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Hauptkommissar Daimon Bail und seine Kollegin Serina Hauser kommen von ihrem unterbrochenen Urlaub, währenddessen es einige Morde gegeben hat, nach Memmingen zurück. Kaum zu Hause, stehen sie erneut vor einem schwierigen Rätsel. Wer ermordet und foltert an Silvester Männer und präsentiert ihre toten Körper an Bahnübergängen? Die Jagd auf einen Serienkiller beginnt.
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Seitenzahl: 589
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Kommissar Daimon Bail
Der Teufel kommt an Silvester
Ein Thriller von Rebecca Lechner
„Gibt es etwas Schlimmeres, als seinen besten Freund an einem Bahnübergang tot vorzufinden? Nichts, meint ihr? Ich sage euch, es geht schlimmer.“
Was zuvor geschah ...
Matthias und Daimon hätten sehr gut als Geschwister durchgehen können. Matthias‘ Familie zog vor vielen Jahren neben Daimons‘ in das Nachbarhaus ein, da waren die Jungen gerade mal sieben Jahre alt. So wuchsen sie Tür an Tür auf. Die zwei verstanden sich auf Anhieb.Ab dem ersten Tag gab es keinen, an dem sie nicht zusammen waren, sie wurden unzertrennliche Freunde. Sie teilten alles, von den Spielsachen bis hin zur Lunchbox in der Schule. In all den Jahren bemerkte niemand Matthias‘ heimliche Neigungen.
Erst mit dreizehn bemerkte Daimon eines Tages, als Matthias glaubte, unbeobachtet zu sein, dass sein Freund den Jungs nachsah, anstelle der Mädchen. Für einige Augenblicke hatte Daimon Bedenken, ob sich Matthias an ihn heranmachen würde. Daher nutzte er eines Abends, als sie wieder allein an ihrem Lieblingsort in Buxheim am versteckten See waren, die Gelegenheit. Leicht verunsichert stellte er ihm die eine Frage, die ihn schon länger bedrückte. Denn er wollte seinen besten Freund schließlich nicht verlieren: „Matthias, kann es sein, dass du eher auf Männer stehst? Mir ist aufgefallen, wie du ihnen hinterhersiehst.“ Verlegen sah dieser Daimon an: „Oh je, ist es so offensichtlich?“ „Oh ja, ich an deiner Stelle würde es nicht so öffentlich zeigen. Wer weiß, wer das in den falschen Hals bekommt. Mir ist es egal, auf wen du stehst, nur muss ich dich enttäuschen, ich mag dich sehr, aber nicht so sehr. Glaubst du, wir können dennoch Freunde bleiben? Auch wenn ich Frauen bevorzuge?“, versuchte Daimon seinem Freund seine Gefühlslage klarzumachen.
Darauf meinte Matthias ganz trocken, als Daimon ihn auf seine Bedenken ansprach: „Aber sicher doch! Du bist mein bester Freund. Und sorry, du bist zwar süß, aber du passt nicht in mein Beuteschema.“ Dabei lachte Matthias sein unwiderstehliches Lachen, auf das die Mädchen so abfuhren. Seine Worte vertrieben jeden Zweifel an ihrer Freundschaft, und erleichtert atmete Daimon aus. Die nächsten vier Jahre verliefen ohne irgendwelche Probleme, und die Jungs verbrachten weiterhin die meiste Zeit zusammen – bis auf einer Halloweenparty das Kartenhaus zusammenbrach.
Daimon konnte gut verstehen, dass es für Matthias im schwierigsten Alter von siebzehn Jahren nicht einfach war, freiwillig zuzugeben, dass er auf Jungs stand. Diese Neigung konnte er mittlerweile auch sehr gut verbergen. Bis zu diesem Zeitpunkt war Matthias der Mädchenschwarm an ihrer Schule. Daimon störte es nicht, dass sein bester Freund Männern bevorzugte. Er hatte schließlich seine eigenen Probleme. Er wurde ständig wegen seiner verschiedenfarbigen Augen schräg angesehen und mit Fragen gelöchert. Es nervte ihn, mehrmals am Tag erklären zu müssen, was eine Iris-Heterochromie war. Um den ständigen Fragen und Beleidigungen auszuweichen, ob er verschiedenfarbige Kontaktlinsen trage, nur um aufzufallen, oder ob es ein Teufelsmal sei, gewöhnte er sich schon früh daran, ständig eine dunkle Sonnenbrille zu tragen.
Aber richten wir erst einmal die Aufmerksamkeit auf Matthias. Er war ein gutaussehender Teenager. Sein kurzes schwarzes, strubbliges Haar, das immer so aussah, als wäre er eben aus dem Bett gekrochen, lud einfach zum Durchwuscheln ein. Sein schlanker Körperbau war ein Blickfang. Er war mit seinen einen Meter dreiundachtzig einer der größten in seiner Klasse. Nicht einmal die Narbe auf seiner linken Wange entstellte sein jugendliches Gesicht. Anfangs wurde er deswegen gehänselt und verspottet. Das legte sich jedoch recht schnell, als er im Fußballteam als Stürmer seine Mannschaft jedes Jahr zum Sieg führte.
Daimon konnte sich noch sehr gut an den Tag erinnern, an dem Matthias diese Narbe bekam. Es war ein heißer Sommertag und sie wollten an den Buxheimer Weiher zum Baden. Der Tag verlief bis zu der schicksalhaften Situation sehr ruhig. Daimon kam gerade aus dem Wasser, als eine Gruppe von vier älteren Jugendlichen näherkam. Einem der Jungs fiel auf, das Daimon zwei verschiedenfarbige Augen hatte. Sofort zog dieser ihn damit auf.
„He, Leute, schaut mal, da ist ein Außerirdischer, der hat zwei verschiedenfarbige Augen.“
„Lasst mich in Frieden“, versuchte Daimon ihnen mit sicherer und fester Stimme klarzumachen. Ohne sie aus den Augen zu lassen, ging er um sie herum. Er wollte keinen Streit, sondern einfach nur seine Ruhe. Ihm waren die Kerle nicht geheuer. Die Jugendlichen sahen sehr rabiat aus, mit ihren kurzen Bürstenhaarschnitten und den Bomberjacken mit dem Camouflage-Muster. Jeder von ihnen hatte mindestens eine Flasche Bier in der Hand. Bis auf den vierten im Bunde, der trug einen Sechser-Bierkarton unter dem Arm.
„Ach Quatsch, Pepe, das ist ein Teufelsmal. Lass die Finger von ihm, nicht, dass er dich verflucht“, johlte der Zweite.
Der Kerl, der mit dem Namen Pepe angesprochen worden war, sprach überheblich weiter: „Der Zombie? Mich verfluchen? Ha, das soll er nur wagen.“
Daimon passierte eben die Gruppe der Jugendlichen, da griff der Rädelsführer Pepe ihn fest am Arm und forderte ihn auf: „Komm, verfluch mich doch!“
Seine Freunde lachten und ein anderer meinte trocken: „Komm, schmeiß den Wurm einfach zurück ins Wasser, wo er eben hergekommen ist. Vielleicht fangen wir mit ihm einen großen Fisch.“
„Gute Idee ...“, weiter kam er nicht, denn plötzlich stand Matthias vor Pepe und meinte streng: „LASS IHN LOS!“
„Und wenn ich es nicht mache, was passiert dann? Willst du mich verfluchen?“
„Sowas kann ich nicht, ich löse so etwas anders.“
„Nicht, Matthias“, versuchte Daimon, seinen Freund von dessen Vorhaben abzuhalten. Aber er wusste, das war nutzlos. Matthias hatte immer schon einen sehr starken Beschützerinstinkt gehabt, der in Daimons Kindheit auch nötig gewesen war. Denn wegen seiner zweifarbigen Augen geriet er ständig in Bedrängnis und wurde von den anderen Jugendlichen gemobbt, so wie eben.
„Ach, und was wäre das?“, spottete der Rädelsführer Pepe.
„Das!“ Matthias holte aus und verpasste ihm einen kräftigen Schlag auf die Nase.
Pepes Kopf fiel nach hinten und ein leises Knacken war zu hören. Pepe richtete seinen wütenden Blick auf Matthias. Der Teenager war einen halben Kopf größer und durch den Schlag von Matthias hatte er Daimon losgelassen. Dafür ging er mit einem Wutschrei auf ihn los. Die zwei schlugen hart mit den Fäusten aufeinander ein, bis sie sich über den steinigen Boden wälzten. Die anderen Teenager blieben nicht untätig und feuerten ihren Kumpel lautstark an.
„Los, Pepe, mach ihn fertig!“
Schwer atmend bekam Matthias nach ein paar weiteren harten Fausthieben die Oberhand über ihn und konnte sich von seinem Gegner lösen. Flink sprang er auf und sah verächtlich auf den anderen hinunter. „Ich glaube, wir werfen das Strandgut wieder zurück in den See. Ach, und sollte ich einen von euch noch einmal in seiner Nähe sehen, bekommt ihr es mit mir zu tun“, drohte er ihnen mit erhobener Faust.
