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Packender Thriller, der sich mit den Praktiken des Ostdeutschen Geheimdienstes und deren wirtschaftliche Verknüpfungen auch in andere Länder befasst. Dabei wurden authentische Geschehnisse und autobiografische Erlebnisse fiktiv dargestellt.
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Seitenzahl: 299
Veröffentlichungsjahr: 2017
Willy W. F. Heyer
Erstes Buch
Thriller
Für Anneliese, Jeannine und Gerta
Ach, Unbesonnener, wo willst du hin?Du weißt wohl, das in diesen Mauern dein Leben niemals sicher ist.
Lucio Silla
Verlag, tredition GmbH
© 2017 Werner Friedrich
ISBN (Paperback)978-3-7439-2978-4ISBN (Hardcover)978-3-7439-2979-1ISBN (eBook)978-3-7439-2980-7
Die Handlungen und Personen sind frei erfunden.
Jede Ähnlichkeit mit existierenden Personen und Geschehnissen sind rein zufällig und nicht gewollt.
Orte und Ortsbeschreibungen stimmen nicht immer mit der Realität überein und können für die Handlung abgewandelt sein.
In diesem Moment erhellte der Schein eines Streichholzes den Kopf eines Mannes. Er saß hinter dem Lenkrad und schien es sich bequem gemacht zu haben. Auf dem Armaturenbrett war eine Thermosflasche zu sehen. Silbrig glänzte sie im Schein des Streichholzes. Als dieses erloschen war sah er das Glimmen der Zigarette. Der Mann drehte das Fenster etwas herunter. Schnell war er wieder durch den Spalt der offenen Tür ins Zimmer gehuscht, schloss sie und drehte den Schlüssel zweimal herum. Er saß in der Falle. Vom Sessel am Fenster konnte er einen Teil der Straße und gleichzeitig die Tür im Auge behalten. Der andere Sessel stand in der Mitte des Zimmers. Zwischen beiden ein flacher Couchtisch. An der schrägen Außenwand das Bett und gegenüber der alte Bücherschrank. Das Erbstück seines Großvaters. Er wollte sich eine Zigarette anzünden, hatte aber Angst das der Schein des Feuerzeuges von draußen gesehen werden konnte. Er setzte sich auf den Sessel am Fenster und zog sich die Jeansjacke über die Schultern, ihm war kalt. Er schreckte durch ein Geräusch auf. Im ersten Moment konnte er es nicht einordnen.
Er musste eingeschlafen sein, für wie lange wusste er nicht. Langsam stand er auf, zog sich schnell die Jacke an, die von seiner Schulter gerutscht war. Das Geräusch kam von der Straße. Auf Zehenspitzen ging er zur Tür, schloss sie auf und öffnete sie vorsichtig etwas. Das Geräusch, welches er hörte war der Motor eines Autos. Schnell stand er am Dachfenster und sah den Lada gerade noch wegfahren. Auch das Paar konnte er nicht mehr sehen. Allerdings war nicht die ganze Straße einzusehen. Er ging schnell zurück ins Zimmer und sah vom Fenster den anderen Teil der Straße. Auch hier war nichts zu sehen. War dies nur eine Routinekontrolle? Die Thermosflasche auf dem Armaturenbrett sprach dagegen. Oder war es gar eine Finte und sie wollten ihn nur aus dem Haus locken. Auch unwahrscheinlich, denn wenn sie wussten das er hier war, wäre die Sache schnell zu ende. Also doch nur Routine. Sein Herz schlug wie verrückt und er steckte sich nun doch eine Zigarette an. Im gleichen Moment verfluchte er es, verbarg sie in der Hand und sah wieder auf die Straße hinaus. Der Wind war etwas stärker geworden und so vernahm er außer dem rauschen der Blätter nichts anderes. Nachdem er die Zigarette geraucht hatte verspürte er zum ersten Mal in dieser Nacht ein leichtes Hungergefühl. Er wusste, dass er sich im Haus nicht bewegen konnte ohne Geräusche zu verursachen. Daher schaute er wieder auf die Straße und beobachtete ganz still die vom Wind aufgewirbelten Blätter. Mehr war nicht zu sehen. Langsam beruhigte er sich und steckte sich, diesmal mit mehr Vorsicht, eine weitere Zigarette an.
