hausinnere zurück, als könnte sie so den Sturm, der in ihr heraufzog, von sich fernhalten.

Die junge Frau atmete hörbar durch. »Das haben sie bereits. Aber bis die Polizei hier ist, das dauert. Jakobs Eltern sind halb wahnsinnig vor Angst. Wenn alle mithelfen, finden wir ihn schneller.«

Was ist nur mit mir los? Sie hat ja recht, dachte Agnes erschrocken und trat zur Seite. »Kommen Sie rein.«

Die Suche dauerte keine fünf Minuten. Der Junge war natürlich nicht im Haus. Agnes zog die Joggingweste über und ging mit Melanie Berger hinaus. Der Garten war groß und ähnelte im hinteren Teil einem Wald, was er ursprünglich wohl auch gewesen war.

»Ich wollte Sie vorhin nicht anfauchen. Aber meine Nerven liegen etwas blank«, entschuldigte sich Melanie Berger. »Jakob ist in meiner Kindergartengruppe. Ich bin seine Erzieherin.«

»Dann sind wir ja quitt«, erwiderte Agnes verlegen. Es war einfach unmöglich, wie sie sich benommen hatte. »Ich weiß auch nicht, was vorhin mit mir los war.«

Sie durchsuchten den Garten, riefen nach Jakob, schoben Äste und Zweige auseinander, aber sie fanden den Jungen nicht. Während ihre Nachbarin sich den Schuppen vornahm, ging Agnes zur ehemaligen Remise hinüber, die die Vorbesitzerin, die Malerin und Bildhauerin Charlotte Niedermeyer, zu einem Atelier umgebaut hatte.

Die Luft roch muffig, der Raum war leer. Vom Firstbalken bis zur Verglasung in der Dachschräge hingen Spinnweben. Agnes setzte sich aufs Fensterbrett und starrte in den Garten, auf den Rest eines umgestürzten Baumes, der schon Jahrzehnte dort liegen musste. Die Rinde war verschwunden, das tote Holz hatte einen silbrigen Glanz angenommen. Vielleicht war dieser Junge auch tot. Agnes schrak hoch. Was dachte sie denn da?

Melanie Berger kam herein. »Und?«, fragte sie.

»Nichts.« Agnes beobachtete, wie Melanie Berger fröstelnd die Arme um die mageren Schultern schlang. Ein heißer Tee würde ihr guttun. »Bei mir steht eine fast volle Kanne Tee auf dem Tisch. Sollen wir eine Tasse trinken?«

Ihre Nachbarin nickte. »Ja, das wäre gut«, sagte sie und folgte Agnes ins Haus.

Agnes holte eine Tasse aus der Küche und ging zu Melanie Berger ins Wohnzimmer, die am Fenster stand und über den See blickte. Agnes schenkte ihr Tee ein und bot ihr Platz auf dem neuen roten Sofa an.

Melanie Berger setzte sich. »Ich heiße Melanie, aber alle nennen mich Melli.« Sie reichte Agnes die Hand.

Agnes zögerte einen Moment, aber dann ergriff sie die Hand. »Agnes. Agnes Gaudera.«

»Es tut mir leid, dass ich dich vorher so angefaucht habe«, entschuldigte Melanie sich nochmals. »Aber ich mache mir schreckliche Sorgen um Jakob. Ich hab einfach zu viel Phantasie.« Sie rührte im Tee, obwohl sie keinen Zucker genommen hatte. »Vielleicht ist er ja inzwischen wieder zu Hause.«

»Hoffentlich«, sagte Agnes und sah plötzlich Yvonne vor sich, wie sie mit prallgefülltem Rucksäckchen in die weite Welt ziehen wollte, wie das Hänschen aus dem Kinderlied. Unruhe breitete sich in Agnes aus. Sie musste endlich joggen. Bewegung war das einzige Mittel, zur Ruhe zu kommen, nichts denken zu müssen. Aber das ging jetzt nicht. Schließlich konnte sie Melanie, die sie eben erst zum Tee eingeladen hatte, nicht einfach vor die Tür setzen. Agnes rutschte tiefer in den Sessel und schlug die Beine übereinander. »Du hast gesagt, Jakobs Eltern haben die Polizei schon verständigt. Hoffentlich die Kripo. Oder organisiert der Dorfpolizist die Suche nach ihm?«

»Nein, natürlich nicht.« Melanie schüttelte den Kopf. »Die Münchner Kripo ist zuständig, hat Franz gesagt, und die werden ja hoffentlich einen Suchtrupp und Hunde mitbringen.« Sie trank einen Schluck Tee. »Wir haben heute Nachmittag den Möbelwagen gesehen und wollten eigentlich schon früher rüberkommen, um dich zu begrüßen. Der Franz und ich. Der Franz ist mein Verlobter«, sagte Melanie. Auf einmal leuchteten ihre blassen Augen und verliehen ihrem unproportionierten Gesicht unerwartete Schönheit. »In zwei Wochen ist Hochzeit«, fuhr sie fort, während sie auf das silbergerahmte Foto blickte, das auf dem Sekretär stand. Agnes begann zu frösteln, ihre Kopfhaut zog sich zusammen. Sie wollte nicht gefragt werden, sie wollte nicht darüber reden. »Entschuldige. Aber es ist wirklich höchste Zeit für meine Joggingrunde«, hörte sie sich sagen. »Komm doch morgen noch mal auf eine Tasse Tee vorbei.«

***

Die Sonne verschwand hinter den Dächern der Stadt. Graues Zwielicht senkte sich wie ein seidenes Tuch über den Marienplatz und den Dom Zu unserer lieben Frau, auf den Kriminalhauptkommissar Konstantin Dühnfort blickte. Es war kurz nach sechs und er wollte Feierabend machen. Seine Kollegin, Gina Angelucci, hatte sich bereits verabschiedet, und der neue Kollege, Alois Fünfanger, hatte sich nach dem Termin bei der KTU telefonisch abgemeldet. Dühnfort war noch unschlüssig, was er von ihm halten sollte. Fünfanger war zum ersten Mai von Regensburg nach München versetzt worden und gehörte seither dem Team an. Er war achtunddreißig Jahre alt und somit nicht nur drei Jahre jünger als Dühnfort, sondern offensichtlich auch wesentlich besser in Form. Jedenfalls zeichneten sich unter den dreiteiligen Anzügen, die er trug, wohlmodellierte Muskelpakete ab, was darauf schließen ließ, dass er regelmäßig Sport trieb. Als sie heute Nachmittag die Treppen hinauf in den dritten Stock gestiegen waren, hatte Fünfanger flott zwei Stufen auf einmal genommen, während Dühnfort, zunehmend atemloser, hinter ihm hergekeucht war. Wieder einmal hatte er beschlossen, mehr für seine Fitness zu tun. Aber Vorsätze alleine halfen nicht. Ihm fehlte einfach die Disziplin dafür.

Während er seinen Schreibtisch aufräumte, beschlich ihn das unangenehme Gefühl, etwas vergessen zu haben. Und er wusste auch schnell, was. Noch immer hatte er keine Idee, was er seinem Vater zum siebzigsten Geburtstag schenken sollte und ob er überhaupt zu dieser bombastischen Feier nach Hamburg fahren wollte, die sein Bruder Julius ausrichtete. Julius, der wohlgeratene Sohn. Er war derjenige, der den Erwartungen des Vaters entsprach.

Das Telefon klingelte. Dühnfort fuhr aus seinen Überlegungen hoch und griff nach dem Hörer. Er lauschte eine Weile. »Seit wann ist der Junge verschwunden?« Er warf einen Blick auf die Domuhr. Beinahe drei Stunden. Und es wurde bald dunkel.

