Der Therapeut - Fidelius Knox - E-Book

Der Therapeut E-Book

Fidelius Knox

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Beschreibung

Chris, ein deutscher Physiotherapeut mit neu aufgebautem Leben in Nürnberg trifft in Deutschland auf Graciella Montega – eine Begegnung, die alles verschiebt. Er folgt ihr nach Fuerteventura und übernimmt im Faro-Hotel die Leitung eines Luxus-Spas. Hinter Massagen, Aufgüssen und makellosen Gästebewertungen öffnet sich ihm die Welt der Montegas: José und Christina, die das Vermögen verwalten, und Enzo, der die stillen Regeln der Insel kennt. Offiziell geht es um Service und Wohlfühlen; inoffiziell fließen Ströme aus Ware, Bargeld und Loyalitäten durch Plantagen, Lagerhallen und Strandbars. Chris lernt, wann man schweigt, wem man zunickt – und wo eine Grenze verläuft, die man besser nicht überschreitet. Mit der Liebe wächst die Bindung: an Graciella, an die Familie, an ein Haus, das sich in ein autarkes Paradies verwandelt. Gleichzeitig taucht Konkurrenz auf der Promenade auf: die Velascos mit ihrem makellosen Spa und kühlen Blicken. Man beobachtet einander, testet Lieferwege, stellt Fragen, die wie Höflichkeiten klingen und doch Drohungen sind. Um den Betrieb zu stabilisieren, holt Chris seinen Freund Volker aus Nürnberg als Stellvertreter – ein Ruhepol im Spa und eine verlässliche Hand dort, wo das Geschäft unruhig wird. Je näher private Pläne rücken, desto dichter werden die Schatten: Gespräche hinter Glasfronten, Nummern auf anonymen Kärtchen, nächtliche Erkundungen an Zäunen. "Der Therapeut – Zwischen Asphalt und Atlantik" ist die Geschichte einer Ankunft zwischen Strand und Straße, von Liebe unter Druck und Entscheidungen in einer Grauzone, in der man Sicherheit nicht kauft, sondern verteidigt. Ein romantischer Thriller über Vertrauen, Zugehörigkeit und den Preis eines neuen Lebens – auf einer Insel, die Ruhe verspricht und doch nie ganz vergisst, wer hier das Sagen hat.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Der Therapeut

Zwischen Asphalt

und Atlantik

Kapitel 1 – Aufbruch

Das Auto war gepackt bis unters Dach. Zwei große Koffer mit den Sachen, die er brauchte, drei Kartons mit den Dingen, die er wollte, und eine Kiste, von der er nicht wusste, warum er sie überhaupt mitnahm: alte Fotos, ein Taschenmesser, ein paar Karten vom Bodensee, ein Notizbuch mit Kaffeeflecken. Obenauf lag die Kaffeemaschine, die schon mehr Umzüge mitgemacht hatte als mancher Freund. Auf der Rückbank rollte eine Hantelstange bei jeder Bewegung in die Gurte, als sei sie ungeduldig.

Chris stand vor dem Wagen und atmete die feuchte Morgenluft ein. Der Himmel war ein stumpfes Grau, das nach Regen aussah, ohne sich dazu durchringen zu können. Hinter ihm scharrte jemand mit den Schuhen über den Kies. Er musste sich nicht umdrehen.

„Na gut,“ sagte Volker und drückte die Lippen zu einem Strich zusammen. In der Hand hielt er eine Kaffeetasse mit abgesplittertem Henkel, auf der noch der Name einer längst geschlossenen Kneipe prangte. „Dann ist das hier der Moment, an dem wir so tun, als wären wir abgeklärt.“

Chris grinste, obwohl ihm nicht danach war. „Es war ’ne geile Zeit mit dir.“

„War?“ Volker hob eine Augenbraue. „Du Vogel. Die Zeit ist geil. Geil genug, dass du abhaust und ich’s dir nicht mal übelnehmen kann.“

„Ich verspreche, den Kontakt zu halten“, sagte Chris und merkte selbst, wie abgenutzt diese Worte klangen. Trotzdem meinte er sie.

Volker schnaufte. „Halts Maul und steig ins Auto, sonst fang ich hier noch an zu flennen.“

Sie umarmten sich kurz. Hart, mit kräftigem Klopfen auf die Schulter. Männerverabschiedung. Keine großen Worte, keine Erklärungen, nur dieses stumme Einverständnis, dass etwas Gutes zu Ende ging, damit etwas Neues beginnen konnte.

„Stuttgart ist groß,“ rief Volker, als Chris die Tür schloss. „Lass dich nicht auffressen! Und meld dich, wenn du eine anständige Currywurst findest!“

„Mach ich!“ Chris startete den Motor. Das vertraute Brummen senkte sich beruhigend über das Chaos in seinem Kopf. Er legte den ersten Gang ein, fuhr vom Hof und bog in die Hauptstraße ein. Die Häuser zogen vorbei – Fassaden, die er im Schlaf hätte zeichnen können, Schaufenster, die morgens immer zu früh offen waren. Hinter dem Ortsschild wurde die Straße breiter. Er schaltete das Radio an – dünner Pop, der wie Pappe klang – und ließ es laufen, nur damit da etwas war.

Die Landstraße führte an Feldern vorbei, auf denen Nebelschwaden wie vergessene Decken lagen. Er kannte jede Kante, jede Kurve. Vor einer Brücke hielt er kurz an, stieg aus, stellte sich an die Leitplanke und sah über das dünne Wasser eines Bachs, der seit Jahren versuchte, breiter zu klingen, als er war. „Aufbruch“, sagte er leise und spürte, wie das Wort in die Brust fiel.

Die Autobahn nahm ihn auf wie eine Maschine, die zu groß war, um sie zu begreifen. Lastwagen schoben sich im Takt, Autos in allen Farben, Schilder, die in einer Sprache aus Pfeilen und Zahlen mit ihm sprachen. Stuttgart war nicht weit, aber die Entfernung hatte weniger mit Kilometern als mit Mut zu tun. Er ließ die Gedanken kommen: an Nächte im Pub mit Volker, an improvisierte Grillabende im Hof, an die Stille des Dorfes, in der man den Nachbarn husten hörte. Er dachte an seinen Entschluss, wegzugehen, an die Notiz in seinem Handy: „Mehr Leben. Mehr Risiko. Mehr ich.“

Er fuhr an einer Raststätte vorbei, dann dachte er es sich anders, fuhr doch runter. Ein Kaffee im Pappbecher, ein belegtes Brötchen, das mehr versprochen als gehalten hatte. An der Scheibe stand ein Mann in Warnweste, rauchte und nickte Chris zu, als hätten sie sich längst verstanden. „Wohin?“ fragte sein Blick. „Vorwärts,“ antwortete Chris in seinem Kopf, stieg wieder ein, fuhr weiter.

Als die ersten Hügel den Blick auf die Stadt freigaben, war der Himmel aufgerissen. Kranarme standen wie ausgebreitete Finger über Baustellen, Schilder warfen grelles Licht, die Stadtautobahn summte. Stuttgart wirkte, als stünde es immer kurz davor, loszusprinten. Chris fühlte, wie sein Herz denselben Takt annahm.

Die Glastür der Reha-Klinik glitt mit einem leisen, zischenden Atem auf. Der Geruch dahinter war eine Mischung, die er kannte: Sportsalbe, Desinfektionsmittel, darunter die dunklere, freundlichere Note von Kaffee. Der Empfangsbereich wirkte, als hätte jemand Ordnung zu einer Kunstform erklärt: weiße Wände, polierter Beton, ein paar Pflanzen, die nicht vorgaben, der Natur näher zu stehen, als sie waren. Große Fenster ließen die Stadt herein – hupende Autos, das metallische Quietschen einer Bahn, das dumpfe Traben von Schuhen auf dem Gehweg.

Chris hängte den abgetragenen Schafswollmantel an den Ständer. Eigentlich war er zu schwer für Februar, eigentlich zu alt für eine neue Stadt. Aber er gehörte zu ihm wie eine Narbe: man konnte sie nicht wegdiskutieren. Seine Hände waren noch kalt von der Fahrt; er rieb sie aneinander, bis die Haut quietschte.

