Der Tintenfischer - Wolfgang Schorlau - E-Book
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Der Tintenfischer E-Book

Wolfgang Schorlau

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Beschreibung

Vom menschenleeren Venedig zurück nach Sizilien – Commissario Morello gerät in große Gefahr. Nach dem Nr. 1-SPIEGEL-Bestseller »Der freie Hund« der zweite Fall in der Krimiserie von Wolfgang Schorlau und Claudio Caiolo Commissario Morello weiß, dass er in Sizilien nicht vor der Mafia sicher ist, der er immer wieder in die Quere gekommen ist – doch er muss alles versuchen, um eine junge afrikanische Frau zu retten. Bei der Ankunft in seiner Heimat wird er prompt verhaftet – und erkennt, welches Ausmaß Zynismus und Korruption in den staatlichen Behörden inzwischen angenommen haben. Markusplatz, Riva degli Schiavoni, Rialtobrücke – Venedig ist menschenleer in Zeiten von Corona. Commissario Morello, der aus Cefalù in Sizilien hierher versetzt worden war, hatte lange mit der Lagunenstadt und ihren Touristenmassen gehadert. Jetzt tritt die Schönheit Venedigs spektakulär hervor, doch Morello weiß nicht, ob er das wirklich genießen kann. Zusammen mit seiner Kollegin Anna Klotze ist er in der Stadt unterwegs, als sie einen jungen Mann, einen Flüchtling aus Nigeria, in den Canal Grande springen sehen. Anna kann ihn retten. Zu der Verzweiflungstat hat ihn das Schicksal seiner Freundin gebracht, die von der nigerianischen Mafia in Sizilien zur Prostitution gezwungen wird. Morello muss nach Sizilien, um die junge Afrikanerin zu befreien. Anna Klotze schließt sich ihm trotz seiner Bedenken an. Sie fahren aus Sicherheitsgründen mit einem Segelboot los und nehmen schiffsbrüchige Flüchtlinge auf. Sie legen in Marina di Palma auf Sizilien an – dort stehen trotz angeforderter Hilfe keine Krankenwagen für die entkräfteten Flüchtlinge bereit. Stattdessen wird Morello verhaftet …

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Seitenzahl: 376

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Ähnliche


Wolfgang Schorlau / Claudio Caiolo

Der Tintenfischer

Commissario Morello ermittelt in Venedig

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Wolfgang Schorlau / Claudio Caiolo

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Motto

Figuren

1. Tag

2. Tag

3. Tag

4. Tag

5. Tag

6. Tag

7. Tag

8. Tag

9. Tag

10. Tag

11. Tag

12. Tag

13. Tag

14. Tag

18. Tag

Quellen und Danksagung

Morellos Rezepte

Italienische Eigennamen und Begriffe

Inhaltsverzeichnis

Für die Freund:innen aus dem Rashomon

Inhaltsverzeichnis

La Mafia è un fatto umano e come tutti i fatti umani, ha un inizio e avrà anche una fine.

 

Die Mafia ist ein menschliches Phänomen. Und wie alle menschlichen Phänomene hat es einen Anfang und wird auch ein Ende haben.

Giovanni Falcone

Inhaltsverzeichnis

Figuren

Kommissariat
Antonio Morello,

Commissario, genannt der freie Hund, Sizilianer aus Überzeugung und Leidenschaft, wurde gegen seinen Willen aus Sizilien nach Venedig versetzt.

Anna Klotze,

Ispettrice Sostituta Commissario, 1,80 Meter groß, klug, stark; isst, wenn sie Hunger hat.

Ferruccio Zolan,

Morellos Stellvertreter, schwankt zwischen unterschiedlichen Loyalitäten.

Mario Rogello

gibt immer wieder den draufgängerischen Macho. Das ist anstrengend für alle, besonders für ihn selbst.

Alvaro Camozzo,

Bootsführer, Mitte zwanzig, kennt die Lagune wie kein anderer.

Viola Cilieni

findet alles, was Morello sucht.

Felice Lombardi,

Vice Questore in Venedig, geplagt mit einem freien Hund.

Attilio Perloni,

Questore, liebt Pressekonferenzen über alles.

Venedig
Claudio,

der Taschendieb

David Ekele,

verzweifelt

Silvia,

die neuerdings veganen Lippenstift bevorzugt

Eine resolute Krankenschwester, gebürtig aus Marseille

Elena Parisi,

Journalistin bei La Voce della Laguna

Amalia Veron,

eine der alten Damen aus San Pietro di Castello

Sizilien
Salvatore Costia,

genannt Salvo, Morellos bester Freund seit Kindertagen

Vittorio Bonocore,

Morellos väterlicher Freund und ehemaliger Vorgesetzter

Vincenzo Manera,

Rechtsanwalt mit einem berühmten Klienten

Oni Idowu,

Davids Freundin

Kezia

kommt aus Benin-Stadt. Sie wollte als Au-pair nach Europa.

Yola

stammt aus einem Dorf in der Nähe von Sapele, südlich von Benin-Stadt. Sie wurde mit einem Zauber belegt.

In Abwesenheit und doch immer präsent: Francesco Domenico Marino,

der Boss der Bosse

Nebenfiguren
Calogero Prenzano,

Minister für den Süden und den territorialen Zusammenhalt Italiens, gebürtig aus Piazza Armerina, Sizilien

Giuseppe Caputo,

Polizist und Opfer der Mafia

Michele Macillo,

Bootsbesitzer, Morellos Freund aus alten Tagen bei der Polizei in Cefalù

Inhaltsverzeichnis

1. Tag

Freitag, 15. Mai

Was für ein Bild!

Er kennt diesen Anblick seit zwei Monaten und trotzdem – jedes Mal bleibt er verblüfft stehen, als sähe er eine neue, eine surreale Realität.

Menschenleer liegt der Markusplatz vor ihm in der prallen Vormittagssonne. Niemand ist zu sehen, nicht ein einziger Tourist, nicht einmal ein Kellner, der aus dem Cafè Florian Cappuccini und die legendären Biscotti Zaletti aufrecht und voller Würde zu den wartenden Gästen trägt. Kein eiliger Priester hastet zur Basilika di San Marco. Selbst die Tauben, die sonst hier zu Hunderten gurren und flattern, haben den Platz verlassen. Einer der meistbesuchten Orte Europas – nun ist er ausgestorben und leer.

