Der Tatzelwurm am Katzenturm - Eine Kriminalgeschichte aus Bremgarten - Andreas Giger - E-Book

Der Tatzelwurm am Katzenturm - Eine Kriminalgeschichte aus Bremgarten E-Book

Andreas Giger

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Beschreibung

In Bremgarten geschehen seltsame Dinge: In einer rätselhaften Kunstaktion taucht immer wieder ein Tatzelwurm auf. Ein Wappenstreit entzweit das Städtchen. Und schliesslich geschieht auch noch ein Mord. Die Reisebloggerin Senta Wohlgemut und ihre Freundin, die Polizistin Anna Studer, haben alle Hände voll zu tun, um diese Geheimnisse zu lüften, und lernen dabei Stadt und Leute kennen. Die Geschichte ist eine vergnügliche Einladung, Bremgarten neu zu entdecken oder wiederzuentdecken und dabei wohlvertraute und neue Seiten der kleinen Stadt an der Reuss kennenzulernen.

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis
Einführungsgedicht
Von Operetten und anderen Bremgarter Rätseln
Einige Monate zuvor
Die grosse Spaltung
Einige Wochen zuvor
Mörderische Phantasien
Ode an die Kleinheit
Hegnau-Abenteuer
Preisausschreiben
Am selben Abend
Der alte Weise vom Chaos-Platz
Am selben Abend:
Gehacktes
Spät in dieser Nacht
Ein Todesfall
Kurz vor Mittag
Giftiges
Abgänge
Nachträge

Andreas Giger, geboren 1951, lebt und arbeitet als freier Zukunfts-Philosoph, Werte-Forscher, Autor und Fotograf im appenzellischen Wald AR

www.gigerheimat.ch

www.appenzellerkrimi.ch

www.spirit.ch

 

 

 

Dieses Buch ist ein Roman. Die Handlungen sowie die meisten Hauptpersonen sind frei erfunden.

 

 

 

 

IMPRESSUM:

 

Der Tatzelwurm am Katzenturm

Von Andreas Giger

 

Text, Bilder und Gestaltung:

Andreas Giger

www.gigerheimat.ch

[email protected]

 

 

© 2017 Bremgarten Tourismus

Alle Rechte vorbehalten

      

Einführungsgedicht

 

Als noch ein Bergsee klar und gross

In dieser Täler Tiefen floss,

Hab ich allhier in großer Pracht

Gelebt, geliebt und auch gedracht

Als Tatzelwurm

....

 

Hornhäutig war mein Schuppenleib

Und Feuerspei'n mein Zeitvertreib.

Und was da kroch den Berg herauf,

Das blies ich um und frass es auf

Als Tatzelwurm.

...

 

Und kommt so ein gelahrtes Haus,

So höhnt's und spricht: "Mit dem ist's aus!

Der war ein vorsintflutlich Vieh.

Doch weise Männer sah'n noch nie

den Tatzelwurm."

...

 

Und ernsthaft spricht der Klausenwirt:

"Schwernot! Woher sind die dahergeirrt?

Das Fusswerk schwankt... Im Kopf ist Sturm …

Die sehen all' den Tatzelwurm!

Den Tatzelwurm!"

 

 

Von Operetten und anderen Bremgarter Rätseln

 

Oh nein! Das darf doch nicht wahr sein! Da bin ich mit meiner Liebsten doch extra für ein paar Tage nach Bremgarten gekommen, um eine romantische Zeit in einem romantischen Städtchen zu geniessen – fernab von jedem Kriminalfall. Und jetzt ist Jacky Honegger nicht nur tot, vielmehr ist er ermordet worden, wie wir soeben erfahren haben. Was das bedeutet, ist wohl klar: Unser kriminalistischer Spürsinn wird mal wieder gefragt sein. Womit es für die Romantik schlecht aussehen dürfte.

Aber wissen Sie was? Am besten erzähle ich Ihnen die Geschichte von Anfang an. So weit ich sie selbst erlebt habe, kann ich sie direkt bezeugen, zumal auch Anna meist dabei war. Darüber, was sich in den Köpfen der Hauptbeteiligten abgespielt hat, kann ich natürlich nur spekulieren, doch ich bin mir sicher, dass es so oder so ähnlich abgelaufen ist.