Hinter dem Tresen saß eine junge Frau mit streng gebundenem blondem Pferdeschwanz. Lena, stand auf dem Schild an ihrem Poloshirt. Ihre Finger tippten, ohne hinzusehen, und trotzdem lag in ihrer Stimme etwas Wachsendes, als sie sagte: „Kann ich helfen?“

„Chris Lehmann, neuer Masseur. Ich soll zu Stefan.“

Sie sah auf, und in ihrem Blick mischten sich Routine und dieses kleine, professionelle Willkommen, das nicht aufgesetzt wirkte. „Ah, der Neue. Willkommen in der besten Reha Stuttgarts.“ Sie legte den Hörer beiseite, stand auf. „Setz dich. Stefan ist gleich da. Kaffee? Kekse?“

„Ich schau’s mir erst mal an,“ sagte Chris und deutete in den Raum.

Die Sitzgruppe hätte auch in einem Designmagazin abgebildet sein können. Von dort aus hatte er freie Sicht in den offenen Reha-Bereich. Geräte glänzten, als wären sie gestern poliert worden, Matten bildeten eine grüne Fläche, auf der eine ältere Dame mit einem Therapeuten sorgfältig Bewegungen nachzeichnete, die früher selbstverständlich gewesen waren. Ihre Augen lachten, obwohl die Stirn glitzerte. Hinter Glas wurden Behandlungsräume sichtbar – Liegen mit frischen Papierrollen, Wärmelampen, deren rotes Licht die Kanten weicher machte, Ultraschallgeräte, die aussahen, als würden sie leise singen, wenn man sie einschaltete.

Er dachte: Das ist Arbeit. Nicht Show. Und er mochte, dass die Stadt bis an das Glas heranrauschte, dass drinnen und draußen sich nicht ignorierten.

„Chris?“ Die Stimme war warm, nicht weich. Er drehte sich um.

Stefan Bauer war Mitte vierzig, Athlet mit Managerblick, kurze dunkle Haare, an den Schläfen silbrig. Er trug ein dunkelblaues Poloshirt mit dem Kliniklogo – ein stilisiertes R – und eine Hose, in der man laufen konnte, wenn man musste. Der Händedruck war fest, präzise.

„Willkommen im Team.“

„Danke. Freu mich, hier zu sein.“

„Gut so.“ Stefan neigte den Kopf Richtung Flur. „Ich zeig dir die Bude.“

Sie gingen an der Rezeption vorbei. Lena rief, ohne aufzusehen: „Wenn er nervt, schick ihn zurück!“ Chris drehte sich halb um. „Ich habe Garantieverlängerung,“ sagte er. Lena grinste, und irgendetwas in ihm entspannte sich einen Tick.

Der Flur war hell und sauber, ohne nach Krankenhaus zu riechen. An einer Magnetwand hingen Namensschilder, Schichten, farbig markiert. „Wir arbeiten im Takt,“ sagte Stefan. „Physios, Masseure, Ärzte. Keiner ist hier Star, keiner Statist. Wir wollen, dass die Leute laufen, springen, tanzen – im Rahmen, den ihre Körper erlauben.“

Sie kamen an Tom vorbei, einem bulligen Physiotherapeuten mit buschigem Bart und sanfter Stimme. Er hielt den Unterschenkel eines Patienten, korrigierte die Richtung mit zwei Fingern, als würde er einen Zeiger einstellen. „Willkommen,“ sagte Tom, ohne den Blick von der Bewegung zu nehmen.

Sophie, zierlich, kurz geschnittene rote Haare, klebte einem älteren Herrn Elektroden an. „Der Neue?“, fragte sie. „Hoffentlich hältst du länger als der letzte.“

„Wie lang war der hier?“ fragte Chris.

„Zwei Wochen,“ sagte Sophie. „Dann hat er gemerkt, dass Pünktlichkeit hier keine Theorie ist.“

„Bei mir ist sie Praxis,“ sagte Chris. Sophie grinste.

Ein junger Mann in Trainingsklamotten – vermutlich ein Sportstudent im Praktikum – füllte am Wasserspender einen Becher und nickte verlegen. „Morgen.“

„Das ist Jonas,“ sagte Stefan. „Weiß schon, wo die Handtücher wohnen und wo die Nerven langlaufen. Wird mal gut.“

Sie blieben an einem Whiteboard stehen, auf dem in sauberer Schrift „Regeln“ stand. Darunter: Keine Abkürzungen. Keine Wunder versprechen. Dokumentation, dann Kaffee. Schmerz ernst nehmen. Respekt vor Arbeit und Pausen. Stefan sah Chris an. „Damit du nicht sagst, ich hätte es dir nicht gesagt.“

„Klingt vernünftig,“ sagte Chris.

Stefan zeigte ihm kurz den Personalraum – Spinde, ein Tisch mit Kaffeemaschine, eine Schale mit Obst, in der die Bananen schon braune Flecken hatten, und ein Fenster zum Hinterhof, wo Tauben so taten, als gehörte ihnen die Welt. An der Pinnwand hingen Zettel: „Geburtstag Sophie – Kuchen im Kühlschrank“, „Wer hat die Kältesprays?“, „Afterwork Montag – Konditorei“.

„So,“ sagte Stefan schließlich und blieb vor einer Tür stehen. „Bereit für deinen ersten Patienten?“

Chris sah auf die Uhr. Er war keine zwanzig Minuten im Haus. Er nickte. „Klar.“

„Raum drei. Marco Moretti. Zweite Liga, Stürmer. Kreuzbandriss. Geduld ist nicht sein Hobby.“ Stefan legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. „Du machst das.“

Chris atmete ein, schüttelte die Hände aus und öffnete die Tür.

Behandlungsraum drei war sachlich. Eine Liege mit glattem Bezug, ein Rollwagen mit Ölfläschchen, Tapes, Handtüchern, das Ultraschallgerät, dessen Display blinkte. An der Wand ein laminiertes Poster vom menschlichen Muskelapparat, daneben das Fenster zum Innenhof, wo die Tauben jetzt zu dritt aufgeregt um eine Krume stritten.

Auf der Liege saß Marco Moretti. Mitte zwanzig, drahtig, muskulös ohne Übertreibung. Das rechte Bein locker gestreckt, das linke angewinkelt – das Knie, das Ärger machte. Dunkle Haare fielen ihm in die Stirn, sein Dreitagebart war mehr Trotz als Mode. Die braunen Augen musterten Chris, nicht feindselig, aber prüfend, als hätte er gelernt, schnell zu entscheiden, wem er vertraut.

„Du bist also der Neue,“ sagte Marco und ließ den Blick einmal von oben nach unten wandern.

„Chris Lehmann,“ erwiderte Chris. „Masseur. Und du bist mein erster Patient hier. Sei gnädig.“

Marco verzog den Mund zu etwas, das an ein Lächeln erinnerte. „Solange du mein Knie hinkriegst, bin ich alles außer gnädig.“

„Deal,“ sagte Chris, wusch sich am Becken die Hände, trocknete sie sorgfältig. „Erzähl. Steifigkeit? Schmerz? Wo? Wann?“

„Morgens wie Beton,“ sagte Marco, lehnte sich zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Nach zehn Minuten Stehen zieht’s. Der Doc sagt, ich bin gut im Plan. Ich sag: Der Plan ist zu langsam.“

Chris nickte, trat näher. Er legte zwei Finger neben die Kniescheibe, fühlte vorsichtig die Sehnen, ließ den Daumen über den Ansatz des Quadrizeps wandern. „Sag Bescheid, wenn’s wehtut. Ich suche nicht, ob ich Schmerz finde – ich will wissen, wo er wohnt.“

„Klingt nach einem, der seinen Job kennt,“ murmelte Marco. Er zuckte kurz, als Chris in eine verhärtete Stelle drückte. „Da.“

„Okay.“ Chris ließ den Druck nach, wechselte den Winkel. „Wie lange seit der OP?“

„Drei Monate,“ sagte Marco und rollte die Augen. „Fühlt sich an wie drei Jahre. Ich will zurück aufs Feld.“

„Du willst sprinten, bevor du zuverlässig gehen kannst,“ sagte Chris ruhig. „Das ist normal. Aber normal bringt dich nicht durch die Saison.“

Marco starrte an die Decke. „Ich verliere meinen Platz, wenn ich nicht bald wieder da bin.“

„Du verlierst mehr, wenn du zu früh gehst,“ erwiderte Chris, während er das Bein langsam in eine weiche Dehnung brachte. „Und du weißt das.“

Eine Weile war nur das leise Quietschen des Bezuges zu hören und das gedämpfte Summen aus dem Flur. Chris ließ seine Hände arbeiten, präzise, ruhig, ohne Show. Er fragte nach Schmerzen beim Treppabgehen, nach dem Gefühl beim Aufstehen aus dem Auto, nach dem Vertrauen beim Richtungswechsel. Marco antwortete knapp, ehrlich, als wüsste er, dass Lügen hier nur ihm selbst schaden würden.