Die Ispettrice Sostituta Commissario Anna Klotze biegt gerade um die Ecke des Sotoportego dei Dai. Er forscht in ihrem Gesicht nach einem Ausdruck ähnlicher Überraschung, doch ihr Blick schweift kühl über den Platz, dann lächelt sie und schwenkt eine Papiertüte.

»Haben Sie Appetit, Commissario?«, fragt Anna Klotze. »Cornetto alla crema.«

»Allerdings.«

Anna Klotze zieht ein Hörnchen aus dem Papier.

»Noch backfrisch.«

Sie reicht Morello das Cornetto.

Der Commissario zieht den Duft tief durch die Nase ein. Ein perfektes Cornetto. Braun. Knusprig. Duftend. Herrlich.

»Hm«, knurrt Morello, öffnet den Mund und schließt genüsslich die Augen. »Danke, Anna. Ich merke erst jetzt, wie hungrig ich bin.«

Doch statt ihm eine gut gelaunte Antwort zu geben, schreit sie laut und schrill.

Ehe er begreift, was gerade geschieht, fällt etwas aus dem Himmel direkt auf ihn zu. Er wendet sich instinktiv zur Seite und reißt beide Arme hoch, um seinen Kopf zu schützen. Dicht an seinem Gesicht schießt ein länglicher weißer Körper vorbei und stößt einen wütenden Schrei aus.

»Eine Möwe!«, ruft Anna Klotze und lacht erleichtert. »Sie wollte Ihnen das Cornetto klauen.«

Morello sieht dem Vogel nach, der sich verärgert in die Luft schraubt.

Er betrachtet verblüfft das gerettete Cornetto.

»Sie hat Hunger«, sagt er. »Keine Touristen, die etwas Essbares fallen lassen, keine Fischer, deren Fang sie plündern können, keine überfüllten Abfalleimer, keine herumliegenden Mülltüten. Sie hat wahrscheinlich schon seit einigen Tagen nichts gefressen. Mein Cornetto kam ihr bestimmt vor wie ein Geschenk des Himmels.«

»Sie haben blitzschnell reagiert«, sagt Anna Klotze und beißt in ihr Cornetto. »Es war knapp. Die Möwe hat Sie bestenfalls um einen Zentimeter verpasst.«

Morello nickt und sieht zu dem Vogel, der missmutig über dem Markusplatz seine Runden dreht und seine Verärgerung über den gescheiterten Angriff in heiseren Schreien in die Luft brüllt.

»Die Möwe hat größeren Hunger als ich«, sagt er.

Er geht einige Schritte auf die freie Fläche des Markusplatzes hinaus und teilt das Cornetto in zwei Hälften. Eine legt er sorgsam auf den Boden. Hoch über ihm krächzt der Vogel. Anna Klotze sieht ihm mit gerunzelter Stirn zu. Sie wischt sich die Finger an einer Serviette ab.

Morello geht einige Schritte zurück, und Anna Klotze folgt ihm. Die Möwe stößt einen rauen Schrei aus, lässt sich im Sturzflug auf das halbe Cornetto fallen, packt es mit dem Schnabel und hebt sich flügelschlagend in die Luft.

»Wohl bekomm’s«, sagt Morello, schiebt sich vergnügt die zweite Hälfte des Hörnchens in den Mund und bemerkt nicht, wie Anna Klotze ihn nachdenklich ansieht.

Das Coronavirus hat Italien heimgesucht wie eine Neuauflage der Pest. Die Regierung hat eine strenge Ausgangssperre verhängt, unter der das Land seit Wochen ächzt und stöhnt. Die Menschen dürfen ihre Häuser ausschließlich zum Einkaufen verlassen – und auch dies nur zum nächstgelegenen Geschäft – oder einmal am Tag zum Ausführen ihrer Hunde. Morello hat es gehasst, sich jeden Morgen den Weg zum Kommissariat durch dicht gedrängte Touristenschwärme zu bahnen, doch in der leeren Stadt fühlt er sich fremd wie in einem absurden Film.

Antonio Morello und Anna Klotze haben ihre Uniformen angezogen, die Corona-Schutzmaske in die Jackentasche gesteckt. Sie laufen Patrouille durch die stille Stadt, um die Ausgangssperre zu kontrollieren, Strafzettel zu verteilen an jene, die es in ihren Wohnungen nicht mehr aushalten, und um die spezifische Corona-Kriminalität zu bekämpfen, die sich auch in Venedig ausgebreitet hat.

Gestern hätten sie beinahe die Bande von Einbrechern festgenommen, hinter der sie seit Wochen her sind. Es sind vier jüngere Kriminelle, die an Häusern und Wohnungen älterer Bewohner klingeln. Sie behaupten, sie würden im Auftrag des Roten Kreuzes neue Gesichtsmasken liefern, ohne die in Zukunft niemand mehr einkaufen dürfe. Wenn die alten Leute die Ganoven in die Wohnung lassen, werden sie zur Seite gestoßen, festgehalten und ausgeraubt. Einer neunundsiebzigjährigen Dame gelang es, mit ihrem Handy die Polizei zu alarmieren, doch obwohl Morello und sein Team sofort aufs Polizeiboot stürmten, kamen sie zu spät.

Doch in drei Tagen, am kommenden Montag, wird die strenge Ausgangssperre beendet. Venedig wird wieder atmen können. Wochenlang waren in ganz Italien Schulen, Theater, Kinos geschlossen. Das Virus wütete und kostete 31.610 Italienern das Leben. Nun sinkt die Zahl der Infizierten, und jeder hofft, dass die Pandemie bald vorüber ist.

Anna Klotze deutet auf die andere Seite des Markusplatzes. Ein älterer Mann tritt vorsichtig unter den schattigen Arkaden hervor. Er zieht einen sich sträubenden struppigen Hund hinter sich her. Doch das Tier mag nicht hinaus in die Sonne. Es stemmt die Vorderbeine auf den Boden und verweigert jeden Schritt. Die Zunge hängt seitlich aus dem weit geöffneten Maul heraus, und trotz der großen Entfernung glaubt Morello das Hecheln bis ans andere Ende des Platzes zu hören. Sein Herrchen zieht an der Leine, aber der Hund ist erschöpft. Er mag keinen Schritt mehr tun.