Die anderen Jungs starrten gebannt zwischen ihrem Kumpel, der blutend auf dem Boden lag, und Matthias hin und her, als warteten sie auf ein Zeichen, was sie tun sollten. Darauf wollte Matthias jedoch nicht warten, daher packte er Daimon am Arm und zog ihn von den anderen fort. Sehr weit kamen sie nicht, da sprang Pepe auf und griff nach etwas, was neben ihm auf dem Boden gelegen hatte. Es war ein Stück einer Glasflasche. Mit dieser Scherbe ging er auf Matthias los. Daimon sah Pepe aus dem Augenwinkel und zog Matthias aus der Gefahrenzone. Leider hatte er nicht mit der Flinkheit des anderen gerechnet. Pepe erwischte Matthias an der linken Wange und schlitzte sie auf. Das Blut schoss nur so aus der klaffenden Wunde und über sein Gesicht. Nun packte auch Daimon die Wut, und er verpasste dem Angreifer einen kräftigen Hieb in den Magen. Die Wucht des Schlages ließ ihn zusammenklappen wie ein gefällter Baum. Seine letzten gehauchten Worte vergaß Daimon nicht.
„Ja, lauft nur weg. Ich finde euch und das werdet ihr nicht überleben“, knurrte Pepe ihnen hinterher.
Seit diesem Tag zierte Matthias‘ linke Wange eine lange Narbe. Daimon nahm sich an diesem Tag vor, sich nie wieder unterdrücken und mobben zu lassen, damit so etwas nie wieder passieren würde. Denn nur wegen ihm und seinen zweifarbigen Augen war Matthias so schwer verletzt worden.
Ein paar Monate später auf der Halloweenparty der Schule setzte Matthias dem Ganzen die Krönung auf. Er erschien dort in einem schicken Piratenkostüm. Ab dem Zeitpunkt wurde er von den Mädchen nur so umschwärmt, wie der Star einer Boyband. Daimon stand nicht auf Männer, musste aber zugeben, dass Matthias dieses originelle Outfit ausgezeichnet stand. Er sah wie ein verwegener Freibeuter der Meere aus längst vergangenen Zeiten aus. Die Narbe an seiner rechten Wange unterstrich zusammen mit der schwarzen Augenklappe sein Erscheinungsbild.
Ein Jahr später gingen Matthias und Daimon erneut auf die Halloweenparty in der Sporthalle der Schule ... und der Horror begann.
Matthias war an diesem Tag ganz besonders in Feierlaune, denn sein Fußballteam hatte ein wichtiges Spiel gegen die Schule aus der Nachbarstadt gewonnen. Daimon gönnte ihm die Siegesfreude und bemerkte zu spät, wie tief Matthias ins Bowleglas geschaut hatte. Obwohl Alkohol auf der Party verboten war, glaubte einer aus der Oberstufe, er müsse die Bowle mit ein paar Flaschen Wodka etwas aufpimpen. Spät am Abend sprang Matthias stark angetrunken auf einen der Tische. Leicht schwankend sah er über die Menge. Mit einer Hand hielt er sich an der herunterhängenden Lampe fest, um sein Gleichgewicht nicht zu verlieren. Schließlich lallte er von dort oben laut, um die Musik, die aus den Boxen dröhnte, zu übertönen: „Hallo Leute, hört mir mal zu. Ich denke, es ist an der Zeit, dass ich euch etwas gestehe.“
löschen oder lassen?
Erst kam von allen Seiten ein überraschtes „Ah“ und „Oh“, bis schließlich alle verstummten und gespannt zu Matthias aufsahen. Die Mädchen scharten sich um ihn und hingen an seinen Lippen. Was die sich dachten, wollte Daimon nicht wissen. Auch er war neugierig, was Matthias ihnen erzählen würde. Nur Daimon hätte nie damit gerechnet, was er von sich gab.
Aufmerksam musterte Matthias seine Mitschüler, ob ihm auch alle zuhörten, bevor er laut lallte: „Ich steh auf Männer, ich bin SCHWUL.“ Besonders das letzte Wort posaunte er viel zu laut hinaus.
Klar, er wusste Matthias größtes Geheimnis zwar schon lange, aber dass er es nun vor der gesamten Klasse ausposaunte, das hätte er seinem Freund nie zugetraut.
In die Gesichter ihrer Mitschüler trat eine Mischung aus Verwirrung, Trauer und Abscheu, bis ihr Verstand seine Worte richtig aufgenommen hatte. Mit seiner Aussage hinterließ Matthias jede Menge trauernde Mädchen. Seit diesem Abend gingen ihm besonders die Jungs aus dem Weg. Sie setzten sich noch nicht einmal mehr zu ihm ans Lagerfeuer, um mit ihm ein Bier zu trinken. Bevor er sich geoutet hatte, war er umringt von seinen angeblichen Freunden. Dennoch fand Daimon es mutig, sich vor seiner gesamten Klasse zu seinen Neigungen zu bekennen. Selbst für Daimon veränderte sich nach Matthias‘ Offenbarung das Leben in ihrer Stadt drastisch. Ab diesem Moment musste Daimon sich ständig rechtfertigen, ob er ebenfalls auf Männer stünde. Aus Spaß stimmte er ihren Fragen zu. Denn die vielen Fragen nervten und langweilten ihn zugleich. Leider bekam er einige Wochen später die Quittung für seinen lustig gemeinten Scherz serviert.
Aaron Kerber, ein anderer Junge, zwei Klassen über ihnen, machte sich seit diesem Ereignis an Daimon heran. Er versuchte alles, um Daimon für sich zu gewinnen. Aaron war an sich ein gutaussehender Junge. Er hatte dunkelbraune, glänzende Haare und blaue Augen, in denen der Schalk saß. Er scherzte gerne mit seinen Schulkameraden und war ein hervorragender Schüler. Auch wenn er sich so anzog wie Matthias um Daimon zu gefallen, ging dieser ihm trotz alldem aus dem Weg. Auf Aarons ständige Avancen beteuerte Daimon ihm immer wieder aufs Neue, dass er nicht schwul sei, nur Aaron wollte es ihm nicht glauben. Er sagte ständig: „Gib mir nur einen Tag, dann werde ich dir beweisen, dass ich die bessere Wahl anstelle von Matthias bin.“ Kurz vor Weihnachten versuchte Aaron einen weiteren Vorstoß und diesmal legte er sein Herz auf die Zunge. Aaron nahm Daimons Hand, legte sie auf seine Brust und sagte mit so viel Gefühl wie möglich: „Ich liebe dich, Daimon.“
Selbst auf dieses Liebesgeständnis hin hatte Daimon nicht einen Blick für Aaron übrig. Er entzog ihm seine Hand, drehte sich sogar demonstrativ um und ging ohne eine Antwort davon.
Daimon ärgerte sich zutiefst. Er hatte auf die nervige Frage damals nur aus Spaß zugestimmt, dass er ebenfalls schwul sei. Damit sein bester Freund Matthias nicht die volle Breitseite aus Spott, Beleidigungen und die Abneigung der anderen Teenager abbekam. Seitdem suchte Aaron ständig seine Nähe. Egal, wo er sich befand, er spürte ständig stechende Blicke in seinem Rücken, die ihn verfolgten. Drehte er sich um, war jedoch nie jemand zu sehen.
Aaron schloss er als heimlichen Beobachter aus, ihm hatte er schon gezeigt, dass er keine Chance bei ihm hatte. Zu seinem Verdruss ließ Aaron einfach nicht locker und stellte ihm trotz der Abfuhr nach, bis zu jenem unglücklichen Tag, als er plötzlich verschwand.
Teil 1
Silvester 2003
Am Morgen des 31. Dezember erfuhr Daimon, dass Aaron vor zwei Tagen zu seiner Tante, die in England leben sollte, gezogen war.
Seine Eltern hatten am Morgen des Heiligen Abend einen tödlichen Autounfall. Sie waren für die Festtage einkaufen, und auf dem Weg nach Hause passierte es. Ein Lkw kam auf der glatten Fahrbahn ins Rutschen und rammte das Auto von Aarons Eltern. Durch die Wucht des Aufpralls krachte der Pkw in eine Hauswand. Gleichzeitig drehte sich der Auflieger des Lkws und prallte ein weiteres Mal gegen den schutzlosen Kleinwagen. Dessen Insassen waren auf der Stelle tot. Aaron blieb an diesem Tag zu Hause und schmückte währenddessen den Weihnachtsbaum. Hin und wieder sah er aus dem Fenster, um sofort mitzubekommen, wenn seine Eltern zurückkamen. Erst am späten Abend rollte ein Wagen in die Einfahrt. Aaron sprang auf und wollte mit seinen Eltern schimpfen, weil sie ihn so lange hatten warten lassen. Zu seinem Schock waren es nicht seine Eltern, die an der Tür klingelten, sondern jemand, mit dem er nie gerechnet hätte. Zwei Polizeibeamte standen vor ihm. Sie mussten an Heiligabend einem Teenager erklären, dass seine Eltern nie wieder nach Hause kamen.
Auf der einen Seite war Daimon glücklich darüber, dass Aaron nun in England bei seiner Tante lebte und ihm nicht mehr nachstellen konnte. Dennoch tat es ihm leid, dass er in so jungen Jahren zu einer Vollwaise wurde. Auch wenn Aaron eine Nervensäge war, so etwas hatte keiner verdient. Was am Ende aus ihm wurde, bekam niemand mehr mit. Ab dem Tag der Beerdigung seiner Eltern hatte man ihn nur noch in der Begleitung seiner Tante gesehen. Es hieß, dass seine Tante ihn kurz vor Silvester zu sich nach England mitgenommen hätte. Es war leider nicht das einzige Unglück, das die Stadt in diesen Tagen heimgesucht hatte. Das Schlimmste, was die Stadt je gesehen hatte, sollte ihnen noch bevorstehen.