»Wo ist das? Mariaseeon. Am Kirchsee.« Das Dorf an der Landkreisgrenze gehörte gerade noch zu ihrem Zuständigkeitsbereich. Er überlegte. Der Junge war erst fünf und seit fast drei Stunden abgängig, Eile war geboten. »Ich brauche eine Suchmannschaft und ein Dutzend Kollegen für eine Bürgerbefragung. Und die Taucher sollen sich sofort auf den Weg machen.« Hastig notierte er die Adresse der Familie Sonnberger in Mariaseeon. Über den Einsatz von Hubschraubern würde er vor Ort entscheiden. Während er in die Jacke schlüpfte, wählte er Ginas Nummer.

***

Um zehn vor sieben erreichte er die Autobahnausfahrt und fuhr auf der Landstraße weiter nach Mariaseeon. Graublaue Dämmerung lag über der Landschaft, betupfte den Wald mit tiefgrünen Schatten, malte die Alpengipfel brombeerlila vor safrangelbem Abendhimmel. Ein expressionistisches Gemälde, dachte er und schaltete in den fünften Gang.

Sein Beruf brachte Routine mit sich, wie alle Berufe. Aber er konnte sich nicht daran gewöhnen, dass Kinder verschwanden. Wenn das geschah, erfasste ihn eine Unruhe, die ihn vor sich hertrieb, deren Gejagter er wurde. Meistens tauchten die Kleinen innerhalb kurzer Zeit wieder auf, hatten sich verlaufen oder versteckt oder waren trotzig ausgebüxt, während ihre Eltern verrückt vor Sorge geworden waren. Dühnfort hoffte, dass es auch in diesem Fall so war und die Eltern ihren Sprössling bald wieder in die Arme schließen konnten. Aber mittlerweile war mehr Zeit vergangen als gewöhnlich.

Weshalb war das Verschwinden des Jungen so spät gemeldet worden? Ungewöhnlich bei einem kleinen Kind. Was für Eltern sind das wohl?, fragte er sich. Sind sie gleichgültig oder überfordert oder sind sie vielleicht selbst in die Sache verstrickt?

Nach kurzer Fahrt erreichte er das Dorf, das eingebettet zwischen dem großen Waldgebiet des Seeoner Forsts und dem Kirchsee auf einer Anhöhe lag. Der Zwiebeltürm der alten Klosterkirche ragte aus einer Ansammlung roter Ziegeldächer in die Dämmerung. Dühnfort fuhr die Dorfstraße entlang und bemerkte eine Unruhe, die wie Dünung zwischen den Gebäuden schwappte, nahm schemenhafte Bewegung wahr, hörte gedämpftes Rufen und Türschlagen. Er folgte den Anweisungen des Navigationssystems bis in die Ortsmitte. Dort zweigte, kurz hinter dem Dorfplatz, mit Maibaum und Brunnen, die Cudheri-von-Isen-Straße ab, in der die Familie Sonnberger wohnte. Dühnfort fuhr noch etwa hundert Meter, dann hielt er vor einem Bauernhof. Unter dem Scheunendach stand ein Traktor. In der Luft hing der Geruch nach Mist und aus dem Stall drang das Muhen der Kühe. Er ging auf das Wohnhaus zu. Die Tür wurde von einem Mann in Businessoutfit geöffnet, noch bevor Dühnfort geläutet hatte. Der akkurate Haarschnitt und das unverbindliche Lächeln erinnerten Dühnfort an seinen Nachbarn, einen Versicherungsvertreter. »Sind Sie von der Polizei?«

Dühnfort nickte. »Herr Sonnberger?«

»Gernot Mittermeyer. Ich bin ein Nachbar. Kommen Sie rein.« Dühnfort folgte ihm durch den Flur. »Herr Sonnberger ist nicht da. Er beteiligt sich an der Suche«, sagte Mittermeyer und öffnete die Tür zu einer Wohnküche. An einem runden Holztisch, auf dem eine Brotzeit und Gedecke für drei Personen standen, saßen zwei Frauen, von denen eine nun aufblickte. Sie hatte kastanienbraune Locken und ein Gesicht voller Sommersprossen. Die Blusenärmel waren hochgekrempelt, am rechten Handgelenk klebte ein mehliger Teigrest. Den linken Arm hatte sie um die Schultern der schlanken Frau gelegt, die neben ihr saß. Dunkle Haare betonten die Blässe ihres Gesichts, in dem Sorge und Anspannung sich über die Lachfältchen an Mund und Augen gelegt hatten. Sie starrte auf ihre ineinandergeschlungenen Hände wie auf ein Orakel, das sich jeden Augenblick offenbaren musste.

»Gabi, die Polizei«, sagte Mittermeyer. Der Kopf schnellte hoch. Ein Blick aus intensivblauen Augen traf Dühnfort. Darin lag sowohl Angst als auch Hoffnung. Hoffnung, die er nun erfüllen musste. Unter dem Tisch kroch ein etwa fünfjähriger Junge hervor. In der Hand hielt er ein Spielzeugauto.

Dühnfort stellte sich vor. »Frau Sonnberger«, sagte er und reichte ihr die Hand. »Wir werden Ihren Jungen finden. Eine Suchaktion läuft schon?«

»Die Nachbarn suchen alle«, sagte sie. Die Sehnen an ihrem Hals zeichneten sich wie steile Grate ab. »Es ist wie eine Lawine.« Dühnfort setzte sich und überlegte, ob sie ihre Angst oder die Suchaktion meinte. Vermutlich beides. Der Junge beobachtete ihn.

»Das ist Dennis, unser Sohn«, sagte Mittermeyer, »und meine Frau Irene.« Er wies auf die Frau, die neben Gabi Sonnberger saß und nun Dühnfort zunickte. »Ich bringe Dennis jetzt besser nach Hause.« Mittermeyer nahm seinen Sohn an die Hand und verabschiedete sich.

»Ihre Nachbarn und Ihr Mann suchen also schon nach Jakob«, sagte Dühnfort.

Gabi Sonnberger nickte. »Ich habe natürlich zuerst überall im Dorf herumtelefoniert, als Jakob nicht zum Essen gekommen ist.« Kraftlos ließ sie die Hände auf die Tischplatte fallen.

»Danach ist das wie ein Lauffeuer im Dorf rum. Und nun suchen alle«, sagte Irene Mittermeyer. »Aber bis jetzt gibt es keine Spur von Jakob. Als hätte er sich in Luft aufgelöst.« Sie zog die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen.

»Kann ich ein Foto von Jakob haben und eine Beschreibung der Kleidung?«, fragte Dühnfort.

Gabi Sonnberger nickte. Sie schob den Stuhl zurück, stand auf und holte aus dem Küchenbuffet eines der buntbedruckten Kuverts, in denen Fotolabore Abzüge verschicken, wählte eines aus und legte es vor Dühnfort auf den Tisch.

Das ist also Jakob, dachte er. Der Junge hielt zähnefletschend einen Plastikdinosaurier hoch. Die ersten Milchzähne waren ausgefallen, eine große Lücke klaffte in der oberen Zahnreihe. Dühnfort wusste, wie stolz Kinder darauf waren. Jakobs Augen waren blau, wie die seiner Mutter.

Dühnfort notierte, was Jakob trug: Jeans, Turnschuhe mit Klettverschluss und ein rotes Sweatshirt. »Könnte es sein, dass Jakob zum See …«

»Nein. Bestimmt nicht.« Gabi Sonnberger versuchte, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben, aber Dühnfort hörte die Angst heraus. »Er kann noch nicht schwimmen. Wir haben ihm verboten, alleine ans Wasser zu gehen. Und er hält sich doch an unsere Verbote.« Es klang wie eine Frage.

