Der Tag, an dem der Sommer begann - Julie Cohen - E-Book

Der Tag, an dem der Sommer begann E-Book

Julie Cohen

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Beschreibung

Großmutter, Mutter und Tochter unter einem Dach – ob das gut gehen kann? Nur widerwillig gibt die achtzigjährige Honor ihre Unabhängigkeit auf und zieht zu Schwiegertochter Jo und Enkelin Lydia. Bald stellt sich heraus, dass die drei so unterschiedlichen Frauen mehr verbindet als geahnt: Jede von ihnen hütet ein Geheimnis um Liebe und Schuld. Doch was passiert, wenn sie den Mut finden, einander zu vertrauen?

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Seitenzahl: 503

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Zum Roman

Für die Frauen der Familie Levinson scheint die Liebe unmöglich zu sein. Großmutter Honor kann einen Mann nicht vergessen, von dem sie bis heute niemandem erzählt hat. Ihre Schwiegertochter Jo ist verwitwet und verliert im Alltag als alleinerziehende Mutter ihr eigenes Glück fast aus den Augen. Und die sechzehnjährige Lydia ist zum ersten Mal verliebt, in jemanden, der nicht davon erfahren darf. Nach einem Treppensturz braucht die achtzigjährige Honor Hilfe und zieht zu Jo und Lydia. Auf einmal finden sich die drei Frauen unter einem Dach wieder – samt ihrem Kummer, ihren Träumen und ihren Geheimnissen …

Zur Autorin

Julie Cohen wurde in Maine, USA, geboren und lebt heute mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Berkshire, England. Das Schreiben ist ihre große Leidenschaft und wenn sie nicht an ihren Romanen arbeitet, leitet sie Schreibworkshops. Der Tag, an dem der Sommer begann ist ihr viertes Buch im Diana Verlag.

ROMAN

Aus dem Englischen

von Ute Brammertz

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Von Julie Cohen sind im Diana Verlag bisher erschienen:Mit den Augen meiner Schwester All unsere Träume Das Gefühl, das man Liebe nennt
Copyright © 2015 by Julie Cohen Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Falling bei Black Swan, an imprint of Transworld Publishers, a Penguin Random House Company, London. Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Diana Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion: Heiko Arntz Umschlaggestaltung: t. mutzenbach design, München Umschlagmotive: © Shutterstock I colors; Hudyma Natallia Satz: Leingärtner, Nabburg Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-641-20034-3V002
www.diana-verlag.de Besuchen Sie uns auch auf www.herzenszeilen.de

Für Lillian Cohen 

– Großmutter, Kartenspielerin,

einäugige Autofahrerin, Kreuzschraffurkritzlerin,

Matzeknödelköchin –

in ewiger Erinnerung

Und wir, die an steigendes Glück

denken, empfänden die Rührung,

die uns beinah bestürzt,

wenn ein Glückliches fällt.

RAINER MARIA RILKE,Die zehnte Elegie

KAPITEL 1

Honor

Honor Levinsons letzte Lebensphase begann am oberen Treppenabsatz in ihrem Haus in Nordlondon.

Vor zwei Tagen waren die Fenster von dem jungen Mann geputzt worden, der jedes Frühjahr mit Eimer und Leiter vorbeikam. Die Sonne schien durch die Scheiben, warf einen hellen Streifen auf Teppich und Wand, und als Honor die Stelle auf dem Weg zur Treppe passierte, einen Korb mit Schmutzwäsche in den Händen, wärmte sie ihre Wange.

Sie dachte an die Wäsche, die sie früher immer zu machen hatte: die Sportkleidung, immer schlammverkrustet. Schuluniformen und Gartenkleidung, Hemden, die gebügelt werden mussten, Unterwäsche und Taschentücher. So viele Ladungen jede Woche, eine nach der anderen, es hörte nicht auf. Und das nur für ein Kind und eine Frau. Manchmal hatte sie das Gefühl, das Haus sei ständig mit Girlanden aus tropfender Kleidung dekoriert gewesen. Sie musste einen Dschungel aus trocknenden Strümpfen und Strumpfhosen durchqueren, nur um ins Badezimmer zu gelangen. Für etwas, das so viel Zeit und Mühe in Anspruch nahm, fand das Waschen von Kleidung in der Literatur zu wenig Erwähnung.

An diesem Nachmittag befanden sich zwei Blusen, ein Unterhemd, ein Rock und drei Unterhosen in ihrem Korb. Richtig schmutzig war nichts davon. Was tat sie dieser Tage schon, das ihre Kleidung dreckig machen würde? Die schweißtreibende Arbeit, das Herumwühlen in Erde, das ewige Verschütten und Bekleckern, all das war endgültig vorbei. Jetzt war ihr Korb leicht, so leicht wie der Sonnenschein seitlich in ihrem Blickfeld.

Honor stemmte den Korb in die Hüfte und legte die Hand ans Geländer. Das Holz war auch von der Sonne erwärmt. Unten im Erdgeschoss läutete das Telefon. Sie machte einen Schritt, um die erste Stufe zu nehmen – und trat daneben.

Schockierend war nicht, dass sie stürzte, sondern dass sie daneben getreten war, dass ihr Körper die Sprache des Hauses vergessen hatte, die sie den Großteil ihres Lebens so sicher beherrscht hatte. Honor versuchte, den Sturz aufzuhalten, aber das Geländer entglitt ihr. Sie fiel auf die Hüfte und rutschte die Holzstufen auf dem Rücken hinunter.

»Stephen!«, rief sie ins Leere.

Keine Schmerzen, noch nicht, bloß die dumpfen Aufschläge, während sie die restliche Treppe hinunterglitt, ohne dass jemand sie auffing. Sie landete mit dem Hinterkopf auf einer Stufe und sah Sterne. Sah sie deutlich wie schon lange nichts mehr.

Sie kannte dieses Gefühl, als hätte sie es sich schon oft in Gedanken ausgemalt. Der letzte Moment. Vertraut wie ein Kind oder wie ein Geliebter.

Sie blieb unten am Boden liegen, alle viere von sich gestreckt. Das Telefon läutete ein zweites Mal. Zweimal Läuten, dachte Honor. Es ist alles in der Zeit zwischen zwei Klingeltönen passiert.

Jetzt spürte sie es, jedenfalls teilweise: ihr Hinterkopf, die Hüfte, der Rücken, das Gesäß, die Ellbogen – eher die Wucht des Aufpralls anstatt Schmerzen. Ihr Kopf lag auf der untersten Stufe, ihr Körper in einer weiteren Lache aus Sonnenschein und blendendem Licht. Aber sie war am Leben. Bei ihrem Aufschrei war sie noch sicher gewesen, dass sie nicht überleben würde.

Honor fasste sich an den Hinterkopf. Er war warm und feucht, und als sie ihre Hand betrachtete, zitterte diese und war blutverschmiert.

Bei dem Anblick setzten die Schmerzen ein.

»Stephen«, sagte sie wieder. Es war die Stimme einer Fremden, einer Frau, die alt und gebrechlich war.

Honor setzte sich auf, ohne auf das Aufheulen ihres Rückens und der Hüfte, den pochenden Schmerz im Kopf zu achten. Sie holte tief Luft und versuchte, sich am Geländer hochzuziehen.

Sofort sackte sie wieder zu Boden, und der Schmerz in der Hüfte ließ sie laut aufschreien.

Das Telefon läutete ein drittes Mal, oder vielleicht war es das vierte Mal. Gebrochene Hüfte, alte alleinstehende Frau – wie klischeehaft das war. All diese Jahre der Mühe und Arbeit, und am Ende reicht es nur zu einem Klischee. Vorsichtig und vor Schmerzen keuchend drehte sich Honor, sodass sie auf der linken Seite lag, der Seite, die nicht schmerzte. Mithilfe der Arme und des linken Fußes schob sie sich über den Holzboden und kroch auf das Telefon zu.

In jeder Etage ihres Hauses gab es ein Telefon: eines im Schlafzimmer, eines in der Küche im Souterrain und eines hier im Erdgeschoss, im Wohnzimmer. Das Handy lag oben im Schlafzimmer. Honor kroch durch die Tür auf den Perserteppich zu, wobei sie mit ihren feuchten Händen und dem schwachen Fuß ausrutschte. Im Wohnzimmer ruhte sie sich einen Augenblick aus. Die Wolle kratzte an ihrer Wange. Von ihrem Hinterkopf sickerte Blut herab. Mit kaltem Wasser auswaschen, dachte sie, und das Telefon läutete erneut, zum sechsten Mal? Zum zehnten?

Es klingelte nun schon eine Ewigkeit, und sie hatte immer noch einen Meter vor sich.

Sie tat einen tiefen Atemzug, der nach Staub und Wolle schmeckte, und schob sich erneut vorwärts. Auf dem Teppich war das Kriechen schwieriger. Sobald es ihr wieder besser ging, würde der Läufer mitsamt Blutfleck und allem im Müllcontainer landen.

Das Telefon stand auf einem niedrigen Tisch neben dem Sofa. Sie schlängelte sich die letzten paar Zentimeter, indem sie sich mit der Schulter vorwärtsschob. Honor hakte den Arm um das Tischbein, zog so fest wie möglich, und der Tisch fiel um.

Glücklicherweise landete das Telefon direkt vor ihr, der Hörer neben der Gabel. Sie griff mit der unversehrten Hand danach. »Hallo?«, sagte sie. »Hallo, ich brauche Hilfe.«

Eine Pause. Ihre Haare hatten sich gelöst und hingen ihr ins Gesicht, dunkel vor Blut. Sie spürte Schweiß auf der Oberlippe. Es war schon eine Weile her, seitdem sie das letzte Mal geschwitzt hatte.