Alles begann mit einer Einladung von Bremgarten Tourismus an mich. Gestatten Sie deshalb, dass ich mich kurz vorstelle? Mein Name ist Senta Wohlgenannt. Vor kurzem bin ich vierzig Jahre alt geworden. Geboren und aufgewachsen bin ich in Dornbirn im österreichischen Vorarlberg. Dort wohne ich noch immer, wenn ich nicht gerade auf meinen ausgedehnten Reisen unterwegs bin.

Das ist deshalb öfters der Fall, weil ich von Beruf Reisejournalistin, beziehungsweise Reisebloggerin, bin. Angefangen habe ich in den klassischen Medien, um später einen eigenen Blog zu starten, der mittlerweile erstaunlich viele Leserinnen und Leser gefunden hat. Das bringt mir immer wieder Einladungen wie jene aus Bremgarten ein, ich möge doch, gegen Entschädigung natürlich, eine Reportage in Form eines Blogs über ein bestimmtes geografisches Gebiet verfassen.

So lautete auch der Auftrag von Bremgarten Tourismus: Ich sollte eine Woche lang im Städtchen verbringen und darüber in Form eines täglichen Blogs berichten. Thematisch mache man mir keinerlei Vorgaben, hoffe jedoch schon, ich würde Bremgarten einigermassen positiv porträtieren.

Nach kurzer Bedenkzeit sagte ich zu, unter der Bedingung, dass auch die Spesen meiner Liebsten übernommen würden. Das machte keine Probleme, meine Auftraggeber spekulierten wohl, meine Berichte würden noch positiver ausfallen, wenn ich Arbeit mit Vergnügen kombinieren könne. So kam es, dass Anna zusammen mit mir nach Bremgarten reiste.

Anna Studer kenne ich seit meinem zweiten Kriminalfall. Seit einiger Zeit schreibe ich nämlich auch Krimis, wobei es eigentlich mehr um Reportagen über reale Kriminalfälle geht, in die ich mehr oder weniger zufällig reingestolpert bin, und zu deren Lösung ich jeweils einen bescheidenen Beitrag geleistet habe. Anna Studer arbeitete damals als Kriminalistin auf dem Altstätter Posten der St. Galler Kantonspolizei. Der Fundort der Leiche eines Starkochs lag auf dem Gipfel des Hohen Kasten, der eigentlich als Appenzeller Berg gilt, dessen Gipfelplateau jedoch grösstenteils auf St. Galler Boden liegt, weshalb Anna für die Ermittlungen zuständig war.

Im Zürcher Sihltal sind wir wieder durch einen Mordfall zusammengeführt worden. Ich arbeitete dort an einer Reportage und stolperte dabei erneut über eine Leiche; sie absolvierte einen Gastaufenthalt bei der Zürcher Kriminalpolizei, und gemeinsam lösten wir den Fall.

In St. Margrethen schliesslich, der Grenzgemeinde ganz im Nordosten der Schweiz, kam es zur dritten Begegnung. Ich schrieb dort einen Blog für ein Theaterprojekt und fand ständig Leichenteile. Anna arbeitete mittlerweile für die örtliche Polizeistation. Auch dieses Rätsel lösten wir gemeinsam, doch es geschah noch mehr: Wir verliebten uns ineinander und wurden ein Paar. Beide hatten wir unsere Erfahrungen mit Männern und früher auch mal mit einer anderen Frau gemacht, doch eine intensive Liebesbeziehung zwischen zwei Frauen war für mich neu, und ebenso für Anna, die fünf Jahre jünger ist als ich.

