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Den Slogan dieses Buches kann man in einen Satz fassen: Erzählungen aus der Kälte, die das Innere wärmen. Beinahe alle Texte sind Schilderungen aus dem wahren Leben von Berufsjägern, Fischern und Rentierzüchtern. Die Handlungen sind in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts im hohen Norden der Tundra geschehen. Das Buch ist für Jugendliche von 14 bis 114 Jahren gedacht. Der Berufsjäger Alex ist die Hauptgestalt der Erzählung "Im Reich des gelben Tieres". Einst aus dem städtischen Leben geflohen, bleibt er Herr seiner selbst auf weiter Flur. Hier "knüpft er Bekanntschaft" mit dem seltsamen, eigenartigen Tier Rangifer tarandus. Hier erfährt er, was eine Bärenmutter tut, wenn in ihre Schneestube ein Mensch samt Skiern durch das Dach einbricht. und das Bärenkind beinahe erschlägt. Hier lernt er, wie man sich mit einem Hermelin anfreundet und Polarbären mithilfe eines Blecheimers abschreckt. Mit der Zeit begreift Alex, dass der Mensch in der freien Natur keinesfalls Zar und Herrscher ist, sondern ein Lebewesen aus Haut und Knochen, wie die Tiere in der Tundra, wie die Vögel im Himmel. Es gibt also keinen Grund, sie zu verfolgen und ihr Leben mutwillig auszulöschen. Immer wieder kommt ihm der Gedanke, das mühsame Jäger-Dasein aufzugeben, wenn da nicht die bizarren Polartage und Polarnächte wären.
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Seitenzahl: 306
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Der tätowierte Eisbär
Geschichten aus dem norden Sibiriens
Wladimir Eisner
Widmung:
Dieses Buch widme ich meinem Großvater Gottlieb Knelz, der zu Stalinszeiten als „Volksfeind“ und „Deutscher Spion“ im Gefängnis der Stadt Omsk hingerichtet wurde.
Inhaltsverzeichnis
1. Rangifer tarandus
2. Das Schneehuhn
3. Die Heimkehrer
4. Das Gänschen Pill
5. Der Wasserteufel
6. Kein Schnee – kein Leben!
7. In der Bärenhöhle
8. Springebbe im Karischen Meer
9. Die Dolganen und ihre Geister
10. Die rote Schlinge
11. Meteorit und die Großmutter Weide
12. Alte Liebe rostet nicht
13. Der Zulu-Häuptling
14. Offenes Feuer
15. Zwei Zelte
16. Der berühmte Fotograf
17. Herr Melin, der Freche
18. Füttert die Raben!
19. Der Werwolf
20. Der tätowierte Eisbär
21. Der rote Tag
22. Sage vom reißenden Tier
23. Sage vom Idol – zwei Herzen
24. Sage vom Lärchenbaum
25. Im Reich des gelben Tieres
26. Die Heumad
Vorwort
Zircumpolar in der nördlicher Hemisphäre liegt die weite nördliche Steppe, die arktische Tundra. In diesem Buch geht es um das Leben in der Tundragegend auf der Halbinsel Taimyr, der nördlichsten Spitze des Eurasischen Kontinents.
In der Tundra läuft man nur selten Ski, weil es zu kalt ist. Um Wasser für die Sauna zu gewinnen, sägt man Schnee wie Holz, weil Wind und Frost ihn hart machen.
In der Tundra wachsen keine Bäume, Brennholz ist hier Gold wert.
In der Tundra gibt es Zeitabschnittein denen die Sonne im Sommer nicht unter- und im Winter nicht aufgeht. Sie heißen Polartag und Polarnacht. Die Zeiten ohne Sonne während der Polarnacht variieren von einem Tag (auf der Linie des Polarkreises) bis sechs Monate (auf dem Nordpol) und bestimmen den Alltag von Mensch, Tier und Natur.
Das Buch ist eine Sammlung von wahren Erlebnissen und Berichten so mancher mir bekannter Einwohner des Hohen Nordens. Man wähnt sich unter ihnen und hört ihnen am Lagerfeuer zu.
Manchmal kommen in den Geschichten auch deutsche Namen vor, dann sind es Nachkommen jener Menschen, die seit dem späten Mittelalter aus den deutschsprachigen Ländern Europas gen Osten nach Russland ausgewandert sind. Das Schicksal hat sie in das ferne Sibirien verschlagen. Dort, fasziniert von der unberührten Natur, haben sich viele über mehrere Generationen angesiedelt.
Der Autor selbst lebte als studierter Meteorologe und dann als Jäger und Fischer einer Genossenschaftbeinah drei Jahrzehnte in den Weiten der Tundra. Die Geschehnisse und Erlebnisse trägt er tief in seinem Herzen. Es sei ihm gestattet, seine Vornamen in den Geschichten jeweils poetisch auszuwählen.
Der Leser wird in ein fabelhaftes Land voller harscher Realitäten mitreisen. Er wird dem Pfad von Ernest Thompson Seton, Grey Owl und Knud Rassmussen folgen, wo die Natur ebenso geschätzt wird wie die Schulter des Freundes.
Der Autor
1
Rangifer tarandus
Sobald Mitte August der erste Nachtfrost die Tundra mit sprödem Silber verziert und den Stechmücken und Bremsen den Garaus macht, steigt vom Byrrangagebirge ein seltsames Tier ins Tal hinunter. Das endlose, waldlose, sumpfige Nordsibirische Tiefland ist seine Heimat. Es hat einen kräftigen Körper, ein mächtiges Geweih, breite Hufe, dichtes Daunenfell und kann mit einer Geschwindigkeit von bis zu 80 Stundenkilometer rennen.Weder kaltes Wetter noch reißende Ströme, tiefer Schnee oder lange Strecken können das Tier auf seinen Wanderungen aufhalten.
Die Ureinwohner Kanadas nennen es „Caribou“, die Tschuktschen1 „Ylwet“, die Dolganen2 „Kyl“, die Russen „Der Wilde“ und die gelehrten Leute „Rangifer tarandus“, auf Latein „das wilde nördliche Rentier“. Allein die Nenzen3 bezeichnen das wilde Rentier als „Ilebz“, „das Leben“. So war es, so bleibt es: kein Rentier – kein Leben.