»Ja, Madam«, sagte endlich eine Stimme in der Leitung, mit starkem Akzent. »Guten Tag, hier spricht Edward von Computer Access Services. Ich rufe wegen eines Problems mit ihrem Computer an?«

»Scheren Sie sich zum Teufel«, erwiderte sie laut vernehmbar und drückte auf die Taste, um das Gespräch zu beenden. Sie wählte den Notruf. »Ich benötige einen Krankenwagen«, erklärte sie dem Telefonisten und wartete eine halbe Ewigkeit, bis sie durchgestellt wurde.

»Rettungsdienst, um was für einen Notfall handelt es sich, bitte, und von wo aus sprechen Sie?«

»Ich bin die Treppe hinuntergefallen und habe mir anscheinend die Hüfte gebrochen, und ich blute am Kopf.« Sie gab der ruhig klingenden Frau ihre Adresse durch.

»Also schön, Ma’am, ich habe die Einsatzzentrale benachrichtigt, und jetzt werde ich am Apparat bleiben und versuchen, Ihnen während der Wartezeit zu helfen. Sie sagen, Sie haben sich den Kopf angeschlagen und die Hüfte gebrochen? Haben Sie Atembeschwerden?«

»Das ist so ziemlich das Einzige, das mir im Moment keine Beschwerden bereitet.«

»Tapferes Mädchen.«

»Behandeln Sie mich nicht wie ein kleines Kind, ich bin alt genug, um Ihre Großmutter zu sein. Ich heiße Honor.«

»Verstehe, Honor.« In der Stimme der Frau schwang ein Anflug von Belustigung mit. »Mit Verlaub, dass Sie mich zurechtweisen, ist ein gutes Zeichen. Ist jemand bei Ihnen?«

»Ich bin allein.«

»Bluten Sie noch am Kopf?«

»Ja.«

»Okay, Honor, gibt es etwas, das Sie auf die Wunde pressen können, um die Blutung zu stillen?«

Sie tastete nach oben. Auf dem Sofa lag ein Kissen, das im Lauf der Jahre ganz platt gedrückt war. Honor zog es herunter. Sie drückte sich das Kissen an den Hinterkopf und biss die Zähne gegen den stechenden Schmerz zusammen. Mit der anderen Hand hielt sie sich das Telefon ans Ohr. Es war glitschig vor Blut.

»Auftrag erledigt«, sagte sie der Frau am anderen Ende der Leitung.

»Das höre ich gern.« Sie klang jung und lebhaft. Wie Jo. Honor schloss die Augen und stellte sich welliges Haar, rosafarbene lächelnde Lippen vor.

»Honor? Sind Sie noch bei uns?«

Sie schüttelte den Kopf, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Noch bei uns, auch so ein Klischee, das diesen ganzen Vorfall wie etwas Gemeinsames klingen lassen sollte, obwohl sie einsamer denn je war.

»Ich kann nicht an die Tür gehen, um den Sanitätern aufzumachen, aber unter dem blauen Geranientopf liegt ein Schlüssel.« In ihren Ohren erklang ein Sausen, Schwärze zog von allen Seiten auf. »Ich glaube, ich verliere gleich das Bewusstsein, also hoffe ich, dass sie schnell kommen.«

Sie steht am Kopf der Treppe, der Partylärm um sie herum schwillt an. Sie lehnt sich auf das Geländer und erblickt unter sich den Kopf eines Mannes. Er hat dunkle Haare, glänzend und dicht, und trägt einen braunen Tweedanzug. Er ist größer als die Umstehenden. In einer Hand hält er einen Drink, Whisky, die andere ruht auf dem Geländerpfosten, auf der runden Kugel, die ihn krönt. Seine Hand ist schlank, und selbst von hier aus ist zu sehen, dass seine Nägel sauber sind, kurz geschnitten. Er trägt eine Armbanduhr mit einem breiten schwarzen Lederband.

Jede Einzelheit so deutlich. So scharf umrissen.

»Wie heißt er?«, fragt sie Cissy, die neben ihr steht.

»Was, du hast ihn noch nicht kennengelernt? Das ist Paul.« Cissy wendet sich jemand anderem zu, und Honor schaut weiter.

Um ihn herum sind Leute, aber er ist allein. Irgendwo lacht jemand laut, aber anstatt dorthin zu sehen, dreht er den Kopf und blickt nach oben, Honor direkt in die Augen.

Zum ersten Mal hat sie das Gefühl abzustürzen.

»Hallo, meine Liebe? Hören Sie mich?«

Honor öffnete die Augen, legte den Kopf schräg. Ein verschwommener Fleck über ihr, zwei verschwommene Flecke, die Grün und Gelb trugen. »Paul?«

»Nein, ich heiße Derek, das hier ist Sanjay, und wir sind Sanitäter. Können Sie meine Hand drücken? Wir sind also die Treppe runtergefallen, ja?«

»Ich bin die Treppe hinuntergefallen. Wie das bei Ihnen ist, weiß ich nicht.« Ihr Mund war trocken. Wie viel Blut, wie viel Zeit? Einer der Sanitäter machte sich an ihrem Kopf zu schaffen und stillte irgendwie die Blutung. Sie hörte, wie Packungen aufgerissen wurden, das Rascheln von Verbandszeug. Mühsam versuchte sie, sich aufzurichten, etwas Würde zurückzuerlangen. Sie hatte ihn Paul genannt. Wie peinlich.

»Wie heißen Sie, meine Liebe?«

»Honor Levinson.«

»Können Sie mir sagen, welches Datum wir heute haben, Mrs. Levinson?«

»Dienstag, den elften April. Sie müssen mich schon etwas Schwierigeres fragen.« Ihre Stimme klang rau und streng.

»Ich bringe erst diese Fragen hinter mich und dann kommen die Wer wird Millionär-Fragen, ja? Nehmen Sie Medikamente?«

»Ich bin achtzig Jahre alt, natürlich nehme ich Medikamente. Sie befinden sich im Badezimmerschränkchen.«

»Blutdruck achtzig zu fünfzig, Sanjay. Ist Ihnen schwindlig, Mrs. Levinson?«

»Ja.«

»Wohnen Sie allein hier?«

»Meinen Sie, ich hätte sonst meine Unterwäsche auf der Treppe liegen lassen?« Sie schloss die Augen und biss die Zähne zusammen, als die Sanitäter sie bewegten und ihr eine Nackenschiene anlegten, um die Halswirbelsäule zu fixieren.

»Sie muss den ganzen Weg von der Treppe bis zum Telefon gerobbt sein«, sagte einer der Sanitäter. »Ziemliche Leistung.«

»Morphium«, stieß sie keuchend hervor.

»Keine Sorge, wir haben Schmerzmittel im Krankenwagen, und Sie sind gleich im Krankenhaus. Gibt es jemanden, den wir für Sie anrufen sollen, Mrs. Levinson?«

»Doktor. Doktor Levinson.«

»Ist das Ihr Gatte?«

»Nein, verflucht. Das bin ich. Es gibt niemanden, den ich anrufen möchte.«

Behutsamer, als sie es für möglich gehalten hätte, hoben die beiden sie auf die Trage und trugen sie durch die Tür ins Freie, wo der Krankenwagen wartete. Honor hielt die Augen geschlossen, da sie die Fußgänger nicht sehen wollte, die zweifellos die hilflose alte Frau begafften, die, zerbrechlich wie ein morscher Ast, aus ihrem Haus getragen wurde. Früher hatte sie all diese Menschen gekannt, jeden in den umliegenden Häusern.

Die frische Luft kühlte die Tränen auf ihren Wangen.

»Niemanden«, flüsterte sie, während man sie sicher hinten in den Krankenwagen gleiten ließ, und sie wiederholte ihre Namen wie ein Lied im Kopf, die Namen von niemandem.

Paul und Stephen. Stephen und Paul.

KAPITEL 2

Jo

»Hey, Mann, wart auf mich!« Der Teenager drängelte an Jo vorbei, die sich mit dem ganzen Gewicht hinten auf den Buggy stützte, damit sich die Vorderräder in den Bus heben ließen. Der Junge zeigte seine Monatskarte vor, und bevor sie etwas sagen konnte, war er die Treppe zum Oberdeck hinauf, seinen Freunden etwas zubrüllend.

»Er hatte es eilig«, sagte Jo zu Oscar, der neben ihr am Daumen lutschte. Iris schrie: »Nein!«, und warf den Trinkbecher aus dem Buggy. Er landete zwischen Bus und Bordstein und rollte außer Sicht.

»O Gott. Tut mir leid. Halt den Buggy fest, Oscar. Steig ein. So ist es richtig. Bleib hier!« Sie schob den Buggy in den Bus und ließ sich draußen auf Hände und Knie sinken. Jemand in der Schlange hinter ihr beschwerte sich. »Dauert nur eine Minute!«, rief sie fröhlich und griff unter den Bus. Der Becher war fast bis zum Vorderrad gerollt. Schließlich bekam sie ihn zu fassen und stand auf, rot im Gesicht. Ihre Haare hatten sich aus der Spange gelöst. Eine vierzigjährige Mutter, die den ganzen Laden aufhielt.

»Mummy, der Bus fährt ohne dich los!« Oscar machte ein klägliches Gesicht, er war den Tränen nahe.