Die Gläser mit dem eingeweckten Obst standen im Keller unter der Treppe. Bei jedem Schritt innehaltend um auf andere, als die von ihm verursachten Geräusche zu achten. Nichts war hier unten mehr zu hören. Er zündete ein Streichholz an und leuchtete damit über die Gläser. Alle hatten einen Aufkleber, welche Früchte, woher und das Einweckdatum. Die Erdbeeren waren in den kleinen Gläsern ganz am Ende des Regals. Er nahm zwei von ihnen und stieg ebenso vorsichtig die Treppe wieder hinauf. Im Zimmer angekommen stellte er beide Gläser auf das Fensterbrett und beobachtete erst mal wieder die Straße. Nichts war zu sehen. Beim Ersten ließ sich der Einweckgummi nicht heraus ziehen so sehr er sich mühte. Das Zweite ging fast ohne Anstrengung auf, dafür roch es leicht säuerlich. Ungenießbar. Im Schrank sollte eigentlich noch etwas Werkzeug liegen. Er fand schnell die alte Kiste und nahm einen Schraubenzieher heraus. Mit knirschendem Geräusch gab dann der Deckel des ersten Glases nach. Auf einer Seite waren Glassplitter. Erst trank er vorsichtig den süß riechenden Erdbeersaft, danach ließ er nacheinander die Früchte in seinen Mund fallen. Es war köstlich.
Sein Hunger war vollständig gestillt und gleichzeitig tauchten in seinem Kopf Bilder aus der Kindheit auf. Jetzt zündete er sich erneut eine Zigarette an und achtete nicht darauf ob der Schein des Streichholzes oder die helle Glut zu sehen war. In seinem Kopf lief ein Film ab. Er sah sich im Erdbeerbeet sitzen, neben sich einen kleinen Eimer. Die Hälfte der Beeren wanderte direkt in seinen Mund. Danach sah er seine Großmutter am Herd. Sie rührte in einem großen Topf und er konnte dem Duft schmecken, der das ganze Haus durchzog. Ein Teil seiner Kindheit zog so durch seinen Kopf. In seiner Erinnerung rannte er durch den Garten hinter dem Haus bis zur kleinen Tür auf der anderen Seite des Gartens. Dahinter war ein Graben und dann folgte die Hauptstraße. Heute Nacht war er genau auf diesem Weg zum Haus gelangt.
Diese Bilder ließen ihn in die Realität zurückkehren. Er stand auf und ging zum Schrank. Im mittleren Teil lag seine schwarze Reisetasche. Aus den Fächern daneben suchte er sich einige Sachen zusammen und stopfte sie hastig hinein. Aus dem unteren Fach nahm er sein Sparbuch, steckte dieses aber in die hintere Tasche seiner Hose. Es war inzwischen sechs Uhr und er wollte das Haus noch bei Dunkelheit verlassen. Er hatte nicht mehr viel Zeit sich anständig vom Zuhause in seiner Jugendzeit zu verabschieden. Aber es war für ihn auch besser, so blieb keine Zeit für Sentimentalität. Er musste einen klaren Kopf behalten um in den nächsten Tagen alle Gefahren erkennen zu können.
„Wie lange wollen wir noch warten“ fragt die Größere als der Kellner außer Hörweite war. „Höchstens noch eine Stunde“.
Die Kleine sah dabei schon wieder zur Uhr, als ob sie dies nicht mindestens dreimal pro Minute tat. In diesem Moment trat ein kleiner dunkelhaariger Mann in den Gastraum. Sein südländisches Aussehen wurde noch durch den Dreitagebart unterstützt. Die Mädchen wussten sofort wer er war, obwohl sie ihn nie vorher gesehen hatte. Auch er schien die Zwei zu kennen, denn er ging direkt auf den Tisch der zwei Jungen Frauen zu und setzte sich ohne ein Wort zu sagen.
Die Größere der beiden, strohblond und mit dem härteren Gesichtsausdruck fragte als erstes: „Wann kann er hier sein?“
Der Mann musterte sie eindringlich und sprach dann in gebrochenen Deutsch: „Es gibt drei Voraussetzungen die erfüllt sein müssen. Erstens muss das Geld für die Aktion da sein. Zweitens muss er es völlig auf sich gestellt bis an die andere Grenze schaffen und drittens müssen seine Freunde auf der anderen Seite ihn bis zu dieser Grenze bringen.“
„Das mit dem Geld ist kein Problem, habe ich. Und wie vereinbart die Hälfte wenn er den Treffpunkt erreicht hat und die Andere beim Grenzübertritt“, sagte die Kleinere schnell.
Sie wirkte sehr nervös und das Unbehagen mit diesem Mann zu verhandeln war ihr deutlich anzumerken.
„Wer sind sie eigentlich“, wollte die Größere nun wissen.