Der Mann hebt den Kopf und sieht die beiden Polizisten. Abrupt bleibt er stehen. Dann setzt er sich in Bewegung, zieht an der Leine und schleift den Hund erbarmungslos einige Schritte hinter sich her. Doch das Tier stemmt alle vier Beine auf den Boden. Der Mann gibt auf, nimmt den struppigen Kerl auf den Arm und eilt zurück in den Schatten der Arkaden und verschwindet. Es ist nicht der erste Spaziergang des Tieres am heutigen Tag, und vermutlich wird es noch lange nicht der letzte sein. Hunde sind in Zeiten der Pandemie begehrt, denn das Ausführen von Haustieren ist einer der wenigen Gründe, derentwegen die Bewohner ihre Häuser und Wohnungen verlassen dürfen. Hundebesitzer stehen hoch im Kurs. Einige von ihnen verleihen oder vermieten ihre vierbeinigen Freunde, die nun täglich mehrmals ausgeführt werden, so wie dieses struppige Exemplar, das bereits am Vormittag vom vielen Gassigehen erschöpft scheint.

Morello sieht Anna Klotze an, die Mann und Hund stirnrunzelnd beobachtet. Ihre Dienstanweisung ist eindeutig: Sie sollen den Mann kontrollieren, um festzustellen, ob er der rechtmäßige Eigentümer des Tieres ist. Doch Morello schüttelt leicht den Kopf. Er hat keine Lust, den Mann um seine Papiere und die Besitzurkunde für den Hund zu bitten. Am nächsten Montag werden die Venezianer wieder ihre Häuser verlassen und sich frei in der Stadt bewegen können. Er gibt Anna Klotze ein Zeichen, sie lächelt, nickt, und so schlendern sie zum Ausgang des Markusplatzes.

Als sie den Campo San Bortolomeo erreichen, bleibt Anna Klotze kurz vor dem Monument Carlo Goldonis. Die Eisdiele hat geschlossen, ebenso wie das Schmuckgeschäft und der Laden mit den Ray-Ban-Sonnenbrillen an der Ecke. Die Banken haben die Türen verrammelt, die Modegeschäfte auch. Nur Goldoni lächelt freundlich von seinem Sockel auf die ausgestorbene Szenerie herunter.

»Schau mal«, sagt Anna Klotze zu Morello, »wie er lacht, wie schelmisch und gut gelaunt er aussieht.«

»Vermutlich war er kein Polizist.«

»Nein, ein Schriftsteller.«

»Kein Wunder, dass er gut gelaunt ist«, knurrt Morello.

»Er hat eine ganze Reihe von Theaterstücken geschrieben, vor allem Komödien.«

Plötzlich hebt Morello den Kopf.

»Was war das?«, fragt er Anna Klotze.

Sie sieht ihn irritiert an. »Was war was?«

»Hast du es nicht bemerkt? Da war jemand. Ein Schatten. Er ist zur Rialtobrücke hinaufgelaufen.«

»Da war niemand«, sagt sie.

Morello zuckt mit den Schultern. »Vermutlich jemand, der es in seiner Wohnung nicht mehr ausgehalten hat. Schleicht sich heimlich auf die Straße. Dann sieht er zwei Polizisten in Uniform und rennt weg. Lassen wir ihn rennen. Ab Montag darf er sich wieder frei bewegen.«

»Wenn er eine Schutzmaske trägt.«

»Wenn er eine Schutzmaske trägt«, bestätigt Morello.

»Aber ich glaube, Sie haben sich geirrt«, sagt Anna Klotze.

»Dann lass uns nachsehen.«

Sie gehen die wenigen Schritte von der Salizada Pio X zum Aufgang der Rialtobrücke. Die geschlossenen grauen Rollläden der Geschäfte verbreiten eine Tristesse, die Morello an dieser Stelle, einem der meist fotografierten Orte der Welt, noch nie gespürt hat.

»Wohin ist Ihr angeblicher Schatten verschwunden?«

»Vielleicht habe ich mich doch getäuscht.«

Anna Klotze geht einige Schritte nach links zu dem schmaleren Treppenaufgang.

»He«, schreit sie plötzlich. »Was machen Sie da?«

Dann rennt sie los.

Mit einigen schnellen Schritten ist Morello dort, wo Anna Klotze eben noch stand. Er sieht, wie sie drei Stufen mit einem Satz nehmend die Treppe hochspringt. Oben auf dem Scheitelpunkt der Brücke steht ein dunkelhäutiger junger Mann, reißt ein Stück Klebeband von einer Rolle ab und befestigt etwas an der Außenseite der Brüstung. Sein Blick flackert, als er die Polizistin kommen sieht. Mit einer Hand stützt er sich ab, schwingt sich auf das Geländer der Brücke und hebt die Arme wie ein Prediger. Er ruft etwas auf Englisch, das Morello nicht versteht.

Dann springt er.

»Cazzo – nicht schon wieder!«, stöhnt Morello und rennt los.

Während er die Treppe hinaufstürmt, zerrt sich Anna Klotze die Uniformjacke vom Leib und löst mit einem Griff die Schnalle ihres Gürtels. Als er neben ihr ankommt, drückt sie dem verblüfften Morello den Gürtel mit Pistole, Handschellen und der Patrone mit Pfefferspray in die Hand, beugt sich über die Brüstung und sieht nach unten in den Canal Grande. Auch Morello schaut hinunter. Das Wasser ist spiegelglatt. Kein einziges Boot ist zu sehen. Kein Vaporetto, kein Wassertaxi, nicht einmal eine Gondel.

Nur direkt unter ihnen dehnen sich Kreise im Wasser, genau an der Stelle, an der der junge Mann aufgeschlagen sein muss.

Mit einem platschenden Geräusch schnellt sein Kopf aus dem Wasser. Der Junge atmet schnell, doch er macht keine Schwimmbewegung. Sein Kinn versinkt im Wasser, dann die Nase, die Augen und schließlich ist sein Kopf verschwunden. Anna Klotze streift sich die Stiefeletten ab. Dann stemmt sie sich auf die Brüstung.

»Schauen Sie nicht so komisch«, sagt sie. »Rufen Sie ein Sanitätsboot.«

Mit zwei Fingern hält sie sich die Nase zu und springt.