„Agent stresst?“ fragte Chris irgendwann, ohne hinzusehen.

Marco lachte trocken. „Er ruft jeden zweiten Tag an. Fragt, ob ich schon wieder schießen kann. Ich sag ihm, ich kann schießen, aber nicht laufen. Er lacht nicht.“

„Dann bringt’s nichts, ihm Sprüche zu erzählen.“

Marco drehte den Kopf, sah Chris an. „Du bist neu, und du redest, als würdest du bleiben.“

„Ich bin neu,“ sagte Chris. „Und ich rede, als würde ich meinen Job machen.“

Marco schenkte ihm ein erstes, echtes Lächeln. „Okay, Neuer.“

Chris nutzte den Moment, um die Patellamobilisation zu testen, ließ die Kniescheibe sanft nach medial und lateral gleiten, prüfte das Gleitlager. „Wir machen’s so: heute Weichgewebe, Mobilität, danach kurzes isometrisches Programm. Morgen testest du auf der Stufe – kontrolliert, ohne Egoshow. Und du gehst nur so weit, wie du am nächsten Morgen ohne Fluchen aufstehen kannst.“

„Das ist deine Messlatte?“ fragte Marco.

„Meine ist: Kein Rückfall, keine Heldentaten. Deine ist: in sechs Wochen Richtungswechsel aufm Platz ohne Kopfkino.“

Marco nickte langsam. „Klingt… vernünftig. Ich hasse vernünftig.“

„Ich weiß,“ sagte Chris und grinste. „Vernünftig ist unterschätzt.“

Ein leises Klopfen an der Tür. Stefan steckte den Kopf rein. „Alles gut?“

„Alles gut,“ sagte Chris. „Wir prügeln uns noch nicht.“

„Perfekt,“ sagte Stefan. „In die Doku mit dir, wenn du fertig bist. Kaffee danach, nicht davor.“ Er verschwand wieder.

Marco lachte. „Er hat dich schon eingeschworen.“

„Ich war beim Militär,“ sagte Chris, fast beiläufig. „Kaffee nach der Doku ist Luxus.“

„Bundeswehr?“ fragte Marco.

„Acht Jahre,“ sagte Chris und wechselte wieder zur Weichgewebstechniken. „Genug, um zu lernen, dass Ruhe schneller macht als Hektik.“

„Klingt, als könntest du Türsteher sein.“

„Nur, wenn ich hübsche Schürzen tragen darf.“

Sie lachten. Das Eis war gebrochen, ohne dass einer es groß thematisiert hätte.

Chris beendete die Behandlung mit einer sanften Mobilisation, klebte eine Entlastungstapeanage und ließ Marco langsam aufstehen. „Wie fühlt’s sich an?“

„Leichter,“ sagte Marco. Er wippte ein paarmal, testete vorsichtig das Beugen. „Nicht frei, aber leichter.“

„Gut. Das ist das Ziel. Kein Zauber. Arbeit. Wir sehen uns übermorgen. Dazwischen brav Hausaufgaben.“

„Du willst mich kämpfen sehen,“ sagte Marco.

„Ich will dich spielen sehen,“ korrigierte Chris.

Marco zog die Augenbrauen hoch. „Okay, Neuer. Überzeug mich.“

„Bin dran.“

Sie gaben sich die Hand. Diesmal war nicht nur Prüfung in Marcos Blick, sondern ein Hauch Vertrauen.

Als Chris den Raum verließ, roch der Flur nach Kaffee und diesem ganz besonderen Gemisch aus Schweiß und Hoffnung, das nur in Reha-Bereichen existierte. Lena winkte ihm vom Tresen. „Erster beendet?“

„Lebendig,“ sagte Chris.

„Das ändert sich,“ sagte sie trocken. „Kleiner Scherz.“

Stefan wartete am Ende des Flurs, lehnte an der Wand, als hätte er Zeit. „Na?“

„Er will sprinten, sein Knie will gehen,“ sagte Chris. „Wir treffen uns in der Mitte.“

„Gute Antwort.“ Stefan nickte Richtung Personalraum. „Kaffee. Und dann zeig ich dir die Software. Wenn du denkst, die Behandlung ist die Arbeit, hast du die Dokumentation noch nicht gesehen.“

Im Personalraum war es für einen Moment still, als hätten alle beschlossen, die Welt draußen draußen zu lassen. Der Kaffee tropfte langsam, das Radio säuselte eine Nachrichtenmelodie, die nie ganz aufhörte. An der Pinnwand hing ein Zettel: Montag 19 Uhr – Konditorei – Afterwork. Jemand hatte darunter gemalt: eine kleine Tasse und ein Herz.

„Wir sind kein Krankenhaus,“ sagte Stefan, während er zwei Tassen füllte. „Aber wir nehmen uns ernst. Regeln sind nicht da, um hübsch auszusehen. Sie geben einen Leitfaden. Wir haben Verpflichtungen den Ärzten, den Kassen und natürlich den Patienten gegenüber. Daher die Doku.“

„Klingt nach Klarheit,“ sagte Chris. Er mochte Klarheit.

„Und, Chris?“ Stefan sah ihn über den Tassenrand an. „Dein Neustart, wie fühlt es sich an? Wenn irgendwas wackelt – fachlich, menschlich – sag's. Es lässt sich über alles reden und für alles eine Lösung finden. Kein Heldentum notwendig.“

„Kein Heldentum,“ wiederholte Chris. „Hab ich im Rucksack gelassen.“

Sie tranken Kaffee. Eine Kollegin steckte den Kopf rein, fragte nach Kinesiotape. Irgendwo lachte jemand laut über etwas, das nicht witzig klang und es trotzdem war. Die Klinik atmete im eigenen Takt.

Nach der Einweisung in die Dokumentationssoftware – die überraschend logisch war – schickte Stefan ihn mit einem kurzen „Mach für heute Feierabend und schau dir die Stadt an“ weg.

Chris holte seinen Mantel und nickte Lena zu, die gerade zwei Telefonate gleichzeitig bändigte. „Bis morgen,“ sagte er.

„Bis morgen,“ rief sie zurück. „Bring Kuchen mit. Spaß. Oder doch.“

Draußen schnitt die kühle Luft in die Lungen. Die Stadt war im Zwischenzustand: nicht mehr Rushhour, noch nicht Nacht. Menschen hasteten, andere schlenderten, ein Straßenmusiker zog zarte Töne aus einer Gitarre, die bessere Zeiten gesehen hatte. Chris ging einfach los, ohne Ziel. Er ließ sich von Ampeln bremsen und von Lichtern ziehen. Ein Kioskverkäufer schob die Rollläden klappernd halb runter, ein Kind ließ ein Stück Laugenbrezel fallen und schaute ihm neugierig nach als die heraneilenden Tauben sich darum stritten.

Er landete vor einem unscheinbaren Wohnhaus in einer Seitenstraße. Seine neue Wohnung lag im zweiten Stock. Das Treppenhaus roch nach Reinigungsmittel und einem Hauch von Curry. Irgendwo lief leise Musik, irgendwo stritt jemand leiser, als er wollte.

Die Wohnung war klein, aber sauber. Ein Zimmer mit hohen Decken, knarrendes Parkett, eine Küchenzeile, die so tat, als sei sie eine Küche, ein Fenster mit Blick auf Hinterhöfe und Schornsteine. Er stellte die Kisten ab, setzte die Kaffeemaschine auf die Arbeitsplatte, als würde das aus dem Raum ein Zuhause machen. Aus dem Fenster sah er auf die Lichter eines Innenhofs, in dem eine Katze so tat, als sei sie der Pförtner.

Er hob sein Handy. Eine Nachricht von Volker: Angekommen? – Ja. Lebe noch. – Gut. Trink eins auf mich. Und mach keinen Scheiß.Er lachte, schrieb: Versprochen. Vielleicht nur leichten Scheiß. Ein Smiley kam zurück, und wieder dieses Ziehen im Brustkorb, das ganz nah an Heimweh war und doch nicht dasselbe.

Chris öffnete den kleinen Kleiderschrank, hängte den Mantel hinein, legte die Handschuhe auf die Ablage. Er blieb einen Moment einfach stehen. Der Tag hatte ihn nicht erschlagen, aber er hatte ihn auch nicht verschont. Er spürte die Müdigkeit als eine Art freundlichen Druck. Und unter allem – das leise, beharrliche Gefühl, dass er gerade eine Tür geöffnet hatte, hinter der nicht nur Arbeit wartete.