Der Mann lächelte ein wenig zurück und sagte mit nicht wenig Sarkasmus in der Stimme: „Ein Freund, das muss reichen. Aber was ich wissen muss, wo befindet er sich jetzt und wann erreicht er die erste Grenze?“
„Er ist auf dem Weg zum Treffpunkt und sollte dort Übermorgen eintreffen“ sagte wiederrum die Kleinere und die Größere der beiden fügte seufzend hinzu: „Wenn nur alles gut geht.“
„Können sie ihn noch erreichen?“
„Nein jetzt nicht mehr“ war die leise Antwort der Kleineren.
„OK, dann Übermorgenabend gegen 22 Uhr hier und bringen sie dann das Geld mit und wir starten die Aktion.“
Der Mann stand grußlos wie er gekommen war auf und verließ das Lokal.
Der Kleineren standen die Tränen in den Augen. Sie wusste, dass die ganze Aktion nun nicht mehr zu stoppen war. Es gab so viele Unwägbarkeiten. Die meiste Angst hatte sie davor nichts zu erfahren wenn irgendetwas passieren sollte. Sie hatte die Telefonnummer einer Freundin. Diese konnte sie aber nur als allerletztes Mittel nutzen, denn sie wusste dass alle Gespräche abgehört wurden. Und noch mehr Leute in Gefahr bringen wollte sie nicht. Außerdem war nicht sicher ob sie überhaupt bereits Informationen hatte. Er würde sicher auch mit ihr nicht unnötig kommunizieren. Also konnte sie nur warten. Eigentlich sollten sie morgen Abend die erste Nachricht aus Teplice erhalten. Nur noch ein Tag. Die Größere winkte nach dem Kellner und wollte bezahlen. Dieser ließ sich mit der Rechnung sehr viel Zeit. Kam dann mit einer Handgeschriebenen zum Tisch und wartete bis sie die Schillingnoten auf den Tisch legte. Er suchte in seiner Geldbörse solange nach dem Wechselgeld bis er das „stimmt schon“ vernahm. Sie nahm dabei die Rechnung zerknüllte sie und ließ sie im Aschenbecher liegen. Sie gingen die Stiege nach unten und standen direkt auf der Straße. Den alten Opel der Kleineren hatten sie gleich neben der Tür geparkt. Sie stiegen ein und fuhren in Richtung Wien davon.
Bisher hatte er sich noch nicht entschieden wie er von hier weiterreisen wollte. Zwei Möglichkeiten boten sich ihm an, oder eigentlich Drei. Nur die Letzte war als Notlösung vorgesehen. Die erste und einfachste und schnellste wäre der Zug, wobei hier die Wahrscheinlichkeit einer schnellen Entdeckung am größten ist. Jeder Zug ist leicht von zwei Leuten zu durchsuchen und ein entkommen ist fast unmöglich. Auch sind diese Leute in dem Fall nicht ganz so leicht zu erkennen. Anders bei der Variante mit dem Bus. Hier sind sie sehr schnell zu identifizieren und somit kann dem Ausgewichen werden. Als Notlösung bliebe dann nur die Fahrt per Anhalter, wobei es hier sehr einfach ist die Fahrzeuge auszulassen, welche eine potentielle Gefahr darstellten. Allerdings wäre dies auch die Variante, die von der Zeit her nicht wirklich kalkulierbar war und deshalb nur als Notlösung in Betracht kam.
Da die Sonne nun vollkommen aufgegangen, es aber noch sehr früh war, waren nur wenige Leute auf der Straße. Das machte es ihm leichter Gefahren zu erkennen. Er ging die Hauptstraße in Richtung Bahnhof immer im Schatten der vielen Bäume, die die Straße alleeartig säumten. Der Bahnhof lag noch völlig im Dunkeln. Er blieb auf der gegenüberliegenden Seite stehen und beobachtete den Bahnhofsvorplatz. Der Busbahnhof lag genau vor dem Bahnhofsgebäude. Noch war nicht ein einziger Bus zu sehen. Von der anderen Seite des Vorplatzes nährte sich ein Auto. Mark erkannte sofort den Lada der vorher vor dem Haus der Großmutter stand. Verdammt, die denken genau wie du. Der Bahnhofsvorplatz ist der einzige den sie überwachen mussten. Also blieb doch nur Variante drei. Er stellte sich so hinter einen Baum, dass er vom Auto nicht gesehen werden konnte. Direkt vor dem Eingang zum Bahnhof blieb der Wagen stehen, der Fahrer stieg aus und ging hinein. Mark konnte den Beifahrer nicht sehen, aber das Paar auf den Rücksitzen. Es waren die beiden, welche vor ein paar Stunden am Haus seiner Großmutter auf und ab geschlendert waren. Er blieb hinter der großen Linde verborgen. Der Fahrer kam aus dem Bahnhof zurück und setzte sich wieder in den Wagen. Wie lange würden sie stehen bleiben? In Gedanken spielte er nochmal alle drei Varianten durch. Es blieb unter diesen Umständen nur die Variante drei, die Anhalterlösung. Er musste nun den Bahnhofsvorplatz schnell und noch im Schutze der Dunkelheit verlassen. Er erinnerte sich an das alte Sägewerk, das heute als Lager für die Textilfabrik genutzt wurde. Von hier aus fahren jeden Morgen die Lieferfahrzeuge los. Er musste nur einen finden der ihn mit in die Stadt nahm.