Zwei Autos fuhren nacheinander auf den Hof. Die Motoren verstummten, Türen schlugen. Es klingelte. Irene Mittermeyer stand auf und kam in Begleitung von Gina Angelucci und Alois Fünfanger zurück. Gina steckte in einer ihrer obligatorischen Cargohosen, die sie in allen Farben hatte. Heute Abend trug sie eine flaschengrüne. Sie grüßte und setzte sich an den Tisch. Alois Fünfangers Anzug wirkte wie frisch gebügelt, obwohl er ihn schon den ganzen Tag trug. Wie schafft er das?, fragte Dühnfort sich und blickte auf seine zerknautschte Chino und das zerknitterte Hemd.

»Jakob wurde um halb vier zuletzt gesehen«, sagte er, nachdem er seine Kollegen vorgestellt hatte.

Gabi Sonnberger nickte. »Er war bei Dennis.«

»Sie haben aber erst kurz nach sechs Uhr sein Verschwinden gemeldet. Weshalb so spät?«

»Ich dachte doch, er sei bei Dennis.« Gabi Sonnberger presste die Hand vor den Mund.

»Jakob sollte bis halb sechs bei uns bleiben. Ich habe ihn aber um halb vier heimgehen lassen«, sagte Irene Mittermeyer. »Die Jungs haben sich gestritten und Jakob wollte dann nach Hause.«

»War das ein schwerwiegender Streit, der Jakob veranlasst haben könnte, wegzulaufen oder sich zu verstecken?«

Dennis’ Mutter schüttelte den Kopf. »Sie wissen ja, wie Kinder sind. Sie haben sich gegenseitig als doof beschimpft und dass sie keine Freunde mehr sein wollen. Aber das kommt häufiger vor und dann versöhnen sie sich wieder.«

»Sie haben Jakob nicht begleitet?«

»Der Weg ist nicht weit. Er ist ihn schon oft alleine gegangen.«

»Jakob darf diese Strecke alleine gehen«, sagte Gabi Sonnberger. »Seit er in die Vorschulgruppe geht«, fügte sie hinzu.

So einfach war das also zu erklären. Nicht Gleichgültigkeit oder Vernachlässigung hatten dazu geführt, dass über zwei Stunden niemand bemerkt hatte, dass der Junge abgängig war, sondern mangelnde Kommunikation.

Alois räusperte sich.

Dühnfort blickte auf. »Ja?«

»Sonnenuntergang ist erst gegen halb neun. Wir könnten die Hubschrauber noch bei Tageslicht einsetzen. Ich hab mal zwei angefordert, die stehen in Startposition und warten auf unser Go.«

Dieser Vorstoß überraschte Dühnfort. Noch leitete er dieses Team, besser, Alois hätte das mit ihm abgesprochen. Er bemerkte, wie Gina auf einem Fingernagel kaute und Alois mit hochgezogenen Augenbrauen musterte. Aber im Moment zählte, dass sie den Jungen schnell fanden. »Gut. Sie sollen sofort starten. Du übernimmst die Koordination.«

Gina bat er, sich um die Bürgerbefragung zu kümmern, während er selbst die Suchmannschaften einweisen wollte. »Sie haben Wärmebildkameras und Nachtsichtgeräte an Bord«, sagte Dühnfort zu Gabi Sonnberger, als Alois die Küche verließ. »Wir können Ihren Jungen auch in der Dunkelheit finden.«

»Einmal haben wir so einen Dreikäsehoch im Kaufhaus entdeckt, schlafend unter einem Kleiderständer, während zweihundert Polizisten die Fußgängerzone nach ihm abgesucht haben«, sagte Gina.

Gabi Sonnberger blickte auf, aber das Lächeln, das sie versuchte, gelang ihr nicht.

Sollte er noch auf Jakobs Vater warten?, fragte sich Dühnfort. Aber zuerst musste die Suche nach dem Jungen organisiert werden. »Das, was Sie befürchten, ist ziemlich sicher nicht geschehen«, sagte er und hoffte, dass er sich nicht täuschte.

FREITAG, 9. MAI

Es war kurz vor sieben Uhr morgens, als Dühnfort wieder in Mariaseeon eintraf. Die Luft war noch kühl, ein strahlend blauer Himmel versprach Frühlingstemperaturen. Er parkte vor der Bäckerei und kaufte sich ein Croissant und einen Becher Kaffee. Beides nahm er mit zum Auto. Das Wagendach diente ihm als Stehtisch. Er gähnte.

Kurz vor zwei Uhr hatte er widerwillig die Suche nach Jakob abbrechen lassen. Die Nacht war kalt gewesen, die Bäume des Seeoner Forsts erst spärlich belaubt. Ideale Bedingungen für den Einsatz der Wärmebildkameras, dennoch hatte die Hubschrauberbesatzung nur ein Liebespaar in seinem Auto aufgescheucht. Erschöpft war Dühnfort ins Bett gefallen. Die Bilder des Abends und der Nacht waren durch den Halbschlaf gegeistert, in den er gefallen war. Die Kegel der Suchscheinwerfer über dem Wald, die Taucher, die sich vom Rettungsboot in den dunklen See gleiten ließen, Gabi Sonnbergers angstvoller Blick. Die Unruhe hatte sich in seine Träume geschlichen, ihn schließlich aus dem Bett und zurück nach Mariaseeon getrieben.

Solange es keinen Hinweis über den Verbleib von Jakob gab, konnte er weniger tun, als ihm lieb war. Aber Dühnfort hatte Verstärkung angefordert. Der Seeoner Forst war zu groß, um ihn mit einem Hundertmannsuchtrupp kurzfristig durchkämmen zu können. Die Befragung von Jakobs Verwandten würde Alois übernehmen, außerdem sollte er ein Lagezentrum organisieren.

Dühnfort spülte den letzten Bissen Croissant mit Kaffee hinunter. War Jakob vielleicht nur ausgebüxt? Aber er konnte keinen Grund dafür erkennen. Der Streit mit seinem Freund war angeblich nicht heftig gewesen. Ich sollte mit Dennis sprechen, überlegte Dühnfort. Und dann gab es noch die Möglichkeit, dass die beiden ein Geheimversteck hatten, in dem sich Jakob wohlbehalten befand. Aber Dühnfort glaubte das nicht. Die Mariaseeoner hatten gestern bis tief in die Nacht ihre Häuser, Gärten, Ställe und Scheunen durchsucht und nicht die geringste Spur von dem Jungen gefunden. Vielleicht hatte ja einer nichts finden wollen. Mit diesem Gedanken war Dühnfort nun an dem Punkt angelangt, den er am meisten fürchtete: Jemand hatte Jakob entführt. Alles Spekulation, was wir brauchen, sind Fakten, dachte er und warf den leeren Pappbecher in den Papierkorb.

Vor ihm lag der langgezogene Dorfplatz, über den Jakob gegangen sein musste. Die beiden Fahrspuren der Dorfstraße teilten sich zu Beginn des Platzes, wurden in der jeweiligen Fahrtrichtung zu Einbahnstraßen und umschlossen eine gepflegte Grünfläche. Am Ende des Platzes führten die Fahrbahnen wieder zusammen. Außer der Bäckerei, vor der Dühnfort stand, gab es eine Reihe von weiteren Läden: eine Apotheke, einen Buchladen und ein Schreibwarengeschäft. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes befanden sich der Gasthof zur Post, das Rathaus und die Kirche. Ein Stück weiter südlich zweigte der Klosterweg ab. Dort wohnte die Familie Mittermeyer. Irene Mittermeyer war nach dem jetzigen Stand der Ermittlungen die letzte Person, die Jakob gesehen hatte. Dühnfort warf einen Blick auf die Uhr. Fünf nach sieben. Vielleicht war das zu früh, aber es war ihm egal.

Er ging über den Platz und klingelte an der Haustür. Dennis’ Mutter hatte Ringe unter den Augen, und die graue Gesichtsfarbe ließ vermuten, dass sie wenig Schlaf gefunden hatte. Sie trug einen hellblauen Hausanzug aus Nickistoff.