»Nein, nein, mein Schatz, alles in Ordnung.« Jo kletterte rasch in den Bus, wobei sie sich an den Einkaufstaschen stieß, die an den Griffen des Buggys hingen. Nachdem sie den Dreck an ihrem Rock abgewischt hatte, reichte sie Iris den Trinkbecher. »Halt ihn jetzt gut fest, mein Schatz. Tut mir leid«, entschuldigte sie sich bei dem Busfahrer und den Leuten hinter ihr und überhaupt jedem. »Mein Portemonnaie ist …«

Es war auf dem Buggy, in dem zusammengefalteten Verdeck eingeklemmt. Sie fand es und öffnete den Reißverschluss. »Tut mir leid, ich habe bloß einen Fünfpfundschein.«

»Kein Wechselgeld«, sagte der Busfahrer. Jo warf einen Blick zurück zu den Leuten in der Schlange. Einige starrten sie ausdruckslos an, ein paar sahen weg.

»Okay«, sagte sie. »Nehmen Sie ihn einfach. Das ist immer noch günstiger als Parkgebühren zu bezahlen.« Mit einem verlegenen Lachen schob sie den Schein unter der Glasscheibe durch.

»Können wir oben sitzen, Mummy? Ganz vorne?« Oscar zog an ihrer Jacke.

»Nicht mit dem Buggy, mein Schatz. Geh vor und such uns einen Platz. Ich werde Iris abstellen.«

Es gab nur noch einen Sitzplatz, fast ganz hinten. Oscar flitzte darauf zu, während Jo den Buggy in den vorderen Teil bugsierte. Zum Glück befand sich diesmal kein anderer Buggy im Bus. Eine Frau in einem bis zum Hals zugeknöpften Wintermantel saß auf dem hochklappbaren Sitz in dem Bereich für Kinderwagen und bedachte Jos beladenen Buggy mit einem finsteren Blick.

»Entschuldigung«, sagte Jo, »wir haben recht viel eingekauft.« Sie blickte von Iris, die angeschnallt war, zu Oscar, der allein hinten saß.

»Mummy!«, brüllte er.

»Sie haben Ihre Fahrkarte vergessen!«, rief der Busfahrer.

Jo ging zurück, um sie zu holen. Als sie sie entgegennahm, klingelte ihr Handy in der Tasche. Sie stopfte die Fahrkarte zu dem läutenden Handy und kehrte zu Iris zurück. Das kleine Mädchen grinste und streckte die Hände nach seiner Mutter aus. Schokoladenflecke um den ganzen Mund, obwohl Jo ihn nach ihrem Café-Besuch mit einer Serviette abgewischt hatte. Sie kehrten immer wieder zurück. Wie war das nur möglich?

»Ich hole dich schnell raus, mein Schatz«, sagte sie und lächelte ihre Tochter an, da fuhr der Bus ruckartig los. Jo fing sich an der Haltestange auf und hörte Oscar nach ihr rufen, mit ängstlicher Stimme.

»Oscie«, sagte Iris, wie um es ihr zu erklären.

»Ja, nur einen Augenblick«, rief sie. Sie schnallte Iris ab, und die klebrigen Hände des kleinen Mädchens legten sich um ihren Hals, fuhren durch ihre Haare, süßer Atem an ihrer Wange. Ohne Iris’ Gewicht kippte der Buggy unter der Last der Einkäufe hintenüber. Jo richtete ihn mit einem Arm auf, den anderen um ihre Tochter. Die Frau auf dem Klappsitz seufzte.

Haben Sie vergessen, wie es ist, Kinder zu haben, Sie alte Schachtel?, dachte Jo, aber stattdessen lächelte sie, sagte: »Tut mir leid!«, und trug Iris den Gang entlang zu dem Platz, auf dem ihr Bruder saß. Sie ging an einer weiteren Gruppe Teenager in Schuluniform vorbei, Kopfhörer in den Ohren, laut miteinander redend, lange Beine über mehrere Sitze ausgestreckt. Sie machten keine Anstalten, etwas Platz zu machen. In Jos Tasche verstummte das Läuten des Handys. Sie hob Oscar mit dem anderen Arm hoch und setzte sich beide Kinder auf den Schoß, auch wenn Oscar halb herunterhing und versuchte, an seinem Sitznachbarn vorbei aus dem Fenster zu gucken.

Der Buggy fiel erneut um. Die Frau machte ein noch mürrischeres Gesicht und schob ihre Handtasche demonstrativ zehn Zentimeter nach rechts.

Morgen werde ich diese Geschichte Sara erzählen, dachte Jo, und wir werden darüber lachen.

»Mummy.« Oscar wand sich auf ihrem Schoß. »Ich hab Hunger.«

»Jetzt ist es nicht mehr weit, mein Schatz. Und du hast gerade eben erst einen Muffin gehabt.«

»Ich habe aber echt Hunger.«

Jo verdrehte den Arm, um in ihre andere Tasche greifen zu können, die mit den Schlüsseln, nicht die mit dem Handy. Dort stieß sie auf einen kleinen Plastikbehälter. »Ich hab noch Cheerios«, sagte sie und zog ihn heraus, dankbar, dass sich etwas darin befand, und zwar nicht nur ein benutztes Feuchttuch. Sie packte diese kleinen Behälter jeden Morgen und versteckte sie an verschiedenen Orten, um sie in wichtigen Momenten, wenn Ablenkung gefragt war, hervorzaubern zu können. Manchmal vergaß sie sie. Manchmal fand sie Behälter wieder, die sie Tage zuvor eingesteckt hatte.

»Nein!«, sagte Iris und füllte sich die pummelige Hand mit Hafer-Ringen. Kleine Os fielen Jo in den Schoß, auf den Sitz und zu Boden. Der Mann, der neben ihnen am Fenster saß, starrte unverwandt geradeaus.

»Lass deinem Bruder welche übrig«, sagte Jo.

»Ich mag keine Cheerios. Warum ist da ein Knopf?« Oscar drückte den großen roten Knopf an der Stange vor ihm. Es bimmelte. Entzückt drückte er noch einmal.

»Zehn Minuten, bis wir zu Hause sind!«, sagte Jo, auch wenn es eher zwanzig sein würden, bis sie die verstopften Straßen im Zentrum von Brickham hinter sich gelassen hatten und den weitläufigeren, grünen Vorort erreichten. Und dann ging es zu Fuß durch den Park und eine Straße entlang, bevor sie an ihrem Haus ankamen. Unter ihrer Jacke waren ihre Achseln feucht, und ihre Haare waren bestimmt völlig durcheinander. »Nicht mehr weit! Wollt ihr ein Lied singen?«

»The wheels on the bus«, sang Iris mit Cheerios im Mund.

»Wenn das Kind nicht sofort aufhört, auf den Knopf zu drücken, halte ich den Bus an«, ertönte die Stimme des Busfahrers über Lautsprecher. Die Teenager lachten.

»Tut mir leid«, sagte Jo, deren Worte untergingen, und sie packte Oscars Hand und hielt sie fest. Er versuchte, sich aus ihrem Griff zu befreien. »Du darfst nicht auf den Knopf drücken, Oscar, der Mann hat dich gebeten, es nicht zu tun.«

»Der Mann ist blöd«, sagte Oscar.

»Oscar fährt wahnsinnig gern Bus«, erklärte Jo dem Mann, der neben ihnen saß. »Und er drückt gern auf Knöpfe. Überhaupt alle Arten von Tasten. Er verstellt ständig die Einstellungen am Fernseher. Er wird später bestimmt mal Programmierer oder Ingenieur.«

Der Mann stieß ein Grunzen aus und sah weiter aus dem Fenster. Sie fuhren am Ende von Jos alter Straße vorbei, in der sie früher mit Stephen und Lydia gewohnt hatte. Wenn sie den Hals reckte, konnte sie die Backsteinfassade ihres alten Hauses sehen. Unterdessen fuhr der Bus den Hügel hinauf, die Straße hinunter, zuckelte durch die Vororte, immer wieder mit einem Zischen und einem Seufzen anhaltend, um weitere Menschen ein- und aussteigen zu lassen.

»Ich habe aber ganz in echt Hunger, Mummy«, sagte Oscar. »Und mir ist langweilig.«

»Möchtest du mit dem Handy spielen?« Oscar nickte heftig, und Jo ließ ihn in ihre Tasche greifen. »Oh, ich habe einen Anruf verpasst. Meint ihr, es war Lydia?«

»Nein«, sagte Iris, hüpfte auf Jos Schoß auf und ab und streckte ebenfalls die Hand nach dem Handy aus. Iris liebte es, mit ihrer großen Schwester zu telefonieren. Jo hielt es hoch und warf einen kurzen Blick auf das Display mit der Nummer des verpassten Anrufs. Eine Londoner Vorwahl, unbekannte Nummer, Nachricht hinterlassen.

»Bloß eine Sekunde, mein Schatz. Zuerst muss ich mir das hier anhören.« Sie hatte ein ungutes Gefühl im Bauch, als sie die Nummer der Mailbox wählte.