Morello starrt in das aufspritzende Wasser. Soll er auch springen? Doch er erinnert sich an Anna Klotzes Aufforderung und zieht sein Handy aus der Tasche, alarmiert die Zentrale und fordert ein Rettungsboot an. Während er telefoniert, beugt er sich über die Brüstung. Gerade taucht Anna Klotze wieder aus dem Wasser auf, atmet tief ein und aus, sieht sich um und verschwindet erneut.

Morello sieht nun das Transparent, das mit Klebestreifen an der Brücke befestigt ist. Er beugt sich vor, kann es aber nicht lesen. Er greift nach dem Klebeband und löst es ab. Dann zieht er es auf die Brücke. Es ist eine Papierbahn, auf der mit großen Buchstaben geschrieben ist: Immigrant without help: Suicide now! Einwanderer ohne Hilfe: Selbstmord jetzt!

Annas Kopf taucht erneut auf. Sie atmet heftig ein und aus.

»Haben Sie ihn gesehen?«, ruft sie ihm zu.

»Cazzo – nein!«, brüllt Morello zurück.

Ihr Kopf verschwindet wieder unter der Wasseroberfläche.

Kurz danach taucht sie fünf Meter entfernt wieder auf. Sie hat den leblos wirkenden Körper unter der Schulter gepackt und zieht ihn mit ein paar Schwimmstößen in Richtung Ufer. Morello sieht, wie der Junge die Augen aufreißt und plötzlich um sich schlägt. Er will nicht gerettet werden. Doch er hat wenig Kraft. Er klammert sich an Anna Klotze, zieht sie mit sich hinunter, und plötzlich sind beide unter der Wasseroberfläche verschwunden.

Morello knöpft hastig seine Uniformjacke auf und reißt sie sich vom Leib. Dann kniet er sich hin und öffnet die Schnürsenkel.

Doch da taucht Anna Klotze wieder auf. Sie hält den widerstrebenden Jungen mit sicherem Griff und zieht ihn auf dem Rücken schwimmend zum Ufer.

Morello nimmt Anna Klotzes Jacke, Gürtel und ihre Stiefeletten und läuft mit offenen Schuhen die Treppe hinab zum Riva del Ferro.

Bis zu dem hölzernen Bootssteg sind es nur ein paar Meter.

»Hierher«, ruft er seiner Kollegin zu. Als sie den Steg erreicht, reicht er ihr eine Hand. Gemeinsam ziehen sie den Jungen aus dem Wasser und legen ihn auf den Boden. Morello greift zu dem Kragen des Hemdes und reißt es auf. Die Knöpfe spritzen nach rechts und links davon, als wollten sie fliehen.

Anna Klotze wirft sich schwer atmend auf den Rücken und schließt die Augen.

»Lebt er?«, fragt sie.

Morello sieht, wie der Junge hustet und Wasser ausspuckt.

»Gerade so. Wie geht es dir?«

Sie richtet sich auf und schüttelt den nassen Kopf. Ihre schwarzen langen Haare fliegen hin und her.

»Vor ein paar Minuten ging es mir noch besser«, sagt sie und lächelt.

Morello dreht den Körper des jungen Mannes in eine stabile Seitenlage, so wie er es gelernt hat. Der Junge starrt Morello mit großen Augen an. Auf seiner Brust sieht der Commissario ein Medaillon, das mit kunstvollen Motiven verziert ist.

Dann hören sie endlich die Sirene des Rettungsbootes.

Zwei Ärzte springen ans Ufer und beugen sich über den Jungen. Ein Sanitäter reicht Anna Klotze eine braune Decke.

»Wir nehmen Sie am besten auch mit ins Krankenhaus«, sagt er.

»Auf keinen Fall! Ich bin nass, aber ansonsten okay.«

Sie wickelt sich in die Decke.

»Der Mann ist wach und bei Bewusstsein. Allerdings ist er sehr schwach«, sagt einer der Ärzte.

Die Sanitäter bringen eine Trage und heben den jungen Mann vorsichtig darauf. Kurz danach legt das Rettungsboot ab.

Anna reicht Morello die Decke und legt sich den Gurt mit Pistole und Handschellen um. Sie schlüpft in ihre Stiefeletten. »Wenigstens die sind trocken«, seufzt sie.

Sie laufen ein paar Meter in Richtung Haltestelle Rialto, Anna eine nasse Spur hinter sich lassend. Bei jeder Bewegung gibt ihre Uniform merkwürdig quietschende Geräusche von sich.

»Einen Moment«, sagt Anna Klotze. Sie geht über den schwankenden Steg auf das Wartehäuschen des Vaporettos zu. Morello folgt ihr.

Er sagt: »Du hättest mir sagen können, dass du ins Wasser springen willst. Das hätte ich ja auch machen können. So stand ich da wie ein Depp und wusste nicht, was ich …«

Er schweigt abrupt. Anna Klotze zwängt sich aus ihrer nassen Uniformjacke. Dann knöpft sie ihre weiße Bluse auf und lächelt Morello an.

»Commissario, bei allem Respekt, aber das ist eine dumme Bemerkung. Es musste schnell gehen.«

Sie wirft die nasse Bluse auf den Holzboden und beginnt ihre Hose aufzuknöpfen.

Wo soll er jetzt hinschauen? Vor ihm zieht sich seine Kollegin gerade die völlig durchnässte Uniformhose von den Beinen, richtet sich auf und steht nun in Slip und BH vor ihm. Seine Gedanken rasen: Schau woanders hin, es ist unangemessen, sie anzustarren. Guck auf den Boden. Guck auf den Kanal, wie ein verdammter Tourist, schau in die Luft. Mach irgendetwas, aber starre diese schöne Frau nicht so an.

Er versucht den Blick zu senken, den Kopf zu wenden, mobilisiert alle Kraft – und scheitert. Er steht vor ihr, starrt sie an und denkt: Hoffentlich sperre ich meinen Mund nicht allzu weit auf.

Er räuspert sich und sagt mit brüchiger Stimme: »Ja, ich weiß … ich wollte nur sagen, dass ich mir Sorgen gemacht habe … Um dich …«

Anna Klotze bückt sich und hebt die nasse Uniformhose auf und wringt sie aus. Morello schaut ihr fasziniert zu.

»Danke. Wussten Sie nicht, dass ich gut schwimmen kann?« Anna dreht sich mit selbstverständlicher Lässigkeit um, steht jetzt vor Morello und wartet.