Es war Silvester und die Kirchenglocken begrüßten pünktlich um Mitternacht das neue Jahr 2004. Daimon dachte sich nichts dabei, als er sich auf den Heimweg durch den verschneiten Wald machte. Am Himmel zeigten sich unzählige Sterne, die nur von den bunten Feuerwerksknallern an Helligkeit übertrumpft wurden. Matthias und er wollten sich an dem kleinen verborgenen See namens Himmelsteich in Buxheim treffen, um dort bei einem Lagerfeuer ohne den lauten Lärm der Stadt ins neue Jahr zu feiern. An der ausgemachten Stelle wartete Daimon geschlagene zwei Stunden in der eisigen Kälte auf ihn, aber Matthias kam nicht. Deprimiert ging er nach Hause zurück. Dort wollte er nach ihm sehen, und ihn fragen, warum er nicht gekommen war.
Wahrscheinlich saß er zu Hause im Warmen vor seinem neuen Videospiel und hatte die Zeit komplett vergessen. Seit er das Spiel zu Weihnachten bekommen hatte, kam es öfter vor, dass er alles um sich herum vergaß. Daimon kam jedoch nicht sehr weit. Kurz vor dem Buxheimer Bahnübergang, der nur spärlich beleuchtet war, entdeckte er den schlimmsten Alptraum, den er in seinem ganzen Leben nie mehr vergessen würde.
Am Andreaskreuz hing, gefesselt und zerschunden, ein nackter Körper, der im Mondschein nur schemenhaft zu erkennen war. Daimon blieb stocksteif vor Schreck stehen, er konnte seinen Augen nicht trauen, was er da vor sich sah. Er nahm seine leicht getönte Sonnenbrille ab und schaute sich die Person, die an das Andreaskreuz gefesselt war, genauer an. Egal, wie sehr er sich wünschte, dass ihm seine Augen einen Streich spielten, das Bild vor ihm verschwand nicht. Verzweifelt stand er vor ihm und verstand nicht, was seinem besten Freund Matthias zugestoßen war.
„Matthias, was machst du hier? Was soll das? Wo sind deine Klamotten? Wenn du mir einen Schrecken einjagen wolltest, gratuliere, das ist dir gelungen. Aber jetzt lass den Blödsinn, du kannst damit aufhören und sag endlich was.“
Er hob die Hand und berührte Matthias‘ Arm. Ein Schauer fuhr durch Daimons Körper, als er bemerkte, dass Matthias‘ Haut eiskalt war.
„Matthias, du bist ja eiskalt, komm, mach die Augen auf. Ich helfe dir herunter.“
Daimon wollte schon die Fesseln lösen und seinen Freund befreien, als ihm die Wunden auf dessen Haut im Mondlicht auffielen. Panisch wich er einen Schritt zurück und schüttelte verzweifelt den Kopf. „Nein, nein, das kann nicht sein. Das darf nicht wahr sein ...“, brachte er stockend heraus.
Eine geheimnisvolle Gestalt stand ganz in seiner Nähe im Schatten eines Baumes und beobachtete gespannt, was sich am Bahnübergang ereignete. Mit Hass in den Augen freute sie sich über den verstörten Ausdruck, der Daimon ins Gesicht stand, kaum, dass er seinen toten Freund in der Dunkelheit erkannt hatte. Noch nicht einmal der Mond konnte den Anblick des toten Matthias ertragen und versteckte sich schließlich hinter einer großen dunklen Wolke. Die erdrückende Düsternis ließ den Ort noch unheimlicher wirken.
Bevor sich die Gestalt in der Dunkelheit umwandte und den unglücklichen Daimon mit der Leiche zurückließ, flüsterte sie: „Du entkommst mir nicht, Daimon. Denn nun ist die Konkurrenz aus dem Weg geräumt. Bald gehörst du mir, versprochen!“
Die Trauer um den Verlust seines besten Freundes überflutete Daimons ganzes Wesen. Es dauerte einige Minuten, bis Daimon wieder einigermaßen klar denken konnte. Zittrig und ungeschickt suchte er in seinen Jackentaschen nach seinem Handy. In seiner Panik fiel ihm ein, dass es in seinem Zimmer an der Ladestation hing. Schnell wandte er sich von dem schaurigen Anblick vor ihm ab und rannte nach Hause. Hastig stürmte er ins Haus und an seinen verdutzt dreinblickenden Eltern vorbei zum Telefon. Ohne auf die Fragen seiner Eltern zu reagieren, tippte er die Notrufnummer ein und rief die Polizei an.
Der Mann vom Notdienst am anderen Ende der Leitung kam noch nicht mal dazu, den Anrufer zu begrüßen, da sprach Daimon schon hektisch in seiner Trauer drauf los: „Hallo, bitte kommen Sie schnell, mein bester Freund wurde ermordet. Er hängt am Andreaskreuz beim Buxheimer Übergang. Beeilen Sie sich. Matthias ist tot, Sie müssen das Schwein finden, das ihm das angetan hat. Mein Freund ist tot ...“, brüllte er die letzten Worte viel zu schnell und zu laut in den Hörer und legte, ohne die Fragen des Notdienstes zu beantworten, einfach auf. Zitternd und mit Tränen in den Augen sah er seine vor Schreck erstarrten Eltern an. Seine Mutter schaffte es als Erste, sich wieder zu bewegen. Ohne Worte ging sie auf ihren weinenden Sohn zu und nahm ihn in die Arme. Sie wusste, jedes Wort war jetzt zu viel. Daimon klammerte sich nur kurz an sie, danach schob er sie von sich weg. „Ich muss ...“ Mehr brachte er nicht heraus, aber sie verstanden ihn auch so.
Es dauerte zehn Minuten, bis der Rettungsdienst und die Polizei an der Fundstelle der Leiche angekommen waren. Kurz bevor die Beamten eintrafen, verschwand die Gestalt durch das Dickicht neben den Bahngleisen in die Nacht. Daimon ging schweren Herzens zurück zur Unglücksstelle. Diesmal begleitete ihn seine Mutter, während sein Vater Matthias‘ Eltern im Nachbarhaus aufsuchte. Er fand es besser, wenn ein guter Freund ihnen die traurige Nachricht überbrachte und sie es nicht von der Polizei erfuhren.
Der Platz wurde von der Polizei im Flutlicht der Scheinwerfer taghell erleuchtet. Erst jetzt konnte man das Ausmaß des Grauens erkennen. Wenn Daimon gewusst hätte, was er hier zu sehen bekam, wie sein bester Freund Matthias blass und blutverschmiert an das Andreaskreuz gefesselt hing, wäre er nicht zurückgekommen. Dieses schaurige Bild würde er nie wieder aus seinem Kopf bekommen. Matthias‘ schlanker Körper war übersät von Striemen, die von einer Peitsche stammen mussten. Welche Art von Verletzungen er an Beinen und Unterleib hatte, war wegen der Unmenge an getrocknetem Blut kaum zu erkennen. Von diesem Anblick würde Daimon sich nie richtig erholen. Er konnte den Blick kaum von Matthias‘ totem Körper abwenden. Seine Trauer verwandelte sich nach und nach in Wut. Mit jeder Minute, die verstrich, schwor er sich, dass er auf die Polizeischule gehen würde, um den zu finden, der Matthias das angetan hatte. Diese Entschlossenheit ließ ihn durchhalten. Er würde eines Tages den Täter zur Strecke zu bringen, egal, was es kostete.
Matthias‘ grausam zugerichteter Körper würde ihn ein Leben lang in seinen Träumen verfolgen. Doch wenn Daimon Bail glaubte, dass seine Albträume das einzige waren, was ihn verfolgte, dann hatte er sich getäuscht.
Die Polizei und die Spurensicherung untersuchten in den nächsten fünf Tagen alle Spuren am Opfer und dem Leichenfundort. Dabei fand der Gerichtsmediziner heraus, dass in Matthias‘ Körper kaum noch etwas von dessen Lebenssaft vorhanden war. Der oder die Täter hatte ihn wie ein abgestochenes Schwein vollkommen ausbluten lassen. Was der Polizei jedoch komisch vorkam war die Tatsache, dass unter dem Leichnam kein Blut vorhanden war. Daher konnte der Fundort keineswegs der Tatort sein. Zu ihrer Enttäuschung gab es keinerlei Hinweise auf den tatsächlichen Tatort. Die Leiche war regelrecht an das Andreaskreuz drapiert und anschließend an die Halterung montiert worden. Der Täter musste einen Helfer oder maschinelle Gerätschaften dafür besitzen. Denn für eine Person war es unmöglich, das Opfer mitsamt dem schweren Andreaskreuz an die Halterung zu montieren. Leider waren die Spurrillen am Bahnübergang wegen dem Schneematsch unbrauchbar geworden.