»Guten Morgen, Frau Mittermeyer«, sagte er.

»Ach, Herr Dühnfort, ob der gut wird … Oder haben Sie Jakob gefunden?« Für einen Augenblick huschte ein warmes Leuchten über ihr Gesicht, das sich aber sofort in ein zweifelndes Lächeln verwandelte, als ihr anscheinend bewusst wurde, dass ein Auffinden Jakobs auch eine schlechte Nachricht sein könnte.

»Bisher nicht. Darf ich kurz reinkommen?«

Sie trat zur Seite und er folgte ihr in die Küche. Es roch nach Kaffee und Toast. Auf der Kiefernholzeckbank saßen Gernot Mittermeyer und Dennis beim Frühstück. Dennis war noch im Schlafanzug. Er kniete auf der Bank, tief über ein Schälchen gebeugt, das mit pastellbunten Getreideringen und Milch gefüllt war. Beides schlürfte er laut von einem Löffel, der für seinen kleinen Mund eigentlich zu groß war.

»Dennis, benimm dich.« Gernot Mittermeyer faltete die Zeitung zusammen, warf seinem Sohn einen tadelnden Blick zu und stand auf. »Brauchen Sie mich?«, fragte er. »Ich muss eigentlich ins Büro.«

»Sie waren gestern Nachmittag nicht zu Hause?«, fragte Dühnfort.

»Ich bin erst gegen sieben Uhr heimgekommen. Da war schon das halbe Dorf in Aufruhr.« Mittermeyer griff nach der Aktentasche, die auf einem Stuhl lag. Dann wandte er sich seiner Frau zu. »Bis heute Abend, Schatz, und mach dich nicht verrückt. Jakob hat sich wahrscheinlich im Wald verlaufen. Die Polizei wird ihn schon finden.« Dabei warf er Dühnfort einen Blick zu, der wohl sagen sollte: Enttäuschen Sie mich nicht. Dann strich er Dennis über den Kopf. »Servus, Kamerad.«

»Tschüs, Papi«, sagte Dennis, als sein Vater die Küche verließ.

Was für eine nette Familie, dachte Dühnfort, während ihm ein stumpfer Schmerz die Kehle hinabrollte und im Magen liegen blieb. Irene Mittermeyer bot ihm Platz an. Er setzte sich neben Dennis, der ihn aufmerksam musterte.

»Frau Mittermeyer, ich wüsste gerne, wie der gestrige Nachmittag abgelaufen ist.«

Sie setzte sich an den Tisch. »Ja, natürlich.« Sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Ich mache mir solche Vorwürfe, dass ich Jakob nicht begleitet habe.«

»Sie begleiten ihn doch sonst auch nicht.«

»Nicht mehr. Schließlich kommen Jakob und Dennis im Herbst in die Schule, da müssen sie dann auch alleine gehen.«

»Wir sind ja keine Babys«, mischte Dennis sich ein.

Irene Mittermeyer sah auf die Uhr. »Und große Jungs können sich auch alleine anziehen und die Zähne putzen. Also Abmarsch: Tagfein machen!«

»Warum hast du keine Uniform, bist du gar kein richtiger Polizist?«, wollte Dennis wissen.

»Da würden die Bösen mich doch sofort erkennen«, sagte Dühnfort.

»Klar!« Dennis schlug sich mit der Hand auf die Stirn und grinste Dühnfort an. »Und dann würden die ja sofort abhauen. Hast du auch eine Pistole?«

Dühnfort nickte.

»Darf ich die mal sehen?«

»Dennis, es reicht. Geh bitte nach oben«, sagte Irene Mittermeyer. Dennis zog einen Flunsch, stand dann aber widerspruchslos auf, flitzte zur Küche raus und polterte die Treppe hoch.

»Einen netten Jungen haben Sie«, sagte Dühnfort.

Irene Mittermeyer lächelte. »Er ist süß, wahnsinnig anstrengend, und um nichts in der Welt würde ich ihn hergeben. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was Gabi und Beppo jetzt durchmachen. Da wird’s mir ganz schlecht. Wenn ich Jakob doch nur nach Hause gebracht hätte.«

»Aber dafür gab es keinen Grund. Oder doch? War irgendetwas anders als sonst?«

Sie schüttelte den Kopf. »Alles war wie immer.«

Sie erzählte, dass Jakob um halb drei gekommen war, die Jungs hatten ein Video angesehen und später im Garten gespielt.

Den wollte Dühnfort sich ansehen und folgte Dennis’ Mutter durch das Wohnzimmer hinaus. Ein Maschendrahtzaun markierte die Grundstücksgrenze zwischen den beiden Doppelhaushälften. Im Süden stand eine dichte Hainbuchenhecke, die eine Lücke hatte. Dort befand sich ein Gartentürchen. Dühnfort öffnete es und trat auf einen schmalen Fußweg. Im Osten mündete der Weg nach wenigen Metern in die Dorfstraße, die Dühnfort kurz zuvor entlanggegangen war. In der anderen Richtung entzog sich das Ende des Pfades nach etwa fünfzig Metern seinem Blick. Er machte eine Kurve.

»Wohin führt der Weg?«, fragte Dühnfort.

»Zum Sonnberger-Hof. Er endet hinten, am Obstgarten.«

»Dann ist Jakob hier entlanggegangen?«

»Nein, er ist vorne rum über die Straße gelaufen. Gabi und mir ist dieser Weg unheimlich. Das ist kein Durchgangsweg. Da gehen höchstens mal Besoffene rein, um zu pinkeln.«

»Jakob und Dennis haben also hier gespielt.« Dühnfort ging zurück in den Garten und betrachtete den großen Sandkasten, in dem ein blauer Plastikbagger lag. Dahinter stand ein Schaukelgestell mit Klettergerüst.

»Zuerst haben sie geschaukelt.« Irene Mittermeyer erzählte weiter, dass sie eine Viertelstunde später nach den Jungs gesehen hatte. In der Zwischenzeit hatten sie sich bis auf die Unterhosen ausgezogen und standen raufend im Sand. »Wir sind Sumoringer, haben sie gesagt, diese Spargel.« Frau Mittermeyer lächelte. »Ich habe gedacht, sie spielen. Aber sie haben richtig gekämpft. Jakob hatte verloren, aber er hat das bestritten«, sagte Dennis’ Mutter. »Daraufhin hat Dennis versucht, seinen Sieg mit Fäusten durchzusetzen. Die beiden waren ganz ausgekühlt, deshalb mussten sie ins Haus gehen. Ich dachte, nun wäre Ruhe, aber sie haben sich weiter gezankt. Ich habe Jakob dann erlaubt heimzugehen, damit die beiden sich beruhigten.«

»Er ist also vorne raus.« Dühnfort ging zurück ins Haus, durch den Flur und öffnete die Haustür.

»Er hat seine Schuhe angezogen und hat sich von mir verabschiedet. Dann ist er davongestapft. Ich hab ihm noch nachgesehen«, sagte Irene Mittermeyer und deutete Richtung Dorfplatz.

Dennis kam angelaufen. Er trug Jeans und Sweatshirt. »Darf ich jetzt deine Pistole sehen?«

»Nein«, sagte seine Mutter.

»Manno.« Dennis stampfte mit dem Fuß auf. »Du bist echt gemein!«

Dühnfort ging vor dem Jungen in die Hocke. »Du hast also mit Jakob Streit gehabt?«

»Immer soll ich schuld sein. Jakob hat sich mit mir gestritten. Und außerdem ist er doof. Er kennt ja nicht mal die Spielregeln. Er hat gesagt, dass ich nicht mehr sein Freund bin. Ich will auch gar nicht mehr sein Freund sein.« Dennis schob die Unterlippe vor. Tränen glänzten in den Augenwinkeln. »Aber du findest ihn doch.«

»Ich denke schon«, antwortete Dühnfort. »Vielleicht kannst du mir helfen. Habt ihr denn ein Geheimversteck?«

»Das darf ich doch nicht verraten«, sagte Dennis. »Sonst ist es nicht geheim.«

»Auf dem Heuboden, bei den Sonnbergers«, sagte Irene Mittermeyer. »Tut mir leid.« Das galt Dennis.