Aber zuerst musste er unbemerkt den Platz verlassen. Er sah sich um und musterte die Hauseingänge in seinem Rücken. Er versuchte sich zu erinnern welches Haus einen Ausgang nach hinten hatte. Er glaubte sich beim Anblick der verzierten Tür, die mit der Einheitsfarbe Rotbraun gestrichen war, das hier sein Kumpel Theo gewohnt hatte. Im Hof befand sich damals ein Schuppen, der an der Rückseite ein Loch hatte. Durch dieses war Theo oft vor seinem Vater weggelaufen, wenn dieser mal wieder so betrunken war und alle fünf Kinder eine Tracht Prügel erhalten sollten. Hoffentlich war die Tür nicht verschlossen. Er drehte sich wieder zum Bahnhof und sah wie das Paar ausstieg und sich mit dem Fahrer unterhielt. Dies war seine Chance. Mit ein paar schnellen Schritten stand er im Hauseingang und drücke die Türklinke. Die schwere Tür ging langsam auf und er drückte sich durch den Spalt um sich sofort von innen gegen die Tür zu werfen. Diese fiel mit einem lauten Knall ins Schloss. Dieses Geräusch musste bis zum Bahnhof zu hören sein.
Er lief durch den Eingangsflur zum Hof. Es hatte sich nichts verändert. Er öffnete die Schuppentür und suchte in der Dunkelheit das Loch auf der Rückseite. Er fand es schnell, verharrte aber um in die Nacht hinaus zuhören. Nach ein paar Minuten, sein Puls hatte sich auch wieder beruhigt, steckte er vorsichtig den Kopf durch die Öffnung. Der Weg auf der Rückseite lag völlig im Dunkeln, denn hier gab es keine Straßenlampen. Seine Augen hatten sich aber schon an die Dunkelheit gewöhnt. Nichts Ungewöhnliches fiel ihm auf. Langsam zwängte er sich durch das Loch, als Kind ging das viel schneller und leichter. Er nahm die schwarze Reisetasche und ging langsam den Weg in Richtung altes Sägewerk. Er hörte in alle Richtungen und versuchte selbst so wenig wie möglich Geräusche zu machen. Fast am Ende des Weges kreuzten die alten Schienen den Weg. Er brauchte diesen nur noch zu folgen und kam dann direkt zum Sägewerk.
Neben dem Schienenstrang gab es einen Trampelpfad so dass er nicht auf dem Schotter des Gleisbetts gehen musste. Er konnte schon die alten Bahnschranken und den Eingang zum Sägewerk sehen.
„Danke Karla, schaffe ich schon“ war die knappe Antwort der Kleineren. Danach redeten sie nicht mehr.
„Kommst du mit nach oben Bianca?“ frage Karla als sie vor ihrem Haus anhielten.
„OK, da vorn ist eine Parklücke.“ Sie parken und gingen dann schweigend die Treppe nach oben.
„Bleibst du oder willst du noch fahren?“
Bianca schien die Frage nicht gehört zu haben. Sie stieg die Treppe weiter ohne zu antworten. Karla schloss auf und hängte den Schlüssel an seinen Platz neben der Tür.
„Ja.“
„Was ja?“ war Karlas erstaunte Frage.
„Ich bleibe.“ Ohne ein weiteres Wort ging sie zur Toilette.
Sie ist heute schon sehr merkwürdig dachte Karla. Aber ist ja auch kein Wunder, bei der Anspannung. Sie holte zwei Weingläser, stellte den Aschenbecher auf den Küchentisch und holte aus den Schrank eine Flasche Rotwein. Bianca sah verheult aus als sie aus der Toilette kam.
„Alles in Ordnung?“ fragte Karla.
„Nicht wirklich“ war die knappe Antwort.
Sie steckte sich eine Zigarette an und zog den Rauch kräftig ein. Dabei hielt sie die Augen geschlossen, es schien als wollte sie alles um sich herum verdrängen. Ihr Gesicht entspannte sich etwas als sie langsam den Rauch ausblies. Karla goss den Wein in die Gläser und verschloss die Flasche wieder. Sie nahm ihr Glas in die Hand und stieß mit dem noch unberührtem von Bianca an, nahm einen Schluck und schaute dabei ihre Freundin über den Rand des Glases an.