Sie ist unglaublich erotisch. Hochgewachsen, trainiert. Aphrodite, denkt er, die Schaumgeborene. Ein perfekter Körper. Was für ein Busen.

»Commissario? Hallo? Ich brauche die Decke.«

»Was?« Morello wacht plötzlich auf.

»Die Decke, die Sie in Ihrer Hand halten. Mir ist kalt.«

»Ah, sì. Certo.«

Morellos Gesicht wird warm. Er errötet wie ein Schuljunge. Auch das noch. Er geht zu ihr und legt ihr vorsichtig die Decke um die Schultern.

Anna setzt sich auf die Bank. »Und? Was machen wir jetzt?«

»Ich gehe ins Kommissariat und schreibe einen Bericht über diesen Selbstmordversuch. Du bist bestimmt müde und brauchst eine neue Uniform. Ich lasse dich von Alvaro Camozzo abholen. Geh nach Hause und ruh dich aus.« Morello holt sein Handy heraus.

»Nein, Commissario. Ich bin nicht müde. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, will ich auch ins Kommissariat. Dort habe ich eine Ersatzuniform.«

»Bist du dir sicher?«

»Ja. Mir geht es gut.« Anna lächelt den Kommissar an und wischt sich eine nasse Strähne aus dem Gesicht.

Im Kommissariat hat seine Sekretärin Viola Cilieni für Anna Klotze eine große Tasse Tee gebrüht. Vor Morello stellt sie einen Espresso doppio auf den Besprechungstisch. Sie setzen sich.

Morello zieht seine Mund- und Nasenmaske herunter und trinkt genüsslich seinen Kaffee. Anna – in einer trockenen Uniform – trägt wie alle Polizisten im Kommissariat eine Maske mit dem Symbol der Polizia di Stato.

Viola Cilieni: »Signor Commissario, der Signor Vice Questore wartet auf Sie. Ihren Bericht hat er bestimmt schon gelesen.«

»Danke, Viola. Der Kaffee schmeckt immer noch hervorragend, auch in der Coronazeit.«

Vor der Bürotür glänzt das Namensschild derart, als würde der Chef es jeden Tag mit dem Ärmel seiner Uniform polieren, sorgfältig und sicherlich auch stolz: Felice Lombardi. Vice Questore.

Er klopft an die Tür.

»Avanti!«, ertönt Lombardis kräftige Stimme.

Morello tritt ein. »Buongiorno, Signor Vice Questore.«

»Buongiorno, Commissario, setzen Sie sich.« Auf seinem aufgeräumten Schreibtisch steht das schwarze Telefon, und daneben liegt Morellos Bericht. Morello setzt sich und beobachtet den Vice Questore. Er trägt auch eine Schutzmaske, welche den gestutzten Bart vollständig bedeckt.

»Geht es Anna Klotze gut?«

»Ja, Signor Vice Questore. Sie ist eine sehr gute Schwimmerin. Übrigens – mir geht es auch gut.«

Lombardi steht langsam auf und geht zum Fenster. Er zieht die Maske runter, klopft eine Zigarette aus der Schachtel und zündet sie an. »Ist mir nicht entgangen. Ich habe Ihren Bericht gelesen. Haben Sie eine Ahnung, warum dieser Afrikaner ins Wasser gesprungen ist?«

Lombardi pustet den Rauch aus dem Fenster.

»Ich glaube schon.«

»Mein Gott, erzählen Sie endlich.«

»Der Junge hat ein Transparent aufgehängt. ›Immigrant without help: Suicide now!‹ Er wollte sich umbringen, Signor Vice Questore.«

Lombardi wirft die Zigarette aus dem Fenster und schließt es. Dann zieht er die Schutzmaske hoch und setzt sich an seinen Schreibtisch. »Du meinst, er wollte sich umbringen wie der andere Afrikaner?«

»Sì, Signor Vice Questore. Er wollte sich umbringen wie Pateh Sabally.«

Der Fall Pateh Sabally hatte das komplette Kommissariat, ganz Venedig und ganz Italien beschäftigt. Ein junger Flüchtling hatte sich am 22. Januar 2017 vor Hunderten Touristen in den Canal Grande gestürzt. Er ignorierte die Rettungsringe, die ihm zugeworfen wurden, und ertrank. Sein Tod wurde von unzähligen Handykameras aufgenommen, die Videos kursieren bis heute im Netz.

Lombardi schüttelt den großen Kopf. »Das verstehe ich nicht. Der andere Afrikaner … Sabally, hat sich ins Wasser geworfen vor unzähligen Touristen. Er hat Öffentlichkeit für seinen Selbstmord gewollt und bekommen. Aber diese Sache? Welchen Sinn sollte das haben? Venedig ist menschenleer. Niemand konnte ihn sehen. Wenn ihr nicht zur Stelle gewesen wärt: Kein Mensch hätte diesen Selbstmord bemerkt.«

Das schwarze Telefon klingelt. Lombardi sieht auf die Anzeige. Er rollt mit den Augen.

»Der Chef«, flüstert er. »Das war ja klar. Auf diesen Anruf habe ich schon gewartet.«

Er atmet tief durch und drückt den Freisprechknopf am Telefon.

»Guten Tag, Signor Questore.«

»Guten Tag? Sagten Sie ›Guten Tag‹? Ein Scheißtag ist das!«, brüllt es aus dem Apparat.

Das Geschrei des Questore Perloni klingt in Morellos Ohren wie das Gebrüll von Sergeant Hartman in Stanley Kubricks Film »Full Metal Jacket«.

»Es ist wieder passiert! Die ganze Welt sieht zu, wie dieser Idiot ins Wasser springt und sich in unserer Stadt umbringen will!«

»Signor Questore, entschuldigen Sie, aber ich verstehe nicht, was Sie meinen. Auf der Rialtobrücke waren keine Touristen und auch keine Venezianer, die Fotos geschossen oder Videos aufgenommen haben, wie bei dem Fall des Pateh Sabally. Es hat also niemand …«

»Wo leben Sie, Lombardi? Auf dem Mond? In der Steinzeit oder was? Ich sehe gerade ein Video auf meinem Computer! Es läuft auf YouTube und hat Tausende Aufrufe – bis jetzt!«

»Ein Video? Woher? Wieso? Signor Questore …«

»Woher? Wieso?«, äfft Perloni den Vice Questore nach. »Von einer Webcam. Webcam, Lombardi – schon mal gehört? Eine Webcam, die vom Palazzo Bembo auf die Rialtobrücke gerichtet ist! Sie überträgt 24 Stunden; permanent! Webcam heißt das! Man sieht, wie dieser Afrikaner alle Zeit der Welt hat, um sein Transparent auszurollen, es aufzuhängen und ins Wasser zu springen, bevor der Commissario und seine Assistentin sich komplett lächerlich machen!«

Auf Lombardis Stirn bilden sich die ersten Schweißperlen.