»Manno.«

»Dort haben wir natürlich nachgesehen«, fügte Irene Mittermeyer hinzu.

»Und sonst habt ihr kein Versteck?«

Dennis schüttelte mit vorgeschobener Unterlippe den Kopf.

»Der Heuboden ist bestimmt ganz schön hoch oben.«

»Siebenundachtzighundert Meter«, sagte Dennis.

»Ganz schön mutig von euch, da hinaufzuklettern.«

»Wir sind doch nicht feig.«

»Ganz bestimmt nicht«, sagte Dühnfort. »Macht ihr auch manchmal Mutproben?«

Dennis runzelte die Stirn.

»Na ja, ob sich einer von euch traut, eine Spinne zu essen oder alleine in den dunklen Keller zu gehen oder in den Wald?«

Dennis schüttelte den Kopf. »Nur wer am höchsten klettern kann«, sagte er nach einer Weile und warf dann einen raschen Blick auf seine Mutter. »Auf dem Klettergerüst im Garten natürlich.«

***

Dühnfort ging die Dorfstraße entlang bis zum Dorfplatz und folgte so dem Weg, den Jakob genommen hatte. Bis auf die Bäckerei waren so früh am Morgen noch alle Läden geschlossen. Aber gestern Nachmittag war das anders gewesen. Trotzdem hatte niemand den Jungen gesehen.

Am Ende des Platzes, knapp vor der Stelle, wo die beiden Fahrspuren der Dorfstraße wieder ineinandermündeten, zweigte die Cudheri-von-Isen-Straße ab. Dühnfort ging sie entlang. Bauernhöfe befanden sich zu beiden Seiten. Unter weit vorragenden Scheunendächern standen Traktoren, Odelwagen und anderes landwirtschaftliches Gerät.

Dühnfort hatte auf diesem kurzen Weg keine Stelle entdeckt, die es seiner Meinung nach ermöglichte, an einem Wochentag, an dem Menschen unterwegs waren, ein Kind unbemerkt verschwinden zu lassen. Er klingelte am geschlossenen Tor. Gabi Sonnberger öffnete die Haustür, kam über den Hof und sperrte auf.

Das strahlende Blau ihrer Augen, das Dühnfort gestern so fasziniert hatte, war verschwunden. Ihr Blick war stumpf und die Augen von tiefen Schatten umgeben. Aus ihrem achtlos zusammengefassten Pferdeschwanz hingen einzelne Strähnen. Sie blickte hinter ihn, als hätte sie erwartet, dass er Jakob brachte. Dann sah sie ihm in die Augen.

»Es tut mir leid«, sagte Dühnfort.

»Kommen Sie rein.«

Er folgte ihr in die Küche. Das Telefon klingelte. Sie hob ab und meldete sich. Wenige Sekunden später legte sie wortlos auf. »Diese Pressemeute. Seit gestern Abend geht das so«, sagte sie. »Aber wir reden mit denen nicht. Das haben Beppo und ich so beschlossen. Setzen Sie sich doch.« Der Frühstückstisch war für drei gedeckt, aber unberührt.

»Ist Ihr Mann jetzt da?«, fragte Dühnfort.

»Er ist im Stall, kommt aber gleich.« Sie setzte sich ihm gegenüber.

»Frau Sonnberger, ich muss Sie das jetzt fragen, das ist Routine …«

»Sie wollen ein Alibi von mir«, sagte sie.

Er nickte.

»Dienstag und Donnerstag haben wir von drei bis fünf den Hofladen geöffnet. Mein Mann hat mir gestern beim Verkauf geholfen, es war ziemlich viel los.«

»Der Laden ist mir gar nicht aufgefallen«, sagte Dühnfort.

»Laden ist vielleicht etwas übertrieben. Es ist nur ein Raum, neben dem Kuhstall.«

»Sicher gibt es Kunden, die Ihre Anwesenheit bestätigen können.«

Sie nickte und nannte ihm eine Reihe von Namen. Dühnfort notierte sie.

»Ach, bevor ich es vergesse: Ich habe eine Liste gemacht.« Sie stand auf und verließ den Raum.

Was für eine Liste?, fragte Dühnfort sich und sah sich um. Über der Anrichte hing eine Kinderzeichnung. Ein Nest voller bunter Ostereier. Sicher hatte Jakob das gemalt. Gabi Sonnberger kehrte mit einem Schnellhefter zurück.

»Hier.« Sie setzte sich wieder, zog Blätter aus der Mappe und legte sie auf den Tisch. Es waren Abbildungen der Kleidungsstücke, die Jakob trug. Sie hatte sie aus den Katalogen der Versandhäuser ausgeschnitten, bei denen sie die Sachen bestellt hatte. Turnschuhe, ein rotes Pokemon-Sweatshirt, ein T-Shirt mit einem Aufdruck der Comicfigur Bob der Baumeister. Außerdem trug Jakob eine Jeans von C & A, von der es kein Bild gab.

Sie reichte ihm die Unterlagen. »Und dann hat er noch den Lulli dabei, seinen Kuschelbären. Den nimmt er immer mit. Er ist nicht groß, vielleicht zwanzig Zentimeter und ganz schön zerliebt. Ein Auge fehlt.«

»Sie haben sich viel Mühe gemacht. Das hilft uns bestimmt weiter«, sagte Dühnfort.

»So konnte ich wenigstens etwas tun. Es macht mich ganz wahnsinnig, nichts unternehmen zu können. Ich bin halt so.« Sie zog die Schultern hoch. »Aber das schicksalsergebene Abwarten war noch nie meine Stärke.«

Dem ersten lähmenden Schock war nun also Tatendrang gefolgt. »Jakob ist wirklich noch nie von zu Hause weggelaufen, im Zorn oder nach einem Streit?«, fragte Dühnfort.

Sie schüttelte den Kopf. »Jakob hält sich an unsere Verbote. Er weiß, dass er nicht alleine zum See, nicht zum Kletterbaum und auf keinen Fall in den Wald gehen darf. Er würde auch nie mit jemandem mitgehen, den er nicht kennt. Niemals. Er ist eher ängstlich.«

»Weil du ihm alles verbietest«, ertönte eine Stimme vom Flur. Ein breitschultriger, blonder Mann trat in die Küche. Er trug Gummistiefel, blaue Arbeitshosen und ein weißes T-Shirt. Er reichte Dühnfort die Hand. »Sonnberger. Sie suchen also unseren Jungen.« Jakobs Vater musterte ihn eingehend.

»Er ist erst fünf«, sagte Gabi Sonnberger.

Beppo Sonnbergers Blick wanderte zu seiner Frau. »Als ich fünf war, bin ich auch allein rumgestromert und keiner hat sich drum geschert.«

»Das war vor fast dreißig Jahren. Die Zeiten haben sich geändert«, erwiderte sie. »Das siehst du ja …« Sie griff nach einer Semmel und begann, sie in kleine Stückchen zu zerpflücken. Sonnberger setzte sich neben seine Frau und legte ihr den Arm um die Schultern. »Mit Jakob ist alles in Ordnung, das fühl ich, Gabi. Das muss man doch fühlen, ob’s dem eigenen Kind gutgeht, oder nicht?« Er sah Dühnfort an, als erwarte er darauf eine Antwort.