„Trink auch was, du bleibst ja heute Nacht hier.“
Bianca öffnete die Augen und schaute auf die brennende Zigarette in Ihrer Hand. Dann nahm sie das Glas und trank einen großen Schluck.
„Willst du wissen wie alles begann?“
Die Frage die sie sehr leise stellte kam für Karla völlig unerwartet. Natürlich brannte sie darauf dies zu erfahren, hatte aber bisher nicht gewagt diese Frage zu stellen.
Das folgende „Ja“ war kaum hörbar aber es drückte alle bisher aufgestaute Spannung aus. Bianca hatte ihr bis jetzt nur gesagt sie müssen einem Freund bei der Flucht in den Westen helfen. Eigentlich war es ja eine Flucht in den Süden, denn Österreich lag ja südlich der Ostzone. Aber es war das geflügelte Wort – die Flucht in den Westen. Bianca steckte sich eine neue Zigarette an und zog den ersten Zug ganz tief ein.
„Es war vor vier Jahren. Meine Eltern hatten wie immer den Urlaub am Plattensee in Ungarn vorbereitet. Hotel war gebucht, Auto schon beladen und etwas Geld getauscht. Viel musste man ja nicht haben, denn für Schilling bekam man ja sowieso alles. Aber als Alibi war es mehr als gut. Ich wollte lieber mit meinen Freunden nach Italien fahren und richtig Party machen. Damals konnte ich aber noch nicht so wie ich wollte. Also doch mit Mamma und Papa nach Ungarn. Hatte natürlich auch Vorteile. Keinerlei Geldprobleme und die ungarischen Männer standen schlage. Auf zum schönen und billigen Plattensee. Es war eigentlich wie immer, brauch ich dir glaube nicht zu erzählen. An einem der ersten Abende war ich in einer hippen Disco, aber die Typen waren alle langweilig. Bis zu dem Moment als ich diesen Typen in der Ecke sitzen sah. Alle tranken irgendwelche flippige Mixgetränke, nur der Typ in der Ecke trank Bier von der billigsten Sorte. Seine braune Augen, ich wusste erst später das er diese hatte, sahen gelangweilt umher. Später am Abend trafen wir uns zufällig vor der Disco. Jetzt glaubst du natürlich an die große Liebe. Weit gefehlt. Seine einzigen Worte waren ‚Na du Westtussi‘. Dann ging er langsam in Richtung See davon. Ich sah ihm nach und verstand diesen Satz nicht ganz. ‚Wie meinst du das? ‘ rief ich hinterher, aber er drehte sich nicht mehr um. Von diesem Moment musste ich immer an ihn denken, sah sein Gesicht im Traum und all diese Sachen.
Zwei oder drei Tage später traf ich am Strand zufällig auf ihn. ‚Wie hast du das letztens gemeint, Westtussi? ‘ ‚War nicht so wirklich ernst gemeint, aber ich hatte dich den ganzen Abend im Blick und du hast dich benommen wie jede andere Tussi, die hier keinerlei Geldsorgen hat. Bist sicher mit Mamma und Papa hier. ‘ Das haben wir von da an oft diskutiert, denn im Grunde hatte er ja Recht. Irgendwann gab es den ersten Kuss. Die Abende wurden immer länger, die Nächte dafür kürzer. Disco war für uns out. Wir saßen oft am Strand und irgendwann meinte Mark wir sollten schwimmen gehen. Natürlich hatten wir keine Badesachen an und im warmen bis zur Brust reichenden Wasser spürte ich zum ersten Mal seinen Körper. Von da an war es um mich geschehen. Den natürlich grandiosen Sex hatten wir dann in der letzten Nacht vor meiner Abreise und ich muss gestehen, dass ich die Geschichte als mein allerschönstes Urlaubserlebnis eigentlich abgehakt hatte.
Bis sein erster Brief kam. Und da war dann alles wieder da, die abendlichen Spaziergänge, sein Körper im Wasser, die leidenschaftlichen Küsse und auch die endlosen, heißen Diskussionen. Natürlich auch der Sex am letzten Abend. Aber ihm ging es wohl genauso. Obwohl in dem Brief eigentlich nicht wirklich etwas stand habe ich es gespürt. Natürlich wusste ich dass die Post vom Osten in den Westen kontrolliert wurde. In einem der nächsten Briefe stand dann, dass er mit guten Freunden nach Prag fahren wollte. Datum, Ankunft am Bahnhof und in welchem Hotel Sie absteigen wollten. Da wusste ich sofort dass dies nur mir galt. Und so kam es dann zu unserem ersten Treffen, dem noch viele weitere folgten. In Prag entstand dann auch der Fluchtplan.“
Bianca nahm einen großen Schluck Rotwein und ließ ihren Tränen freien Lauf.