Zu Monika Briner, der für Kultur zuständigen Stadträtin und gleichzeitig Kassiererin von Bremgarten Tourismus und damit meine direkte Auftraggeberin, war ich etwa drei Wochen vor dem geplanten längeren Aufenthalt zum Zwecke des persönlichen Kennenlernens noch allein gereist. Als ich ihr mein Anliegen, die Tage in Bremgarten gemeinsam mit meiner Liebsten zu verbringen, vortrug, war ich leicht skeptisch, wusste ich doch von meinen ersten Recherchen im Internet, dass die Stadt in einer gut katholischen Gegend liegt. Sie aber verzog keine Miene und meinte lachend, auch hier seien die Sitten längst nicht mehr so streng wie früher. Und falls jemand doch die moralische Nase rümpfen würde, sollten wir darüber einfach mit einem verliebten Lächeln hinwegsehen.

Dass ich mich auf meine erste Reise nach Bremgarten ein bisschen vorbereitete, war dringend nötig, denn ich wusste über diesen Ort so gut wie gar nichts, geschweige denn, dass ich jemals dort gewesen wäre. Dankbar sog ich daher die Informationen ein, die ich auf Wikipedia gefunden hatte:

Bremgarten ist eine Kleinstadt und Einwohnergemeinde im Kanton Aargau in der Schweiz sowie Hauptort des Bezirks Bremgarten. Sie liegt im unteren Reusstal, rund (jeweils Luftlinie) 16 km westlich von Zürich, 23 km östlich der Kantonshauptstadt Aarau und 35 km nördlich von Luzern. Mit etwas mehr als 7500 Einwohnern ist Bremgarten nach Wohlen die zweitbevölkerungsreichste Gemeinde der Region Freiamt.

Das von den Habsburgern gegründete Städtchen war von 1415 bis 1798 Teil der Grafschaft Baden, einer Gemeinen Herrschaft der Eidgenossen. 1443 lehnte Bremgarten während des Alten Zürichkrieges das Angebot ab, sich als gleichberechtigtes Mitglied der Eidgenossenschaft anzuschliessen. Von 1798 bis 1803 gehörte das Städtchen zum Kanton Baden, seither zum Kanton Aargau.

Die auf drei Seiten von der Reuss umschlossene, verkehrsberuhigte Altstadt ist ein Kulturdenkmal nationaler Bedeutung. Die vier Jahrmärkte, insbesondere der Christchindlimärt zur Adventszeit, besitzen eine überregionale Ausstrahlung und machen Bremgarten zum touristischen Zentrum des südöstlichen Aargaus. Ausserdem ist Bremgarten Standort einer Genietruppen-Kaserne der Schweizer Armee.

Auf einer Autofahrt rund um die Stadt hatte mir Monika Briner damals einen ersten leibhaftigen Eindruck von Bremgarten vermittelt, ehe wir in einem Strassencafé die letzten noch offenen Punkte besprachen. Dass die Altstadt, in der wir sassen, zu einem bedeutenden Kulturdenkmal erhoben worden war, erschien mir auf den ersten Blick einleuchtend. Harmonische Häuserzeilen aus offensichtlich uralten Zeiten säumten die mit Kopfsteinen gepflasterten Gassen, in denen sich vereinzelt Menschen in einem mir gemächlich scheinenden Tempo bewegten. Meine Gastgeberin kannte viele von ihnen, und so ergab sich manch fröhliches Grusswort und die eine oder andere kurze Unterhaltung, wobei aus meiner geplanten Mission kein Hehl gemacht wurde.

Kurzum, Bremgarten machte auf mich den Eindruck eines überschaubaren und gemütlichen Ortes – gemütlich im besten Sinne des Wortes. Ich hatte deshalb nach meiner Rückkehr selbigen Tages keinerlei Mühe, Anna davon zu überzeugen, mich zu begleiten. Sie hatte noch eine Woche Ferien zugut und keine anderen Pläne. Zudem musste sie zugeben, dass sie als Schweizerin mit Wurzeln und fester Verankerung in der Ostschweiz von Bremgarten genau so wenig Ahnung hatte wie ich, die österreichische Ausländerin. Und da es zu unseren gemeinsamen Eigenschaften gehört, dass wir neugierig darauf sind, neue Orte zu entdecken, freuten wir uns beide sehr auf die gemeinsame Woche in Bremgarten.