Dühnfort wusste es nicht und fragte sich, ob er es jemals wissen würde. »Ich muss mich auf Fakten verlassen«, sagte er schließlich. »Wir befragen die Leute im Dorf. Jemand wird etwas beobachtet haben. Dann sehen wir weiter.« Er sah, wie Gabi Sonnbergers Kieferknochen arbeiteten, wie sie schluckte. »Ich habe Ihnen noch gar nicht gesagt, dass ich reich bin.« Sie blickte auf und sah ihm in die Augen. »Ich habe einige Millionen.«

»Bitte?« Durch Dühnforts Adern schoss Adrenalin. Plötzlich war er hellwach. »Warum erzählen Sie mir das erst jetzt?«

»Ich bin erst heute Nacht auf die Idee gekommen, dass es vielleicht um das Geld geht.«

»Das Geld hat meine Frau mit in die Ehe gebracht. Sie hat es von ihrem Bruder«, erklärte Beppo Sonnberger. »Aber wir rühren es nicht an, weil’s nicht ehrlich verdient ist.«

Nicht ehrlich verdient. Was wollte Sonnberger damit sagen?, fragte Dühnfort sich.

»Ich erkläre es Ihnen.« Sonnberger lehnte sich zurück und berichtete, wie damals, als der Bauboom München und das Umland erfasst hatte, aus Dörfern Trabantenstädte wurden und aus Bauern Millionäre und wie damals auch die Bauern von Mariaseeon an dieser Entwicklung teilhaben wollten und ihre Äcker verkauften. Allerdings war Mariaseeon ein Bauerndorf geblieben. »Die Mariaseeoner Bauern sind schlau. Die Millionen haben sie eingesackt, aber nicht den Preis dafür gezahlt. Sie wollten ihr Dorf behalten, wie es war, und vor allem wollten sie keine Fremden hier.«

»Wie haben sie das geschafft?«, fragte Dühnfort.

»Sie haben getrickst«, sagte Sonnberger. »Im Grunde ist das ganz einfach gegangen. Die Planungshoheit für Baugebiete liegt bei den Gemeinden. Bei uns sind die Bauern die Gemeinderäte, und deshalb hatten sie es selbst in der Hand, an die Geldtöpfe zu gelangen.« Sonnberger berichtete, wie sie damals ein Areal für eine Trabantenstadt auswählten, einen aus Steuermitteln finanzierten Architekturwettbewerb veranstalteten und die prämierten Modelle in der Mehrzweckhalle präsentierten. Dazu wurden die großen Bauträger eingeladen, die, den gewohnten Profit witternd, die Äcker kauften. Aber bis heute gab es keinen rechtsgültigen Bebauungsplan. Sonnberger beugte sich vor. »Die Gemeinde plant ständig neu oder um, aber richtig fertig ist die Planung bis heute nicht, und wenn Sie mich fragen, wird sie auch nie fertig werden.«

»Ihr Schwager hat dabei mitgemacht?«, fragte Dühnfort.

»Nein«, sagte Gabi Sonnberger. Ihre Familie hatte noch nie in der Kommunalpolitik mitgemischt. Aber die Felder der Münchs lagen inmitten des Planungsgebiets und waren so mit einbezogen worden. Gabi Sonnbergers Vater war kurz zuvor gestorben und ihr Bruder Anselm hatte den Hof widerwillig übernommen. Eigentlich wollte er studieren. Der Geldsegen kam ihm daher gelegen. Obwohl er als Hoferbe nicht dazu verpflichtet gewesen wäre, hatte er seiner Mutter und seiner Schwester je ein Drittel des Verkaufserlöses abgegeben.

»Sie müssen damals noch ein Kind gewesen sein«, sagte Dühnfort.

»Ich war zehn Jahre alt. Meine Mutter hat das Geld für mich angelegt. Täglich wird es mehr. Ich weiß gar nicht, wie viel es inzwischen ist. Manchmal denke ich das ganze Jahr nicht daran, bis zur Steuererklärung.«

»Wie haben Sie dann den Hof hier finanziert?«, fragte Dühnfort.

»Der Hof ist seit Generationen in Familienbesitz«, sagte Beppo Sonnberger. »Ich habe ihn von meinem Vater übernommen. Der hat ihn mit ehrlicher Arbeit erhalten, genau wie sein Vater und dessen Vater. Und ich mach’s genauso. Wir haben auf Bioerzeugung umgestellt. Das rechnet sich mittlerweile. Wir brauchen das erschwindelte Geld nicht. Es bleibt auf der Bank, bis Jakob erwachsen ist. Dann soll er entscheiden, was er damit anfangen will. So haben wir es ausgemacht, die Gabi und ich. Und dabei bleibt’s.«

»Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen können«, sagte Gabi Sonnberger, »aber für mich ist dieses Geld so unwirklich. Wir haben es aus unserem Leben ausgeklammert, und deshalb ist mir auch erst letzte Nacht die Idee gekommen, dass irgendein Scheißkerl sich Jakob geschnappt hat, um an das Geld zu kommen. Von mir aus kann er alles haben. Ich will nur meinen Jungen zurück.« Sie legte eine Hand vor den Mund.

»Aber es hat bisher keine Forderung gegeben?«, fragte Dühnfort.

Gabi Sonnberger schüttelte den Kopf.

Schälte sich da langsam ein Motiv heraus? Mehrere Millionen, die eigentlich ergaunert worden waren. Wollte jemand Rache nehmen oder eine Entschädigung für den entgangenen Gewinn aus der geplatzten Immobilienspekulation, oder wollte einer der Investoren auf diese Weise sein Geld zurückholen? Sicher hatten nicht alle Bauern von dieser Gaunerei profitiert. Vielleicht wollte ein ausgeschlossener nun auch ein Stück vom Kuchen. Möglich war aber auch, dass ein Kidnapper zu schnellem Reichtum kommen wollte. Dühnfort zog das Handy aus der Tasche und bat Alois, eine Telefonüberwachung zu organisieren.

»Und was tun Sie, wenn jemand Geld will?«, fragte Gabi Sonnberger und hielt mit der linken ihre rechte Hand umklammert.

»Machen Sie sich nicht unnötig Sorgen. Wir haben Erfahrung. Wir werden das Richtige tun.« Dühnfort sah zunächst Gabi und dann Beppo Sonnberger an. »Wir verfügen über die nötige Technik, ein perfekt abgestimmtes Team und geschulte Psychologen. Wir werden nichts tun, was das Leben Ihres Kindes gefährdet. Wichtig ist, dass Sie mit uns kooperieren und keinen Alleingang unternehmen. Die gehen in der Regel schief und motivieren Nachahmungstaten.«

***

Agnes raste auf dem Mountainbike den Feldweg hinunter Richtung Mariaseeon. Vorbei an einem Suchtrupp der Polizei. Sie versuchte, nicht an Jakob zu denken, sich nicht vorzustellen, was seine Eltern jetzt durchmachten. Den Luxus, sich mit Sorgen anderer Leute zu belasten, konnte sie sich nicht leisten. Ich bin kalt und hartherzig geworden, dachte sie erschrocken. Aber ihre Kraft reichte gerade mal von einem Tag zum anderen. Sie musste das alles hinter sich lassen. Sie erinnerte sich an ihren Entschluss, der wie ein Schwur war, die Vergangenheit endgültig ruhen zu lassen. Kein Blick mehr auf die Bilder jener Nacht. Sie waren wie welke Blätter, die auf der brackigen Oberfläche eines Tümpels geschwommen waren und nun endlich zu Boden sanken und sich langsam in den Sedimenten aus Dunkelheit und Vergessen ablagerten. Dort sollten sie bleiben.

Der Tacho zeigte knapp vierzig Stundenkilometer an, der Pulsmesser blinkte bei hundertneunzig und signalisierte so, dass das Limit weit überschritten war. Mit der Zunge befeuchtete sie die rissig gewordenen Lippen. Die Radelflasche war leer. Ihr Magen knurrte wie ein wildes Tier. Nach sechzig Kilometern hatte sie sich ein Frühstück verdient. So wie sie es sich jeden Morgen verdiente, bis sie zur Ruhe kam, bis die geheime Macht den Schalter umlegte, bis Endorphine ihr Gehirn überschwemmten und ihr vorgaukelten, dass alles in bester Ordnung sei.