“Wird schon alles glatt gehen“, sagte Karla.
Sie konnte dabei aber ihre eigene Unsicherheit nicht ganz verbergen. Mit Belanglosigkeiten wollte sie Bianca ablenken, was ihr auch so einigermaßen gelang. Als es draußen anfing schon hell zu werden gingen sie schlafen.
„Guten Morgen junger Mann“ sagte der Fahrer.
„Guten Morgen, können Sie mich bis zur Kreisstadt mitnehmen?“
Der Fahrer war mit dem Anfahren beschäftigt.
„Willst wohl das Geld für den Bus sparen? Klar nehme ich dich mit, wir haben das früher auch immer so gemacht. Hat dann für ein paar Zigaretten gereicht.“
Der Wagen fuhr jetzt schon recht schnell und Mark beugte sich etwas vor um in den Rückspiegel sehen zu können. Die Straße hinter ihnen lag noch immer völlig im Dunkeln. Die erste Hürde habe ich genommen, dachte er beruhigt. Die Fahrt dürfte nicht viel länger als eine halbe Stunde dauern. Der Fahrer bot ihm eine Zigarette an.
„Der Wagen ist ja fast neu“, sagte Mark um das Gespräch belanglos in Gang zu bringen. Er wusste ja nicht was das für ein Typ war bei dem er mitfuhr. Vorsicht war für ihn im Moment das Wichtigste.
„Ja, hab ihn gestern erst bekommen und dann gleich so eine lange Tour. Geht nach Leipzig. Ist ja nicht schlecht für die Maschine wenn man ein paar Kilometer machen kann und sie nicht gleich auf diesen kurzen Strecken kaputt gefahren wird.“
Das passt ja super gut, gleich in einem Rutsch bis Leipzig und dann den Zug nach Dresden. Schneller geht fast nicht. Die Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf. Allerdings bin ich dann viel zu früh an der Grenze, aber da wird mir auch was einfallen.
„Kann ich bis nach Leipzig mitkommen?“, Mark erwartete eigentlich keine Abfuhr.
Trotzdem wartete er gespannt auf die Antwort, denn es konnte ja sein, dass der Fahrer eventuell eine kleine Abweichung von der eigentlichen Route vorhatte. Ein kleiner Nebenverdienst war nicht unüblich in diesem Gewerbe. Es ging dabei meist nicht um Geld, sondern um Tauschgeschäfte oder der Aufrechterhaltung von Beziehungen. Falls also der Fahrer nichts dergleichen vor hat dürfte die Frage keine Probleme bereiten. Die Antwort kam auch prompt.
„Aber klar doch. Ist für mich natürlich auch angenehm, da brauch ich die Strecke nicht allein zu fahren. Wo willst du eigentlich hin?“
„Zum Hauptbahnhof, da treffen ich mich mit meiner Seminargruppe und dann fahren wir nach Berlin.“
Mark vermied es bewusst Dresden zu erwähnen, man konnte ja nie wissen.
Die weiteren Stunden bis Leipzig unterhielten sich beide meist über Autos und andere belanglose Dinge. Kurz bevor sie die Autobahn in Leipzig verlassen wollten überholte sie ein Polizei-Wartburg in hohem Tempo. Der Beifahrer gab ihnen Zeichen an die Seite zu fahren. Marks Herz blieb fast stehen. Aber wieso hatten die ihn so schnell gefunden? Seine Gedanken gingen die letzten Stunden nochmal durch. Er fand keine logische Erklärung. Auch war hier an Flucht nicht zu denken. Große überschaubare Wiesen und was dahinter begann war nicht zu erkennen. Er saß also in der Falle. Vielleicht war ja nur etwas am neuen Wagen nicht in Ordnung und alles hatte mit ihm nichts zu tun. Auch der Fahrer war unruhig geworden und murmelte nur „was soll das jetzt schon wieder.“
Der Beifahrer des Polizeiwagens war ausgestiegen und kam mit schnellen Schritten zum LKW. Er ging zur Fahrerseite. Also galt die ganze Geschichte nicht Mark. Erleichterung machte sich breit. Der Fahrer kurbelte das Fenster runter.
„Sie bleiben hier stehen bis die Wagenkolonne vorbei ist. Und machen sie gefälligst den Motor aus. Also warten bis das Schlussfahrzeug vorbei ist. Alles klar.“
Das waren die knappen und im barschen Polizeiton gegebenen Anweisungen.