Rentier heißt tägliche Nahrung.
Rentier heißt Sehnen zum Nähen.
Rentier heißt Felle für Bekleidung und Schuhzeug.
Rentier heißt Häute für Schlafsack, Tipi und Wigwam.
Rentier heißt Lasso, Riemen, Gürtel, Seile, Spielzeug und Werkzeug.
Rentier heißt Lieder, Märchen und Sagen.
Rentier heißt das liebe Arbeitspferd der Tundra.
Vom Gebirge heruntergekommen, bewegen sich die Rentierherden gemächlich, aber stetig nach Süden, um nach zwei Monaten in die entlegene Taiga zu gelangen, sich dort zu „verstecken“ und so den winterlichen Unwettern zu entgehen. Die Halbinsel Taimyr, auf der die nördlichste Herde des Rangifer tarandus mit cirka einer Million Köpfen lebt, ist in etwa so groß wie Fläche Deutschland. Allerdings leben auf der Halbinsel Taimyr nur knapp 10.000 Menschen.
In schneereichen Wintern wird das tägliche Leben der Rentiere zu einem wahren Überlebenskampf. Oft sieht man große, stämmige Bullen ohne Geweihe (die haben sie im Herbst nach der Brunftzeit abgeworfen) auf der Suche nach fressbaren Flechten bis zum Hals im tiefen Schnee versunken. Ganze Gräben schlagen die Bullen mithilfe ihrer Vorderbeine und den breiten, schaufelförmigen Hufen durch die Schneewehen.
Den Bullen folgen die Kühe. Sie haben ihre Geweihe behalten. Sie werden die spitzen Hörner im Frühling noch gut brauchen können, um die Wölfe von den Kälbern zu vertreiben.
Kühe und Jungtiere verbreitern die Gräben der Bullen, fressen, was sie finden und was die Bullen übrig gelassen haben. Ihnen folgen Hasen, den Hasen folgen Rebhühner, den Hühnern – Lemminge. So finden alle Nahrung dank der „Fußspuren“ der Bullen.
Vom Hubschrauber aus betrachtet ähnelt die Rentierherde einem Oval aus vielen beweglichen Punkten. Die Bewegung geht immer gegen den Wind, damit dieser die Stechmücken wegbläst und den Wölfen das Belauern der Herde erschwert.
Wenn ein Ren mehr als 50 Schritte mal hinter seine Herde trabt, läuft es wenig später wieder eiligst zu ihr: Es hat Angst! Der Herdeninstinkt ist die Voraussetzung fürs Überleben in der Tundra.
Bei minus 20 Grad Celsius grasen die Rangifers noch in einer bestimmten Entfernung voneinander. Auch Tiere brauchen ihren persönlichen Raum.
Bei minus 30 verdichtet sich das Oval, die Rentiere weiden Seite an Seite.
Bei minus 40 ziehen sie sich zu einem Haufen zusammen.
Bei minus 50 bildet sich über der Herde dichter Nebel – eine Wolke aus dem Atem vieler hundert Tiere. Bei dieser Temperatur bewegen sich die Rene in einem festen Knäuel vom Rand zur Mitte, um sich zu wärmen. Die Kälber werden niemals an den Rand gedrängt, denn sonst würden sie erfrieren.
Was die wilden Rene aber bei minus 60 Grad machen (manchmal kommt es auch zu solchenTemperaturen in der Taimyr-Tundra), weiß ich nicht, habe die Nase nie hinausgestreckt.
Die wirklich tierische Kälte können diese Tiere aushalten, weil sie gegen den harten Winter gut gerüstet sind. Ihr Winterfell ist struppig und weist unter dem Grannenhaar (Deckhaar) Wollhaar auf. Es ist dünn, gekräuselt und steht sehr dicht. Zwischen den ebenfalls dicht wachsenden Grannenhaaren sind Luftkammern eingeschlossen, jedes einzelne Haar ist außerdem mit Luftvakuolen gefüllt. Dieser wärmespeichernde Haaraufbau verhindert, dass Körperwärme verloren geht.
Und noch eine merkwürdige Eigenschaft haben die Hirsche des hohen Nordens: Sie sind mit breiten Hufen und langen Hinterklauen ausgestattet, zwischen den Zehen sitzen Spannhäute, die sie spreizen können. Im Morast und Schnee versinken die Caribous somit kaum. Auf der Spannhaut wächst den Rentieren eine dicke gelbe Geschwulst, die Jäger nennen sie Angstdrüse. Kaum wittert ein Ren Gefahr – egal ob Wolf, Jäger, Feuer oder sonst etwas Verdächtiges –, schon scheidet die Drüse eine gelbe, schmierige, stark stinkende Flüssigkeit aus. Im Nu läuft die ganze Herde weg. Sollte es in der Umgebung noch eine andere Herde geben, so flüchtet auch sie dank des Alarmgeruches.
Der Mensch, der Wolf, der Vielfraß verfolgen und jagen das Rentier. Stechmücken und Bremsen lechzen nach seinem Blut, hartes Klima und knappe Nahrung erschweren ihm das Dasein. Aber trotz allem überlebt der nördliche edle Hirsch, ein wahres Wunder Gottes, seit Tausenden von Jahren!
1. Tschuktschen – Ureinwohner der Halbinsel Tschukotka im fernen Osten Eurasiens
2. Dolganen – Bewohner der Halbinsel Taimyr, der nödlichsten Spitze des Eurasischen Kontinents.
3. Nenzen – Ureinwohner des Sibirischen undEuropäischen Nordens, bewohnen die Landstrecke zwischen dem Fluss Jenissej und der Halbinsel Kola.
2
Das Schneehuhn
Der Fischer Gerd Winkler berichtet in einer “Tafelrunde” am Biwakfeuer:
„Ich war 23 Jahre alt, als ich eine Arbeitseinladung von der Fischer-und-Jäger-Genossenschaft im Hohen Norden Sibiriens bekam.