»Bei allem Respekt, Signor Questore, der Commissario und Anna Klotze haben den Jungen gerettet …«

»Blamiert sind wir trotzdem. Das hätte niemals passieren dürfen! Wie dieser Morello auf der Brücke steht und ahnungslos in die Webcam schaut. In aller Ruhe das Transparent entfernt und es erst mal gründlich studiert, als müsste er erst noch lesen lernen. Die ganze Welt lacht über uns. Und überhaupt: Wie kam dieser Neger nach Venedig? Und wie kann es sein, dass er durch Venedig mit einem Transparent in der Hand läuft, als wäre es ein Festtag? Wo waren unsere Polizisten? Schauen höchst interessiert zu, wie dieser Kerl unsere Stadt in Verruf bringt. Haben Sie gesehen, wie dieser Morello mit den Stiefeletten der Polizistin in der Hand aus dem Bild tänzelt, als wäre er schwul? Tausende Aufrufe, Lombardi. Haben Sie vergessen, dass der Lockdown am Montag endet? Dass bald wieder Touristen kommen? Haben Sie vergessen, dass in unserer wunderschönen Stadt immer noch die Corona-Betrüger frei herumlaufen, die sich als Ärzte oder Gesundheitspersonal ausgeben, sich mit diesem Trick in die Wohnungen älterer Leute einschleichen, um sie dann auszurauben? Und dann passiert zu allem Überfluss noch das! Ich ertrage diesen Morello nicht länger. Dieser Versager! Ich will diesen Sizilianer nicht mehr sehen. Am liebsten würde ich ihn suspendieren. Aber dazu reicht sein Fehlverhalten wohl nicht.«

Lombardi sieht Morello an und rollt mit den Augen.

»Oder?«, schreit es aus dem Telefon.

»Oder was?«, fragt Lombardi verwirrt.

»Lombardi, stehen Sie auf der Leitung? Das Fehlverhalten! Des Sizilianers! Reicht das für eine Suspendierung? Oder nicht?«

»Signor Questore, ich glaube nicht. Das würde bei der Presse schlecht ankommen. Immerhin haben meine beiden Beamten das Leben des jungen Mannes gerett…«

»Die Presse! Da haben Sie recht. Aber ich will diesen Kerl hier nicht mehr sehen. Melden Sie jeden kleinen Fehler, der dem Sizilianer unterläuft. Haben Sie verstanden?«

»Ich habe verstanden.«

»Mal sehen, ob ich ihn nicht suspendieren kann. Vor allem aber will ich auf keinen Fall, dass das zu einer Gewohnheit bei den Flüchtlingen wird. Sich hier in aller Öffentlichkeit das Leben zu nehmen. Das muss aufhören.«

»Wir tun, was wir können, Signor Questore.«

»Nun gut. Nun gut. Wir werden sehen.«

Es knackt in der Leitung.

Lombardi zieht ein Taschentuch aus der Hose und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Er sieht aus wie ein Boxer, der mit einem rechten Haken auf die Bretter geschickt worden ist.

Die beiden Männer schweigen.

»Der Neger«, sagt Morello. »Hat er das tatsächlich gesagt: der Neger? Er hat nicht gesagt: Gut, dass ihr einem jungen Mann das Leben gerettet habt.«

Lombardi steht auf, läuft zum Fenster und wieder zurück.

Morello: »Ich verachte diesen Rassisten. Ihn interessiert das Leben des jungen Mannes nicht. Nur der Ruf der Stadt zählt.«

Lombardi setzt sich wieder. Er zieht die Tastatur heran und tippt mit zwei Fingern. »Komm mal her. Sieh es dir an.«

Morello steht auf und stellt sich hinter den Vice Questore. Auf dem Bildschirm sieht er gerade noch, wie der junge Mann springt. Dann taucht Anna Klotze auf. Sie sehen ihr zu, wie sie den Gürtel ablegt. Morello erscheint mit fragendem Gesicht. Sie drückt dem immer noch verblüfft dreinschauenden Commissario den Waffengürtel in die Hand.

»Besonders kompetent erscheint Ihr Gesichtsausdruck in diesem Augenblick tatsächlich nicht«, sagt der Vice Questore.

Anna Klotze zieht die Stiefeletten aus und drückt sie Morello in die Hand. Dann springt sie von der Brücke. In dem Film scheint Morello davon nicht sonderlich beeindruckt. Er telefoniert und zieht dann seelenruhig das Transparent von der Brücke und liest es. Schließlich hebt er Anna Klotzes Stiefeletten auf und verschwindet aus dem Bild.

Die Kommentare unter dem Film sind nicht gerade schmeichelhaft.

»Jesus und Maria – und das ist unsere Polizei«, schreibt ein gewisser Okiedokie23.

»So ein Penner«, kommentiert TorodaVerene8.

Lombardi schaltet den Rechner aus.

»Au weia. Schauspieler werden Sie in diesem Leben nicht mehr, Morello«, sagt der Vice Questore.

»Das war auch nie meine Absicht.«

Lombardi kratzt sich am Kopf.

»Er will mich tatsächlich suspendieren, Signor Vice Questore?«

Lombardi steht auf und geht wieder zum Fenster. Er öffnet es und atmet tief durch.