„Alles klar“ war die kurze Antwort des Fahrers.
Als der Polizist außer Hörweite war schimpfte mein Fahrer vor sich hin.
„Immer diese Extrawürste für unsere Bonzen. Wie wir unsere Arbeit schaffen sollen fragen die nicht. Da heißt es dann immer wir hätten eine Extratour gemacht. Hoffentlich dauert es nicht so lange.“
In dieser Art ging es noch eine ganze Weile weiter. Mark holte seine Zigaretten aus der Tasche und bot dem Fahrer eine an.
„Zur Beruhigung. Wir können es ja doch nicht ändern.“
Nach ein paar Zügen wurde der Fahrer wirklich entspannter.
„Das ging aber schnell“ sagte der Fahrer mit einem mal.
Mark beugte sich etwas vor um im Seitenspiegel etwas sehen zu können. Von hinten näherten sich ein paar Motorräder gefolgt von einigen schwarzen Wagen. Einer der Motorradfahrer blieb genau vor ihrem LKW stehen und schaute nach oben. Mark tat so als ob er in seiner Tasche, die hinter dem Sitz stand etwas suchte umso dem Polizisten keine Möglichkeit zu geben sein Gesicht zu sehen. Sicher galt diese ganze Aktion nicht ihm, aber es konnte ja sein, das dieser irgendwann ein Bild von Mark in die Finger bekam. Die Kolonne war schnell vorbei und der Polizist auf dem Motorrad schloss sich sofort wieder hinten an.
„Ich werde dich am Hauptbahnhof absetzten, ein paar Meter wirst du noch laufen müssen. Direkt davor kann ich nicht halten und schon gar nicht wenn hier so ein Bonzen Auflauf ist.“
„Ist schon in Ordnung, ich bin ja sowieso viel zu früh. Ich hatte ja nicht damit gerechnet so schnell hier zu sein.“
Bis zur Stadtmitte war es nicht mehr weit. An der Seite des großen Kopfbahnhofes hielt der Fahrer an.
„Du kannst ja gleich auf der Seite reingehen.“
„Danke nochmal für das Mitnehmen und viel Spaß mit dem neuen Wagen.“
Mark wartete bis der LKW losgefahren war und ging dann direkt über die Straße zum Seiteneingang. Als erstes suchte er die ausgehängten Pläne mit der Aufschrift Abfahrt. Es war gerade erst kurz vor neun Uhr. Eigentlich wollte er erst am Abend in Dresden sein, da aber hier in Leipzig so viel Polizei war, auf dem Weg vom Eingang bis zum Fahrplan waren ihm schon drei Streifenpaare begegnet, schien es im besser möglichst schnell weiter zu fahren.
Nach Dresden ging jede Stunde ein Zug. Der nächste um 9:25 Uhr, Ankunft um 11:20 Uhr. Er ging schnell in die große Halle und von dort eine der breiten Treppen in die Vorhalle hinunter. Hier waren die Fahrkartenschalter vor denen sich nur kurze Schlangen gebildet hatten. Mark kaufte eine einfache Fahrt zweiter Klasse. „Der nächste Zug geht um 9:25 Uhr von Gleis sieben“, sagte die Verkäuferin im breitesten Sächsisch.
„Danke“, Mark nahm seine Karte und ging die Treppe wieder nach oben. Er hatte noch etwa fünfzehn Minuten Zeit, wenn der Zug pünktlich war.
„Guten Morgen du Langschläfer“ und schon wurde jede Konversation durch das laute Geräusch des Entsafters, mit dem Karla die bereits zerteilten Orangen auspresst, unmöglich. Bianca nahm ihre Tasse und machte sich einen Kaffee, setzte sich und hielt die Tasse mit beiden Händen gerade so als wolle sie sich die Hände wärmen. Karla stellte den frisch gepressten Orangensaft auf den Tisch und setzte sich dazu.
„Hast du wenigstens halbwegs gut geschlafen?“
„Ich glaube schon, obwohl ich mich ein wenig wie durchgedreht fühle.“ Karla nahm Biancas Hand und hielt sie ein wenig.
„Wird schon alles gut gehen.“
Sie frühstückten schweigend und als der Tisch abgeräumt war verschwand Bianca ins Bad.
Beide waren schnell fertig und gingen dann den kurzen Weg bis zur U-Bahn. Auf der Straße und somit auch auf dem Bahnsteig waren zu dieser Zeit, es war fast Mittag, wenige Menschen. Allerdings verging einige Zeit bis die Bahn kam. Die Wagen waren ebenfalls nicht voll und sie mussten ja auch mit dieser nur drei Stationen fahren um dann in die Bahn nach Schönbrunn umzusteigen. Diese war allerdings dann schon ziemlich voll, so dass es nur noch Stehplätze gab. Karla beobachtet die Fahrgäste während Bianca in Gedanken bei Mark ist.