Agnes drosselte das Tempo und bog auf die Dorfstraße ein. Sie entschloss sich, bei der Bäckerei zu halten und für ein üppiges Frühstück einzukaufen. Auf dem Platz neben der Kirche wimmelte es von Polizisten. Einige führten Schäferhunde an der Leine. Mannschaftswagen parkten am Straßenrand. Auf der Bank neben dem Brunnen entdeckte Agnes eine Gruppe Reporter mit Kameras und in Kriegsberichterstatter-Outfit. Einer trug tatsächlich eine neongelbe Weste mit der Aufschrift Press, wie Agnes sie von Kriegsreportagen im Fernsehen kannte.

Nichts anderes ist das hier, dachte sie erbittert. Krieg. Diesen Aasgeiern ging es doch nur darum, am schnellsten die geilsten Bilder zu ergattern, die sensationellere Information zu erbeuten. Rücksichtslos würden sie sich auf alles stürzen, dem sie auch nur einen Funken von Bedeutung einhauchen konnten, was sich ausschlachten und breittreten ließ. Bis sich Sensationelleres bieten würde. Am besten Jakobs Leiche, verzweifelte Eltern, Todesstrafe fordernde Nachbarn. Das brachte Auflage, das brachte Quote. Ein kalter Druck legte sich auf ihre Brust, nahm ihr beinahe den Atem. Ein Stück Vergangenheit katapultierte in die Gegenwart: Frau Gaudera. Nur eine Frage. Werden Sie den Hausbesitzer verklagen? Jemand hielt ihr ein Mikrofon hin, als sie das Institut für Rechtsmedizin verließ. Sie wollte diese Erinnerung verscheuchen. Doch das Bild war schon an die Oberfläche des Tümpels gewirbelt. Wieder sah sie diese eine blonde Haarsträhne, die seltsam unversehrt geblieben war. Wieder sah sie das letzte Bild ihrer Tochter, das sich in ihr Gedächtnis geätzt hatte. Tränen schossen ihr in die Augen. Ein Mann trat auf die Straße. Erschrocken riss Agnes den Lenker herum, verlor das Gleichgewicht und stürzte, schlitterte über rauen Asphalt. Ihr Rad rutschte weiter. Der Tacho sprang scheppernd aus seiner Halterung. Hinter ihr quietschten Reifen, ein blauer Golf kam knapp vor ihr zum Stehen. Agnes brach in Tränen aus. Der Autofahrer, ein junger Bursche mit zartem Flaum auf den Wangen und einigen Pickeln im Gesicht, stieg aus, reichte ihr die Hand und half ihr auf die Beine. »Alles okay?«, fragte er besorgt. Der Fußgänger eilte auf sie zu.

»Ja, danke. Mir ist nichts passiert.« Agnes wischte die Tränen weg. »Ist nur der Schreck.«

»Aber Ihr Knie. Das ist ja ganz aufgeschürft. Ich hole den Verbandskasten«, erwiderte der Autofahrer und ging zu seinem Fahrzeug.

»Entschuldigen Sie. Das war mein Fehler«, sagte der Fußgänger. »Ich war ganz in Gedanken.« Er hatte graugrüne Augen. Graugrün wie die Wetterseite der Bäume.

»Muss ja ein toller Tagtraum gewesen sein.« Der junge Mann kam mit dem Verbandszeug zurück und musterte sein Gegenüber vorwurfsvoll. »Um Haaresbreite hätten Sie einen schweren Unfall verursacht.«

»Eher ein Alptraum«, erwiderte der Fußgänger. »Dühnfort«, stellte er sich Agnes vor. »Ich hoffe, es ist nicht allzu schlimm.«

»Mit mir ist alles in Ordnung.«

Der Reporter mit der neongelben Weste kam näher. Agnes erkannte ihn. Er arbeitete beim Blatt. Wie ein Blutegel hatte er nach dem Unglück an ihr gehangen und sich sogar Einlass ins Haus ihrer Eltern verschafft. Er sah aus, als hätte er die Nacht durchgemacht: strähnige Haare, schwarzer Bartschatten, dunkle Ringe unter den Augen, die Kleidung zerknautscht und fleckig. Tolle Corporate Identity, dachte Agnes, seine schmuddlige Erscheinung passt perfekt zum Stil seiner Zeitung.

»Wenn das nicht Frau Gaudera ist. Wie Phönix, der Asche entstiegen.« Er hob die Kamera und drückte den Auslöser.

»Ihren geschmacklosen Witz können Sie sich sparen«, fauchte sie ihn an.

Er grinste. »Schönen Tag noch«, sagte er und ging zurück zu seinen Kollegen. Inzwischen hatte der Autofahrer ein Stück Pflaster abgeschnitten und starrte dem Reporter aus schmalen Augen hinterher. »Es ist besser, wenn ich das desinfiziere.« Der Junge deutete auf die Schürfwunde. In der Hand hielt er eine kleine Sprühflasche. »Darf ich?«

Der Reporter hatte sie genauso gemustert wie damals. Mit einer Mischung aus Mitleid und Sensationsgier. Ein trotziges Echo drängte aus der Vergangenheit, Yvonnes Stimme: Ich will aber! Ich will, ich will, ich will! Agnes verfing sich in dieser Erinnerung wie in den Fäden eines Spinnennetzes. Panik stieg in ihr auf.

»Darf ich?«, wiederholte der junge Mann seine Frage.

Ich will aber! Ich will, ich will, ich will! Der Mann mit den graugrünen Augen hatte das Rad aufgehoben und schob den Tacho zurück in die Halterung. »Danke«, sagte Agnes, schwang sich auf ihr Mountainbike und fuhr los. Sie fuhr bis ins Nachbardorf. Dort hielt sie endlich an und kaufte für das Frühstück ein.

Eine halbe Stunde später stand sie in verschwitzter Radlerkluft in der Küche und trank ein Glas Wasser. Dann schaltete sie die Espressomaschine ein und aß eine Breze direkt aus der Papiertüte. Danach fühlte sie sich besser. Einen Vorteil hatte der exzessive Sport, den sie seit über einem Jahr betrieb: Sie hatte zwanzig Kilo abgenommen und konnte dabei essen, so viel sie wollte. Jetzt hatte sie den Körper, von dem sie immer geträumt hatte. Aber Rainer hatte sie als Pummelchen geliebt. Er hatte ihre Rundungen gemocht und jedes Mal wenn sie an Diät dachte, sein Veto eingelegt.

Sie erinnerte sich an das letzte Mal, als er das getan hatte. Kurz nach Weihnachten hatte sie ein Diätbuch gekauft, um wenigstens einige der überzähligen Kilos loszuwerden. Rainer entdeckte es und zog sie zu sich heran. Seine Hände wanderten über ihren Rücken hinunter zum Po, über dem die Jeans spannte. »Alles meins.« Mit einem kräftigen Ruck zog er sie noch näher an sich heran. »Die meisten Männer mögen das nicht, aber mir gefällst du so«, hatte er gesagt.

Agnes setzte sich an den Küchentisch. Während sie ein Croissant und eine Rosinenschnecke aß, las sie die Zeitung. Im Landkreisteil wurde schon von Jakobs Verschwinden berichtet. Sie betrachtete das Foto. Jakob fletschte darauf die Zähne, genauso wie der Plastikdinosaurier, den er in die Kamera hielt. Er war das einzige Kind einer vermögenden Familie. Doch bis Redaktionsschluss lag keine Lösegeldforderung vor. Die Polizei schloss einen Unfall ebenso wenig aus wie ein Verbrechen. Agnes wollte sich nicht vorstellen, was seine Eltern jetzt durchmachten. Aber sie hatten wenigstens Hoffnung.