Allerdings überliess Anna es mir, die schriftlichen Unterlagen über die Stadt zu studieren, die ich von meiner ersten Reise mitgebracht hatte. Ich hatte daran ganz schön zu schleppen gehabt, denn neben dem üblichen Prospektmaterial hatte ich zwei Bücher bekommen, nämlich die „Bremgarter Chronik“ von 1998 und einen Band namens „Die Entstehung der Stadt Bremgarten“ von 2009, dazu diverse Ausgaben der „Bremgarter Neujahrsblätter“, die jedes Jahr mit einem Umfang von rund 150 Buchseiten erscheinen und jedes Mal ebenso vielfältiges wie tiefgründiges Wissen rund um die Stadt Bremgarten und ihre Geschichte vermitteln.

Ich hatte im Vorfeld unseres einwöchigen Aufenthalts in Bremgarten natürlich nicht alles von Anfang bis Ende lesen können, doch meine Lektüre genügte, um meinen ersten Eindruck zu verfestigen: Da liegt irgendwo im Zentrum der Schweiz eine selbst von dieser weitgehend unentdeckte kleine Stadt, deren Innenleben in seltsamem Kontrast zu dieser in den Augen der Aussenwelt vorhandenen Nichtexistenz steht, denn dieses Innenleben ist geprägt von bunter kultureller Vielfalt, einem über Jahrhunderte gewachsenen Traditionsbewusstsein und einem offensichtlich berechtigten starken Selbstbewusstsein. Diesen scheinbaren Widerspruch auszuloten, reizte mich immer mehr.

So fuhren Anna und ich denn eines schönen Sonntagmorgens im Mai zunächst mit dem Zug von St. Margrethen, wo ich in Annas kleiner Wohnung übernachtet hatte, nach Zürich, wechselten dort zur S-Bahn nach Dietikon und hatten gleich einen schlanken Anschluss an die BDWM, die Bremgarten-Dietikon-Wohlen-Meisterschwanden-Bahn. Bei meinem ersten Besuch hatte ich wegen Bauarbeiten auf einen Ersatzbus ausweichen müssen, doch diesmal konnten wir die modernen und bequemen Wagen dieser als S 17 firmierenden Privatbahn geniessen.

Von der Höhe des Mutschellen schraubte sich die Bahn in engen Kurven langsam hinunter nach Bremgarten, was mir erlaubte, Anna auf den ersten Blick von oben auf die vor allem angepeilte Altstadt hinzuweisen. Wobei das gar nicht so einfach war. Über Jahrhunderte muss vor allem die auf dem Hügel in der Reussschleife gelegene Oberstadt ihre Umgebung baulich stolz dominiert haben, doch mittlerweile wurde auch diese Umgebung grossflächig überbaut, so dass die kleine Oberstadt vom Hang des Mutschellen aus nur noch schwer sichtbar war. Wäre da nicht der hohe Turm der Stadtkirche als Orientierungspunkt gewesen, hätte ich die Altstadt von Bremgarten kaum erkennen können.

Wir stiegen nicht etwa am Bremgarter Hauptbahnhof aus, sondern fuhren weiter bis zur Station Isenlauf. Dort hatten wir uns ganz in der Nähe, im Restaurant „Jo-Jo“ der St. Josephstiftung, einer grossen Einrichtung für Behinderte, mit Monika Briner zu einem frühnachmitttäglichen Kaffee verabredet, und wollten dann von dort zum Casino gehen, wo es an diesem Tag eine Nachmittagsvorstellung der Operette „Der Vogelhändler“ gab.

Dass die Operettenbühne Bremgarten in diesem Jahr ihr vierzigjähriges Jubiläum feierte, wusste ich von meinem ersten Besuch, und auch, dass dieser rührige Verein alle zwei Jahre eine neue Operettenproduktion auf die Bühne bringt. Obwohl weder Anna noch ich ausgesprochen Operetten-Fans sind, reizte es uns, dieses Spektakel persönlich zu erleben. Ich hatte Frau Briner gebeten, uns Karten zu besorgen, was sie prompt erledigt hatte.