»Seien Sie vorsichtig, Commissario. Den Questore zum Feind zu haben, erhöht die Freude an der Arbeit nicht.«

Morello steht auf. »Sie wissen genau, weshalb der Questore mich bestrafen will. Sie wissen, dass er mich nicht leiden kann. Im Fall Grittieri hat er schon einmal versucht, meine Ermittlungen zu behindern. Diesmal lasse ich es nicht zu, dass er meine Ermittlungen ruiniert! Cazzo!«

Lombardi zieht die Augenbrauen hoch. Er dreht sich zu Morello und schaut den Kommissar mit großen Augen an. »Welche Ermittlungen? Sie haben schon genug zu tun mit den Corona-Betrügern. In dieser Sache scheint es nicht voranzugehen.«

Er geht an seinen Schreibtisch und setzt sich wieder. »Von welchen Ermittlungen reden Sie also, Commissario?«

Morello sagt: »Dieser Junge ist wahrscheinlich kaum zwanzig Jahre alt. Ich will wissen, warum er sich umbringen wollte. Was steckt dahinter? Wo kommt er her? Wie kam er nach Venedig? Was ist passiert, dass er so eine extreme Entscheidung getroffen hat?«

»Denken Sie an den Fall Pateh Sabally, Morello. Wir sind damals nicht weit gekommen mit unseren Ermittlungen.«

»Erfolgreicher Suizid. Motiv, soweit ich weiß: Protest gegen seine Lebensbedingungen in Italien. Ertrunken vor den Augen Hunderter Touristen. Und nun haben wir eine Nachfolgetat. Nur dank des mutigen Einsatzes von Anna Klotze beklagen wir diesmal keinen Toten. Egal, was die da«, er weist mit dem Zeigefinger auf den dunklen Bildschirm, »dazu sagen.«

Vice Questore Lombardi öffnet eine Schublade und zieht eine Akte heraus. Er legt sie sorgfältig vor sich auf den Schreibtisch und schlägt sie auf. Mit dem Ärmel fährt er vorsichtig über die erste Seite und glättet sie.

»Pateh Sabally«, liest er vor. »2015 kam er als Asylsuchender aus Gambia im Aufnahmezentrum für Migranten in Pozzallo in Sizilien an. Das kennen Sie vermutlich.«

Morello nickt. »Ein sogenannter Hotspot. Finanziert von der Europäischen Union. Es liegt 30 Kilometer südöstlich von Ragusa. Ich kenne es gut aus meiner Zeit in Sizilien. Es gab Skandale …«

Lombardi unterbricht ihn: »Dort hat Sabally aus humanitären Gründen die Erlaubnis bekommen, das Lager zu verlassen, und so ist er aus Sizilien ausgereist. Er ist nach Mailand gegangen. Was er dort gemacht hat, wissen wir nicht. Wovon er dort gelebt hat – wir wissen es nicht. Unseren Kollegen in Mailand ist er nie aufgefallen. Aber er war da! Doch wir wissen nicht, was dort passiert ist. Der einzige Hinweis war das Ticket Mailand-Venedig, das wir nach seinem Tod in seinem Rucksack gefunden haben.«

»Ich kenne die Fakten, Signor Vice Questore. Ich habe die Ermittlungsakten gründlich studiert.«

»Einen Pass haben wir gefunden und ein paar Euros. Mehr nicht.«

Lombardi blättert in der Akte.

»Unsere Gerichtsmedizinerin, Dottoressa Luisa Gamba, hat die Autopsie durchgeführt und den Tod durch Ertrinken festgestellt. Keine Drogen, kein Alkohol im Blut, kein plötzlicher Herzstillstand.«

»Er war 22 Jahre alt, Signor Vice Questore.«

Lombardi seufzt.

Morello sagt: »Der junge Mann, der jetzt im Krankenhaus liegt, lebt zum Glück. Wir können mit ihm reden und vielleicht erfahren, was hinter diesem Drama steckt. Geben Sie mir ein paar Tage Zeit, Signor Vice Questore.«

Lombardi überlegt kurz.

»Perloni verlangt, dass sich der Suizidversuch nicht wiederholt. Vernimm den Mann, aber bitte: Leg den Covid-Betrügern das Handwerk. Vor allem: Gib dem Questore keine weitere Gelegenheit, dir die Dienstmarke abzunehmen. Und jetzt verschwinde.«

Morello steht auf. »Noch eine kleine, aber wichtige Sache, Signor Vice Questore. Sie hatten mir zugesagt, dass Anna Klotze meine Stellvertreterin wird. Sie erinnern sich, damals, bei meinem ersten Fall …«

»Ich erinnere mich, Morello.« Lombardi seufzt. »Das ist nicht so einfach. Ferruccio Zolan ist Vice Commissario. Anna Klotze ist nur Ispettrice Sostituta Commissario. Ferruccio würde degradiert, wenn Anna Klotze an ihm vorbeizieht. Das gäbe böses Blut. Über Jahre hinaus Streit und Ärger im Team.«

Morello geht zur Tür. »Wenn der Questore mich irgendwann doch suspendiert, wäre es besser, Anna Klotze führte das Kommissariat. Sie ist die bessere Polizistin.«

Lombardis Gesicht verzerrt sich. »Morello, wenn immer nur die besseren Polizisten befördert würden, dann würden wir in einem besseren Land leben.«

»Sie haben es versprochen.«

»Ich weiß. Ich habe es nicht vergessen.« Er steht auf. »Und an meine Versprechen muss ich nicht erinnert werden.«

Mit einem angedeuteten Kopfnicken verabschiedet sich Morello und öffnet die Tür.

Morello verlässt das Kommissariat, geht nach links bis zum Ende der Fondamenta und will gerade in die Calle Larga San Lorenzo einbiegen, als er Anna Klotzes Stimme hinter sich hört.

»Commissario, warten Sie! Danke, dass Sie mich als Ihre Stellvertreterin vorgeschlagen haben.«

Morello schüttelt den Kopf und geht weiter.

»Ferruccio wird nicht begeistert sein.«

»Woher weißt du, dass ich das dem Vice Questore vorgeschlagen habe? Soweit ich mich erinnern kann, gab es keinen Zeugen für dieses Gespräch.«

»Sie sind in Venedig, Commissario. Hier gibt es viele Geheimnisse, doch jeder kennt sie. Ich weiß zum Beispiel auch, dass der Questore Sie liebend gern suspendieren würde.«

»Tja, Perloni … è uno stronzo. Der Questore mag mich nicht.« Morello lächelt. »Und ich mag ihn auch nicht.«

Nun lächelt auch Anna Klotze.

»Ist nicht so schlimm, Anna.« Morello schweigt. Er hat keine Lust, über Perloni zu reden. Anna scheint es zu verstehen, und so laufen sie schweigend nebeneinanderher.