Er dachte an Marco, an die Ungeduld in dessen Stimme. Er dachte an Stefans Regeln. An Lenas trockenes Grinsen. Er dachte an sich selbst, wie er am Morgen auf der Brücke gestanden hatte und „Aufbruch“ gesagt hatte, als sei es ein Zauberspruch.

„Aufbruch,“ sagte er jetzt noch einmal, leise, in diesen leeren Raum hinein, der bereits anfing, seinen Klang zu kennen.

Er drehte das Licht aus und ließ das Fenster angekippt. Die Stadt atmete. Er atmete mit.

Und irgendetwas, das keine Worte brauchte, setzte sich in Bewegung.

Kapitel 2 – Freundschaften

Die Wochen in der Reha-Klinik vergingen wie im Flug, und Chris hatte sich schneller eingelebt, als er gedacht hätte. Die Tage waren gefüllt mit einem stetigen Strom von Patienten: vom jungen Triathleten mit einer Sehnenentzündung bis zur Rentnerin, die nach einem Sturz wieder laufen lernen wollte. Die Arbeit war anspruchsvoll – mal hektisch, wenn die Termine sich überschnitten, mal ruhig, wenn er Zeit hatte, mit einem Patienten länger zu sprechen. Die Reha selbst fühlte sich inzwischen vertraut an: das leise Summen der Ultraschallgeräte, das Klacken der Gewichte im Trainingsbereich, der Duft von Desinfektionsmittel, der sich mit dem Kaffeeduft aus der kleinen Küche mischte. Draußen vor den Fenstern wechselte das Wetter von grauen Februartagen zu den ersten milden Märzwochen, in denen die Sonne zaghaft durch die Wolken brach und die Stadt in ein weiches Licht tauchte.

Morgens kam Chris immer zehn Minuten früher, schaltete das Deckenlicht im Behandlungsraum nur halb an und legte die Wärmepads auf die Heizung, damit sie warm waren, wenn der erste Patient kam. Er mochte diese stillen Minuten, bevor die Türscharniere ihren Tagesrhythmus fanden, bevor Schritte über Linoleum eilten. In der Ferne klapperte manchmal eine Reinigungskraft mit einem Eimer; im Flur blinkte eine Notausgangsanzeige grün, so vertraut wie ein Nachtlicht. Er strich einmal über die weiße Lakenkante der Liege, auf der gleich das erste Gespräch beginnen würde, nicht nur über Muskeln, Sehnen, Gelenke – sondern über das, was Menschen mitbrachten: Ungeduld, Verdruss, Hoffnung.

Der Triathlet war einer dieser Ungeduldigen. Kaum zwanzig, sehnig, ein Körper wie eine gespannte Saite, die jeden Moment reißen könnte. „Wenn ich jetzt sechs Wochen raus bin, war die Quali umsonst“, murmelte er zum dritten Mal innerhalb von zehn Minuten. Chris ließ ihn an die Wand treten, Fingerspitzen an die Schulter, kleine Kniebeugen in Zeitlupe. „Der Körper ist kein Bankautomat“, sagte er ruhig. „Da kommt nicht genau das raus, was man will, nur weil man oft genug draufhaut.“ Der Junge lachte widerwillig, machte die Übung, atmete aus. Es war dieser Moment, in dem Dinge ankamen – wenn der Blick weicher wurde, die Schultern tiefer sanken. „Okay“, sagte er. „Okay, ich versuch’s langsamer.“

Die Rentnerin am späten Vormittag roch nach Lavendel und Zuckerwatte, eine Mischung aus Weichspüler und Bonbons, die sie in der Tasche trug. Ihr rechter Fuß gehorchte noch nicht. „Ich hab früher getanzt“, erzählte sie, „mit meinem Mann. Im Sommer an der Promenade, im Winter in der Küche.“ Sie lachte und sah gleichzeitig traurig aus. Chris legte die Hände an ihr Sprunggelenk, tastete die Bewegung, fühlte die Kälte der Haut, die kleine Zitterei, wenn der Fuß den richtigen Winkel noch suchte. „Wir holen uns das zurück“, sagte er. „Nicht alles. Aber genug, damit es sich wieder leicht anfühlt.“ Sie nickte und betrachtete konzentriert den Fuß, als wäre er ein störrisches Kind.

Zwischen den Sitzungen nahm sich Chris Sekunden für sich: ein Blick aus dem Fenster auf die Straße, die sich Richtung Fluss senkte; eine Tasse Kaffee, halb ausgetrunken, weil der nächste Patient schon klopfte; ein Atemzug, lang und unauffällig, der den Tag gliederte. In der Küche stapelten sich Tassen mit Logos von Sportvereinen, die mal Sponsoren der Klinik gewesen waren. An der Pinnwand steckte ein Flyer mit einem minimalistischen Logo einer neuen Bar im Viertel, irgendwer hatte mit Kugelschreiber „zu teuer“ daneben geschrieben. Er scannte Namen, Strukturen, Muster – die Art von Details, die einem sagen, wie eine Stadt tickt, wo man sich sehen lässt, wo man besser nichts sagt.

Besonders einer hatte sich in Chris’ Alltag eingebrannt: Marco Moretti. Der Zweitligaspieler war ein Wirbelwind – mal mürrisch und wortkarg, wenn sein Knie nicht so wollte wie er, mal voller Energie, wenn er Fortschritte spürte. Marco kam fast täglich in die Klinik, oft in Trainingsklamotten, die nach Schweiß und frischer Luft rochen, als hätte er trotz der Verletzung irgendwo heimlich ein paar Sprints geübt. Er war ein Typ, der stillsitzen hasste, dessen Ehrgeiz in jedem Wort mitschwang, und genau das machte ihn für Chris interessant. Marco war kein Patient, den man mit Floskeln abspeisen konnte – er wollte Ergebnisse, und er wollte sie schnell.

Sie waren am Anfang aneinandergeraten, auf die kleinste Weise, aus dem Reflex heraus, wer den Takt vorgibt. „Ich brauch keine Streicheleinheiten, ich brauch einen Plan“, hatte Marco in der ersten Woche gesagt, als Chris die Hand am Knie hielt und die Schwellung beurteilte. „Du kriegst beides“, hatte Chris geantwortet und einen Ausdruck hingelegt, der ruhig, aber unverrückbar war. Ein Plan, ja. Aber einer, der den Kopf mitnimmt, nicht nur das Gelenk. Danach lief es. Nicht immer glatt, aber ehrlich.

Ihre Gespräche hatten bald über die Behandlungen hinausgefunden. Anfangs war es Smalltalk gewesen: „Wie war dein Wochenende?“ oder „Was liegt an?“ Doch mit der Zeit wurden es echte Unterhaltungen. Während Chris Marcos Knie massierte, erzählten sie sich Geschichten – über Fußball, Musik, das Leben. Marco hatte eine direkte Art, die Chris mochte, und umgekehrt schien Marco Chris’ trockenen Humor und seine Bodenständigkeit zu schätzen. Sie waren keine Brüder im klassischen Sinne, aber da war eine Chemie, die sich wie Freundschaft anfühlte – eine, die über die Klinikmauern hinausging. Wenn Marco auf die Liege kletterte, zogen seine Bewegungen eine kleine Flüchtigkeit hinter sich her, als würde er das Ungeduldige bewusst abstreifen, sobald er den Raum betrat. Manchmal lag er einfach da, Hände im Nacken verschränkt, und hörte zu, während Chris erklärte, warum eine isometrische Anspannung heute sinnvoller war als ein lauter Sprint.

„Halt die Spannung… ja, genau da“, sagte Chris an einem Morgen, während die Sonne wie ein helles Rechteck auf den Boden fiel. „Dreißig Sekunden. Atmen. Nicht verbeißen.“

„Ich beiße nicht“, konterte Marco durch die Zähne und grinste dann doch. Schweiß stand ihm über der Oberlippe. „Ich knurre höchstens.“

„Knurren kostet Kalorien“, sagte Chris. „Würd ich sparen.“

„Witzig“, murmelte Marco, aber sein Blick war nicht gereizt, nur konzentriert.

Eines Morgens, etwa drei Wochen nach Chris’ Start, kam Marco mit einem breiten Grinsen in Behandlungsraum sieben. Die Sonne schien durch das Fenster und malte goldene Streifen auf den Boden, während draußen ein Straßenkehrer mit seinem Besen über den Gehweg schabte. Marco warf sich auf die Liege, ein Bein lässig baumelnd, und hielt ein zerknittertes Blatt hoch.