Die lange Polarnacht, kräftige Schneestürme und Temperaturen von bis zu minus 60 Grad erwarteten mich. Für die meisten meiner Freundewäre dies alles ein Tabu. Ich aber wollte die Romantik der Arktis auf eigener Haut zu spüren bekommen.
Und so kam ich Mitte Juni bei plus drei Grad Celsius am Ziel meiner Reise an.Überall lag schmelzender Schnee, als Wasser floss er dahin. Der Polartag mit seiner ewigen Sonne entfaltete seine ganze Pracht um mich herum.
Die Leute in den Gassen lächelten mir fröhlich entgegen undbegrüßten mich. Die Kinder rösteten an Angelruten ihre Fischbeute im Feuer. Sie hielten auch mir ein Stück Gebratenes hin. Große zottelige Hunde saßen majestätisch wie Löwen mitten im Kinderkreis. Rote Mäuse, die Lemminge, huschten im grünen Moos hin und her. Alles war mir neu, alles nahm ich mit meinen Sinnen und wie ein Wunder auf.
Nach drei Wochen war meine Probezeit vorbei. Alle nötigen Papiere waren signiert, Vorrat gekauft, Fischernetze, Gewehr und Funkgerät gut verpackt.
Als frisch gebackener Jäger und Fischer kam ich Anfang Juli per Hubschrauber auf dem mir zugewiesenen Revier am östlichen Ufer des Karasees an. Es war das Archipel des Kapitäns Morev. Das Küsteneis stand noch fest. Auf dem Eis zwischen den Inseln lagen aberhunderte Ringelrobben. Vom Hubschrauber aus gesehen schien es, als hätte jemand schwarze Erbsen auf eine hellgraue Leinendecke gestreut.
Die Maschine landete, ich stieg aus und trug meine Sachen in den Nebenbau der alten Jägerhütte und stapelte sie auf. Die einzige Schlafstube darin hatte zerschlagene Fenster und war bis zur Hälfte voll mit blauem, körnigem Firnschnee. Gibt es hier einen Ofen? Ja, doch. Es war eine sogenannte Wärmekanone, gefertigt aus einer Treibstofftonne mit einem Schornstein aus schwarzem Basaltgestein. Mit der Axt schlug ich den Herd vom Firnschnee frei, holte Treibholz vom Ufer und zündete das erste Feuer an.
Am nächsten Tag begann ich die Fenster zu reparieren. Grobe Bleischrotkörner wurden in den Rahmen sichtbar. In dieser menschenleeren Gegend hatte tatsächlich jemand aus Vergnügen irgendwann einmal auf die Fenster geschossen.
Meine ersten „Gäste“ ließen nicht lange auf sich warten. Es war eine Eisbärenmutter mit ihrem Jungen. Ich schrie laut, schoss aus der Büchse in die Luft und vertrieb die Tiere. Bald gehörte das Gästevertreiben zur Tagesordnung.
Den Ofen heizte ich unaufhörlich, um das Haus gut auszutrocknen und den Schimmel an den Wänden zu beseitigen. Am Strand lag viel Treibholz herum, das ich als Brennmaterial nutzte. Auch Birkenrinde in leichten, festen Rollen lag am Ufer. Der Wind hatte sie weit über die Brandungslinie geworfen. Birkenborke fault nicht, fängt schnell Feuer und gibt viel Hitze ab. Diesen guten Zündstoff sammelte ich in großen Mengen. Die Flinte störte mich bei dieser Packarbeit, immer öfter blieb sie am Haken im Nebenbau hängen.
Eines Tages piepste es laut unter meiner Hand, und schon rannten hellbraune Käfer – so schien es mir zuerst – in alle Richtungen davon. Es waren frisch geschlüpfte Küken eines Schneehuhns, jedes nicht größer als eine Walnuss. Ich fing einen Winzling und schaute mich nach den anderen um, sah aber keine. Aufmerksam Moos und Kiesel durchsuchend, entdeckte ich noch fünf Küken. Bewegungslos lagen sie da, unauffällig durch ihre Flaumhaare.
Nur die ängstlichen Blicke ihrer Äuglein machten sie erkennbar. Über diese makellose Tarnung verwundert, hielt ich ein solches Wesen dicht ans Gesicht. So hatten wir es im Dorf in meiner Kindheit gemacht, wenn wir die Hühnerküken tätschelten.
Das Kleine piepste erschrocken, und sofort lief laut gackernd eine Schneehenne herbei. Ich ließ das Küken los und packte die Mama-Henne.
„Na, dummes Vöglein, bist mir selbst in die Hände gelaufen!“
Die Henne atmete schwer mit geöffnetem Schnabel, das Klopfen ihres kleinen Herzens spürte ich auf der Handfläche.
Plötzlich erklang ein aufgeregtes: „Tre-e, tre-e, treee!“ Es war die Stimme des Hahns, den ich übersehen hatte.
Alle Küken, insgesamt zehn, sprangen wie auf Kommando auf und eilten zum Gockel. Ihr Papa, in geduckter Haltung, begann vornweg zu laufen.
Mir wurden die Augen feucht.
Also ist der Muttervogel dem Feind absichtlich in die Hände gerannt, hat sein Leben aufs Spiel gesetzt, damit die Küken Zeit gewinnen, um wegzulaufen, und damit der Gockel sie dann ins Gestein in Deckung bringen konnte. War es Schneehuhn-Verstand oder -Instinkt?
Ich entschuldigte mich ganz ernst bei der Henne und ließ sie laufen. Schnell holte sie ihre Küken ein und gemeinsam verschwand die gefiederte Familie im Gestein.
Ich blieb allein zurück. Erinnerungen an meine Kindheit stiegen in mir, als ich zusammen mit Mama im Garten Beete vorbereitete. Unabsichtlich hatte ich einen Wurm mit dem Spaten in der Erde durchgeschnitten, danach aber, aus purer Neugier, durchtrennte ich beide Hälften noch einmal und sah zu, wie diese vier Teile des Wurmes sich auf der feuchten Schwarzerde krümmten und überschlugen.
Plötzlich – klaps! – bekam ich eins mit der Rute aufs Hinterteil.