»Hallo, Mrs. Merrifield, hier spricht Ilsa Kwong vom Homerton University Hospital. Es wäre schön, wenn Sie mich so bald wie möglich unter dieser Nummer zurückrufen könnten. Danke.«

Es ist Lydia. Es ist Lydia. Mit dem Zug nach London gefahren, von einem Bus überfahren. Von einem Auto überfahren. Überfallen. Warum hat sie mich nicht selbst angerufen, warum ist sie weggefahren, ohne mir Bescheid zu geben, mein kleines Mädchen, o Stephen …

»Mummy, ich will Angry Birds spielen.«

»Bloß eine Sekunde, Oscar«, sagte sie und klickte die Voicemail weg. »Mummy muss kurz telefonieren.«

Es konnte sich nicht um Lydia handeln. Warum sollte es Lydia sein? Die Schule war eben erst aus. Lydia ging gerade mit Avril nach Hause, legte im Park eine Pause ein, um abzuhängen und sich mit den Jungs zu necken, aber nicht zu lange, denn sie musste lernen. Jo ermahnte sich selbst, nicht immer gleich vom Schlimmsten auszugehen. Dennoch vergewisserte sie sich auf dem Handy, dass da keine verpassten Anrufe oder Nachrichten von Lyddie waren.

»Aber ich will Angry Birds spielen!«

»Gleich, wenn ich zurückgerufen habe, Schatz.« Ihre Finger zitterten beim Wählen. Sie drückte Iris, die nach Schokolade und Kind roch, an sich und dachte daran, wie Lydia war in dem Alter, noch nicht ganz zwei Jahre alt, klebrig und niedlich.

Es läutete mehrmals, bevor jemand an den Apparat ging – lange genug, dass Jo das ganze Szenario vor ihrem geistigen Auge ablaufen lassen konnte: Lydia, die vom Bordstein trat, von einem Bus erfasst wurde, im Krankenhaus im Koma lag …

»Thomas-Audley-Station. Ilsa Kwong am Apparat.«

»Oh, hallo«, sprach sie mit aufgesetzter Fröhlichkeit in das Handy und spürte, dass sich der Mann neben ihnen genervt auf seinem Platz wand. »Hier spricht Joanne Merrifield, Sie haben eben angerufen?«

»Joanne Merrifield … Joanne Merrifield. Augenblick, ich suche nur eben meine Notizen …«

Jo umklammerte das Handy und hielt ihre jüngste Tochter fester.

»Mummy, aua«, winselte Iris.

»Warum denken die Leute, sie müssten in öffentlichen Verkehrsmitteln unbedingt ihre Handys benutzen?«, sagte die Person, die vor Jo saß, einer der Fahrgäste, die ihr und ihren beiden kleinen Kindern keinen Sitzplatz angeboten hatten. »Als wollten wir alle mit anhören, was sie zu sagen haben.«

»Sie haben mich gerade vor fünf Minuten angerufen …«, hakte Jo nach, die zum ersten Mal an Richard dachte, der zu schnell fuhr und dabei mit dem Handy telefonierte. Aber sie würden nicht bei ihr anrufen, wenn Richard verletzt wäre.

»O ja, da haben wir es. Mrs. Merrifield, wir haben Ihre Mutter hier, heute Nachmittag ins Krankenhaus eingewiesen.«

»Meine Mutter? Meine Mutter ist … oh, meinen Sie Honor?«

»Honor Levinson, richtig. Sie ist zu Hause gestürzt. Sie hat uns Ihre Nummer gegeben, damit wir Sie als ihre nächste Angehörige anrufen.«

»Ich bin ihre Schwiegertochter.« Jo sackte erleichtert in sich zusammen. Natürlich ging es um Honor. »Geht es ihr gut?«

»Sie ist eingewiesen worden und wird wahrscheinlich einige Tage bleiben müssen. Aber ihr Zustand ist stabil und den Umständen entsprechend gut.«

»Verstehe. Sie braucht … Ich werde …« Jo hielt inne, dachte voraus, plante. Das schien ihr längst in Fleisch und Blut übergegangen zu sein. In Gedanken ging sie die Umstände und alles Nötige durch.

»Hunger, Mummy!«

Oscar drückte sich an sie und zupfte an ihrem Ärmel. Sie hatten ihre Haltestelle noch nicht erreicht, aber sie waren nahe genug, um auszusteigen und den Rest zu laufen. Jo drückte fest auf den roten Knopf.

»Ich will drücken!«, schrie ihr Iris ins Ohr.

Die Krankenschwester, oder wer auch immer am anderen Ende der Leitung war, schwieg. Jo stellte sie sich vor, wie sie die Augen verdrehte und Papierkram erledigte. Mehrere Dinge gleichzeitig tat.

Sie hielt Iris hoch, damit sie auf den Knopf drücken konnte, was sie mit einem kleinen Freudenschrei tat. »Drück du auch, Oscar, es ist in Ordnung«, flüsterte sie, um dann in ihr Handy zu sagen: »Es tut mir leid, ich bin mit meinen Kindern im Bus, und wir sind an unserer Haltestelle angekommen. Danke für Ihren Anruf. Bitte richten Sie Honor aus, ich werde sie heute besuchen kommen, sobald ich es schaffe.« Als sie den Anruf beendete, war Oscar dabei, immer wieder auf den roten Knopf zu drücken. »Okay, Zeit zum Aussteigen, mein Schatz!«

Oscar sprang von ihrem Schoß und trottete nach vorne zum Busfahrer, wobei sein roter Haarschopf auf und ab wippte. Jo trug Iris hinter ihm her. Der Bus bremste genau in dem Augenblick, als sie sich vorbeugte, um den umgestürzten Buggy aufzuheben. Sie geriet ins Taumeln und stieß sich die Hüfte an der Gepäckablage an.

»Augenblick!«, rief sie, und um schneller zu sein, schob sie den Buggy auf die Bustür zu, ohne Iris hineinzusetzen.

»Danke schön«, trällerte Oscar dem Fahrer zu, als er die Tür öffnete.

»Dankööön!«, trällerte Iris, während sie vorübergetragen wurde.

Jo fand, damit hätten sie wohl genug Abbitte geleistet. Sie schubste den Buggy nach draußen auf den Gehsteig, nahm Oscar bei der Hand und stieg aus dem Bus, Iris auf der Hüfte balancierend. Der Bus zischte sie an und wartete keine Sekunde, um wieder anzufahren.

Der Buggy fiel hintenüber.

»Das nächste Mal nehmen wir das Auto«, sagte Jo, hievte ihn wieder hoch und setzte sich Iris sicherer auf die Hüfte. »Es gibt Abenteuer, und dann gibt es Abenteuer. Sollen wir einen Wettlauf machen?«

Oscar kreischte auf und schoss den breiten, von ordentlichen Gärten gesäumten Gehsteig entlang auf den Park zu. Jo lief ihm hinterher, den Buggy mit einer Hand lenkend. Lyddie würde schon zu Hause sein oder jeden Moment kommen, oder Jo würde sie im Park sehen und könnte die Kinder nach Hause bringen und etwas aus der Tiefkühltruhe holen, rasch Lyddies Uniform für morgen bügeln, die Einkäufe wegräumen, sich die Haare bürsten und die Zähne putzen und in den Wagen springen. Mit ein bisschen Glück könnte sie vor fünf im Zug nach London sitzen. In der U-Bahn würde gerade Berufsverkehr herrschen. Wäre es besser, mit dem Auto zu fahren? Wie mochte der Verkehr auf der North Circular sein?

Während sie liefen, wanderten ihre Gedanken zu Honor. Ein Sturz. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie Honor hinfiel. Sie konnte sich Honor nur aufrecht vorstellen.

KAPITEL 3

Lydia

Es fing mit Joghurt an.

Klingt das dramatisch oder doof? In dem Creative-Writing-Buch, das ich gerade lese, steht, man solle seine Geschichten mit einem dramatischen Einstieg beginnen, mit einem Ereignis, das den Leser sofort packt. Aber woher den dramatischen Einstieg nehmen, wenn man selbst nie etwas richtig Dramatisches erlebt? Sondern bloß ganz alltägliche Dinge, die einen allerdings viel mehr beschäftigen, als man von außen betrachtet meinen würde?

Obwohl, die Sache mit meinem Dad, die war natürlich »dramatisch«. Aber ich war nicht dabei.

Wie dem auch sei, es fing mit Joghurt an, also werde ich meine Geschichte so beginnen. Ich stand in der Schlange beim Mittagessen und versuchte, mich zwischen einem Erdbeer- und einem Aprikosenjoghurt zu entscheiden. Aprikose ist widerlich, aber er war fettarm, und Erdbeere war es nicht. Mir persönlich ist es total egal, ob ein Joghurt fettarm ist oder nicht, aber Avril fährt gerade total auf dieses Ernährungskalkulator-Ding ab, wo man auf der Verpackung von allem, was man isst, nachliest, wie viel Gramm Fett und Zucker und Kohlenhydrate es enthält, und dann trägt man das in eine App auf dem Handy ein. Erin und Sophie und Olivia haben damit angefangen. Das sind die Mädchen mit den Essstörungen bei uns, und aus irgendeinem Grund macht Avril da mit, angeblich wegen Zellulitis an den Oberschenkeln. Lange hält sie es ohnehin nicht durch. Sie hat eine Schwäche für M&M’s.

Aber im Moment sind sie total besessen davon, und ich wusste, wenn ich mit einem Vollfett-Joghurt an den Tisch zurückginge, nachdem ich schon mein Lunchpaket aufgegessen hatte, würden sie mir jeden Happen, den ich aß, einzeln in den Rachen zählen und sich vorstellen, wie er direkt an meinen Hüften ansetzte.

Nicht dass es mich schert, was die Bulimie-Bande denkt. Ich esse, wenn ich Hunger habe, wie jeder normale Mensch. Es war nur wegen Avril …

Also griff ich zu Aprikose.

»Hey, Lesbe, beweg mal deinen fetten Arsch.«

Das war Darren Raymond, der vor mir in der Schlange stand. Ich erkannte die Pickel in seinem Nacken wieder, auf die ich in jeder Mathestunde starren darf. Er redete mit dem Mädchen, das vor ihm an der Theke stand. Groß, pummelig, das leere Tablett vor sich. Das neue Mädchen mit dem komischen Namen.