Ob er jetzt im Zug sitzt? Sie weiß, dass die nächsten achtundvierzig Stunden quälend lang sein werden und voller Ungewissheit. An der Station zum Schloss Schönbrunn wollen die meisten Fahrgäste aussteigen. Die beiden stehen nah an der Tür und werden somit aus dem Waggon gedrückt. Auf dem Bahnsteig ist wieder mehr Platz. Die meisten Fahrgäste sind Reisegruppen aus Japan und Italien. Diese sammeln sich bei ihren Guides, welche Stöckchen mit bunten Fahnen und eine mit einem kleinen Schweinchen an der Spitze in die Höhe halten. Bei diesem Anblick muss Bianca lächeln. Wer kommt nur auf eine so obskure Idee ein Schwein als Gruppensymbol zu verwenden.
Auf der Treppe zum Ausgang sind sie fast allein, weil das Sammeln der einzelnen Gruppen länger dauert. Vor ihnen sind nur zwei ältere Damen die trotz Ihres Alters, Bianca schätzt sie auf etwa siebzig Jahre, recht flott die Treppe hinauf steigen. Auf dem Weg von der U-Bahn am großen Parkplatz vorbei zum Schloss kommen ihnen mehrere Gruppen, auch wieder von Stöckchen schwingen Führern geleitet entgegen. Entlang der Orangerie zum Haupteingang, wo der Gehsteig breiter ist, konnten sie wieder nebeneinander gehen. Karla merkt, dass sie Bianca etwas ablenken muss.
„Was meinst du, gehen wir hoch bis zur Gloriette und gönnen uns dort ein Tasse von der guten Schokolade die sie dort machen?“
„Super, Hauptsache es fängt nicht an zu regnen. Ich möchte nicht wirklich in diesem grindigen Kaffeehaus drinnen sitzen.“
„Wird schon nicht, aber wir haben ja noch die Option im Zoo Kaffee zu trinken.“
Sie schlenderten über den Schlossplatz, vorbei an den beiden eindrucksvollen Obelisken durch die Eingangshalle in den Garten. Als sie aus dem Schatten der Arkaden heraustraten leuchtete die Gloriette mit ihren Figuren im Sonnenschein. Der geschwungene Weg nach oben lag völlig verlassen. Einige schlenderten den Hauptweg bis zum großen Wasserspiel, aber nach oben ging niemand. Die Gruppen machten Bilder auf der Treppe zum ersten Stock und warteten dabei sicher auf den Beginn ihrer Führung durch das Schloss. Bianca und Karla nahmen nicht den Hauptweg, sondern gingen in Richtung Tiergarten um dann auf der rechten Seite des Schlossparks den Weg nach oben zu nutzen. Mit jeder Biegung änderte sich der Blick auf Schloss und Park. Auch das Spiel von Licht und Schatten, welches von den angrenzenden Baumgruppen verstärkt wurde, gab immer andere Einblicke frei. In dem Moment als Sie das obere Becken direkt vor der Gloriette erreicht hatten, Karla sich zum Wasser hinabbeugte um sich etwas zu erfrischen, begannen die Fontänen mit ihrem Wasserspiel. Karla sprang zurück und gab Bianca einen Stoß, so dass beide umfielen. Als sie sich ansahen mussten sie laut loslachen.
Dies taten sie immer noch als sie sich gegenseitig den Staub von den Sachen klopften. Kichernd gingen sie um die Gloriette herum und standen vor den Tischen des Kaffeehauses. Es war noch nicht viel Betrieb und wenige Tische besetzt. Jeder bestellte eine Tasse heißer Schokolade.
„Ob ich bald mit Mark hier Kaffee trinken kann?“
Diese Worte waren mehr an sie selbst als an Karla gerichtet. Dennoch hatte Karla das Gefühl antworten zu müssen um keine Melancholie aufkommen zu lassen.
„Wenn du da nicht dran glaubst, kannst du die Sache gleich abblasen.“
Karla hatte dies bewusst schroff dahingesagt, wollte aber Bianca damit nicht verletzten. Bianca standen sofort die Tränen in den Augen.
„Hast ja Recht, ich sollte viel mehr an den Erfolg denken als alles immer nur schwarz zu sehen.“
Bianca trocknete sich gerade die Tränen als der Kellner die Schokoladen brachte. Beide waren über diese Ablenkung froh.
„Entschuldige bitte, ich hatte es ja so nicht gemeint. Ich wollte damit nur sagen das es schon gut gehen wird.“