Im Polizeibericht stand am Ende, das Opfer war brutal missbraucht worden, um die eigentliche Tat zu verschleiern. Der Analbereich war mit einem harten Gegenstand so schwer verletzt worden, dass keine fremden DNS-Spuren mehr sichergestellt werden konnten. Die Forensik fand nur kleine Spuren von einem mit Gleitgel überzogenen Pariser. Was sie unter anderem noch herausfanden, erschreckte die gesamte SOKO mit dreißig Beamten zutiefst: Der Täter hatte Matthias‘ Glied abgetrennt. Die Spurensicherung suchte an der Fundstelle nach dem vermissten Körperteil, fand es jedoch nirgends. Kommissar Toras vermutete, dass es der Täter als Trophäe behalten hatte. Einen weiteren Fund machte der Gerichtsmediziner Dr. Hardesen im Analbereich von Matthias: einen übergroßen Dildo. Diese Information hielten Hauptkommissar Toras und der Gerichtsmediziner jedoch unter Verschluss. Die Ausarbeitung der gesamten Spuren dauerte mehrere Monate. Da es sich um einen öffentlichen Ort handelte, gab es einfach zu viele Spuren. Zusätzlich befragten die Polizeibeamten die Eltern, Nachbarn und Klassenkameraden, wo und wann sie Matthias zum letzten Mal gesehen hatten. Oder ob sie wüssten, ob er Feinde hätte. In den unzähligen Gesprächen gab es zum Verdruss der Beamten zwar einige Verdächtige, die Matthias‘ seit seinem Coming-out gemobbt hatten. Aber jeder hatte zu dem Zeitpunkt ein Alibi. Sie saßen zusammen und feierten gemeinsam ins neue Jahr hinein. Letztendlich startete die Polizei sogar eine große Aktion, bei der Tausende Männer aufgefordert wurden, eine Speichelprobe abzugeben. Aber auch das brachte keine Fortschritte bei den Ermittlungen. Als sei der Täter aus dem Nichts gekommen und nach der Tat wieder im puren Nichts verschwunden. Die Beamten hatten keinerlei Hinweis auf den Täter. Daher führten sie die Akte unter dem Namen „der Ghostkiller“.
Es dauerte nicht lange und die Medien bekamen Wind davon.
Von einem unbekannten Informanten wurde der Presse eine Nachricht zugesandt. Matthias hatte sich vor Kurzem zur homosexuellen Szene bekannt. Wie hungrige Piranhas stürzten sich die Reporter auf die Polizei. Sie gierten danach, mehr über den mysteriösen Mord und seine Hintergründe zu erfahren. In ihrem Fokus stand hauptsächlich der zuständige Leiter der Mordkommission, Hauptkommissar Marcus Toras. Trotz der aufdringlichen Presse rückte die Polizei keinerlei aussagekräftige Informationen über die tatsächliche Todesursache von Matthias heraus. Zum Glück konnte der Polizeipressesprecher die Gerüchte, die in Umlauf waren, entkräften. Dennoch vermutete die Öffentlichkeit, dass in den Gerüchten ein Funke Wahrheit steckte: dass ein Homophober Matthias getötet hatte, um an ihm ein Exempel zu statuieren.
Fünf Jahre später gab es in dem Fall immer noch keine brauchbaren Fortschritte. Daher wurde er vorerst zu den ungelösten Akten gelegt. Diese wurden immer wieder neu aufgerollt, sobald sich in der Forensik und der DNS-Wissenschaft neue Erkenntnisse für weitere Untersuchungen ergaben. Bis dahin würden die Akten in einem Fach im Keller einstauben.
Daimon gefiel die Nachricht, dass der Fall seines bestens Freundes zu den Akten gelegt wurde, überhaupt nicht. Wütend über die Bürokratie ging Daimon nach dem Gymnasium auf die Polizeischule nach München, wo er sich intensiv hinter sein Studium klemmte, um der beste Kriminalist zu werden. Er hatte sich fest vorgenommen, den Fall des „Ghostkillers“ selbst aufzuklären und den oder die Täter, die seinen Freund ermordet hatten, hinter Gitter zu bringen. Er tippte auf Pepe oder einen seiner Jungs, mit denen er wegen Matthias damals am See die Rauferei gehabt hatte. Pepe hatte ihnen am Schluss noch mit Mord gedroht. Daimon hatte dem Hauptkommissar den Tipp gegeben, nach den Jungs zu suchen. Aber die waren leider nicht auffindbar.
Egal, wer es war, Daimon würde es herausfinden. Selbst während seiner Ausbildung an der Polizeischule drängte er die Beamten jeden Tag dazu, nicht aufzugeben und weiterzusuchen. Hauptkommissar Marcus Toras musste ihm hoch und heilig versprechen, dass er nie aufgeben würde. Doch im Moment kamen sie einfach keinen Schritt weiter. Und schließlich gab es noch andere Fälle, die bearbeitet werden mussten.
Auf der Akademie freundete er sich mit einer Studentin namens Serina Hauser an. Die zwei verstanden sich auf Anhieb. Serina störte es auch nicht, dass Daimon nie seine Sonnenbrille abnahm. Und tat er es doch irgendwann einmal, konnte sie in seinen zweifarbigen Augen nur so versinken. Von ihren Mitschülern wurden sie nur die Schöne und der Streber genannt. Aber das störte die beiden nicht. Mit ihr an seiner Seite legte er eine steile Karriere bis hin zum ersten Polizeihauptkommissar hin. Wo immer sie auftraten, wirkten sie unerschrocken und selbstbewusst und wie ein unzertrennliches Team. Beide spezialisierten sich sogar auf dasselbe Fachgebiet, die Lösung alter, ungelöster Mordfälle, die „Cold Cases“ genannt wurden. Zusammen schafften sie es, durch harte Recherchearbeit immer wieder einen alten Fall aufzulösen. Beide arbeiteten gemeinsam im Bundeskriminalamt für die Spezialabteilung.
Elf Jahre später
Silvester 2020
Vier Stunden vor Mitternacht feierten einige Jugendliche auf einem Feld zwischen Volkratshofen und Memmingen neben einer Scheune eine feuchtfröhliche Party. Sie ließen Feuerwerkskörper in den klaren, mit Sternen übersäten Himmel steigen. Zwei der Kids machten sich den Spaß, einige der Knaller auf die Holzhütte, die mitten auf dem Feld stand, abzufeuern. Johlend und vom Alkohol angeheitert freuten sie sich, wenn ein Feuerwerkskörper die Hütte traf und daran in einem hell erleuchteten Funkenregen explodierte. Zu ihrer Belustigung flogen zwei der Kracher geradewegs durch das kleine, defekte Fenster unter dem Dach ins Innere der Scheune. Erst lachten sie noch darüber und wollten gleich noch einmal versuchen, mit dem nächsten das Fenster zu treffen. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Der Funkenstrahl der Raketen entzündete das in der Scheune aufgeschichtete Heu, das der Bauer über den Winter für seine Rinder dort lagerte. Es dauerte nicht lange, da stand die Hütte lichterloh in Flammen. Vor Schreck, dass sie die Scheune in Brand gesteckt hatten, flüchteten die Teenager in die Nacht davon. Nur einer von ihnen blieb zurück, der dem rotgelben Flammenmeer eine Weile fasziniert zusah. Von dieser Stelle ging eine große Hitze aus, daher wagte er es nicht, sich dem Feuer zu nähern. Erst als das Dach mit einem lauten Krachen nach unten stürzte, rannte er seinen Freunden hinterher.
Aus sicherer Entfernung beobachtete eine weitere Person wütend die brennende Scheune und wie diese langsam in sich zusammenfiel. Knurrend stapfte er vor Zorn grollend zurück zu seinem Wagen, den er in sicherer Entfernung abgestellt hatte. Mit Vollgas fuhr er über Dickenreishausen nach Memmingen zurück.
„Verflucht, die blöden Halbwüchsigen haben meinen ganzen Plan ruiniert. Wegen ihnen muss ich jetzt noch einmal auf die Suche gehen. Die ganze Planung und Ausübung war für die Katz, die jetzt in Flammen aufgeht. Viel Zeit bleibt mir nicht mehr. Silvester ist bald vorüber“, schimpfte er während der Fahrt vor sich hin.
Doch das Gefühl der Vorfreude, sich ein weiteres Opfer auszuwählen, kribbelte viel zu stark in seinen Fingerspitzen. Dieses unglaubliche Feeling zog sich jedes Mal hinab bis zu den Lenden.
„Nur diesmal darf ich mir nicht zu viel Zeit lassen. Die Polizei will schließlich auch beschäftigt werden.“
Das Grinsen wurde immer breiter, als die dunkle Gestalt sich der hell beleuchteten Stadt näherte. Dort angekommen, wählte sie eine ganz bestimmte der vielen Gaststätten aus. Zu ihrem Glück war es wegen der Partystimmung an jedem Eck für sie ein Leichtes, sich ein neues Opfer auszusuchen. Die meisten waren bereits gut angetrunken oder schon im Alkoholdelirium.
Zur selben Zeit fuhr Lisa Stahl von ihrer Doppelschicht im Krankenhaus nach Hause. Aus der Ferne entdeckte sie die lodernden Flammen mitten auf einem Feld. Bei dem Anblick glaubte sie, dass hier jemand bereits ein Funkenfeuer angezündet hatte. Doch für die Tradition, mit dem Feuer den Winter auszutreiben, war es noch zu früh. Das fand sonst immer nach der fünften Jahreszeit, dem Fasching, statt. Dann war es wohl ein Feuerwerkskörper, der sich verflogen und die Hütte in Brand gesteckt hatte, vermutete sie. Trotz ihrer Müdigkeit stoppte sie am Straßenrand und rief den Notruf.
„Guten Abend, Sie sind mit der Feuerwehr verbunden. Um welchen Notfall handelt es sich?“, fragte eine müde, aber freundliche männliche Stimme.