„Sieh dir das an, Bro“, sagte er und wedelte damit. „Mein Trainer sagt, ich darf nächste Woche wieder leicht mittrainieren. Nichts Wildes, nur Laufübungen, aber verdammt – das ist ein Anfang!“

Chris nahm das Blatt – ein kurzer Bericht vom Arzt der Klinik – und überflog es. Er mochte, wie sich die nüchternen Sätze auf dem Papier anfühlten: nüchterne Tatbestände, die man erreichen, nicht herbeireden musste. „Nicht schlecht, Moretti. Drei Monate nach ’nem Kreuzbandriss schon wieder auf’m Platz? Du bist entweder ein Wunder oder einfach zu stur, um liegenzubleiben.“

Marco lachte, ein tiefes, raues Geräusch, das den Raum füllte. „Beides, Mann. Aber ohne deine Hände wär ich noch am Stock gehen.“ Er klopfte auf sein Knie. „Das Ding fühlt sich endlich wieder wie meins an.“

„Freut mich“, sagte Chris und griff nach dem Massageöl. „Aber übertreib’s nicht, ja? Ich will dich nicht in ’ner Woche mit ’nem Rückfall hier sehen.“

„Keine Sorge“, sagte Marco und lehnte sich zurück. Er zog sein Handy aus der Tasche, sah auf den Bildschirm, sperrte ihn wieder. Eine Geste, schnell, unbemerkt, als hätte er geübt, Blicke an Kanten vorbeizuschieben. „Ich pass auf. Übrigens, hast du mal ’nen Fußballer behandelt, der noch sturer war als ich?“

Chris grinste, während er das Öl auftrug. „Oh ja. Kreisliga, so’n Typ aus meinem alten Dorf. Hat sich den Knöchel verstaucht, war nach drei Tagen wieder auf’m Feld und hat dann ’ne Woche später geheult, weil er nicht mehr laufen konnte. Hat mich angefleht, ihn zu fixen, damit seine Frau ihn nicht auslacht.“

Marco prustete los. „Klingt nach ’nem Vollidioten. Aber irgendwie sympathisch.“

„War er auch“, sagte Chris. „Hat mir danach immer ’n Bier ausgegeben, wenn ich ihn in der Dorfkneipe getroffen hab.“

„Siehst du, das ist der Unterschied“, sagte Marco und deutete auf sich. „Ich bin kein Vollidiot. Ich bin ein Profi.“

„Klar, Profi im Quengeln“, neckte Chris, und beide lachten.

Die Stunde verlief in diesem leichten Rhythmus, der Arbeit angenehm macht: zählen, halten, loslassen; reden, schweigen, atmen. Ab und zu vibrierte Marcos Handy auf dem Ablagetisch. Er warf hin und wieder einen Blick darauf, als lausche er einer unsichtbaren Regie. „Berater“, sagte er einmal knapp, als Chris ihn ansah. „Die drehen frei, wenn ich nicht jede Meldung beantworte.“ Er zuckte die Schultern und schob das Gerät beiseite. Der Tonfall war beiläufig, aber da lag ein Unterfaden darin – nicht schwer, nur straff, wie ein zu fest zugezogener Schnürsenkel.

Eines Abends, etwa vier Wochen nach ihrer ersten Begegnung, schlenderte Chris nach der Arbeit durch die Innenstadt. Es war Anfang März, doch die Luft fühlte sich schon nach Frühling an: warm und leicht, mit einem Hauch von Blütenduft von den ersten Forsythien an den Straßenrändern. Die Straßen summten vor Leben: junge Leute mit Rucksäcken auf dem Weg zu Bars, ältere Paare, die Hand in Hand aus Restaurants kamen, und Straßenmusiker, die mit Gitarren oder Akkordeons die Luft füllten. Ein Lieferwagen brummte am Randstein; irgendwo klapperten Besteckkörbe; aus einer offenen Tür wehte der Geruch von gebratenem Knoblauch. Chris trug noch seine Arbeitsklamotten – ein Poloshirt und Jeans – und hatte die Hände in den Taschen, während er die beleuchteten Schaufenster betrachtete. Er war noch nicht lange genug in der Stadt, um alle Ecken zu kennen, aber er genoss diese Momente, einfach zu laufen und die neue Umgebung aufzusaugen.

Zufällig fiel sein Blick auf eine kleine Bar namens „Konditorei“ – ein Name, der ihn jedes Mal schmunzeln ließ. Der Laden lag in einer schmalen Seitenstraße, ein altes Gebäude mit großen Fenstern und einem Holzschild, das im Wind leicht quietschte. Tagsüber war es tatsächlich eine Konditorei, hatte er gehört, mit Torten und Kaffee für die Mittagspause, aber abends verwandelte es sich in eine schicke, entspannte Bar. Hinter der Scheibe standen Kuchen unter Glasglocken wie Ausstellungsstücke; an der aufpolierten Theke lagen kleine Teller mit Pistazien. Die Holztische draußen auf dem Gehweg waren gut besetzt, Gläser klirrten, und leise Jazzmusik drang aus einem Lautsprecher über der Tür. Laternen warfen ein goldenes Licht auf die Szene, und ein paar Tauben pickten Krümel vom Pflaster.

Da saß Marco, allein an einem Tisch, in die Ecke gelehnt, ein Glas Bier in der Hand. Er trug eine schwarze Lederjacke und Jeans, die Haare zerzaust, als hätte er gerade einen Helm abgesetzt. Als er Chris bemerkte, winkte er ihn sofort heran, ein breites Grinsen im Gesicht.

„Chris! Setz dich, Mann! Was trinkst du?“ rief er über das Stimmengewirr hinweg.

Chris zögerte nur kurz – er hatte eigentlich vorgehabt, nach Hause zu gehen und sich mit einem Buch aufs Sofa zu legen, aber Marcos Energie war ansteckend. „Bier. Irgendeins, das kalt ist“, sagte er und ließ sich auf einen der freien Stühle plumpsen. Der Stuhl knarrte leise unter seinem Gewicht, und er lehnte sich zurück, während Marco einem Kellner winkte – einem schlaksigen Typ mit Brille und einem gestreiften Hemd, der mit einem Tablett zwischen den Tischen hin und her flitzte.

„Zwei Helle, kalt!“, rief Marco, und der Kellner nickte, ohne stehen zu bleiben.

„Du arbeitest zu viel, Bro“, fuhr Marco fort und nahm einen Schluck von seinem Glas. „Wurde Zeit, dass du mal rauskommst.“

„Ich bin erst vier Wochen hier und wollte nicht direkt in jedem Club versacken“, sagte Chris und grinste. „Aber gut, heute mach ich ’ne Ausnahme.“

Der Kellner brachte die Biere – zwei beschlagene Gläser mit schaumiger Krone – und stellte sie mit einem leisen „Prost!“ ab. Chris nahm sein Glas, prostete Marco zu und trank einen Schluck. Das Bier war eiskalt, prickelte auf der Zunge und schmeckte nach einem langen Tag genau richtig. „Wie läuft’s bei dir?“, fragte Chris, während er das Glas abstellte. „Abseits vom Knie, mein ich.“

Marco zuckte mit den Schultern. „Ganz ehrlich? Ich dreh langsam durch, wenn ich nicht bald wieder spielen kann. Aber sonst – nicht schlecht. Hatte gestern Training mit den Jungs, nur am Rand zugeschaut, aber immerhin war ich dabei.“ Er lehnte sich vor, die Ellbogen auf den Tisch gestützt. „Und du? Stadtleben schon satt?“

„Nee, im Gegenteil“, sagte Chris. „Auf’m Land war’s ruhig, jeder kannte jeden – hier ist alles größer, schneller. Gefällt mir. Auch wenn die Mieten mich umbringen.“

Marco lachte. „Willkommen in der Stadt, Bro. Aber sag mal, wie warst du so drauf, damals auf’m Land? Warst du der Typ, der im Wald joggt, oder eher der, der im Wirtshaus sitzt?“

„Beides“, sagte Chris und grinste. „Morgens joggen, abends ’n Bier. Und du? Immer schon der große Fußballstar?“

„Ha, von wegen“, sagte Marco und schüttelte den Kopf. „Hab als Kind im Nachwuchsleistungszentrum angefangen, war aber eher der Kleine, der sich durchboxen musste. Mein Dad war Italiener, hat mich immer angetrieben – ‚Marco, du musst kämpfen, sonst bist du raus!‘ Hat funktioniert.“ Er nahm einen Schluck und sah Chris an. „Und du? Was hat dich zum Masseur gemacht?“

„Militär“, sagte Chris. „War acht Jahre dabei, hab da viel über den Körper gelernt. Danach wollt ich was machen, wo ich Leuten helfe, ohne sie anschreien zu müssen.“

Marco nickte anerkennend. „Cool. Respekt.“ Einen Moment schwieg er, sah auf die Straße, als würde er etwas abgleichen – Gesichter, Bewegungen, wer kommt, wer geht. Es war eine Gewohnheit, die Chris auch hatte. Nicht misstrauisch, eher kontrolliert. Man lernt so, Dinge im Vorfeld zu lesen.