„Warum quälst du das Lebewesen, Junge?“
„Das war unabsichtlich, Ma!“
„Lüg nicht! Ich hab‘ es gesehen! Erst unabsichtlich und dann mit Absicht!“
„Das ist ja nur ein Wurm!“
„Auch einen Wurm schmerzt das! Schau hin, wie er sich überschlägt und sich krümmt! Groß wie du bist, hast du so ein kleines Wesen getötet!“
„Nicht getötet! Die Lehrerin hat gesagt, aus jeder Wurmhälfte wird mit der Zeit ein ganzer Wurm.“
„Aus der Hälfte – ja, aber in vier Teile zerstückelt, stirbt der Wurm!“
Mama hielt mir einen langen Vortrag. Ich erfuhr, dass Würmer sehr nützliche Tiere sind. Sie graben Löcher in den Boden, durch die Regenwasser und frische Luft an die Wurzeln der Pflanzen gelangen.
Mutter sprach: „Der Herrgott hat nichts ohne Grund geschaffen. Jedes Lebewesen hat seinen Sinn und seinen Auftrag auf Erden. Der himmlische Vater hat dem Menschen erlaubt, zu herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alle Tiere des Feldes und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht, dem Menschen ist es aber nicht erlaubt, Tiere zu quälen, zu foltern und sich über sie lustig zu machen. All das ist Sünde!
Wer so handelt, wer Lebewesen – und seien es nur Hunde oder Würmer – ohne jeden Sinn quält oder tötet, der wird hartherzig und kann zu einem brutalen Menschen heranwachsen.
Willst du zu einem Halunken heranwachsen, mein Sohn?“
Nein, das wollte ich keinesfalls. Diese Worte haben sich mir für immer eingeprägt. Und je älter ich wurde, desto öfter erinnerte ich mich an Mutters Worte.
3
Die Heimkehrer
Wenn schon überall die ersten Pfützen glänzen, weil der Schnee zu schmelzen beginnt, erscheinen nach den Gänsen, Enten und Küstenschwalben in der hocharktischen Tundra die Langstreckenzieher, auch Fernzieher genannt. Der Frühling ist da!
Ich wartete aber immer sehr auf meinen liebsten Vogel, das Odinshühnchen, das zur Familie der arktischen Schnepfenvögel und zur Gattung der Wassertreter zählt. Er ist gelegentlich während seines Zuges auch an der deutschen Nordseeküste zu beobachten.
Das Odinshühnchen verdankt seinen Namen einer nordischen Gottheit, was auch ein Hinweis auf seine Brutgebiete ist. Sie liegen zirkumpolar auf der nördlichen Halbkugel.
Endlich waren sie da, meine langersehnten Freunde! Sie kamen in einem dichten Schwarm angeflogen, die Flügel gleichzeitig im Takt schwingend. Die Unterseite dieses Schwarms ist weiß wie der Meeresschaum.
Die Odinshühnchen sind etwa 20 Zentimeter groß und wiegen weniger als ein Hühnerei. Sie haben schwarze Köpfe und weiße Wangen. In flachen Gewässern drehen sie sich im Kreis und wirbeln dabei mit dem Bodenschlick kleine Wassertiere hoch. die sie dann aus dem Wasser picken.
Bei diesen Wassertretern sind die Rollen etwas vertauscht: Hier hat das Weibchen das buntere, farbenprächtige Gefieder. Das Weibchen balzt um die Gunst eines Männchens, legt drei odervier Eier in ein primitives Nest, sucht sich dann einen anderen Gatten und beginnt die zweite Brut. Das Männchen brütet und ist für die Aufzucht der Jungen zuständig. Die Weibchen bilden dann Schwärme und fliegen jeden Tag ein bisschen weiter Richtung Süden.
Das brütende Männchen sitzt fest auf dem Nest.
Einmal wollte ich prüfen, wie weit die Geduld eines brütenden gefiederten Mannes reicht, und ging, um nicht zu groß auszusehen, vor ihm in die Knie, legte ein bisschen Moos auf meine Hand, schob den Vogel vorsichtig zur Seite. Behutsam nahm ich die drei warmen Eier aus dem Nest und legte sie in das neue „Nest“ auf meine Handfläche.
Das Männchen flog auf, gab eine Salve zorniger „Tscherrp-tscherrp“-Laute von sich und setzte sich fest auf meine Hand. Ich spürte das Pochen seines Herzens.
Beschämt legte ich die Eier zurück und beobachtete erleichtert, dass der gefiederte Papa sich wieder auf sein Nest setzte.
Hoch lebe der Frühling! Odinshühnchen, ihr habt die 8000 Kilometer lange Strecke überwunden, ich habe die drei Monate lange ewige Nacht überstanden. Weiter geht es gemeinsam!“
4
Das Gänschen Pill
Mein Weg zum Jagdrevier verlief entlang dem Ufer eines Tundrasees. Ich war schon beinahe sechs Stunden unterwegs. Meine Beine wurden immer schwerer, der Rucksack drückte immer stärker, die Strecke bis zur schwarzen Silhouette der Fischerhütte am Horizont schien endlos.
Ich lehnte mich an einen bemoosten Basaltblock am Ufer und nahm den Rucksack ab, um eine Verschnaufpause einzulegen.
Es war Mitternacht und die Sonne schien. Ja, die Sonne schien, obwohl die Uhr Viertel nach zwölf zeigte. Der Uhr nach war es Nacht. Der Sonne nach war es Tag. Schon viele Male hatte ich dies erlebt, konnte mich aber nicht an dieses arktische Phänomen gewöhnen.
Die lange Finsternis und den harten Frost der Polarnacht übersteht das menschliche Gemüt, weil es weiß: Die Sonne kommt wieder. Am Polartag schlagen jedoch die Sinne Alarm: So etwas gibt´s doch nicht!Kein Bild, kein Foto, kein Video kann das hinreißende Wunder des Polartages wiedergeben. Allein dem Künstler Rockwell Kent ist das wohl gelungen.