Nachdem wir uns am Buffet einen Kaffee und ein Stück Kuchen geholt hatten, führte uns Frau Briner zum von ihr reservierten Tisch. Angesichts des vollen Jo-Jo’s war dies eine kluge Massnahme gewesen. Ich bedankte mich bei ihr zunächst noch einmal für die Einladung und vor allem für den freundlichen Empfang samt Buchung einer Unterkunft und Besorgen der Operettenkarten, doch sie winkte nur ab und sagte stattdessen: »Wollen wir uns nicht duzen, wo wir uns schon die nächsten Tage immer wieder sehen werden? Der freundschaftliche Umgang per Du ist hier in Bremgarten üblich, und es wäre doch schön, wenn ihr Euch dieser Sitte anpassen würdet... Also, ich bin die Moni. Mit einem Glas Wein anstossen kann ich im Moment noch nicht, ich muss noch fahren, aber ich lade euch zu einem Nachtessen im „Stadtkeller“ ein, da können wir das nachholen.«

Ich war zwar etwas überrumpelt, aber ablehnen konnte ich das Angebot schlecht, und den dezenten Hinweis darauf, dass Gäste sich den örtlichen Sitten anpassen sollten, fand ich berechtigt. Deshalb sagte ich: »Ja, also, ich bin die Senta, und meine Freundin ist die Anna. Danke für das Angebot, auch für jenes eines gemeinsamen Abendessens. Da hast du uns sicher noch einiges über Bremgarten und seine Eigenheiten zu erzählen, jetzt sind wir ja etwas knapp in der Zeit. Aber eines würde ich gerne gleich wissen: Was hat es mit dem seltsamen Wandbild auf sich, das wir eben entdeckt haben, als der Zug über die Brücke fuhr und dabei eine Art Turm fast gestreift hat?«

Moni wusste sofort, wovon ich sprach: »Aha, ist euch das also aufgefallen. Ihr sprecht vom Katzenturm, der mit den anderen Türmen zu den charakteristischen Merkmalen des Stadtbilds von Bremgarten gehört. Die Eisenbahnbrücke führt tatsächlich sehr nah entlang des Turms vorbei. Das muss es den unbekannten Sprayern leicht gemacht haben, in der vorletzten Nacht an die Fassade des Katzenturms dieses Bild zu malen.«

 

Der Katzenturm in Bremgarten direkt neben der Eisenbahnbrücke

 

»Was soll denn dieses Bild nun darstellen?«, wollte Anna wissen. »Bei dem nur kurzen Blick, den wir darauf werfen konnten, kam es mir vor, als ob es sich um eine Art Drachen handeln würde, der allerdings nichts Bedrohliches an sich hat.«

»Nicht schlecht geraten«, entgegnete Moni. »Es handelt sich bei der Darstellung um einen sogenannten Tatzelwurm, und der gilt als kleiner und harmloserer Bruder der Drachen. Der Tatzelwurm ist deshalb auch ein beliebtes Spielzeug für kleine Kinder, und es gibt Kinderkrippen und Spielzeugläden, die sich so nennen.«

»Und woher weisst du das alles so genau mit dem Tatzelwurm?«, fragte ich neugierig.

»Weil es nicht der erste Tatzelwurm ist, der in letzter Zeit in Bremgarten aufgetaucht ist«, antwortete Moni mit einem gequält wirkenden Lächeln. »Wir stehen vor einem Rätsel. Dass es sich um eine Serie handeln muss, wissen wir, weil bei jedem bisherigen Auftauchen eines neuen Tatzelwurms wie eine Art Signatur auch zwei Grossbuchstaben zu finden sind. Das habt ihr beim Vorbeifahren am Katzenturm natürlich kaum sehen können, aber auch dort stehen unter dem Bild die beiden Buchstaben O und H.«

»Und was bedeuten die?«, fragten Anna und ich fast synchron.