***

Dühnfort stand neben seinem Dienstfahrzeug und betrachtete den Baum aus der Entfernung. Gina hatte ihn vor einer Viertelstunde angerufen. Die Buchhändlerin hatte Jakob gesehen, als er kurz nach halb vier an ihrem Schaufenster vorbeigegangen war, das sie gerade neu dekorierte. Er war auf den Fußweg eingebogen, der aus dem Dorf zum Wald führt. Den Abend und die Nacht hatte sie in München verbracht und daher erst am Morgen erfahren, dass Jakob vermisst wurde. Sie hatte sich sofort bei der Polizei gemeldet. Außerdem war Jakob einer alten Frau begegnet, etwa zehn Minuten später. Da hatte das Dorf schon ein Stück hinter ihm gelegen. »Richtung Wald«, hatte Dühnfort gesagt. »Daran herrscht hier nun wirklich kein Mangel.«

»Der Weg führt zu einem Kletterbaum, der bei den Jungs aus dem Dorf beliebt ist. Laut Buchhändlerin nicht zu verfehlen. Eine einzeln stehende Buche am Waldrand«, hatte Gina erwidert.

Und nun waren sie hier. Gina saß telefonierend im Auto. Dühnfort setzte sich auf eine Bank, die an der Weggabelung unter einem Wegkreuz stand, wählte Alois’ Nummer und bat ihn, die Alibis der Eltern zu überprüfen. Er gab ihm die Namensliste durch und beendete dann das Gespräch.

Von der Anhöhe aus konnte er den See überblicken, in dem sich der wolkenlose Himmel spiegelte. Am Horizont zeichneten sich vor sattgrünen Wiesen die noch schneebedeckten Gipfel der Alpen ab. Ein Vexierbild, dachte Dühnfort. Ein Bild, das den Anschein von Wirklichkeit erweckt. Aber in diesem Postkartenmotiv verbarg sich vielleicht eine andere Wahrheit.

Sein Blick fiel auf den Kletterbaum. Wenn Jakob wirklich alleine hierhergegangen war, war er weder so ängstlich noch so folgsam, wie seine Mutter glaubte. Der Baum stand frei inmitten einer kleinen Lichtung. Wobei Lichtung eigentlich nicht die zutreffende Bezeichnung war. Dühnfort hätte lieber das Wort Landzunge gebraucht. Der gerade Saum des Waldes zog sich zurück. Die angrenzende Wiese hatte sich die freie Fläche erobert und ragte nun wie eine Halbinsel in den Forst. Etwas störte Dühnfort. Der Baum war symmetrisch gewachsen, seine Äste setzten knapp über dem Boden an. Ein idealer Baum zum Klettern, aber ein großer Ast war abgebrochen. Das war es. Das störte ihn.

Gina telefonierte noch immer. Er gab ihr ein Zeichen, dass er vorausgehen würde, und folgte dem Trampelpfad zur Lichtung. Plötzlich stand das Bild vor ihm, wie Gernot Mittermeyer sich von seinem Sohn und seiner Frau verabschiedet hatte. Der Mann hatte erreicht, was ihm selbst einfach nicht gelang. Vor zwei Jahren war er auf dem besten Weg dazu gewesen. Dühnforts Kiefermuskulatur verspannte sich bei dieser Erinnerung. Quatsch. Ein verdammter Idiot war er gewesen, hatte Verlobungsringe gekauft, eine Doppelhaushälfte besichtigt und in Gedanken für seine noch ungezeugten Kinder bereits ein Baumhaus in einer alten Eiche gebaut, während Konstanze ihn schon seit Wochen mit ihrem Kollegen betrog. Einem langweiligen Oberstudienrat für Geographie und Sport, ausgerechnet. Merde. Dühnfort trat nach einem Stein, der einige Meter weit flog und dann im Acker liegen blieb.

Gina holte ihn ein. Die kinnlangen dunklen Haare, die ihr rundes Gesicht umspielten, wippten im Takt ihrer Schritte. Er blieb stehen und suchte das Gelände um den Baum mit den Augen ab.

»Was macht eigentlich unser Musterschüler?«, fragte sie.

Dühnfort war irritiert.

»Na, Alois. Was macht er?«

»Du magst ihn nicht?«

»Ehrlich gesagt: Nein. Er hat etwas Streberhaftes an sich. Wahrscheinlich hat er noch nie in seinem Leben falsch geparkt. Und dann diese Anzüge.« Gina verdrehte die Augen. »Sieht ja fast so aus, als wäre er der Boss.«

»Er hat ausgezeichnete Beurteilungen. Ich hoffe, dass wir ein gutes Team werden. Gib ihm eine Chance, ja?«

Gina nickte. »Alles klar, Boss. Aber ob ich mit ihm jemals warm werde, das weiß ich ja nicht.«

Dühnfort wandte sich dem abgebrochenen Ast zu und spähte dann den Stamm entlang in die Krone. In etwa zweieinhalb Meter Höhe entdeckte er die Bruchstelle. Sie war seltsam glatt. Er bückte sich. Der Zweig war angesägt worden. Die Schnittstelle sah noch relativ frisch aus.

»Was ist?«, fragte Gina.

»Da hat jemand nachgeholfen.« Etwas Rotes blitzte zwischen den Blättern hervor. Vorsichtig zog er ein kleines Stückchen Stoff heraus. »Das könnte von Jakobs Sweatshirt stammen.« Er wollte es Gina zeigen.

Die aber hatte sich über einen Stein gebeugt, der unter dem abgebrochenen Ast hervorlugte. Vorsichtig schob sie Blätter beiseite. Der Stein wies dunkle Flecken auf. »Blut«, sagte sie. Ihre Stimme klang belegt.

»Sieht nicht so aus, als ob sich Jakob verlaufen hat. Wir brauchen die Spurensicherung.« Dühnfort zog das Handy genau in dem Moment aus der Tasche, als es zu klingeln begann.

»Dühnfort.« Er lauschte eine Weile und fixierte dabei Gina. »Was habt ihr gefunden? Einen Ziegenkopf?«

***

Dühnfort fuhr in den Forst. In der Nähe der Marienkapelle bog er ab und folgte einem steinigen Weg und damit der Beschreibung, die Walter Bichler, der Leiter der Suchmannschaft, ihm gegeben hatte. Der Waldweg war eng, voller Wurzeln und Schlaglöcher. Ab und zu flog ein Stein gegen die Karosserie. Nach zehnminütiger Fahrt entdeckte Dühnfort den Suchtrupp. Die uniformierten Polizisten hatten Ketten gebildet und durchsuchten Schritt für Schritt, Meter für Meter den Wald. Es herrschte konzentrierte Stille. Auf der anderen Seite des Wegs erhob sich ein Erdwall. Auf diesem stand Walter Bichler wie ein Feldherr. Neben ihm lehnte ein hagerer Polizist an einem Stamm. Dühnfort ließ das Auto auf dem Weg stehen. Bichler begrüßte ihn mit Handschlag. »Das ist Ernst Voggenreither.« Bichler wies auf den blassen Kollegen, der zu ihnen getreten war. »Er hat den Kopf entdeckt, und er wusste auch, dass das hier eine Keltenschanze ist. Er kennt sich offensichtlich aus.«

Voggenreither grüßte mit einem Kopfnicken.

»Und wo ist nun diese Keltenschanze?« Dühnfort blickte sich um.

»Hier.« Voggenreither deutete auf den Erdwall. »Das ist eine spätkeltische Viereckschanze, etwa zweitausend Jahre alt. Davon gibt es einige in der Gegend.«

»Dieser Hügel?« Dühnfort sah ratlos zu Boden.