»Ja, mach hinne«, rief ein anderer Junge.

»Manche von uns haben nicht nur Hunger auf Muschi.«

Alles brach in Gelächter aus. Das Mädchen war knallrot im Gesicht. Seine Augen suchten nach einem Erwachsenen, jemandem, der etwas sagen, der die Jungen wegen ihrer rüden Sprechweise zurechtweisen würde, aber vom Mensapersonal war weit und breit keine Spur zu sehen.

»Ich … ich warte auf mein Mittagessen«, stammelte sie. »Ich bin … Es ist ein spezielles Essen, glutenfrei.«

»Es ist ein spezielles Essen, glutenfrei«, höhnte einer der Jungen. Ich konnte nicht sehen, wer. Aber ich konnte die Hände des Mädchens sehen: Sie umklammerten krampfhaft das Tablett und zitterten. Ich wusste nicht, wie sie hieß, aber jeder konnte sehen, wie sie sich fühlte.

»Und mit Muschigeschmack«, sagte Darren, der Witzbold.

»Ach, werd endlich erwachsen!«, rief ich ihm zu. »Du wirst nie erfahren, wie Muschi schmeckt, Darren, außer in deinen feuchten Träumen.«

Brüllendes Gelächter. Darren Raymonds pickliger Hals bekam rote Flecke. Auf der anderen Seite der Theke erschien eine Mensamitarbeiterin mit einem einzelnen Tellergericht und sah sich unsicher lächelnd um, weil sie wissen wollte, was der Grund für die allgemeine Heiterkeit war. Ich quetschte mich seitlich an der Schlange vorbei, um meinen Joghurt zu bezahlen. (Und nur ganz nebenbei: 1,40£ ist ja wohl eine Unverschämtheit für einen kleinen Becher Bakterien mit Fruchtgeschmack.)

Am Tisch war Avril gerade dabei, ihre Serviette zu einem kleinen Kranich zu falten. Sie setzte ihn mir auf die Handfläche, als ich neben ihr Platz nahm: Er war so leicht, dass er fast nichts wog. Etwas an seiner Kopfhaltung erinnerte mich an sie.

»Das ist bisher dein bester«, sagte ich ihr.

»Er ist für dich. Ein kleines Geschenk zur Feier deiner Rückkehr.«

»Oh, danke. Hab dich lieb.« Wir tauschten einen verschwörerischen Blick. Du und ich gegen all die anderen Idioten.

Hab dich lieb.

Erin verdrehte einen Plastikstrohhalm zu einem unförmigen Knoten. »Ich begreife echt nicht, wie du so viel essen kannst und so schlank bleibst, Lyds.«

»Hexerei«, sagte ich, während ich den Deckel von meinem Joghurt abzog, obwohl Erin es nicht als Frage gemeint hatte. Man braucht kein Genie zu sein, um zu wissen, dass ich viel essen kann und schlank bleibe, weil ich jede Woche ungefähr eine Million Meilen laufe. Sie wollte nur, dass ich ein schlechtes Gewissen bekomme – wie sie, wenn sie mittags mehr als einen Apfel aß. Als wüssten wir nicht alle, dass sie jeden Abend ihr eigenes Körpergewicht an Nachos in sich hineinfutterte, bevor sie alles ins Klo kotzte.

Wie dem auch sei, ich entfernte gerade den Deckel von meinem Joghurt und tauchte meinen Plastiklöffel hinein, weil man uns hier kein richtiges Besteck gönnt (Mr. Graham schwadroniert immer was von Umweltschutz, dabei sollte er einmal ein Wörtchen mit dem Mensabetreiber wegen dieses Plastikwahns reden), da merkte ich, dass jemand neben mir stand.

Es war die Neue, wie auch immer sie heißen mochte, etwas mit B. Auf ihrem Tablett war ein Teller mit orangefarbener Pampe. Ihre Wangen waren immer noch gerötet. Oder vielleicht sah sie immer so aus. Ihre Haare waren kurz, hingen ihr aber in die Augen, weil ihr Pony lang war.

»Ich wollte nur … Also ich wollte …«, sagte das neue Mädchen. »Du weißt schon … Danke.«

Alle Mädchen am Tisch sahen interessiert auf. Es war geradezu spürbar, wie sie die vorhandenen Stühle zählten und rechneten: fünf Plätze besetzt mit Leuten, einer, auf dem sich Bücher und Federmappen und Pullover stapelten. Der Scheitel der Neuen hob sich blass von ihrem dunklen Haar ab. Ihr Pullover war zu neu und ihr Rock war zu lang, hing über weißen, umgeschlagenen Söckchen.

Ich zuckte die Schultern. »Die Jungs haben sich dumm aufgeführt, und ich wollte mein Mittagessen bekommen.«

Die Neue nickte und hielt einen Moment lang inne, als spielte sie mit dem Gedanken, uns zu bitten, die Pullover wegzunehmen, damit sie sich setzen konnte. Doch dann ging sie weiter. Sie fand einen leeren Tisch am anderen Ende des Saals.

»Was war denn los?«, fragte Avril. »Warum hat sie sich bei dir bedankt?«

Ich erzählte ihnen davon. Avril lachte, und die anderen Mädchen kicherten und sahen zu Darren Raymond und seinem Tisch, wo sich alle mit Brotstücken bewarfen. Darren ist ein echter Spinner, ein Mathe- und Computernerd und dazu völlig verpickelt. Der Typ Mensch, der auf anderen herumhacken muss, um zu verbergen, dass er ein soziales Problem hat.

»O Mann, die sind so ahnungslos«, sagte Erin mit einem tiefen Seufzen. »Sieht doch jeder, dass sie nicht lesbisch ist.«

»Ach ja?«, sagte ich und schleckte Joghurt von meinem Löffel. Schmecken konnte ich ihn eigentlich nicht. »Woher weißt du das?«

»Sie sieht jedenfalls nicht aus wie Georgie oder Whitney.«

»Ich bin ja keine Expertin, aber ich glaube nicht, dass alle lesbischen Mädchen gleich aussehen«, sagte Avril.

»Aber der Name ist echt komisch«, sagte Sophie. »Es ist ein Jungenname.«

»Und diese Frisur«, sagte Olivia. »Sie könnte etwas Make-up vertragen.«

»Und zehn Kilo abnehmen.«

»Bloß weil sie hässlich ist, heißt das nicht, dass sie eine Lesbe ist«, sagte Erin. »Georgie und Whitney sind nicht hässlich. Na ja, jedenfalls Whitney nicht.«

»Oh, du stehst auf Whitney«, kicherte Sophie.

»Halt den Mund.«

»Ich würde das nicht ertragen, Lesbe genannt zu werden«, sagte Avril. »Ich habe immer noch Hunger, Lyds, kann ich was von deinem Joghurt abhaben?«

Ich schob ihr den Becher zu. »Nimm den Rest. Ich habe keinen Hunger mehr.« Ich griff nach dem Papierkranich, den sie gebastelt hatte.

Die Neue saß allein an ihrem Tisch und aß ihr matschiges Mittagessen. Ich sah nicht in ihre Richtung, aber ich wusste, dass sie da war. Ich spürte sie, und ich dachte ständig an sie. Und das geht jetzt den ganzen Tag so, weshalb ich auch über sie schreibe.

Es war dumm, es zu tun. Ich habe eine Verbindung zwischen uns hergestellt, und jetzt wird sie mir überall auffallen, wohingegen ich bisher in seliger Unwissenheit gelebt hatte. Mir wird auffallen, dass die Neue keine Freunde hat, dass ihre weißen Socken fast die gleiche Farbe wie ihre Beine haben, dass die Leute tuscheln und ihr den Rücken zukehren. Mir wird das Gekicher auffallen, wenn die Lehrkräfte ihren komischen Jungennamen sagen. Der noch nicht einmal so komisch ist, wie sich inzwischen herausgestellt hat. Jemand hat es mir hinterher erzählt, sie heißt Bailey. Mädchen haben oft Jungennamen. Niemand hackt auf Tyler oder Billie herum. Wenn die Neue cooler wäre, käme sie problemlos damit durch.

Aber das ist sie nicht. Sie schleppt den Namen mit sich herum, wie sie ihr Übergewicht mit sich herumschleppt, ihr ungeschminktes Gesicht, ihr glutenfreies Mittagessen. Und diese Kleinmädchensocken.

Herrgott, wenn man es diesen Leuten bloß verklickern könnte. Pass dich an! Guck hin und mach es nach! Es ist so viel einfacher. Die Leute sehen einen ständig an. Sie bilden sich ein Urteil über dich. Es ist besser, selbst zu entscheiden, was sie zu sehen bekommen.

Aber das kann man nicht sagen. Nicht zu jemandem, der es nicht instinktiv weiß. Nicht zu jemandem ohne den geringsten Selbsterhaltungstrieb.

Ich saß heute an dem Mittagstisch, drehte den Kranich in der Hand, spürte Avril neben mir, die mit meinem Löffel aß, spürte die anderen um mich herum, ihr Geplapper und ihre Sicherheit. Eine Blase, so fragil wie ein Papierkranich.

Ich streichelte mit dem Finger über die Flügel des Kranichs, langsam, über den einen sorgfältig gefalteten Flügel und dann den anderen, und beobachtete, wie sie sich unter meiner Berührung bogen.

Ich habe ihn immer noch. Er sitzt in diesem Moment auf meinem Schreibtisch und sieht mich an.