»Das ist es ja eben. Niemand hat auch nur die leiseste Ahnung. Ebenso wenig Ahnung haben wir, was das Ganze eigentlich soll. Es wird in der Stadt spekuliert, dass es sich um eine Art Kunstaktion in Etappen handeln könnte, von einem Künstlerkollektiv, das vorläufig unbekannt bleiben will. Jedenfalls hat sich bisher niemand als Urheber der Aktion geoutet.«

Anna schlüpfte, ohne es zu merken, automatisch in ihre Rolle als Polizistin: »Sag mal, du hast doch eben erwähnt, der Tatzelwurm vom Katzenturm sei nicht die erste Aktion gewesen. Wie viele waren es denn vorher? Und wie sahen die genau aus?«

Moni seufzte: »Zwei. Und für die Antwort auf die zweite Frage brauche ich mehr Zeit. Können wir das nicht auf heute Abend verschieben? Ich habe jetzt noch etwas vor, und ihr geniesst erst mal die Operette und bezieht danach euer Zimmer. Ich hole euch dort um halb acht ab, und beim Essen werde ich euch dann alles erzählen.«

Sprach’s und verabschiedete sich, nicht ohne uns noch den Weg zum Casino zu zeigen. Dieser erwies sich wie versprochen als kurz, was mir sehr recht war, litt ich doch seit etlichen Tagen an einer Entzündung meiner rechten Achillesverse, was mir das Gehen zum Glück nicht verunmöglichte, aber doch beträchtlich erschwerte. Vor allem musste ich langsamer schreiten als gewohnt, was Anna zur Bemerkung veranlasste, dieses eher an ein Schlendern denn an zügiges Gehen erinnernde Tempo sei diesem kleinen Städtchen doch sehr angepasst. Angesichts der kurzen Distanzen in Bremgarten wäre ich bei meinem sonstigen Sauseschritt immer sofort wieder weit draussen wäre, statt mich am zweifelsfrei des Geniessens werten Inneren der Stadt zu erfreuen.

Ich musste ihr zustimmen. Kurz bevor wir das Casino erreichten, vor dem ein beachtliches Festzelt aufgebaut worden war, fiel mir ein Detail aus dem kurzen Gespräch mit Moni wieder ein, das ich beinahe überhört hätte: »Weisst du, Anna, das gibt mir jetzt gar kein gutes Gefühl. „Der Tatzelwurm vom Katzenturm“, das reimt sich doch, wie alle Titel meiner bisherigen Krimis. Soll daraus etwa auch wieder ein wahrer Krimi entstehen? Das wäre mir gar nicht recht, ich bin schliesslich hergekommen, um einfach einen neuen Ort kennenzulernen und ein bisschen darüber zu schreiben, und vor allem, um ein paar gemeinsame schöne Tage mit dir zu erleben. Ein aufregender Kriminalfall könnte dabei doch nur stören.«

Anna tröstete mich: »Ach komm, male nicht gleich wieder Gespenster an die Wand. Bisher haben wir an dieser Wand nur einen harmlosen Tatzelwurm. Und von wirklich kriminellen Machenschaften weit und breit keine Spur. Darüber bin ich übrigens auch sehr froh, ich will diese Woche nur deine Gefährtin sein und keine Polizistin.«

Unsere Karten lagen wie versprochen an der Kasse bereit, samt zwei Exemplaren des ausführlichen Programmhefts. Wir deponierten unsere Taschen an der Garderobe und gönnten uns noch je ein Gläschen Sekt, das wir draussen schlürften, damit ich mir noch eine Zigarette anstecken konnte. Unsere Plätze lagen am Rand der siebten Reihe und boten eine gute Sicht auf die Bühne. Ein Blick in den Zuschauerraum offenbarte so gut wie keine leer gebliebenen Stühle, der Saal war voll besetzt.

Ich muss gestehen, dass ich mich entgegen meiner sonstigen Gepflogenheiten kaum auf diese Aufführung vorbereitet hatte. Irgendwo im Hinterkopf hatte ich die Vorstellung eines gemütlichen Nachmittags mit gehobenem musikalischem Laientheater. Rasch wurde ich eines Besseren belehrt. Was da geboten wurde, war hoch professionell. Sänger, Orchester, Bühnenbild, Kostüme, Inszenierung – alles stimmte. Wie ich später erfuhr, werden tatsächlich nur der Chor und das Ballett von Amateuren gebildet. Die Solisten dagegen sind bewährte Profis, teils schon jahrelang dabei, teils erst für diese Inszenierung engagiert.