Es ist das dritte Mal, dass ich den Notruf brauche, und jedes Mal habe ich die Feuerwehr als erstes in der Leitung. Bei meinen anderen Notrufen wollte ich nur Polizei und Krankenwagen wegen eines Autounfalls. Aber diesmal hab ich genau die richtigen am Hörer, schoss es ihr durch den Kopf.
„Hallo, ich bin Lisa Stahl. Ich stehe zwischen Hart und Volkratshofen. Auf dem Feld brennt eine Scheune. Zumindest was noch davon übrig ist. Der Brand ist von der Straße aus sehr gut zu sehen.“
Im Hintergrund hörte Lisa, wie die Stimme am anderen Ende der Leitung gedämpft der Polizei und den Kollegen von der Feuerwehr die Daten durchgab. Plötzlich hörte sie seine Stimme wieder klarer, als er weiter fragte: „Gibt es Verletzte? Benötigen Sie auch einen Krankenwagen?“
„Mhm …“, angestrengt schaute sie zu dem Feuer hinüber, wo eben das Dach einbrach. Soweit ich von hier aus sehen kann, nein. Ich sehe keine verletzten Personen. Das Einzige, was sie durch den vielen Rauch schemenhaft erkennen konnte, war eine Person, die über das Feld davonrannte. Sie war sich jedoch nicht ganz sicher. Das hätte auch eine Sinnestäuschung sein können, die ihr das Flammenschauspiel vorgaukelte. Darum erwähnte sie erst einmal nichts davon.
„Ich sehe bis jetzt keine verletzten Personen.“ Angestrengt versuchte sie, mit ihren müden Augen etwas zu erkennen.
„Gehen Sie bitte nicht näher heran, halten Sie Abstand und weisen Sie die Hilfskräfte in die richtige Richtung“, wies er sie an, sich nicht unnötig in Gefahr zu begeben.
Den Weg wird die Feuerwehr schon finden. Das Feuer ist ja nicht zu übersehen. Lisa hatte den Gedanken noch nicht einmal zu Ende gedacht, da sah sie aus Richtung Memmingen und Volkratshofen mehrere Löschfahrzeuge mit Signalhorn und Blaulicht heranrauschen.
„Wird gemacht“, entgegnete sie knapp.
„Sehr gut.“
„Ich höre sie schon. Die Feuerwehr kommt“, sagte sie aufgeregt und winkte dem herankommenden Rettungsdienst zu.
„Sehr gut, dann können Sie jetzt auflegen. Wenn Ihnen aber noch etwas auffallen sollten, dann rufen Sie noch einmal an.“
Eine Stunde später fuhren zwei Personen in einem Kombi von Memmingen in Richtung Kempten. Kurz vor Woringen wachte der Beifahrer allmählich aus seiner Bewusstlosigkeit auf. Verwirrt sah er sich um. Langsam begann er sich zu bewegen und bemerkte dabei, dass er es nicht konnte. Der Schreck war wie eine kalte Dusche, die den Nebel in seinem Kopf zu lichten begann. Immer noch etwas desorientiert, sickerte die Erkenntnis in seinen Kopf, dass er gefesselt in einem Wagen saß. Verzweifelt versuchte er, sich aus seiner Zwangslage zu befreien.
Eine leise Stimme ließ ihn kurz innehalten. „Du brauchst dich nicht abzumühen. Du kannst dich nicht befreien. Bleib besser ruhig sitzen, sonst tust du dir nur weh. Oder ich muss dich dazu zwingen und glaub mir, das willst du nicht.“
Vor Schreck erstarrt, sah er zu seinem Peiniger hinüber. Neben ihm auf dem Fahrersitz saß eine großgewachsene, kräftige Gestalt. Das Gesicht seines Entführers konnte er in der Dunkelheit des Wageninneren nicht ausmachen.
Ängstlich fragte er ihn: „Was wollen Sie von mir? Wer sind Sie?“
„Deinen Arsch“, kam die knappe Antwort zurück.
„Meinen was?“ Diesmal erhielt er keine weitere Antwort. Die Panik kroch immer weiter in jede seiner Poren. Unruhig rutschte er auf seinem Sitz hin und her. Durch seine unruhigen Bewegungen bemerkte er, dass irgendetwas mit dem Sitz nicht stimmen konnte. Etwas drückte unangenehm an seinem Hintern. Nein, nicht an, sondern in seinem Hintern. Es steckte sogar unangenehm tief in ihm drin.
Was ist da in mir drin? Und warum ist mir so kalt? Versuchsweise drehte er den Kopf und sah an sich herab. Oh nein, ich bin nackt. Wo sind meine Klamotten?
Panisch grübelte er darüber nach, wie er in diese prekäre Situation kommen konnte. Plötzlich schoss ihm wieder der letzte Abend durch den Kopf. Ich wollte heute auf die Silvesterparty in die Kellerdisco Blue South Seabar gehen und nach den letzten stressigen und arbeitsreichen Wochen mal so richtig die Sau rauslassen. Dort hat mich ein Mann angesprochen. Den hatte ich bisher nie in meiner Stammkneipe gesehen. Er sah gut aus, groß, kräftig, dunkle Haare und ein sehr markant geschnittenes Gesicht. Wir haben uns prächtig unterhalten. Während des Abends hatte er mir einige Biere ausgegeben. Später spielten wir auch eine Runde Billard, die ich gewonnen hatte. Er versprach mir eine Überraschung, wenn ich ihm nach draußen folgen würde. Normal gehe ich nie mit jemandem mit, den ich erst kennengelernt habe. Ich nehme noch nicht einmal einen Mann oder eine weibliche Bekanntschaft mit nach Hause, die ich erst einmal gesehen habe. Die Vorsicht, nicht an die falsche Person zu geraten, hat mich in meiner Jugend schon geprägt. Wenn man auf Männer und Frauen gleichermaßen steht, ist es nicht gut, wenn gleich die Öffentlichkeit davon Wind bekommt. Es war schlimm genug, was dem armen Matthias aus meiner Parallelklasse damals vor dreizehn Jahren passiert ist, als er sich zu seiner homosexuellen Neigung bekannt hatte. Dasselbe Ende möchte ich nicht erleben. Aus dem Grund gehe ich nie mit Fremden mit. Aber ich konnte mich nicht gegen seinen stahlharten Griff wehren, als er mich zu einem Fahrzeug geführt hat. Seine Hand war überaus kräftig. Zudem kam noch, dass ich auf einmal so müde wurde, ich konnte mich kaum auf den Beinen halten. Auch jetzt fühle ich mich, als wabere eine Nebelfront in meinem Kopf ungebremst umher. Was ist danach passiert? Ich kann mich an nichts mehr erinnern, fragte er sich wie in einem Mantra immer wieder. Dann sah er sich im Inneren des Kombis um und erkannte es sofort. Moment mal, das ist ja mein Auto.
Trotz der Heizung im Wagen fror Omar erbärmlich. Zähneklappernd flüsterte er: „Wo sind meine Klamotten? Und wo fahren wir hin?“
Viel zu freundlich antwortete ihm der Fahrer: „Ich habe dir eine Überraschung versprochen, hab noch etwas Geduld.“
„Bitte lassen Sie mich frei. Ich kenne Sie doch gar nicht. Ich werde auch nicht zur Polizei gehen“, bettelte Omar ängstlich.
„Keine Sorge, das wirst du ganz sicher nicht.“
Omar versuchte, sein vor Panik wild schlagendes Herz zu beruhigen, um wieder klarer zu denken. Er musste nach einem Fluchtweg Ausschau halten. Er bekam weder seine Hände, die mit einem harten Plastikband auf seinen Rücken gefesselt waren, noch seine Beine frei. Diese waren zusätzlich oberhalb der Knie mit einem weiteren Kabelband verschnürt. Tränen rannen ihm über die Wangen. Verärgert über seine Hilflosigkeit schluchzte er: „Was haben Sie mit mir vor?“
Anstelle einer Antwort sah er ein Messer aufblitzen. Schnell verstummte Omar und ließ die scharfe Klinge nicht aus den Augen, die mit der Spitze über seine nackte Haut kratzte.
„B... b...bitte“, flehte er voll Panik, die allmählich in ihm zu einer ausgewachsenen Todesangst anwuchs.
„Halt endlich die Klappe, oder ich schneide dir deinen Schwanz ab“, fauchte der Fahrer wütend zurück.
Zitternd nickte Omar nur und versteifte sich, als sein Entführer das Messer weiter zu seinem Schritt gleiten ließ. Dabei biss er sich fest auf die Lippen, um ja keinen Ton von sich zu geben. Auf einmal fing der Wagen auf der vereisten Straße an zu schlingern, und der Fahrer nahm das Messer beiseite, um mit beiden Händen das Auto wieder unter Kontrolle zu bringen. Diese Gelegenheit nutzte Omar. Seine Angst verlieh ihm ungeahnte Kräfte, und er warf sich seitlich gegen den Entführer. Durch den Stoß verlor der erneut die Kontrolle über den Wagen, und sie schlitterten schwungvoll in den Graben. Wegen der hohen Geschwindigkeit überschlugen sie sich mehrfach. Am Ende bremste ein Baum ihren Sturz. Das Auto wickelte sich mit der Beifahrerseite um den Stamm, wodurch der Motorblock einen Riss bekam und das Öl auf den heißen Krümmer tropfte. Das heiße Öl ließ den Wagen in Flammen aufgehen. Dabei drehten die hinteren Räder ungehindert weiter, und der Motor brummte unruhig vor sich hin. Omar hing bewusstlos, blutend und schwer verletzt in seinem Gurt.