Klingt das dramatisch oder doof?

»Komm schon, Lyds, ein Bild von dir«, sagte Harry Carter. Er lehnte an der Wand, als würde er für das Albumcover einer Boyband posieren.

Lydia wäre weitergegangen, aber der Korridor war an der Stelle schmaler, und die Harry-Carter-Wirkung sorgte im Gang automatisch für verlangsamte Schritte. Sie blieb also stehen und nahm eine Pose ein. »Dann mach eins.«

Er machte einen Schmollmund. »Doch nicht diese Art von Bild.«

»Oh, hi, Harry«, sagte Avril.

»Ich weiß genau, was für eine Art von Bild du meinst«, sagte Lydia. »Sehe ich wie die Sorte dummes Mädchen aus, das dir ein Bild geben würde, damit du es mit deinen erbärmlichen Freunden im Internet teilst?«

Harrys Lächeln verbreiterte sich. Er hatte sehr weiße Zähne, gerade und gleichmäßig wie die eines Popstars, und ein Grübchen, das die Hälfte der Oberstufe für ihr Leben gern berührt hätte. Sophie hatte seinen Namen mindestens tausendmal in ihr Notizbuch geschrieben.

»Ich habe gehört, was du in der Mittagspause gesagt hast«, sagte er. »Du hast Darren Raymond alles von deiner Muschi erzählt.«

»Gesagt habe ich, dass er in tausend Jahren nicht in die Nähe von meiner oder der irgendeiner anderen kommen wird.«

»Ich finde dich geil.«

»Denk, was du willst. Die Gedanken sind frei.«

Pass dich an, guck hin und mach es nach. Auch wenn Lydia in diesem Fall hauptsächlich das Fernsehen nachahmte, weil niemand im richtigen Leben Harry Carter abwies.

Er beugte sich vor. »Mach eines nach der Schule in der Toilette und sims es mir«, flüsterte er. »Ich werde es mit niemandem teilen, versprochen.«

»Träum weiter«, sagte sie und zwinkerte ihm zu, bevor sie sich abwandte.

»Genau wie Darren Raymond!«, brüllte Harry ihnen nach und wandte sich lachend seinen Freunden zu.

Sie hakte sich bei Avril ein. »Los, oder wir kommen zu spät und können nicht nebeneinander sitzen.«

»Tust du’s?«, fragte Avril, als sie den Englischtrakt erreichten.

»Tue ich was?«

»Harry ein Bild schicken.«

»Herrgott, warum sollte ich so etwas tun?«

Sie erreichten das Klassenzimmer früh genug, um noch hinten zwei Plätze nebeneinander zu ergattern. »Er ist attraktiv«, sagte Avril. »Und ich glaube, er steht auf dich.«

»Nicht mein Typ.«

»Vielleicht schickt er dir auch ein Bild.«

»Igitt.«

»Stehst du wirklich nicht auf ihn? Oh, hast du einen Bleistift?«

Lydia reichte Avril einen Bleistift. »Warum redest du andauernd über Harry? Du stehst doch nicht etwa auf ihn, oder?«

»Nein, ich habe mich bloß gefragt, ob er etwas für dich wäre.«

»Denn ich dachte, du stehst auf Zane.«

Avril zuckte die Schultern. »Er ist ein bisschen … ich weiß nicht, langweilig.«

»Woher weißt du, dass er langweilig ist? Er sagt ja nie etwas.«

Zane war tatsächlich ein bisschen zu lahm für Avril. Er stellte nicht das geringste Risiko dar.

»Wir haben gestern Abend auf Facebook gechattet«, sagte Avril.

»Zane kann tippen? Das ist eine Überraschung.«

»Seine Rechtschreibung ist unter aller Sau.«

Lydia lachte erleichtert auf. »Du willst jemanden, der gut in Rechtschreibung ist?«

»Ich will bloß jemanden, der etwas zu sagen hat, verstehst du?«

»Wie Harry?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Wie unter aller Sau?«

Avril holte ihr Handy aus der Tasche, um es ihr zu zeigen. Lydia beugte sich über ihre Schulbank.

»Miss Toller? Miss Levinson?«, sagte Miss Drayton, die gerade das Zimmer betrat, und Lydia schoss sofort auf ihren Platz zurück. »Ist das Ihr Handy, Avril? Würde es Ihnen etwas ausmachen, es auszuschalten und es mir für die Dauer der Schulstunde zu überlassen? Uns bleiben nur ein paar Wochen bis zu Ihren Prüfungen, und ich hätte bitte gern Ihre volle Aufmerksamkeit. Dann holen Sie jetzt Ihre Ausgabe von Am grünen Rand der Welt heraus und lesen uns ab Seite 115 vor. Beginnen Sie am Kapitelanfang.«

Avril warf Lydia einen gequälten Blick zu und legte ihr Handy in Miss Draytons Hand. Sie kramte ihre Taschenbuchausgabe des Romans hervor, die voller Eselsohren und Anmerkungen war, während Miss Drayton ihr Beutegut auf das Pult legte – eine Mahnung an jeden, der auf den Gedanken verfallen könnte, während der Englischstunde zu simsen oder zu twittern. »Die Senke zwischen den Farnen«, fing sie an.

Lydia legte den Finger in ihr Taschenbuch – als Lesezeichen – und beobachtete Avril.

Wenn man den ganzen Tag mit jemandem zu tun hatte, fand man fast nie Gelegenheit, diesen Menschen richtig anzusehen. Man war zu sehr damit beschäftigt, sich gemeinsam andere Dinge anzusehen. Selbst wenn man miteinander redete, starrte man den anderen nicht direkt an. Man warf dem anderen nur Blicke zu, sah wieder weg, sah etwas anderes an.

Sie jetzt anzusehen, war wie ein stibitztes Stück Schokolade, das heimlich in Lydias geschlossenem Mund auf ihrer Zunge zerschmolz.

Avril hatte dichtes dunkles Haar, es war so dunkelbraun, dass man es fast schwarz nennen konnte. Heute war es geglättet und fiel ihr über die Schultern. Sie strich es sich immer hinter die Ohren. Ihre Fingernägel waren kurz gekaut. Sie trug einen winzigen silbernen Muschelring, den Lydia ihr von einem Urlaub auf Naxos mitgebracht hatte, bevor sich Mum und Richard getrennt hatten.

Ihre Wimpern waren lang, die Wangen übersät mit Sommersprossen, die im Sonnenschein zu Tage traten. In den Ohrläppchen hatte sie je zwei Löcher – Avrils Mutter hatte das zweite Paar noch nicht entdeckt. In den Ferien hatten sie sich die Löcher gemeinsam machen lassen. Das Piercinggerät war in Avrils linkem Ohr stecken geblieben, und das Loch hatte geblutet. Anschließend waren sie zu McDonald’s gegangen, und Lydia hatte einen Eiswürfel aus ihrer Cola an Avrils kleine Wunde gehalten. Das schmelzende Eis war ihr die Arme hinuntergelaufen, und Avril hatte es mit dem Finger weggewischt.

»Er hatte sie geküsst«, las Avril, nicht laut, aber mit einer Stimme, die gut vernehmbar war. Avrils Stimme war immer gut vernehmbar. In der siebten Klasse war sie immer nach vorne gegangen und hatte ihre Buchreferate vorgelesen. Damals hatte sie die Haare noch geflochten getragen, und Lydia hatte ihre Mum gebeten, sie genauso zu frisieren. Allerdings hatten sich ihre Zöpfe immer gelöst und schrecklich unordentlich ausgesehen. Früher hatten sie die gleichen schwarzen Spangenschuhe gehabt. Damals hatte Lydia immer die Augen geschlossen und gelauscht, wenn Avril vorlas.

Sie hatten sich gegenseitig zu dem gemacht, was sie heute waren. Avrils Haare, Lydias Lachen. Lydias Urlaub, Avrils Finger. Sie kauften die gleichen Klamotten zur gleichen Zeit, auch wenn die Kleidungsstücke jeweils anders an ihnen aussahen. Ihre Geschichten standen auf dem Körper der jeweils anderen geschrieben.

Das würde sich nie ändern.

»Lydia Levinson?«

Gelächter holte sie in die Gegenwart zurück. Sie befand sich wieder in Miss Draytons Klassenzimmer, und alle Anwesenden hatten sich umgedreht und starrten sie an.

»Ich weiß, dass Avril ein hübsches Wesen ist«, sagte Miss Drayton, »aber wenn Sie sich jetzt bitte von ihr losreißen könnten? Sie sind mit Vorlesen dran.«

Avril lächelte. Sie verdrehte die Augen und ließ den Finger um ihr Ohr kreisen. Jemand kicherte. Vorne im Klassenzimmer hörte Lydia den Namen »Bailey«.

Die Röte, die sie hasste, schoss ihr den Hals hinauf.

»Das nächste Kapitel? Einzelheiten eines Spaziergangs in der Dämmerung?«, schlug Miss Drayton vor.

Lydia blätterte weiter. Dann räusperte sie sich und begann schließlich zu lesen.

KAPITEL 4

Jo

Jo hatte den Kinderkanal CBeebies eingeschaltet und einen Fischauflauf im Backofen, bevor Lydia nach Hause kam. Avril war bei ihr. Die Hemden hingen ihnen heraus, die Schulpullover waren hochgekrempelt, die schlanken Beine zwischen Rocksaum und Strümpfen nackt. Die langen Haare waren notdürftig zu Pferdeschwänzen zusammengebunden.