Während ich so in meine Gedanken vertieft war, störte mich immer wieder eine lästige, ärgerliche Vogelstimme: „Pi-u! Pi-u! Pi-u!“
Ich schaute mich um und entdeckte eine Schmarotzerraubmöwe. Diese „Piraten“ mit dunkelbraunen Schwingen, schwarzer Kappe und beigebrauner Kehle belästigen Schwalbenmöwen und andere kleine Seevögel im Flug so lange, bis sie ihr frisch gefangenes Fischlein fallen lassen oder sogar herauswürgen. Die fremde Beute wird dann von dem unverschämten Räuber in der Luft aufgeschnappt. In ihrem Brutgebiet stehlen die Schmarotzerraubmöwen oft Eier aus den Nestern der Schnepfen und Bachstelzen und machen Jagd auf Jungvögel und Lemminge.
Genau das spielte sich jetzt vor meinen Augen ab: Es waren sogar zwei Wesen, auf die sich der Schmarotzer stürzte, zwei orangefarbene Dreiecke, die im Gras baumelten. Und sie baumelten besonders schwungvoll, wenn die Raubmöwe auf sie einzuschlagen versuchte, und trafen den Räuber an Bauch und Flügeln.
Na, so was! Nie hatte ich in der Tundra bisher lebendige, sich bewegende Dreiecke gesehen! Langsam schlich ich mich näher zum Kampfplatz und stellte die Schärfe besser ein. Da kam das dritte Dreieck in Sicht. Es war etwas länglicher und versuchte den Angreifer an Hals und Kopf zu treffen.
Endlich blitzte die Erkenntnis in mir auf: Das unbekannte Objekt war ein Gänseküken. Die orangefarbenen Dreiecke waren sein Schnabel sowie die straff gespannten Schwimmhäute zwischen seinen Zehen. Das Gänsekind lag auf dem Rücken und versuchte mit Krallen und Schnabel den Angriff der Schmarotzerraubmöwe abzuwehren.
Während der zurückgeschlagene Räuber über dem Schlachtfeld kreiste, sprang es auf, riss schnell grüne Halme ab und verspeiste sie gierig:
Ich fing das Küken und schob es unter die Jacke. Dem Angreifer aber drohte ich mit der Faust.
„Willkommen, kleiner Nachbar!“ Blitzschnell bekam ich mit dem spitzen Schnabel einen Hieb auf die Stirn.
„Autsch! Nicht kämpfen! Ich bin kein Feind, ich will dir helfen!“
Ich schaute mich nach seiner Familie um. Und wirklich: Am entgegengesetzten Ufer entdeckte ich zwei erwachsene Graugänse und eine Schar Jungvögel, die dicht aneinandergeschmiegt auf dem Kieselgestein saßen. War es die Familie des tapferen Pill?
Ich zog die Schäfte meiner Fischerstiefel hoch, stieg in den See und begab mich in Richtung der Gänsefamilie, bis mir das Wasser über die Knie schwappte. Dann nahm ich das Gänschen Pill aus seiner warmen „Höhle“ an meiner Brust heraus, setzte es aufs Wasser und gab ihm einen leichten Schubs.
Die Gänsemutter am anderen Ufer sprang auf. Ihr Flugruf, ein laut hallendes „Ahng-ang-ang, ahng-ang-ang“ erklang über dem stillen Wasser. Der Ganter sprang ebenfalls auf und stieß zahlreiche mächtige „Ga-ga-gas“ in die herrliche Sonnennacht.
Ich ging schnell ans Ufer zurück. Zufrieden und gut gelaunt setzte ich meinen Weg fort. Der Rucksack schien nicht mehr so schwer zu sein und die Entfernung zur Jagdhütte Hütte nicht so weit.
5
Der Wasserteufel
Meine erste Saison als Profifischer verbrachte ich mit dem einheimischen Fischer und Jäger Afanassij aus dem Volk der Dolganen. Er als Meister und ich als Lehrling wurden von der Obrigkeit als „Zweimannbrigade“ auf die Arbeitsliste gesetzt. Von nun an waren wir verpflichtet, eine Tonne Salz und zwei Tonnen Gefrierfisch sowie eine Tonne Caribou-Gefrierfleisch pro Saison an den Staat zu liefern.
Zusätzlich erhielt Afanassij eine laut knallende Signalpistole, um die Polarbären abzuschrecken, und ein rotes Kästchen mit Medizin als Hausapotheke.
Ein Hubschrauber setzte uns diesmal neben einer alten Fischerhütte an der Küste des Karischen Meeres ab.
Ich entfachte Feuer im Herd, Afanassij öffnete eine versteckte Flasche mit Wodka und spritzte ein bisschen davon ins Feuer. Die Flamme ging hoch, der Deckel auf dem Teekessel klapperte lustig, mein Kollege sagte zufrieden: „Uot-Echee, der Geist des Feuers, hat das Opfer angenommen, ich hoffe, wir werden gute Beute machen!“
Nachdem die Flasche geleert war, verstießen wir gegen das Sicherheitsprotokoll und tranken auch das Ethanol aus dem roten Kästchen aus.
Am nächsten Tag machten wir wegen unseres schlimmen Katers eine Verschnaufpause und begannen erst tags darauf mit der Arbeit.
Der Fischfang lief wirklich gut. Innerhalb von zwei Monaten rollten wir 20 Fass Salzfisch in den Eiskeller im Permafrostboden. Zum Einfrieren kamen noch ein Dutzend Caribou-Schlachtkörper hinzu.
In den Tagen mit schwerem Seegang im Meerbusen blieben wir in der Hütte, reparierten die Netze und unterhielten uns über dies und das. Afanassij erzählte mir von den Sitten, Bräuchen und dem Glauben seines Volkes. So erfuhr ich, dass es den Geist Tojon-Kallan gäbe, den Herrn des Himmels, und viele seiner Knechte auf Erden.Jeder See, jeder Fluss, jeder große Findling in der Tundra hat seinen eigenen Naturgeist, der für Frieden und Ordnung in seinem Gebiet sorgt. Neben den guten Geistern gäbe es auch böse, die einen Menschen zu Tode quälen können. Das gefährlichste Ungeheuer sei der „Wasserteufel“, der in der Finsternis Fischer überfällt, die allein arbeiten, und sie unter die Eisdecke zieht. Deshalb sollte man in der Polarnacht niemals allein und ohne Laterne an die Arbeit gehen.