Auch eine Antwort auf die naheliegende Frage, wie Bremgarten zur Operettenstadt werden konnte, erhielt ich erst später. Schon in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts hatten der örtliche Männerchor und die Orchestergesellschaft mit der regelmässigen Produktion von Operetten begonnen. Treibende Kraft war ein sangesbegeisterter Metzgermeister, der eine Gesangsausbildung genossen hatte und die führende Tenorrolle gerne selbst übernahm. Als diese über fünfzigjährige Tradition zu Ende zu gehen drohte, bildete sich vor vierzig Jahren der bis heute bestehende Verein „Operettenbühne Bremgarten“, präsidiert derzeit übrigens von einer Tochter des damaligen Heldentenors.

Das Publikum jedenfalls war begeistert vom „Vogelhändler“ von Carl Zeller und applaudierte nach jedem Sologesangsvortrag, vor allem natürlich nach den in dieser Operette reichlich vorkommenden Gassenhauern wie „Schenkt man sich Rosen im Tirol“, „Ich bin die Christel von der Post“ oder „Grüss euch Gott, alle miteinander“. Anna und ich liessen uns von der guten Stimmung mitreissen und klatschten fleissig mit. Unfreiwillig komisch fand ich einzig die in meinen Ohren ausgeprägt schweizerische Färbung des Deutsch in mancher, von einem Chormitglied vorgetragenen, kurzen Sprechrolle, doch das war Meckern auf hohem Niveau.

Wie so manche Oper hat auch diese Operette ihre Längen. Der erste Akt dauerte denn auch über fünf Viertelstunden, weshalb wir froh um die danach eingeläutete Pause waren. Als wir eben nach draussen gehen wollten, sprach uns unvermittelt ein älterer Herr an: »Sie sind doch Frau Wohlgenannt? Hat das mit den Karten geklappt?«

Nach einem Moment der Ratlosigkeit fiel es mir wieder ein: Dieser Herr war mir kurz vorgestellt worden, als er an jenem Café vorbeischlenderte, vor dem Monika Briner und ich bei meinem ersten Besuch von Bremgarten sassen und die Sonne genossen. Er schien mein ausgesprochen lausiges Namensgedächtnis zu registrieren und fuhr fort: »Oh Verzeihung, ich muss mich vorstellen. Mein Name ist Schmassmann, und ich bin bei dem Verein hier zuständig für Fundraising. Wissen Sie, so eine Produktion lässt sich längst nicht mehr mit dem Kartenverkauf allein finanzieren, es braucht Sponsoren, und die versuche ich aufzutreiben. Hätten Sie übrigens Lust auf einen kurzen Blick „back stage“?«

So kam es, dass Anna, die ich als meine Gefährtin vorgestellt hatte, ohne ihren Beruf zu erwähnen, und ich einen Blick hinter die Kulissen werfen durften. Wir sahen die Cafeteria, in der sich eben viele Akteure für die Fortsetzung stärkten, und konnten sehen, wie sich das Ballett mit Dehnübungen auf seinen Auftritt vorbereitete. Gleichzeitig erfuhren wir noch ein paar Fakten: 25 Aufführungen, eine Auslastung von gegen 90 Prozent, was bedeutet, dass rund zehntausend Menschen die Aufführung sehen. Ein Gesamtbudget im hohen sechsstelligen Bereich. Lange Vorlaufzeiten – bald muss die Operette bestimmt werden, die in zwei Jahren zur Aufführung kommt.

Nachdem wir noch dem „Heldentenor“, dem Sänger des Vogelhändlers, vorgestellt worden waren, was uns schmeichelte, ging es zurück in den Zuschauerraum. Anna, die weniger Sitzfleisch hat als ich, fragte zum Abschied besorgt, ob es nach dem zweiten Akt noch einmal eine Pause gebe. Herr Schmassmann lachte und klärte uns auf, dass der zweite Akt zwar noch einmal etwa eine Stunde daure, der dritte aber nur rund zwölf Minuten.