Der Fahrer wachte aus einer kurzen Ohnmacht auf. Die Seitenscheibe war durch den Überschlag in unzählige kleine Stücke zersplittert. Schwerfällig schaffte er es, mit einigen leichten Verletzungen durch das kaputte Fenster hinauskriechen. Auf allen vieren krabbelte er zur Straße hinauf. Kaum stand er auf dem Asphalt, sah er verärgert auf das nun vollständig brennende Auto. Durch den Rauch und die Flammen war der Körper Omars nur schemenhaft zu erkennen. Von ihm war kein Ton mehr zu hören. Verärgert starrte er in die lodernd heißen Flammen. Das war der zweite Versuch, ein passendes Opfer zu finden. Seine ganze Mühe war umsonst und beide waren buchstäblich in Flammen aufgegangen. Laut vor sich hin fluchend wegen seiner Unachtsamkeit, konnte er trotzdem den Blick von den heißen Flammen, die einen hellen Schein auf die Umgebung warfen, nicht abwenden.
„Heute ist nicht mein Tag! Wegen diesem Trottel muss ich schon wieder auf die Jagd gehen, und meine sexuelle Lust konnte ich an ihm auch nicht stillen. Die ganze Vorarbeit zu meinem ersten Sexobjekt war umsonst. Das wochenlange Beschatten, um die richtige Person zu finden und seine Vorlieben herauszufinden. Dann fackeln die Teenager die alte Hütte mit meinem Kunstwerk ab, bevor ich mit ihm fertig war. Wegen ihnen musste ich mir auf die Schnelle ein neues Objekt suchen. Dass jetzt ebenfalls lichterloh brennt. Grrr ... selber schuld, dass er nun bei lebendigem Leib verbrennt, das ist wenigstens ein kleiner Trost für mich. Aber wie komme ich nun nach Hause?“ Insgeheim wünschte er sich so sehr, dass sein Opfer spürte, wie die Flammen sein Fleisch von den Knochen fraßen. Allein bei dem Gedanken verzog sich sein Mund zu einem fiesen Grinsen, das sogleich wieder verschwand.
Immer noch fluchend wandte er sich ab und stapfte auf der Landstraße in Richtung Woringen weiter. Nach zehn Minuten Fußmarsch kam ihm ein Auto entgegen. Um nicht entdeckt zu werden, glitt er unter die Büsche, die neben ihm im Straßengraben aufragten. Verärgert darüber, dass der Fahrer ihn womöglich gesehen hatte, kickte er, nachdem er wieder auf der Straße stand, einen Stein in den Graben. Wütend ging er weiter, als es dann auch noch zu regnen begann. In der Ferne erhellten die ersten Feuerwerkskörper den Silvesternachthimmel, um das neue Jahr zu begrüßen. Es dauerte nicht lange, da näherten sich ihm ein Krankenwagen und ein Feuerwehrauto. Rasch sprang die Gestalt zum zweiten Mal in den nassen Graben und verbarg sich zwischen den Büschen, die die Straße säumten. Er verfolgte deren Weg mit den Augen, bis sie an der Unglücksstelle anhielten, wo immer noch das brennende Auto lag. Innerlich wurmte es ihn, nicht dabei sein zu können, wie die Helfer die verkohlte männliche Leiche aus dem Auto schnitten. Der verstörte Ausdruck der Sanitäter war jedes Mal nicht mit Gold zu bezahlen, wenn sie eine zerstörte Leiche hervorholten.
„Heute habe ich einfach kein Glück, das war mein zweiter Versuch, der Polizei mein Geschenk an Silvester zu überreichen. Aber keine Sorge, es gibt wieder ein Silvester, und dann bin ich besser vorbereitet. Hoffentlich habt ihr alle schreckliche Albträume“, wünschte er den Helfern an der Unglücksstelle noch und verschwand über ein Feld in die nächste Ortschaft, um von dort ungesehen nach Hause zu gelangen. Um den Wagen machte er sich keine Gedanken, es war eh der seines Opfers. Denn seiner stand noch immer auf dem Parkplatz neben der Gaststätte, wo er Omar aufgegabelt hatte.
Seit einigen Jahren war Marcus Toras nun schon der Polizeioberrat der Dienststelle Memmingen. Das neue Jahr 2021 war nur wenige Stunden alt, da landete bereits der Bericht der Gerichtsmedizin über die beiden Brandopfer auf seinem Schreibtisch. Die Daten, die er darin las, erinnerten ihn an einen alten Fall von vor über siebzehn Jahren. Im letzten Jahrzehnt hatte die Forensik weitere Fortschritte gemacht. Daher ließ er sich die alte Akte des „Ghostkillers“ bringen, um die gesamten Beweise mit den neuen Verfahren ein weiteres Mal untersuchen zu lassen. So stellte er bereits am nächsten Tag erneut eine SOKO von dreißig Beamten zusammen, um diesen alten Fall endgültig aufzuklären. Dieses Team aus verschiedenen Spezialisten machte sich sogleich an die Arbeit.
Silvester 2021
Zwölf Monate später am 31. Dezember kurz vor Mitternacht ...
Daimon Bail und Serina Hauser arbeiteten für die Sonderkommission im Bundeskriminalamt. Sie konzentrierten sich hauptsächlich auf die ungelösten alten Mordfälle, die Cold Cases. Durch ihre Arbeit bemerkte Daimon, dass er wie ein Profiler denken und sich in den Täter hineinversetzen konnte. Das half ihm dabei, sich sehr schnell zum ersten Hauptkommissar nach oben zu arbeiten.
Seit seinem schrecklichsten Erlebnis kämpfte Daimon Bail nach wie vor mit seinen Erinnerungen und den Vorwürfen, als sein bester Freund Matthias vor mittlerweile fast achtzehn Jahren brutal ermordet worden war. Die schlimmste Zeit für ihn war jedes Jahr an Silvester, an dem sich der Todestag von Matthias erneut jährte. Noch immer träumte er jede Nacht davon und fragte sich: Was wäre, wenn ich dabei gewesen wäre? Hätte ich meinem Freund helfen können? Wäre das Unglück überhaupt passiert?
In all den Jahren stellte er sich immer wieder dieselben Fragen. Es gab jedoch nie jemanden, der sie ihm beantworten konnte, höchstens der Täter, der noch immer munter und fröhlich auf freiem Fuße herumspazierte. Bis all seine Fragen beantwortet wurden, vertiefte sich Daimon als erster Hauptkommissar in andere schwierige Fälle. Und wartete geduldig, bis er den Fall von Matthias erneut aufrollen konnte.
Daimon und Serina wollten nach langer Zeit endlich ein paar Wochen Urlaub machen, um sich in Deutschland ein paar Sehenswürdigkeiten und Städte anzusehen. Eine höhere Macht hatte etwas gegen ihren Plan, dass sie ihren Urlaub genießen konnten. Durch einen unglücklichen Zufall steckten die beiden Beamten seit fast drei Wochen in Wuppertal fest. Kommissar Daimon und Serina vom LKA Memmingen wollten unbedingt bei der Klärung des Falles mitarbeiten. Daher ersuchten sie ihre Dienststelle darum, sie zur Tatortdienststelle in Wuppertal zu beordern. Ihr Chef, Polizeioberrat Marcus Toras, willige nur unter der Bedingung ein, dass der Fall schnellstmöglich gelöst würde und sie anschließend wieder nach Hause kämen. Denn auch dort gab es viele Fälle, die ebenfalls gelöst werden wollten.
Sie hatten ein paar Tage vorher im Kloster Thedinga ebenfalls bei einem Fall geholfen und ihn erfolgreich zum Abschluss gebracht. Eigentlich wollten sie im Kloster Thedinga nur einen kurzen Stopp einlegen, um Daimons Auto, einen Dodge Durango SXT, zu betanken und einen Happen zu essen. Serina wurde auf dem Weg in einer Nebenstraße vom Schaufenster eines kleinen Ladens abgelenkt. Darin entdeckte sie ein besonderes Schmuckstück. Aufgeregt ging sie in das Geschäft und erwarb das gute Stück. Zu ihrem Pech wurde der Laden von der Polizei überwacht, der beim LKA als Dealer für gestohlene Ware unter Verdacht stand. In dem Augenblick stürmten die Kollegen herein und wollten die vermeintliche Hehlerin festnehmen. Als die Polizisten herausfanden, wer Serina tatsächlich war, baten sie die beiden Kommissare, ihnen bei diesem Fall zu helfen.
Der letzte Fall in Kloster Thedinga war schon recht knifflig gewesen. Es stellte sich jedoch heraus, dass ein Juwelier zwei Männer beauftragt hatte, seinen eigenen Laden zu überfallen.Sein Plan war es gewesen, die Versicherung zu betrügen und die Schmuckstücke anderweitig zu verkaufen.Doch der Juwelier hatte wohl nie mit diesem Ausgang gerechnet. Einer der beiden schoss auf seinen Auftraggeber, der kurz darauf im Krankenhaus an seinen Verletzungen verstarb. Der Fall lag schon über fünfzehn Jahre zurück, und durch neue Erkenntnisse wurde er neu aufgerollt. Mit der Hilfe von Daimon Bail und Serina Hauser hatte das LKA den Fall zu einem erfolgreichen Abschluss bringen können. Der Sohn des Juweliers hatte Streit mit seinem Vater gehabt. Dieser hatte seinen Sohn enterben wollen, weil dieser seinen überschwänglichen Lebenswandel nicht aufgeben wollte. Der Sohn hatte das Gespräch seines Vaters mit dem vermeintlichen Deal mitangehört und sich dem Dieb angeschlossen. Mit dem Versprechen, ihn mit noch mehr Geld zu belohnen.