Anfang September mit dem ersten „Probefrost“ bekam mein Kumpel plötzlich Fieber und erkrankte schwer. Ich gab ihm Schmerztabletten, ging ans Funkgerätund sprach mit dem Arzt der Fischerzentrale über den Vorfall.
Spätabends landete dann ein kleiner Helikopter MI-4 neben unserer Hütte und nahm meinen fast bewusstlosen Kollegen an Bord. Später erfuhr ich, dass er am Blinddarm operiert worden war und es ihm wieder gut ginge.
So blieb ich also allein auf dem Fischerpoint. Meine erste Polarnacht stand bevor. Alle erforderlichen Vorbereitungen für den langen dunklen Winter waren bereits erledigt. Allein die kleine Reservehütte in 20 Kilometer Entfernung bedurfte noch der Reparatur und brauchte Brennholzvorrat. Ich nahm alles Nötige und begab mich dorthin.
Nach drei Tagen war ich mit leerem Rucksack auf dem Rückweg. Die zugefrorenen Bäche passierte ich in schnellem Schritt. Manchmal knackte das Eis, aber ich schenkte diesen Warnungen keine Beachtung. Ich lief, ich eilte, ich rannte, ich hatte ein brennendes Verlangen nach heißem Tee, einem Obdach und Ruhe.
Auch der letzte Bach vor der Hütte war zugefroren und mit feierlich glitzerndem Schnee bedeckt. Kaum machte ich ein paar Schritte auf dieser Zuckerpuderdecke, als sich unter der dünnen Schneeschicht ein „Fenster“ öffnete und ich ganz still und sanft bis über die Ohren im eiskalten Wasser versank.
„O-och!“ Der Atem stockte mir in der Brust.
Was in solch einem Fall zu tun war, wusste ich von Afanassij: Zunächst durchatmen. Danach probieren, ob man sich hochziehen kann. Das tat ich auch, aber das Eis brach immer weiter ein. Also gut ... den Rucksack am Rand des Eislochs ausbreiten, so weit die Hand reicht. Den Karabiner runter!Mit dem Lauf den Rucksack möglichst weit aufs Eis hinausschieben. Danach dem Gewehr einen Schubs geben, damit es weiter wegrutscht. Sich im Wasser auf den Rücken legen, mit beiden Armen einen starken Schwung machen, als ob man auf dem Rücken schwimmt. Rasch wiederholen – schon ist man raus! Sich schnell auf den Bauch drehen und wie eine Ringelrobbe zum Ufer kriechen.
Aber es klappte nicht … Schon beim ersten Schwung packte mich jemand am Kragen und stieß mich ins eisige Wasser zurück.
„Na, was ist los? Noch einmal!“
Der unsichtbare Spaßmacher tat dasselbe!
„Ist das ein Eisbär, der Katz und Maus mit mir spielt?“
Aber kein Tollpatsch war zu sehen. Alles war still ringsum, die alte Hütte, mein liebes Zuhause, stand einsam und traurig einen halben Kilometer entfernt da. Ich biss die Zähne zusammen und machte noch einen Versuch.
Dasselbe!
Obwohl ich ganz entkräftet war, hörte ich nicht auf, Schwimmbewegungen zu machen, sonst hätte die Strömung mich unter die Eisdecke gezogen. Ich zitterte am ganzen Körper. Ich zappelte wie ein Fisch am Haken. Ich japste, hustete, prustete, aber den Kopf hielt ich hoch.
Ist das vielleicht der Wasserteufel, der vereinzelte Fischer überfällt?
Ein Schüttelfrost durchfuhr mich, die Haare standen mir zu Berge, ich konnte kaum noch atmen, nur noch röcheln. Tränen rollten von selbst.
Ist meine letzte Minute gekommen? Ist das mein Schicksal, in der Wildnis, in einem flachen Bach, den sogar Hasen mit einem Satz nehmen, zu ertrinken?
Plötzlich hörte ich die Stimme meiner Mutter: „Verzage nicht! Es gibt den Herrn im Himmel. Flehe ihn an. Er wird helfen!“
Da schrie ich aus allen Lebenskräften: „Jesus Christus, mein Herr im Himmel! Zeige mir den Ausweg!“
Sofort verspürte ich tiefe Ruhe im Herzen und begriff: Die Kapuze! Ja, die Kapuze!
Die Kapuze verfing sich immer wieder am zackigen Rand des Eislochs und führte dazu, dass ich mich selbst zurückschleuderte.
Schnell die Kapuze über den Kopf gestreift und raus aus der Falle! Nun den Rucksack auf den Rücken, das Gewehr in die Hand – und weg vom Bach!
Den halben Kilometer bis zur Hütte schaffte ich in einer Minute. Nei-ein! Es waren nur Bruchteile einer Minute!
Das Thermometer am Türpfosten zeigte minus 14 Grad Celsius. Das Thermometer in der Wohnstube dagegen nur minus 10 Grad. Toll!Der Herd eiskalt, die Fenster bereift. Der Zwieback in der Schüssel war hart wie Stein.
Die Jacke ließ sich nicht aufknöpfen. Die Knopflöcher waren zugefroren.Das Messer ging nicht aus der Scheide. Ebenfalls angefroren.
Knöpfe abgerissen, aus der Jacke geschlüpft. Die Hosen? Die Hosen waren wie aus Eisenblech. Aber der Reißverschluss im Schritt ging auf.
Endlich kam ich aus meiner Kleidung und machte Feuer im Ofen. Nackt, wie ich war, lief ich hinaus, füllte den Teekocher mit Schnee, knallte ihn auf die Herdplatte und schrie den bauchigen Kerl böse an: „Wenn du in fünf Minuten nicht kochst, kriegst du eins auf den Deckel!“
Der erschrockene Dickwanst gab keinen Mucks von sich.
Plötzlich knackte es im Herd. Der Aschenkasten sprang auf, hellrote Glut fiel heraus.
„Na, das fehlte mir noch! Halt die Klappe, du Brandstifter, du!“, rief ich.
Der dreiste Herd hielt die Klappe.