Endlich waren alle Irrungen und Prüfungen überstanden und die richtigen Paare hatten sich gefunden. Der Schlussapplaus hätte begeisterter nicht klingen können und hielt lange an. Anna drängte darauf, vor dessen Ende zu gehen, damit wir als erste an der Garderobe sein könnten. Sie wollte möglichst bald unser Gastzimmer beziehen und sich vor dem Abendessen noch etwas ausruhen.

Auf der Theke der Garderobe lag ein Stapel Flugblätter, der vor der Aufführung noch nicht da gewesen war, er wäre mir aufgefallen. Die freundliche Garderobenfrau bestätigte meine Einschätzung und berichtete, den hätte jemand, den sie nicht kannte, nach der Pause da platziert, und da es auch um Musik gehe, hätte sie nichts dagegen gehabt. Neugierig griffen wir uns je ein Exemplar und lasen:

Freuen Sie sich auf einen speziellen Musikgenuss im nächsten Jahr!

Damit Sie, verehrte Musikfreunde, im nächsten aufführungslosen Jahr nicht darben müssen, bieten Ihnen die beiden Bremgarter Firmen „Nauer Weine“ und „Utz“ die einmalige Gelegenheit, eine weltberühmte Sinfonie live geniessen zu können. Die beiden Mäzene sorgen nämlich dafür, dass ein renommiertes Orchester hier im Casino die sechste Sinfonie von Anton Bruckner spielen wird.

Dass diese Sinfonie „Die Romantische“ heisst, passt zu Bremgarten, das sich gerne und zu Recht als Romantikstadt bezeichnet. Bremgarten und die romantische Sinfonie – das stimmt zusammen.

Wann genau diese Aufführung stattfindet und wie Sie zu den sicher begehrten Tickets gelangen, werden Sie rechtzeitig erfahren.

Ankündigen möchten wir schon jetzt eine kleine musikgeschichtliche Sensation: Es ist nämlich ein bisher unbekannter Brief des Komponisten aufgetaucht, in dem dieser beschreibt, warum seine romantische Sinfonie ebenso gut „Tatzelwurm-Sinfonie“ heissen könnte. Der Brief eröffnet ganz neue Zugänge zur Interpretation dieses berühmten Werks – und hier in Bremgarten wird dieses Geheimnis enthüllt werden.

Freuen Sie sich also auf einen aufregenden Abend irgendwann im nächsten Jahr!

Das Flugblatt war nicht unterzeichnet. Anstelle eines Absenders fand sich das Bild eines Tatzelwurms, das jenem an der Fassade des Katzenturms, auf das wir einen flüchtigen Blick hatten werfen können, offensichtlich glich. Und um jeden Zweifel auszuräumen, waren an der unteren rechten Ecke des Bilds deutlich die Buchstaben OH zu sehen.

Auch der Weg vom Casino über die gedeckte Holzbrücke und dann hinauf in die Oberstadt zum Gästehaus Spatz war kurz. Der „Spatz“ liegt am unteren Ende der Marktgasse und besteht aus einem nachmittags geöffnete Café und ganzen drei Gästezimmern. Frau Kammermann, die Gastgeberin, empfing uns herzlich und erzählte, es sei der grosse Traum von ihr und ihrem Mann gewesen, ein Altstadthaus nach eigenen Vorstellungen zu renovieren und mit neuem Leben zu füllen, und glücklicherweise seien sie hier in Bremgarten fündig geworden.

Unser Zimmer war der Beleg dafür, dass der Plan aufgegangen war. Das alte Balkenwerk war zwar sichtbar, doch die weiss getünchten Wände verhinderten einen allzu rustikalen Eindruck. Das schwarz geflieste Bad gab dem Ganzen einen Ausdruck gepflegter Modernität. Kurzum, wir fühlten uns beide sofort wohl und heimisch in diesem Zimmer, das für eine Woche unser Basislager sein würde.

Nachdem wir ausgepackt und uns frisch gemacht hatten, kuschelten wir einen Moment lang auf dem fliederfarbenen Laken des Betts, dessen Gestell aus Metall gefertigt war. Die Rücklehne bestand aus strahlenförmig angeordneten und schwarz lackierten Streben, die mich entfernt an die Samenkapseln südländischer Bäume erinnerten.