Nun gondelten sie nach dem abgeschlossenen Fall von Kloster Thedinga ein paar Tage später ahnungslos in Wuppertal durch die Stadt, auf der Suche nach einem Parkplatz. Die beiden wollten in dieser Stadt endlich ein paar Tage ihres verschobenen und langersehnten Urlaubs genießen. Ihr Plan war, mit der Schwebebahn zu fahren und etwas auszuspannen. Wenn sie gewusst hätten, in was sie hier hineingeraten würden, hätten sie einen weiten Bogen um die Stadt gemacht.
Serina zog Daimon gerne wegen seines großen Wagens, einem Dodge Durango SXT, auf. Mit diesem Gefährt war es nicht einfach, einen geeigneten Parkplatz zu finden.
„Schau, da wäre ein Platz frei“, rief sie erfreut und deutete auf die freie Stelle vor ihnen.
„Ja, für ein Spielzeugauto, aber nicht für einen richtigen Wagen.“
„Vergiss nicht, wir sind nicht im Dienst, da kannst du schlecht in zweiter Reihe parken.“
„Ich weiß, wir werden schon noch eine passende Lücke finden. Zur Not suche ich die Polizeiwache und stell ihn dort ab.“
Serina musste über seine Idee lachen. „Ja, so kenne ich dich, frech wie Oscar.“
Endlich hatten sie einen passenden Parkplatz in der Nähe des Parks gefunden. Daimon stellte seinen Wagen zwischen einem Mercedes und einem Fiat 500 ab. Kurz betrachtete er den Kleinwagen und überlegte: Wie kann man mit sowas fahren? Da hat ja gerade mal ein Kind Platz. Mit meinen ein Meter fünfundneunzig müsste ich mich dafür zu einem kleinen Paket zusammenfalten. Bequem ist was anderes. Serina kam zu ihm herüber und lenkte seine Aufmerksamkeit sofort auf sich.
„Komm, gehen wir erst mal was essen, dann suchen wir uns für ein paar Tage eine Unterkunft.“
Zufrieden mit dem Vorschlag spazierten beide über die geräumten Wege durch den Park. An einigen Stellen gab es hier und da noch ein paar kleine Schneereste. Der Regen der letzten Tage hatte das meiste jedoch wieder weggeschmolzen. Aber heute strahlte die Sonne mit einer solchen Intensität herunter, dass die Sonnenanbeter den Park regelrecht gestürmt hatten. Das störte die beiden jedoch nicht. Denn sie hatten endlich ein paar Tage frei. Während ihrer Abwesenheit vom Memminger Präsidium wollte solange Kriminaloberrat Marcus Toras die Stellung halten.
Sie steuerten in ihrer Urlaubsstimmung auf die Stadtmitte zu. Auf ihrem Weg kamen sie an einem abgelegenen Pavillon vorbei, den sich Serina genauer ansehen wollte. Darin stand auf einem Sockel eine Davidstatue. Serina betrachtete das Kunstwerk von allen Seiten und forderte Daimon auf, sie mit dieser Statue zu fotografieren.
„Daimon, komm, bevor wir in die Stadt gehen, mach doch bitte ein Foto von mir und diesem Adonis.“ Wild wedelte sie mit ihrem Handy vor seiner Nase herum, bis er es ihr endlich abnahm.
„Na gut, aber dann gehen wir was essen, mein Magen hängt mir schon in den Kniekehlen.“
„Natürlich, dann mach schnell. Umso schneller sind wir dann auch in einem Restaurant.“
Gelangweilt nahm er ihr das Handy ab und wartete, bis sie sich in ihre bevorzugte Position gestellt hatte. Mit der rechten Hand stützte sie sich am Bauch der Statue ab. Durch den Druck auf die Oberfläche der Statue gab das Material plötzlich nach und explodierte mit einem ohrenbetäubenden Lärm. Durch das Implodieren spritzte der faulige Inhalt auf Serina, die aufgeschreckt von diesem Malheur zur Seite sprang. Daimon machte ebenfalls einen Satz nach hinten und konnte nicht glauben, was da eben geschehen war.
„Mist, was war das denn? Puh, das stinkt wie eine Grube fauliger Leichen.“ Er wagte einen kurzen Blick, bevor er nach seinem Handy griff. Den Inhalt der Statue fand Daimon schon etwas sehr speziell.
Serina stand da wie ein begossener Pudel. „Bäh, das riecht nicht nur wie eine faulige Leiche, das ist eine. War die etwa in der Statue versteckt?“
„Muss wohl, ich ruf mal die Kollegen herbei. Und du siehst zu, dass du so schnell wie möglich unter eine Dusche kommst. Denn so steigst du nicht in mein Auto.“ Mit einer fließenden Handbewegung zog er sein Handy aus der Hosentasche und wählte den Notruf.
„Vielen Dank auch, Daimon, du bist wieder sehr zuvorkommend.“
„Wie gut du mich kennst, so bin ich doch immer.“
„Das war sarkastisch gemeint, nicht wortwörtlich“, fauchte sie ärgerlich zurück.
Ohne eine weitere Aufforderung zog Daimon ein Taschentuch hervor und versuchte, Serina die faulige Substanz des Leichnams aus dem Gesicht zu wischen.
„Du musst dich jetzt nicht einschmeicheln.“ Serina nahm es ihm verärgert aus der Hand.
„Keine Sorge, das habe ich nicht vor.“ Endlich hatte er ein Freizeichen und eine Frau nahm seinen Anruf entgegen. Schnell gab er die wichtigsten Daten durch. Dabei versuchte er den Ort, der von den modrigen Leichenteilen übersät war, kurz dazustellen.
„Wer hätte gedacht, dass in einer Adonisstatue eine faulige Leiche steckt? Ob ich das je wieder von meiner Kleidung bekommen werde?“
„Da stimme ich dir zu, darin steckte echt mal ein interessantes Innenleben. Versuch einfach Bleiche und Wasserstoffperoxid, damit bekommst du alles wieder raus.“
„Ja, und die Farben sind dann auch futsch.“
„Das ist der Nachteil.“
„Egal, die Klamotten würde ich hinterher eh nicht mehr anziehen wollen. Die würden mich sonst immer nur an dieses schaurige Erlebnis erinnern. Nein danke, da werfe ich sie lieber weg und kaufe mir neue.“
Aufmerksam und neugierig betrachteten beide, bis die Kollegen eintrafen, die traurigen Überreste, die von einem Menschen stammten. Das verrieten ihnen die Knochenteile. Es dauerte keine zehn Minuten, bis die Kollegen, die Daimon gerufen hatte, vor Ort waren. Daimon und Serina stellten sich als ihre Kollegen aus Memmingen vor. Und baten sie, sie in dem Fall unterstützen zu dürfen. Denn so einen Fall hatten selbst sie noch nie erlebt. Da die Kripo in Wuppertal zur Zeit unterbesetzt war, kam ihnen das Angebot der Memminger Kollegen gerade recht. Sie mussten es vorher nur noch mit ihrer Dienststelle in Memmingen abklären. Ihr Chef, Polizeirat Toras, stimmte ihrem Antrag zu, mit der Bedingung, dass sie auch diesen Fall baldmöglichst zum Abschluss brachten.
Serina musste sich noch eine geschlagene Stunde gedulden, bis sie sich in der Gerichtsmedizin unter die Dusche stellen konnte. Daimon hatte währenddessen ihren Koffer aus dem Wagen geholt, damit sie sich danach etwas Frisches anziehen konnte. Die Erleichterung darüber, von den Leichenfetzten befreit zu sein, war ihr ins Gesicht geschrieben. Seit diesem Tag arbeiteten sie mit der SOKO, die für diesen Fall zuständig war, Hand in Hand zusammen.
Der Vorfall geschah vor über drei Wochen, und seither saßen sie in Wuppertal fest. Daimon und seine Kollegin, Kommissarin Serina Hauser, standen mit beiden Beinen in dem Fall, in dem ein Mörder seine Opfer in Betonskulpturen verwandelte. Diese Adonisstatue im Park war nicht die erste, die in den letzten Jahren gefunden worden war.
In diesem Augenblick studierten Daimon und Serina mit den anderen Kripobeamten die vielen Linien auf der Karte vor ihnen an der Wand, mitsamt allen Hinweisen, die die Beamten bis jetzt zusammengetragen hatten. Ihr langersehnter Urlaub rückte so immer weiter in die Ferne, wenn dieser Fall nicht bald aufgeklärt würde. Vor Daimon Bail zeichneten sich an der Wand unzählige verschiedenfarbige Linien ab, die ihm die Straßen und die Bahnlinien sowie die Stadt und Wohngebiete bis hin zu den Außenbezirken zeigten. Er war auf der Suche nach einem Unterschlupf, wo sich der Mörder ihres jetzigen Mordfalls verbergen könnte, bevor er erneut zuschlug. Die Leiche, die sie im Park gefunden hatten, war bereits das fünfte Opfer gewesen, das bislang entdeckt worden war. Immer mehr Beamte glaubten, dass diese Taten von ein und demselben Täter ausgeführt worden sein musste.