Ich presste den Rücken an die warm gewordene Ofenwand, nahm trockene Kleidung aus dem Schrank, wärmte sie am Herd und zog mich an.
Alles gut. Nur die Füße bekamen einen lilafarbenen Ton.
Langsam wurde es warm in der Stube. Der Deckel auf dem Kocher begann verlockend zu klappern. Nun Tee aufbrühen, die Zwieback in die heiße Flüssigkeit tunken, ein bisschen knabbern.
Ich bin in Ordnung. Aber wie gehtʼs dem armen Wasserteufel, dem die Beute entronnen ist? Sitzt er am Ufer und weint die bittersten Tränen oder ist er beschämt weggelaufen?
Mit dem Becher in der Hand ging ich hinaus und guckte in die Richtung der Unglücksstelle. Und in der Tat! Es war eine graue, sich langsam im Wind bewegende, einem Gorilla ähnliche Gestalt über dem Bach zu sehen.
Oder war es nur Frostrauch, der bei Minustemperaturen über jedem Eisriss dampft?
Wie dem auch sei, auf jeden Fall drohte ich demgrrrausamen grrrauen Grrräuel mit der Faust. Es spricht sich im Volke herum, dass Wasserteufel vor braven Fischern tiefen Respekt verspüren.
6
Kein Schnee – kein Leben!
„Vita est via“ (Lat.)Das Leben ist ein Weg.
„Oh! Wir bekommen Besuch!“ Ich reiche das Fernglas dem deutschen Jäger Bodomar, der mein Gast ist. “Mein Nachbar kommt. Mal Tee aufbrühen.“
Der schwarze Faden eines Hundegespanns überquert den zugefrorenen See. Sechs zottelige Tiere ziehen den Schlitten das steile Ufer hoch und nähern sich dem Feuer.
„Aj ja- a- a!“
Der Bremsstock bohrt sich mit seiner eisernen Spitze in den Grund. Die Schlittenhunde legen sich am Feuer nieder und schlucken gierig Schnee. Schwarze lebendige Knäuel auf weißem Untergrund, rote Zungen, rote Weiden am Ufer und die tief stehende rote Sonne. Steinzeit ... Die deutschen Jäger fotografieren. Man schätzt den Augenblick.
Der Musher, mein Nachbar, ein bejahrter Mann mit dunkler Haut und aufmerksamen, schmalen Augen, kommt näher, drückt jedem die Hand und nennt seinen Namen. Misstrauisch betrachtet er die vielfarbigen Jacken der Ausländer: gelb, rot, blau. Keine Jagd – ein Basar! Mit solch einer Kleidung schreckt man das Wild nur ab, denkt er sichwahrscheinlich.
„Wir sind schon fertig, Afanassij“, sage ich zu ihm, „alle haben gut geschossen, jeder hat eine gute Trophäe und ist zufrieden. Morgen geht es zurück. Beinahe wärst du zu spät gekommen.“
Afanassij kommt dem Feuer näher und blickt mich forschend an. In seinen schwarzen Augen ist Unverständnis zu lesen: Auf dem Feuer kochen in einem eisernen Fass zwei Rentierköpfe mit großen mächtigen Hörnern. Gekochte Köpfe mit Zutaten – ein guter Schmaus! Aber dass man solch ein Süppchen in einer Dieselöltonne kocht ... so was hat Afanassij noch nie gesehen.
„Hast du Tonne waschen?“, fragt er mich flüsternd.
„Und wie! Zweimal. Und dann noch mit feinem Sand ausgeschrubbt.“
„Nicht genug! Dieselöl lange stinken. Warum nicht zu mir kommen? Ich – großen Kochtopf haben. Für zehn Mann – hier sieben!“
In diesem Augenblick kommt einer der Jäger, ein schlanker junger Bursche ans Feuer und schüttet Waschpulver in die „Suppe“.
„Schau mal, was tut der da! Aber zu viel trinken gestern. So was Hunde nicht mal fressen ...“
„Kein Essen“, das Lachen drückt mich, „das ist für ...“
„Wie? Kein Essen? Kopf – ein Schmaus! Gute Brühe, gutes Fleisch, guter Sulz. Und der da – Seife. Ist er noch normal?“
Ich erkläre dem einheimischen Jäger, dass wir das Fleisch für die Hunde schon gelöst haben, die Knochen aber kochen wir zum zweiten Mal auf. Waschpulver schüttet der Bursche drauf, damit die Knochen besser auskochen und schön weiß werden.
„Was? In seinem Land Knochen essen?“
„Ach, Afanassij ... Diesen Knochen, den Schädel mit den Hörnern, nennt man Trophäe. Die Jäger nehmen sie mit nach Deutschland, ein warmes Land in Europa. Fleisch aber brauchen sie nicht, haben sie genug daheim.“
„Also den ganzen Körper in Tundra liegen lassen? Sünde. Herrgott bestrafen!“
„Nein, Afanassij ... Guck mal dahin. Da, auf den Stangen hängt das Fleisch. Es bleibt für unsere Jäger. Sie haben bei der Jagd mitgeholfen. Und die Ausländer nehmen nur die Trophäen mit. Deshalb sind sie nach Taimyr gekommen. Und sie haben sogar dafür bezahlt!“
Der einheimische Jäger steht schweigend im Raum. So was ist für ihn schwer zu verstehen. Sein ganzes Leben lang hatte er nur wegen Fleisch und Fellen wilde Rentiere gejagt. Aber die Knochen und Hörner hatte er immer in der Tundra gelassen. Wer braucht denn Knochen? Wer konnte sich vorstellen, dass es Leute gibt, die für einen Knochen Geld zahlen?