„Wird Zeit, dass du mal das echte Leben hier kennenlernst“, sagte Marco schließlich und legte das Handy neben sein Glas. Der Bildschirm zeigte für eine Sekunde eine Reihe ungelesener Nachrichten, dann wurde er dunkel.

Chris hob eine Braue. „Ach ja? Und was bedeutet das?“

Marco grinste schelmisch, ein Funkeln in den Augen. „Das bedeutet, dass du am Samstagabend keinen Plan machst, sondern mit mir unterwegs bist. Ich zeig dir ein paar Spots, ein bisschen Nachtleben. Vertrau mir, du wirst’s nicht bereuen.“

Ein älterer Herr mit einem Dackel an der Leine schlurfte vorbei, blieb kurz stehen und sah sie an. „Na, Jungs, nicht zu viel trinken, ja?“, sagte er mit einem zwinkernden Lächeln, bevor er weiterging. Chris und Marco lachten leise.

„Ich überleg’s mir“, sagte Chris und nahm einen Schluck. „Aber klingt gefährlich.“

„Ach, Quatsch“, sagte Marco und lehnte sich zurück. „Zehn Uhr, ich hol dich ab. Und zieh was Gutes an – aber nicht zu brav. Wir gehen groß aus.“

„Groß heißt?“

„Kein Dresscode, aber Haltung“, sagte Marco, fast ernst. „Und ein bisschen Stil. Keine Logos, keine grellen Farben. Du willst nicht der sein, der schreit: ‚Ich bin neu hier.‘“ Er zwinkerte. „Glaub mir, es ist einfacher, wenn du dich leise wohl fühlst.“

Chris musterte seinen neuen Freund – Marcos breites Grinsen, die entspannte Haltung, die pure Vorfreude in seiner Stimme. Da war ein Selbstbewusstsein an ihm, das nicht nur aus Fußball kam. Es war die Art, wie er Räume betrat, Entscheidungen wie nebenbei traf, wie er die Theke mit einem kurzen Blick erfasste und sofort wusste, wen man ansprechen konnte, wen man besser in Ruhe ließ. Nicht arrogant. Nur geübt.

Sie sprachen weiter, über Musik – Marco mochte alte Italo-Hits, „weil man da noch weiß, wovon gesungen wird“ –, über Essen und die besten Espresso-Läden im Viertel. Chris merkte, wie leicht es ging, in dieser Bar zu sitzen, ohne ständig an den morgigen Terminkalender zu denken. Zwischen ihnen lief ein Strom aus Gerüchen und Geräuschen: Zitrusschalen an einer Reibe, eine Espressomaschine, die zischte, das Schlürfen eines durch einen Strohhalm getrunkenen Cocktails, der an einem Nachbartisch genossen wurde. Menschen kamen und gingen, man nickte sich zu, man war freundlich, ohne etwas zu wollen.

Einmal vibrierte Marcos Handy wieder, diesmal länger. Er sah drauf, die Stirn setzte eine kleine Falte an. „Später“, murmelte er und schob es in die Jackentasche. „Ich hab grad Freizeit.“

„Alles gut?“

„Immer“, sagte er. „Nur Organisationskram. Wenn du verletzt bist, wollen alle was. Trainer, Ärzte, Berater, Sponsoren. Jeder hat einen Plan, jeder weiß’s besser. Manchmal muss man’s leise lassen.“

„Leise ist ein Plan“, sagte Chris.

„Leise ist oft der beste Plan“, antwortete Marco, und beide schwiegen kurz. Draußen rief jemand ein Taxi, die Stimme schob sich über die Tische wie eine schmale Welle.

Der Kellner kam, fragte, ob sie noch etwas wollten. Marco hob zwei Finger. „Noch eine Runde“, sagte er und deutete auf die Gläser. „Und bring uns ein paar Oliven, wenn du welche hast.“ Der Kellner nickte, und als er ging, sah Chris, wie Marco die Bewegung des Mannes mit einem knappen Blick verfolgte. Nicht misstrauisch. Nur aufmerksam. Es fiel Chris jetzt erst auf, weil er es von sich kannte: sich zu merken, wo die Ausgänge sind, wie weit der Weg zur Theke ist, wer an der Ecke steht, der vorhin noch nicht da war. Dinge, die sich im Körper speichern, ohne dass man darüber sprechen muss.

„Du hast das drauf, was?“, sagte Marco, als hätte er Chris’ Gedankengang gehört. „Ein Zimmer lesen.“

„Berufsdeformation“, antwortete Chris. „Und… na ja. Man gewöhnt sich an Muster.“

„Gute Muster“, sagte Marco. „Besser als die schlechten.“

Die Biere kamen, die Oliven – grün, fleischig, mit einem Hauch von Knoblauch – und eine kleine Schale Salzmandeln. Sie tranken, aßen, sprachen weiter. Über die Klinik, in der Marco längst jeden Flur kannte; über den Trainingsplatz, den er nur aus der Ferne sah; über Nächte, in denen man nicht einschlafen kann, weil der Körper noch laufen will, während der Kopf schon liegt. Marco erzählte eine Anekdote aus der Kabine – sauber, harmlos –, die Chris lachen ließ. Chris erzählte von einer älteren Dame, die nach drei Wochen wieder ohne Stock ging und die Gehhilfe mit einem „Danke, reicht dann“ abgestellt hatte. „Der Blick“, sagte Marco und hob das Kinn, als sähe er sie. „Dafür macht man’s.“

Später, als die Bar voller wurde und die Musik einen Hauch lauter, schob sich das Gespräch in eine ruhigere Bahn. Das Licht draußen hatte die Farbe gewechselt – weniger Gold, mehr Metall, wie Lampen an einer Hafenstraße. In Chris wuchs das Gefühl, dass diese Stadt ihn akzeptierte. Es war kein lautes Willkommen, eher ein Schulterklopfen: Du machst das schon.

„Samstag also“, sagte er irgendwann, mehr zu sich als zu Marco.

„Samstag“, bestätigte Marco. „Ich hol dich ab. Schreib mir die Adresse nachher. Und keine Sorge – ich bring dich auch wieder nach Hause.“ Er grinste und hob das Glas, als wäre der Satz ein Versprechen.

„Du machst das oft, oder? Leute einsammeln, ihnen die Stadt zeigen?“

„Nicht oft“, sagte Marco. „Nur, wenn’s passt.“

„Und woran machst du das fest?“

„Daran, ob einer zuhören kann, ohne Antworten zu verschießen“, sagte Marco und stieß sein Glas leicht gegen Chris’. „Daran, ob er anständig trinkt und rechtzeitig auf Wasser umsteigt. Daran, ob er die Hände ruhig hat, wenn’s hastig wird.“

Chris sah auf seine Hände. Sie waren ruhig. Er lachte. „Dann bin ich wohl qualifiziert.“

„Absolut.“

Der Abend zog sich, ohne zu schleppen. Als sie schließlich aufbrachen, hatte die Luft einen Hauch von kühlem Asphalt angenommen. Leute standen in Grüppchen, rauchten, lachten, stießen Türen auf, die leise Glocken zum Klingen brachten. Marco zahlte, knapp, unauffällig. Keine Karte, immer Bar; ein kurzer Blick, ein Nicken, der Kellner verstand. Sie gingen zur Tür, und für einen Moment trafen sich ihre Spiegelbilder in der Scheibe – zwei Männer, die an diesem Abend zufällig am selben Tisch gelandet waren, und vielleicht war genau das der Punkt: Zufall, der in Rhythmus überging.

Draußen blieb Marco stehen und zog die Jacke enger. „Schick mir gleich deine Adresse“, sagte er. „Zehn Uhr am Samstag. Und mach dich locker. Der Rest passiert von allein.“

„Klingt, als hättest du einen Plan.“

„Ich habe mehrere“, sagte Marco, nicht ohne Spaß. „Aber keiner davon ist in Stein gemeißelt. Man muss nur die richtige Tür treffen.“

„Ich hab keine Ahnung, worauf ich mich da einlasse“, sagte Chris und meinte es halb ernst, halb als Witz.

„Das ist die beste Voraussetzung“, antwortete Marco.