Im vergangenen Herbst, am Morgen des ersten Schultags, hatte Jo eine Bürste vorgeschlagen. Lydias Haare waren so schön, wenn sie ordentlich gebürstet waren und in glänzenden kupferfarbenen Wellen um ihr Gesicht und ihren Rücken hinunterfielen. Sie hatte jegliche Hoffnung auf die Bürste fahren lassen, als sie zum ersten Mal Lydias beste Freundin an der Tür erblickte, die gekommen war, um sie zur Schule abzuholen. Avril trug die Haare in einem unordentlichen Knoten, und deshalb würde Lydia sie ebenso tragen müssen. Seit die beiden Mädchen einander begegnet waren, zogen sie sich gleich an und redeten gleich. Sie liebten dieselbe Musik und dieselben Fernsehsendungen.

Lydia knallte die Tür zu, und Avril schnupperte. »Riecht super hier, Mrs. Merrifield«, sagte sie.

Jo blickte von der Spüle auf, wo sie Kirschtomaten wusch. »Fischauflauf. Ich habe letzte Woche eine Extraportion gemacht und sie eingefroren. Du kannst gern zum Abendessen bleiben, Avril.«

»Geht nicht«, antwortete Lydia für Avril. »Ich bin bloß gekommen, um mich umzuziehen, dann sind wir wieder verschwunden.«

Avril warf Jo ein entschuldigendes Lächeln zu. »Wir treffen uns mit ein paar Freundinnen bei Starbucks. Lerngruppe. Ich hoffe, Sie sind nicht böse.«

»Aber ich muss … Lydia!«

Lydia war schon auf dem Weg zu ihrem Zimmer, kehrte jedoch widerwillig zurück. Sie lehnte am Türrahmen, bereit, gleich wieder zu gehen.

»Ich muss nach London fahren, um deine Großmutter zu besuchen«, sagte Jo und wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. »Du musst dich für mich um das Abendessen von Oscar und Iris kümmern. Ich bin so um neun, spätestens zehn wieder hier.«

»Ich kann nicht«, sagte Lydia. »Ich habe etwas vor.«

»Es tut mir leid, aber das hier ist wichtiger.«

»Wir wollen lernen. Wir haben bald Prüfungen.« Sie leierte den wohlvertrauten Spruch herunter, der ihnen immer wieder gepredigt wurde. »Die GCSE-Prüfung ist von entscheidender Bedeutung für den weiteren Lebensweg, für die Ausbildung ebenso wie für eine akademische Laufbahn.«

»Ich weiß. Und das stimmt auch. Aber Honor braucht mich, und es ist dringend.«

»Warum können Oscar und Iris nicht mit dir mitfahren?«

»Weil sie rechtzeitig ins Bett müssen. Warum bleibt ihr nicht hier und lernt hier? Es gibt reichlich Auflauf.«

»Ich bin mit Erin und Sophie im Coffeeshop verabredet«, sagte Avril. »Sie warten dort auf mich. Tut mir leid, Mrs. M.«

»Was ist mit Richard?«, fragte Lydia. »Er könnte sich zur Abwechslung auch mal um seine Kinder kümmern.«

»Lydia!«

Avril senkte den Blick, aber Lydia starrte Jo direkt an.

»Ich werde Richard nicht anrufen«, sagte Jo. Ihre Stimme klang schärfer als beabsichtigt. »Ich könnte ohnehin nicht so lange warten, bis er hier wäre. Ich bitte dich, als verantwortungsvolle Fast-Erwachsene, einen Abend lang auf deinen Bruder und deine Schwester aufzupassen, während ich deine Großmutter besuche, die mich braucht. Nein, ich bitte dich nicht, ich befehle es dir. Es tut mir leid, aber du wirst zu Hause bleiben müssen.«

»Das ist voll unfair!« Lydia drehte sich um und stürmte aus der Küche. Dann hörte man, wie sie die Tür zu ihrem Zimmer zuknallte. Jo seufzte.

»Ich muss los. Tut mir leid, Mrs. M. Ich hoffe, dass es bei Lydias Oma nichts Schlimmes ist.« Avril schlüpfte aus dem Haus.

Jo zählte bis zehn und ging dann zu Lydia. Ihr Zimmer befand sich im Erdgeschoss, auf der anderen Seite des kurzen Flurs an der Haustür, in dem immer Gummistiefel und Regenmäntel herumlagen. Sie klopfte an die Tür. Es kam keine Antwort, also rief sie: »Ich werde das Abendessen auf den Tisch stellen, bevor ich losfahre, aber du wirst bei ihnen sitzen müssen, auch wenn du selbst nichts essen willst. Und räum anschließend ab. Vergiss nicht, ihnen die Zähne zu putzen.«

Keine Antwort. Jo legte den Kopf in den Nacken und sah zur Decke.

»Honor ist gestürzt. Sie liegt im Krankenhaus. Ich werde ihr ein paar Sachen von zu Hause vorbeibringen.«

Hinter der Tür regte sich etwas, aber keine Antwort.

»Es geht ihr so weit gut«, fügte Jo hinzu. »Für den Fall, dass du dich das gefragt haben solltest.«

Sie wartete ein, zwei Minuten und ging dann in die Küche, um den Auflauf aus dem Ofen zu holen und zwei Portionen zum Abkühlen auf Teller zu füllen. Jo wollte gerade wieder nach Lydia rufen, da betrat das Mädchen die Küche. Sie hatte sich umgezogen und trug jetzt eine tief sitzende Jogginghose und ein T-Shirt, das eng an ihrem flachen Bauch anlag. Sie schrammte einen Stuhl über den Boden und setzte sich an den Tisch. Jo öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn dann wieder und ging ihre Handtasche und die Autoschlüssel holen.

Als Jo durch die Glastüren in den Empfangsbereich des Homerton University Hospital ging, kochte sie immer noch vor Wut und probte, was sie hätte sagen sollen – die perfekten Worte, um ihren Teenager zu Hause dazu zu bringen, reumütig klein beizugeben. Doch als sie die Station betrat, drang ihr der antiseptische Krankenhausgeruch in die Nase, und sie schloss die Augen und dachte: Stephen.

Der Anruf vor zehn Jahren. Im Juni vor zehn Jahren. Die Worte eines Fremden. Sie hatte die sechsjährige Lydia auf der Rückbank angeschnallt, wo sie sofort einschlief. Die Fahrt ins Krankenhaus mit zitternden Händen am Lenkrad, Jo ständig in der Angst, einen Unfall zu bauen, bis zu dem Moment, wo sie den Motor abstellte. Sie trug ihre Tochter ins Krankenhaus, lange baumelnde Beine, und hielt sie im Aufzug, auf dem Weg nach oben, um Jos Ehemann, Lydias Vater, zu sehen, wo er in einem Bett lag, neben einer Maschine, die das Atmen für ihn übernahm. Der chemische Geruch nach Angst und das kleine, vertrauensvoll in ihren Armen schlafende Mädchen …

Der Aufzug klingelte – und Jo schlug die Augen auf. Ihre flachen Stiefel mit den weichen Sohlen verursachten kein Geräusch auf dem gebohnerten Kachelboden. Draußen dämmerte es, aber im Krankenhaus herrschte helllichter Tag. Sie sprühte sich Desinfektionsmittel auf die Hände und ging durch die Tür zum Empfangsschalter der Station. »Hi, ich möchte zu Honor Levinson, bitte«, sagte sie, und die Krankenschwester setzte sich in Bewegung, um ihr den Weg zu zeigen.

Die Station war voller alter Menschen in Betten. Manche schliefen, manche sahen fern. Bei ein oder zweien saßen Angehörige auf Plastikstühlen. Ein Mann lag auf der Seite und simste mit seinem iPhone. Honor schlief in einem Bett am anderen Ende. Ihr Kopf war mit Verbänden umwickelt.

»Mein Gott«, sagte Jo. »Sie ist wirklich so richtig gestürzt, was?«

»Die Gute schläft«, sagte die Krankenschwester. »Seit meine Schicht angefangen hat, ist sie nur kurz wach gewesen, als ich ihre Werte genommen habe. Ist das Beste für sie. Das Verbandszeug lässt es schlimmer aussehen, als es ist – sie ist bloß ein bisschen am Hinterkopf genäht worden. Ich sehe einmal, ob ich einen Arzt erwische, der mit Ihnen reden kann.«

Als Jo allein war, zog sie einen Stuhl an Honors Bett und betrachtete sie. Sie hatte ihre Schwiegermutter noch nie zuvor schlafen gesehen. Wach und aufrecht war Honor schlank und groß, aber unter der Decke wirkte sie hager und klapprig. Ihre Haut war wächsern, die Wangen wirkten eingefallen. Ihr Mund stand halb offen, sodass die Füllungen in ihren Zähnen zu sehen waren. Der rechte Arm hing an einer Infusion. Ihre Atmung ging leise.

Jo konnte es kaum glauben, dass Honor sie als nächste Angehörige angegeben hatte. Sie wusste, wie sehr es Honor missfallen musste, wenn Jo sie so sah.

Sie sah alt aus. Ihr langes silbernes Haar war zersaust. Jo streckte schon die Hand aus, um es zu ordnen, als eine Stimme ertönte. »Hallo, ich bin Dr. Mukhtar.«

Jo richtete sich beinahe schuldbewusst auf und gab dem Arzt die Hand. Er sah unglaublich jung aus, mit glatten Wangen, als hätte er noch nicht angefangen sich zu rasieren. War das ein Zeichen, dass man älter wurde, wenn die Ärzte wie Kinder aussahen?