Afanassij fragt mich:„Da, in jenem warmen Land, kein Eis auf Meer?“
„Hast recht, kein Eis.“
„Und, wenn der Wind Nord? Zwei Tage, drei Tage, ’ne Woche? Eis herbeitreiben? “
„Niemals!“
„Sogar im Winter?“
„Sogar im Winter.“
„Und Schnee? Haben sie Schnee da?“
„Selten. Nur oben im Gebirge, da gibt es Schnee.“
„Arme Leute ... Nie fahr ich nach Deutschland! Ohne Schnee wie gehtʼs? Frühling kommen, Schnee tauen, Wasser gut schmackhaft! Einen Becher Tee trinken, zwei trinken, fünf und immer noch wollen! Schwan, Gans, Ente, Fuchs, Rentier – alle nach Norden kommen, Schneewasser trinken, gesund sein. Kleine Kinder, Schwan, Gans, Ente, Rentierkälber – alle Schneewasser trinken, schnell wachsen! Und du – kein Schnee in jenem Land ... Kein Schnee – kein Leben! Aus Wasser und Feuer, Kallan-Tojon4 Himmel und Erde machen.
Afanassij nimmt Abschied von allen. Er setzt sich auf den Schlitten. „Marsch! Aj aj-a-a!“
Das Hundegespann verwandelt sich erneut in einen schwarzen Faden und verschwindet in der grenzenlosen Tundra. Nur Schnee, ewiger Schnee, Schnee Via und Schnee Vita brennt und flammt in der Sonne.
4. Kallan-Tojon – der Wirt, der Geist des Himmels
7
In der Bärenhöhle
Einige Jahre bin ich schon als Pelzjäger im Norden Sibiriens tätig. Mein Jagdrevier befindet sich auf einer Insel in der Kara-See am 76. Breitengrad. Es ist eine eiskalte Wüste im Winter, ein Vogelparadies im Sommer und ein bekanntes „Eisbären-Entbindungsheim“.
Es ist Mitte März. Ich inspiziere auf Skiern mein Jagdrevier. Nach der 40-Kilometer-Runde fühle ich mich ziemlich erschöpft. Aber meine Hündin Nerka zeigt keine Müdigkeit. So gut wie auch schon vor acht Stunden jagt sie den Schneehühnern hinterher und versucht sogar einige im Auffliegen mit der Tatze niederzuschlagen.
Nun will ich flott vom hohen Ufer hinunterfahren und stoße mich kräftig mit beiden Stöcken ab. Und ... im selben Augenblick stürze ich in eine Grube, die Skier schlagen gegen den harten Boden, vor meinen Augen blitzt es mehrfach auf.
Glück gehabt, Bursche, denke ich so bei mir, Beine nicht gebrochen, Skier auch noch ganz.
Ich beuge mich vor um die Skier abzuschnallen, und greife mit der Hand beinahe in frischen, dampfenden Kot eines Bären.
Schnell den Karabiner gepackt – im Lauf Schnee! Jagdmesser raus und mich an die Schneewand gepresst, zu bitterem Kampf mit dem wütenden Tier bereit. So von der Seite betrachtet, sehe ich wohl sehr lächerlich aus ...
Die Höhle hier ist leer. Im Dach neben meinem Schneeloch klafft ein zweites: das Luftloch des Bären. Es ist groß aufgerissen, unten auf dem Boden liegen harte Schneestücke.
Ich stapele diese Stücke auf, krieche darauf und schaffe mich so aus der Falle hinaus.
Nicht weit ab, auf dem Packeis entdecke ich einen hellgelben Flecken. Ist es ein Bär oder eine Bärin? Ich greife zum Fernglas und erblicke zwischen zwei zottigen Vorderbeinen ein kleines Bärchen.
Die Bärenmutter macht einen Schritt mit dem rechten Bein – das Junge läuft zur rechten Tatze. Dann ein Schritt mit dem linken Bein – zur linken Tatze. Und so läuft das Kleine unter dem Bauch der Mama ganz langsam von Tatze zu Tatze vorwärts.
Hin und wieder bleibt die Bärin stehen und guckt aufmerksam zu der Höhle zurück. Ob der Mensch da schießen würde? Nein, wird er nicht.
Umgekehrt.
Er bittet um Entschuldigung, hat Unfug gemacht. Denn wie ein Räuber ist er in die gemütliche Stube eingebrochen, hat die Einwohner aus dem Schlaf geweckt und rausgetrieben.
Aber wo ist meine Hündin Nerka? Wo ist mein treuer Beschützerin? Wütendes Bellen ist zu hören, das nicht enden will. Da, weit hinten, neben einem großen Findling sehe ich sie. Sie bellt aus Leibeskräften, scharrt und kratzt mit den Hintertatzen im Schnee, spitzt die Ohren und zeigt viel Mut, aber wagt keinen Schritt nach vorn.
„Na, lass das Konzert, Nerka! Wir Menschen sind ja manchmal auch so.“
Ich gucke nach den Fährten der Hündin. Die Spur endet neben dem zweiten Loch.
Wie eine Bombe schießt die Bärin mit dem Jungtier im Maul aus dem Schnee hervor und trifft Nerka am Kopf. Kein Wunder, dass beide erschrecken.
Ich entschuldige mich noch einmal, danke dem Herrn und dem Schutzengel, schnalle die Skier wieder an, rufe meinen Hund zu mir und gehe meines Weges. Als die Bärin wahrnimmt, dass Mensch und Hund sich entfernen, bleibt sie ruhig stehen.
Und lange noch sehe ich im Fernglas zwei alarmiert gehobene schwarze Nasen. Eine große und eine klei-ei-ne.
8
Springebbe im Karischen Meer
Damals war ich ein Grünschnabel in meinem Reporteralltag, wollte schnellstmöglich eine Stufe höher steigen, um Autorität zu gewinnen und besser bezahlt zu werden, und beging eine Dummheit, die ich bis heute bereue.
„Hast du diesen Artikel gelesen?“ Der Chefredakteur unserer Regionalzeitung war schlecht gelaunt: „Immer sammeln die Moskauer allerhand Unsinn zusammen und machen den Leser damit verrückt. So einen grünen Nonsens habe ich noch nie gesehen!“
Es ging um den Bericht in einer „grünen“ Zeitung. Der Verfasser empörte sich über die Ringelrobbenjagd in unserer Gegend, aber einem aufmerksamen Leser wurde sofort klar, dass der Autor nie bei einer Robbenjagd mitgemacht hatte, nie auf dem Packeis gewesen war und auch nie unter Frost und Wind gelitten hatte. Ihm waren Fehler unterlaufen, die einen Kenner zum Lachen brachten.