Sie trennten sich an der Ecke. Marco schlug den Weg zur Hauptstraße ein, die Hände in den Taschen, den Kopf leicht gesenkt, als horche er auf die Vibrationen der Stadt. Chris ging die Seitenstraße hinunter, vorbei an geschlossenen Boutiquen, deren Schaufenster sich in dunklen Feldern spiegelten. Ein Fahrrad stand an einem Poller, schief, mit einem abgenutzten Ledersattel. Von irgendwoher drang das Sirenengeheul eines Krankenwagens, schrill und kurz. Ein Fenster im dritten Stock ging auf, eine Stimme rief jemandem etwas nach. Alltag, zusammengesetzt aus tausend Echos.

Er dachte an die Klinik, an die Pinwand und das „zu teuer“ neben dem Bar-Flyer. Er dachte an die Rentnerin mit dem Lavendelduft und den Triathleten mit den knappen Sätzen. Und an Marco, der sich in einem Raum bewegte, als wüsste er, was dort in fünf Minuten passieren würde. Chris mochte das. Nicht, weil es Sicherheit versprach – sondern weil es zeigte, dass jemand hinsah.

Auf dem Heimweg, die Hände wieder in den Taschen, zählte er die Schritte zwischen den Laternenpfählen, eine alte Angewohnheit aus einer Zeit, in der Warten in Bewegung leichter fiel. Er machte es nicht mehr, um die Zeit totzuschlagen; er tat es, um in einen Takt zu kommen, den er mochte. Ein Pärchen kam ihm entgegen, sie mit einem roten Schal, er mit einer Mütze, beide ineinander verkrallt, lachend. Ein Lieferfahrer führte sein Rad im Schritttempo, die Stirn feucht, als hätte er sich die Nacht über durchs Viertel gegraben. Ein Kiosk hatte noch offen, Licht zog wie eine rechteckige Zunge auf den Gehweg. Chris blieb einen Moment stehen, kaufte eine Flasche Wasser. „Langer Tag?“, fragte der Mann hinter dem Tresen. „Langer, aber guter“, sagte Chris und steckte das Kleingeld ein.

Zu Hause, eine kleine Wohnung mit Blick auf einen Innenhof, der in der Dunkelheit zu einem ruhigen Rechteck wurde, lehnte er die Stirn ans Fenster und sah in die Lichter. Er spürte, wie die Müdigkeit ihn fand, wohltuend, nicht bleiern. Aus dem Nachbarhaus kam gedämpfte Musik, eine Ballade, irgendwo jemand, der mitsummte. Chris schraubte die Wasserflasche auf, trank, legte das Handy auf den Tisch. Eine Nachricht von Marco blinkte bereits auf: „Adresse?“ Er tippte sie ein, knapp, ohne Emoticon. Die Antwort kam sofort: „Perfekt. Samstag 22:00. Dresscode: Du, nur in gut.“

Chris musste lachen. Er steckte das Handy weg und zog die Schuhe aus, ließ sie ordentlich neben der Tür stehen. In der Küche legte er die Hände an die Tischkante, spürte das Holz, die glatte Kühle. Der Raum roch nach überreifem Obst und nach etwas Metallischem vom Wasserhahn. Es gab kein Flimmern in seinem Kopf, keine unguten Kreise um die Idee von Samstag. Nur diese kleine Vorfreude, wie eine Lampe, die angeht, weil jemand die richtige Taste gefunden hat.

Im Bett hörte er die Stadt weiteratmen. Ein später Bus, der an einer Haltestelle zischte; ein Motor, der hochdrehte und wieder abfiel; Schritte im Treppenhaus, die auf der zweiten Etage abbrachen. Er dachte an die Worte, die den Tag getragen hatten: „Leise ist oft der beste Plan.“ Vielleicht war das der rote Faden, an dem er gerade entlangging, ohne es zu groß zu machen. Leise ankommen. Leise mitnehmen, was man kriegen konnte. Leise wachsen.

Am nächsten Morgen kehrte der Klinikrhythmus zurück, als hätte ihn jemand auf Pause gestellt und nun wieder auf Play gedrückt. Chris checkte die Termine, sortierte Unterlagen, bereitete Bänder vor. Er mochte das Zuhause-Gefühl, das die Routine brachte, die nüchterne Verlässlichkeit von Listen, die man abhaken konnte. Der Triathlet war ruhiger, die Rentnerin entschlossener, und mitten am Tag stand Marco wieder in der Tür, die Hände in den Jackentaschen, der Blick wach.

„Wie war die Konditorei?“, fragte er, als hätte es das Treffen nicht gegeben und er teste bloß, ob Chris denselben Laden meinte.

„Süß und bitter“, sagte Chris. „Wie’s sein muss.“

Marco grinste. „Gut. Dann machen wir am Samstag bitter ohne süß. Keine Torten.“

„Nur Bier?“

„Bier, Wasser, ein paar Orte. Lass dich führen.“

Sie arbeiteten konzentriert. Marco war an dem Punkt, an dem das Knie die Darbietung perfekt kannte, aber der Kopf sie wieder infrage stellen wollte. Chris zeichnete den Ablauf sauber vor, ließ keinen Schritt aus: Aufwärmen, isometrische Halte, vorsichtige Beugerarbeit, kontrollierte Step-ups. Der Raum war hell, klar, aufgeräumt. Ab und zu hörte man von draußen das Poltern eines Medizinballs, ein kurzes Lachen, dann wieder Stille.

Am Ende der Stunde blieb Marco einen Moment aufrecht sitzen und sah auf den Boden, als läse er dort etwas, das nur er sehen konnte. „Ich werd’s nicht verkacken“, sagte er mehr zu sich selbst als zu Chris.

„Dann verkack’s nicht“, antwortete Chris ruhig.

Marco nickte. Er nahm sein Handy, las eine Nachricht, tippte eine knappe Antwort. „Bis Samstag.“

„Bis Samstag“, sagte Chris.

Als Marco gegangen war, stand die Liege noch warm in der Mitte des Zimmers. Chris strich den Bezug glatt, schob den Hocker unter die Ablage, klickte die Lampe aus. Durch das Fenster fiel der Nachmittag in den Raum, weich wie ein Tuch. Draußen rollte ein Fahrrad vorbei, das Klingeln klang hell. Er dachte daran, wie schnell Vertrautheit entsteht und wie lange sie manchmal braucht, um sich zu zeigen. Mit manchen Menschen ging es in zwei Sätzen. Mit anderen nie.

Später, nach Schichtende, verließ er die Klinik und nahm den Weg durch den Park, der eine Abkürzung zur U-Bahn war. Kinder stellten letzte Runden auf Rollern, Eltern riefen Namen, die Luft war klar. Jemand joggte mit einem Hund, die Leine schlug wie ein Metronom. Chris setzte sich auf eine Bank, nur für eine Minute. Er sah auf seine Hände, die heute so viele Bewegungen geführt hatten, dass sie im Sitzen fast nervös wirkten, als wollten sie weiterarbeiten. Er lächelte und legte sie flach auf die Oberschenkel. „Ruhig“, sagte er in Gedanken.

Der Gedanke trug. Nicht laut, nicht groß. Nur entschieden. Samstag würde kommen, wie Nächte kommen, die etwas verschieben – nicht weil sie lauter sind, sondern weil sie den Blick umlenken. Er war bereit, sich führen zu lassen, ein Stück weit. Er hatte keine Ahnung, worauf er sich da einließ, aber eins war klar: Das Leben in der Stadt wurde gerade erst richtig spannend. Und manchmal war es genau das, was man brauchte – zwei Gläser in einer Bar, ein verabredeter Samstag, eine Handvoll Wörter, die nachhallten, wenn das Licht ausgeht.

Kapitel 3 – Summer in the City

Der Samstagabend rückte näher, und Chris stand vor dem bodenhohen Spiegel in seiner kleinen Stadtwohnung. Die Sonne war gerade untergegangen, und durch das gekippte Fenster strich milde Märzluft herein, vermischt mit Sirenen aus der Ferne, dem gedämpften Rufen aus offenen Treppenhäusern und dem Lachen von Leuten, die unten auf der Straße vorbeizogen. Das Zimmer war nichts Besonderes – ein WG-Zimmer in einer Altbauwohnung, mit knarrenden Dielen, hohen Decken und einem alten Kleiderschrank, der nach Holz und Mottenkugeln roch. Aber für Chris reichte es: ein Bett, ein Schreibtisch, ein Regal mit ein paar Büchern, die er griffbereit sortiert hatte, und ein Fenster mit Blick auf die Dächer der Stadt, über denen die Nacht wie ein weiches Tuch lag.