Laut der Autopsie war der Mann im Inneren der Statue seit sieben Jahren tot. Der Gerichtsmediziner war von der Leiche fasziniert, denn sie kamen nicht darauf, warum der Tote sich all die Jahre nicht in eine Mumie verwandelt hatte. Weitere Untersuchungen hatten gezeigt, dass das Opfer mindestens fünf Tage vor dem dramatischen Auffinden aufgetaut wurde. Durch den luftdichten Betonkokon, in den der gesamten Körper eingehüllt war, hatte sich der Verwesungsprozess verlangsamt. Die körpereigenen Gase im Darm dehnten sich langsam aus, sodass sie den Leichnam wie einen Luftballon aufblähten. Die Sonne hatte an diesem Tag ein Übriges getan. Sie hatte die Außenhülle aufgeheizt, und der Tote begann zu verfaulen. Erst der feste Druck, den Serina an die Betonaußenhülle abgab, brachte den inneren Druck in Vibration und somit zum Bersten. Es gab Fragen, mit denen sich die Kommissare schwertaten. Wie und wann kam das Opfer in die Statue und wo wurde es all die Jahre gelagert? Die bisher gefundenen vier männlichen Opfer wurden in ihrem Betongefängnis regelrecht stümperhaft verpackt. Im Gegensatz dazu sah diese Statue aus wie von einem italienischen Künstler. Die Männer starben alle über einen längeren Zeitraum. Das erste Opfer wurde vor neun Jahren gefunden. Bei diesem männlichen Opfer war die Betonschicht nicht dick genug gewesen. Durch die Umwelteinflüsse war sein Körper bereits sehr stark verwest. Wegen der fortschreitenden Zersetzung konnten die Forensiker nur noch DNS-Spuren aus den Zahnwurzeln sicherstellen.
Daimon und Serina vermuteten, dass das Opfer, das vor neun Jahren gefunden worden war, wohl das erste Opfer des Mörders gewesen war. Die darauffolgenden drei Opfer waren alle in einem besseren Zustand. Sie waren alle in verschiedenen Verwesungsstadien. An den ersten vier gefundenen männlichen Leichen musste der Täter geübt haben, wie er einen Menschen so in Beton einkleiden konnte, dass sie aussahen wie echte Marmorstatuen. Aber eben aus Beton.
Serina beobachtete Daimon eine Weile, wie er grübelnd die Wand anstarrte und fragte ihn schließlich: „Hast du eine Idee, wo wir noch suchen könnten?“
Daimon Bail starrte, ohne wirklich etwas zu sehen, schon eine Weile geistesabwesend auf die Landkarte, die vor ihm an der Wand hing. Das war seit Langem mal wieder ein Fall, bei dem die Opfer vor weniger als zehn Jahren ermordet worden waren.
Daimon reagierte nicht sofort auf ihre Frage, stattdessen betrachtete er weiterhin gedankenverloren den Stadtplan von Wuppertal. Für einen Moment nahm er seine Sonnenbrille ab und rieb sich müde die Augen.
„Daimon? Hast du gehört, dass ich dich etwas gefragt habe?“, versuchte Serina erneut, eine Antwort von ihm zu erhalten.
Doch von Daimon kam leider keine Reaktion. Da stand sie auf, nahm ihre Kaffeetasse und ging damit zu ihm hinüber. Etwas unsanft stupste sie ihren Kollegen in die Seite. Erst jetzt reagierte er und sah auf. Sie stand mit ihrer Tasse Kaffee und einem ungläubigen Blick vor ihm. Serina war einen Kopf kleiner als er, aber mit seinen ein Meter fünfundneunzig war das auch keine große Kunst. Dennoch war sie für eine Frau mit ihren ein Meter achtundsiebzig recht groß und schlank.
„Ah, danke, gute Idee. Ein Kaffee ist jetzt genau das, was ich brauche, obwohl ein Whiskey mir jetzt noch lieber wäre.“ Er nahm ihr die Tasse aus der Hand und trank einen Schluck. „He, der ist ja kalt“, beschwerte er sich und setzte verärgert seine Brille wieder auf.
Neugierig musterte sie ihn. „Mit dem Whiskey musst du noch etwas warten, wir sind im Dienst. Ist mit dir alles in Ordnung?“, fragte sie ihn mit sorgenvoller Stimme.
„Na sicher, warum fragst du?“
„Du wirkst in letzter Zeit häufig so geistesabwesend, als wärst du nur körperlich hier und geistig sehr weit weg.“
„Es ist alles in bester Ordnung“, versicherte er ihr mit Nachdruck. Sie betrachtete ihn mit skeptischer Miene. Etwas in ihr glaubte ihm nicht. Sie zuckte jedoch mit der Schulter und richtete dann ihren Blick ebenfalls auf die Landkarte, auf der sie mit Pfeilen all die Orte markiert hatten, an denen die Opfer in den letzten Jahren gefunden worden waren. Fünf rote Fähnchen zeigten die Fundorte der Leichen, während die wenigen blauen auf deren Wohnort hinwiesen. Zusätzlich stach ein einziges grünes Fähnchen aus allen heraus.
Zu ihrem Verdruss kam noch hinzu, dass sie bislang lediglich die Identitäten von zweien der Opfer geklärt hatten. Die Suchanfrage der restlichen unbekannten Opfer lief bei der Vermisstenstelle immer noch auf Hochtouren. Das letzte Bild mit dem grünen Fähnchen, das etwas abseits an der Wand hing, verband keines der Fäden mit den übrigen Opfern. Das einzige, was dieses Opfer beschrieb, war sein Name. Es hatte als einziger seine Papiere dabei gehabt und konnte identifiziert werden.
Wegen des herannahenden Silvesterfestes muss ich in den letzten Tagen immer häufiger an Matthias denken. Womöglich, weil sich sein Todestag bald wieder jährt und ich in seinem Fall immer noch keinen Hinweis auf den Mörder habe. Der Gedanke an ihn lenkt mich zu sehr von meiner eigentlichen Arbeit ab, und ich kann mich nicht wie gewohnt auf den Fall vor mir konzentrieren. Ich muss mich besser zusammenreißen, schalt Daimon sich in Gedanken selbst. Leicht verärgert strich er sich mit beiden Händen über das Gesicht.
Grübelnd meinte Serina leise: „Das ergibt alles keinen Sinn. Die Leichen wurden unweit von ihren Wohnorten aufgefunden. Der Täter hat viel Zeit darin investiert, seine Opfer so zu präparieren, dass sie wie kunstvolle Skulpturen aussahen. Er musste sie woanders so präpariert haben, um sie dann später an ihren Bestimmungsort zu bringen. Denn jeweils im Umkreis von zehn Kilometer von den Fundorten haben wir weder eine Halle noch irgendetwas anderes gefunden, wo der Täter seine Opfer präparieren könnte. Die Statuen standen entweder an Flussläufen oder im Park. Hat der Täter seine Opfer aus diesem Grund ausgesucht, weil sie weitab im Grünen wohnten? Oder wurden sie nach dem Zufallsprinzip ausgesucht? Ich glaube kaum, dass der Täter seine Opfer bei sich zu Hause in der Küche präpariert hat.“
„Das glaube ich auch nicht, aber es würde ja schon eine Garage, die sehr abgelegen steht, ausreichen. Ich vermute, dass wir das sechste Opfer, einen gewissen Herrn Lengus, dazuzählen sollten. Auch wenn er keine der Skulpturen war.“ Damit deutete er auf das sechste Opfer mit dem grünen Pin, das sie etwas abseits an einer anderen Wand aufgehängt hatten.
„Nein, Herr Lengus war keine Statue, er ist ertrunken. Er hatte sogar seine Kleidung an und seine Papiere dabei. Die anderen Opfer waren alle nackt.“
„Das ist alles richtig, aber der Forensiker hat bei der ersten Untersuchung an seinem Körper eine andere Zusammensetzung der Betonmischung festgestellt. Bei einer weiteren Untersuchung fanden sie auch an ihm dieselbe Betonzusammensetzung, genau wie bei den anderen Opfern. Mir reicht das als Bestätigung. Ein Wanderer hatte Herrn Lengus in einem Bach, in dem er ertrunken war, gefunden. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass er ebenfalls eines der Opfer des Betonstatuenkillers ist. Wenn ich eine weitere Vermutung aussprechen darf: Der Täter war gerade dabei, Herrn Lengus in eine Statue zu verwandeln. Er muss jedoch von irgendetwas oder jemandem gestört oder unterbrochen worden sein. Ich denke, Herr Lengus war zu dem Zeitpunkt nur leicht betäubt und ist zu früh aufgewacht. Er bemerkte seine Misere und hat eine Chance gesehen, die er wohl genutzt hat, um zu fliehen. Zu seinem Pech hat der Täter seine Flucht bemerkt und stellte ihm nach. Am Fluss namens Wupper holte er ihn ein. Dort müssen sie miteinander gekämpft haben. Aber Herr Lengus war noch zu geschwächt, er fiel oder wurde gestoßen und landete mit dem Gesicht voraus im Flussbett der Wupper, wo er letzten Endes ertrank. Wegen der Todesursache glaubte man anfangs nicht, dass er ebenfalls ein Opfer des Skulpturenkillers ist. Herr Lengus arbeitete in seiner Freizeit auf einer Baustelle. Er war dabei, für sich ein Haus zu bauen, und da ist es unvermeidbar, dass Beton auf die Kleidung kommt. Daher fiel die andere Betonmischung an seiner Kleidung und der Haut nicht so schnell auf.“