»Ich bin Honors Schwiegertochter«, erklärte sie. »Ich bin so schnell hergekommen, wie ich konnte.«

»Ja, ein Sturz, zu Hause. Die Treppe hinunter, glaube ich. Eine Gehirnerschütterung und eine Wunde am Kopf. Am schwerwiegendsten ist die Verletzung an der Hüfte.«

»Sie hat sich die Hüfte gebrochen?«

»Ja. Sie wurde am Nachmittag an der Hüfte operiert. Zum Glück konnten wir schnell operieren. Sie hat etwas Osteoporose, was in ihrem Alter natürlich nicht unüblich ist, aber nach allem, was man so hört, war es ein ziemlich heftiger Sturz.«

»Sie muss eine Heidenangst gehabt haben«, sagte Jo.

»Also in der Akte steht, dass Mrs. Levinson …«

»Dr. Levinson. Sie hat einen Doktortitel, vielleicht zwei. Sie wird böse, wenn man sie mit ›Misses‹ anredet.«

»Tatsächlich«, sagte der Arzt höflich. »Tja, Dr. Levinson war bei Bewusstsein, als sie ins Krankenhaus eingewiesen wurde. Sie hat selbst den Notarzt gerufen. Aber sie war verwirrt.«

»Ich kann mir Honor nicht verwirrt vorstellen.«

»Sie hatte starke Schmerzen, und dann war da die Gehirnerschütterung. Wir haben sie sorgfältig unter die Lupe genommen. In ihrem Alter ist eine gebrochene Hüfte keine kleine Sache. Lebt sie allein?«

»Ja.«

»Tja, wir werden sie mehrere Tage hierbehalten, während sie sich von der Operation erholt, und sie wird sich mit jemandem vom Sozialdienst unterhalten müssen, um Pläne für ihre Pflege nach der Entlassung aus dem Krankenhaus zu machen. Sie wird Physiotherapie benötigen, um ihre Beweglichkeit so weit wie möglich wiederherzustellen, und sie wird viel Hilfe im Alltag brauchen.«

»Natürlich. Wir werden etwas organisieren.« Jo blickte wieder auf Honor. Arme Honor, dachte sie und war auf der Stelle überrascht, dass sie so etwas über ihre Schwiegermutter denken konnte. Ihre Schwiegermutter hatte so etwas ganz bestimmt nie über sie gedacht.

Honors Zuhause war ein hohes, schmales Backsteinhaus in Stoke Newington, das vom Gehweg aus über Steinstufen zu erreichen war, die jetzt, bei dem leichten Regen, rutschig waren. Der Haustürschlüssel war unter den wenigen Habseligkeiten gewesen, die Honor im Krankenhaus bei sich hatte. Jo sperrte auf, streifte die Schuhe am Fußabtreter ab und sah sich um.

Es fühlte sich leer an, bewohnt von Stille und dem Geruch nach Büchern und Staub. Jo schaltete das Licht ein und sah das Blut auf dem Boden. Es war eine Spur, die vom Fuß der Treppe bis ins Wohnzimmer führte. In der Nähe der Treppe, wo ein umgedrehter Wäschekorb lag, befand sich eine größere Lache.

»Ach, Honor …«, seufzte Jo. Sie machte einen großen Schritt über das Blut hinweg und ging hinunter in die Küche, um einen Lappen zu holen. Die Teekanne stand in der Nähe des Wasserkochers. Ein Geschirrtuch war neben einem Buch auf dem Tisch liegen gelassen worden, aber das war auch schon das Einzige, was man in dieser Küche annähernd als Unordnung bezeichnen konnte. Nichts im Vergleich zu Jos eigener Küche. Unter der Spüle fand sie eine Küchenrolle und Reinigungsspray, Putzlappen und Teppichreiniger. Sie nahm alles mit nach oben.

Jo wartete einen Moment, bevor sie mit dem Putzen anfing, und betrachtete das Blut argwöhnisch. Würde ihr davon nicht schlecht werden? Sie kam nicht klar mit Körperflüssigkeiten, mit Erbrochenem oder Urin oder Blut. Wenn sie Iris wickelte, musste sie manchmal immer noch würgen. Schließlich ging sie auf die Knie und sprühte Flüssigkeit auf die Flecken. Der künstliche Zitronenduft überdeckte jeden anderen Geruch, und die Flecken auf den Dielenbrettern ließen sich mit dem Spray ohne Weiteres entfernen. Auf dem Küchenpapier sah es überraschend hellrot aus. Allem Anschein nach hatte Honor recht viel Blut verloren.

Jo würgte, hielt sich den Handrücken vor den Mund und dachte an Zitronen. Rund und gelb, spitz und voller Grübchen und frisch. Zitronen an Bäumen, wie sie wuchsen. Sie schluckte und bückte sich wieder, um sich ihrer Aufgabe zu widmen.

Der Boden selbst war nicht allzu sauber. Mit dem Blut lösten sich auch Staub und Schmutz, in der Nähe der Fußleisten lagen Wollmäuse herum. Jo arbeitete sich auf die Treppe zu und schob den Wäschekorb aus dem Weg. Darunter lag zusammengeknüllt etwas Kleines und Weißes. Jo hob es hoch: ein Schlüpfer. Sie sah die Treppe hoch und erblickte noch einen, und ein Unterhemd und ein paar andere Sachen.

Honor Levinson würde ihre Schlüpfer niemals öffentlich zur Schau stellen. Der Anblick, wie sie achtlos herumlagen, dort, wo sie hingefallen waren, war irgendwie schrecklicher als der Anblick von Honors Blut.

Jo stand auf, sammelte rasch die Kleidungsstücke ein und legte sie in den Korb. Ob sie sauber oder schmutzig waren, ließ sich nicht sagen, und sie würde sie nicht genauer unter die Lupe nehmen, um es herauszufinden. Sie würde sie zum Waschen mit nach Hause nehmen.

Als sie beim Betreten des Wohnzimmers das Licht einschaltete, musste sie wieder innehalten und sich erneut die Hand vor den Mund halten. Es war wie in einem Horrorfilm. Das Blut war überall auf dem Teppich und ein gewaltiger dunkler Fleck in der Nähe des durchgesessenen Chintz-Sofas. Ein Tisch war umgekippt, und das Telefon lag daneben. Jo stellte den Tisch wieder auf, wischte Blut vom Telefon, sah nach, ob Nachrichten auf Band gesprochen waren. Keine.

Jo machte sich mit Teppichreinigungsspray und nassen Putzlappen über den Läufer her, und es gelang ihr, das meiste Blut herauszubekommen, aber ein brauner Fleck blieb dennoch zurück. Sie überprüfte das Zimmer, um sicherzugehen, dass ihr nichts entgangen war. Den Blick hielt sie dabei strikt zu Boden gerichtet, da sie wusste, was passieren würde, wenn sie sich die Fotos an der Wand zu genau ansah. Als sie keinerlei Blutspuren mehr fand, trug sie das Putzzeug nach unten und warf die Lappen und das Küchenpapier in den Abfall. Dann wusch sie sich die Hände mit Spülmittel und stellte mit einem Seufzen den Wasserkocher für eine Tasse Tee an. Seit dem Kaffee in dem Coffeeshop mit den Kindern heute Nachmittag hatte sie nichts getrunken.

In dieser Küche hatte sie in den vielen Jahren, die sie Honor kannte, noch nicht ein Mal Tee gekocht – es war ihr nie gestattet gewesen –, also musste sie sich ein wenig umsehen, um die Dose zu finden. Dabei fiel ihr auf, dass die Küche zwar ordentlich war, aber doch recht schmutzig. Auf der Arbeitsfläche waren kreisrunde Teeflecke, vor dem Toaster Brotkrumen. An den Schranktüren waren Teespritzer und ein paar Fingerabdrücke. Die weiße Oberfläche des Herds war voller Fettspritzer.

So hatte sie Honors Küche nicht in Erinnerung. Das Haus, und zwar jeder Zentimeter, war immer gewissenhaft sauber gewesen – die Bücher abgestaubt, die Kerzenständer poliert, die Spiegel makellos. So sehr, dass Jo vor Honors Besuchen immer fieberhaft ihr eigenes Haus geputzt hatte. Laut Stephen hatte sie sich lächerlich benommen. »Meiner Mutter ist es egal, ob du unter dem Kühlschrank Staub wischst«, hatte er ihr gesagt, aber Jo war sich sicher, dass dem nicht so war. Sie kannte Honors Maßstäbe. Sie wusste, dass sie Honors Ansprüchen nicht genügte.

Letztlich hatte sich Stephen immer ein Staubtuch geschnappt und mitgeputzt. Immerhin hatte Honor ihm das Putzen beigebracht, und er war gut darin. Er besaß die methodische Denkweise des Wissenschaftlers. Er hatte Möbel verrückt, Küchenschränke neu eingerichtet und eine Leiter geholt, um auch oben auf den Schränken an den Staub heranzukommen. Der kleinen Lydia hatte er ihren eigenen Spielzeugbesen geschenkt, damit sie helfen konnte, »wenn Oma zu Besuch kam«.

Jos zweiter Mann, Richard, hatte ihr Verhalten komisch gefunden. Er lachte sie aus und sah sich weiter Fußball an, während sie um ihn herum staubsaugte – mit Oscar in der Babytrage und dann, im folgenden Jahr, mit Iris. »Sie ist nicht einmal mehr deine Schwiegermutter. Wen schert’s, was sie denkt?«, hatte er gesagt. »Meiner Mum zuliebe gibst du dir nicht solche Mühe.«