Er betrachtete sich im Spiegel und zupfte am Revers seines Leinenanzugs – beige, locker geschnitten, perfekt für einen Abend, der entspannt, aber stilvoll sein sollte. Das weiße Hemd darunter trug er mit zwei geöffneten Knöpfen; die schlichte Armbanduhr aus seiner Militärzeit saß wie immer genau auf dem Knochen. Er wechselte die Schuhe – erst die eleganteren, dann doch die schlichten, gut geputzten Ledersneaker, die zum Schnitt passten, ohne um Aufmerksamkeit zu ringen. Ein Fedora lag auf dem Stuhl, als Fragezeichen. „Zu viel?“ murmelte er, setzte ihn auf, neigte den Kopf seitlich, ließ den Blick einmal kritisch über die Silhouette wandern. Nein. Ein bisschen gewagt, aber Marco hatte gesagt: „Zieh was Gutes an“, und in Marcos Stimme hatte etwas gelegen, das mehr bedeutete als Kleiderberatung. Chris legte die Fingerspitzen an den Hutrand, senkte ihn einen Hauch tiefer. Nicht übertrieben, aber markant genug.

Er steckte Portemonnaie, Schlüssel, Handy ein, überprüfte den schmalen Lederriemen der Uhr, klappte das Fenster zu, bis es einrastete. Unten auf der Straße hupte es kurz und scharf – ein kurzes Signal, zwei Töne. Er lächelte unwillkürlich. Marco.

Im Flur roch es nach frisch gewischtem Linoleum und den Curryresten des Nachbarn von nebenan. Jemand lief mit schnellen Schritten die Treppe hinunter, rief „Schönen Abend!“ in ein Telefon, das schon wieder hallte, als die Haustür zuklappte. Chris zog die Wohnungstür zu, schloss sie zweimal ab und stieg die Treppe abwärts. Es war diese Vorfreude, die seinen Schritt leichter machte, als hätte jemand die Schwerkraft um wenige Prozent gedrosselt.

Vor dem Haus parkte ein schwarzer Mercedes AMG, tief, glänzend, die Fenster einen Spalt geöffnet. Aus dem Inneren wummerten leise Basslines, ein italienischer Popsong, der an Sommer an einem Platz in Bari erinnerte – Stimmen, die fröhlich sangen, ein Beat, der gleichzeitig weich und entschlossen war. Marco lehnte sich aus dem Fahrerfenster, eine Sonnenbrille auf der Nase, obwohl die Nacht längst Besitz ergriffen hatte, und pfiff anerkennend.

„Nicht schlecht, mein Freund! Du hast Stil!“, rief er, und der Tonfall mischte Spaß mit echter Anerkennung.

Chris lachte, zog die Tür auf, ließ sich in den feinen Ledersitz sinken. Der Innenraum roch nach Leder, nach etwas Citrus, nach einer flüchtigen Spur Motoröl, die man nur fühlte, wenn man es kannte. „Man gibt sich Mühe“, sagte er und zog den Gurt über die Brust. „Also, wohin geht’s zuerst?“

„Essen“, sagte Marco, legte den Gang ein und ließ den Wagen sanft aus der Parklücke gleiten. „Aber nicht irgendwo – wir gehen zum besten Italiener der Stadt. Zum ‚Don‘.“

Chris hob eine Braue. „Der heißt wirklich so?“

„Ja, Mann“, antwortete Marco und grinste, ohne die Straße aus den Augen zu lassen. „Und er gehört meinem Cousin Nico. Mach dich auf ’ne echte italienische Familienrunde gefasst.“

Die Stadt flog nicht, sie floss. Straßenlaternen setzten Perlenlichter auf den Asphalt, Schaufenster spiegelten für Sekunden den schwarzen Lack des Mercedes, verschwanden, tauchten wieder auf. Sie passierten eine Gruppe Jugendlicher mit Skateboards, die an einer Kreuzung das Blech eines Straßenschilds anlackten. Ein älterer Mann stand an einer Ecke und verkaufte Zeitungen, seine Rufe halb verschluckt vom Verkehr. Marco fuhr ruhig, mit dieser Art ökonomischer Bewegungen, die sagen: Ich kenne diese Wege, ich muss nichts beweisen. Seine Hand tippte manchmal im Takt auf das Lenkrad, Daumen gegen Speiche, Zeigefinger gegen Leder, ein eigenes Metronom.

„Also, der Don“, sagte Chris, mehr zu sich selbst.

„Keine Sorge“, entgegnete Marco. „Kein Dresscode, aber n paar Regeln. Respekt, Spaß, kein Theater. Du sitzt, du isst, du lachst – du gehörst dazu. Der Rest ergibt sich.“ Er bog in eine ruhigere Seitenstraße ein, die Lichter wurden gedämpfter, der Sound der Stadt rückte einen Meter zurück, als hätten die Häuser ihn ausgesperrt.

Hinter einer dichten Hecke aus Lorbeerbüschen, die den Lärm der Hauptstraße verschluckte, lag das Restaurant. Der „Don“ war kein überkandidelter Tempel, sondern ein kleiner Schatz: ein zweistöckiges Gebäude aus rostroten Ziegeln, große Fenster, in denen sich das warme Licht brach, und eine Terrasse, die wie ein mediterranes Zimmer in den Abend ragte. Hunderte Pflanzen in Terrakotta-Töpfen säumten die Kanten; Lichterketten spannten sich über Tischen wie leuchtende Adern, die alles mit einer goldenen Haut überzogen. Der Duft von frischem Basilikum und Knoblauch mischte sich mit Holzofen, Tomate, einem Schatten von Pfeffer. Draußen plätscherte ein kleiner Brunnen, und das Lachen der Gäste klirrte wie Besteck.

Marco stellte den Wagen in eine Lücke, die wie für ihn freigehalten wirkte, zog die Handbremse an, drehte die Musik leiser. „Bist du bereit?“, fragte er, die Hand schon am Türgriff.

„Klar“, sagte Chris und meinte es.

Im Hineingehen legte Marco Chris kurz die Hand zwischen Schulterblatt und Rücken, eine beiläufige Geste, die doch Richtung gab. Der Innenraum war rustikal, aber durchdacht: dunkle Holzbalken an der Decke, Wände mit alten Schwarzweißfotos italienischer Dörfer, einer Piazza, einem Meer, das in grobkörnigen Wellen gegen Steine lief. Hinter der Theke stand eine glänzende Espressomaschine, die zischte und dampfte, als wolle sie mitteilen, dass hier Herzblut in kleinen, starken Tassen serviert wurde.

Eine Kellnerin – schwarze Locken, Tablett voller Gläser, auf dem Arm eine kleine Narbe, die alt und vergessen aussah – huschte zwischen den Tischen hindurch und rief einem Gast etwas auf Italienisch zu, das wie ein freundlicher Tadel klang. Es war laut, aber nicht schrill: Stimmen, Gesten, Töpfe, die irgendwo in der Küche auf Stahl trafen, und ein Fernseher mit stumm geschaltetem Fußball, dessen Bild über die Theke flimmerte.

„Nico!“, rief Marco, und aus der Richtung der langen Tafel erhob sich ein Mann. Er war stämmig, hatte einen kurzen Bart, Augen mit diesem warmen, lachenden Grundton, der einen Raum sofort mit Besitz ergriff. Er kam auf Marco zu, zog ihn in eine Umarmung, die klopfte, patschte, hielt eine Sekunde länger als notwendig. „Cugino!“, sagte er und wandte sich dann an Chris. „Und du bist der berühmte Masseur. Benvenuto!“

„Chris“, sagte Chris und reichte ihm die Hand. Nicos Griff war fest, trocken. „Freut mich.“

„Setz dich, setz dich“, sagte Nico und wies zur Tafel, an der gut zwanzig Leute saßen. Hände, die Brot brachen. Hände, die mit Gabeln zeichneten. Hände, die Kinderköpfe strichen. Es war eine Aura, die ansteckend war.

Antonia, Nicos Frau, war eine zierliche Frau mit langen dunklen Haaren, die aussahen, als hätten sie dauerhaft Sonne gespeichert. Ihr Lächeln hatte etwas von einem Versprechen: Hier wird dir nichts fehlen. „Trink, sonst wirst du hier nicht ernst genommen“, sagte sie und drückte Chris ein Glas Rotwein in die Hand. Der Wein war dunkel, fast schwarz, mit einem warmen Schimmer am Rand. Er schmeckte nach Pflaume, nach etwas Erdiges, nach Eiche – wie ein Lied, das tief unten anfängt und sich dann nach oben arbeitet.