Anna Klotze bleibt plötzlich stehen.

»Wir laufen in Richtung Campo Santi Giovanni e Paolo. Zum Krankenhaus. Sie wollen mit dem Jungen reden, stimmt’s?«

»Ich will sehen, ob es ihm gut geht und ob er sprechen kann – und will.«

Anna Klotze: »Gut, ich habe auch ein paar Fragen an ihn.«

Die Fassade des Krankenhauses sieht aus wie eine Kirche im Stil der Frührenaissance.

Morello sagt: »Merkwürdig, als ich hier mit Knalltrauma lag, sah es nicht so schön, nicht so historisch aus, sondern ganz nüchtern wie ein Krankenhaus.«[1]

Anna Klotze sagt: »Sie sind mitten in der Nacht aus dem Notausgang geflohen. Der ist auf der anderen Seite, dem modernen Teil des Krankenhauses. Es gibt drei verschiedene Eingänge. Dieser hier gehört zu der früher genannten Scuola Grande di San Marco. Aber es war keine richtige Schule, sondern ein Haus der Zünfte und Laienbruderschaften für karitative und geistliche Aufgaben.«

»Silvia hat mir erzählt, dass im Jahr 1485 das ursprüngliche Gebäude durch ein Feuer zerstört wurde und dann …«

»1488 begann Pietro Lombardo den neuen Bau, und sieben Jahre später beendete Mauro Codussi die Fassade. Heute gilt sie als eines der Meisterwerke der Frührenaissance.«

»Ich staune jeden Tag mehr über dich. Du bist nicht nur eine geschickte Rettungsschwimmerin, sondern kennst dich auch in Kunst und venezianischer Geschichte aus. Ich bin mir sicher, dass du dich mit Silvia sehr gut verstehen würdest.«

Anna Klotze wirft ihr Haar nach hinten: »Dazu brauche ich Ihre Silvia nicht, Commissario. Jeder Venezianer kennt die Geschichte dieses Krankenhauses.«

»Aber du bist keine Venezianerin, du stammst aus Triest.«

»Nach so vielen Jahren, die ich hier lebe, fühle ich mich als Venezianerin.«

Morello bleibt stehen. »Willst du mir damit sagen, dass auch ich, wenn ich weiter hierbleibe, Venezianer werde?«

»Commissario – seit 421 nach Christus ist diese Inselstadt ein einzigartiger Mikrokosmos, der alles, was vom Festland kommt, absorbiert und modifiziert. Venedig ändert sich nicht, aber die Einwohner wandeln sich ständig. Sie können der Stadt nicht widerstehen. Und jetzt kennen auch Sie die Geschichte dieses Krankenhauses. Und wieder sind Sie ein bisschen mehr Venezianer geworden. Kommen Sie endlich, ich kenne den Weg.«

Morello und Anna Klotze setzen ihre Masken auf und betreten einen langen Raum mit hohem Holzdach, das von zehn Säulen getragen wird. Der Commissario bleibt stehen und schaut zur Decke.

»Commissario! Kommen Sie.«

»So ein Krankenhaus habe ich noch nie gesehen. Hier sieht es eher aus wie in einem Kloster.«

»Hier oben ist das Museum für pathologische Anatomie. Dort habe ich unsere Pathologin Luisa Gamba kennengelernt. Kommen Sie, wir müssen weiter.«

Sie betreten einen Kreuzgang. Sonnenbeschienene Palmen stehen in der Mitte. In ihrem Schatten liegen zwei schwarze Katzen und putzen sich. In dem Gang ist es angenehm kühl.

Sie durchqueren einen weiteren alten Bau, dann stehen sie vor einem modernen Gebäude.

»Das ist das neue Krankenhaus«, sagt Anna, »das Ospedale Civile Sanctissimo Giovanni e Paolo di Venezia.«

Sie laufen zwischen modernen Gebäuden hindurch bis zur Pneumologie.

Anna spricht mit einem Krankenpfleger, und kurz danach kommt der Oberarzt auf sie zu.

Er streckt ihnen schon von Weitem die Hand entgegen. Dann zieht er sie schnell zurück.

»Corona«, sagt er. »Ich vergesse leider immer wieder, dass wir alle unser Verhalten ändern müssen.«

Er zieht sich eine Schutzmaske über.

»Dem jungen Mann geht es gut«, sagt er, »soweit das eben möglich ist. Wir haben ihn nicht auf die Intensivstation gelegt, aber er muss noch ein paar Tage bei uns bleiben. Zur Beobachtung. Er hat Wasser geschluckt, zum Glück nicht allzu viel. Er hat eine sehr gute Konstitution, ist jung und kräftig. Vielleicht können wir ihn übermorgen entlassen.«

»Können wir mit ihm reden?«, fragt Morello.

»Nein. Er schläft. Das ist gut so. Heute soll er sich ausruhen, aber morgen ist es sicher möglich.«

»Hatte er einen Ausweis bei sich? Oder irgendein anderes Dokument?«

»Nein. Wir haben weder Ausweis noch Pass gefunden. Der Patient sagt, er heiße Mario. Bin mir ziemlich sicher: Das ist nicht sein Name.«

»Vielen Dank«, sagt Morello. »Bis morgen.«

Der Oberarzt streckt die Hand aus und zieht sie sofort wieder zurück.

Morello und Anna Klotze gehen zurück auf den Campo Santi Giovanni e Paolo.

»Es war ein anstrengender Tag, Anna. Wir sehen uns morgen. Kurz vor zehn Uhr hier am Denkmal.«

Auf dem Weg zu seiner Wohnung bleibt Morello auf der menschenleeren Fondamenta degli Arsenalotti vor dem Eingang des Arsenale stehen. Die Sonne ist schwächer geworden, aber noch immer taucht sie die Löwen aus weißem Marmor, die hier Wache halten, in ein bezauberndes warmes Licht. Einst war dies die Pforte zu der größten Kriegsschiffswerft vergangener Zeiten, die Galeeren für die Eroberungen der Republik Venedig produzierte. Für einen Augenblick bleiben seine Gedanken an dem Zusammenhang von Schönheit, Krieg und Gewalt hängen, jener eigentümlichen Symbiose, die nirgends auf der Welt zu einer solch perfekten Einheit gefunden hat wie in Venedig.

Auch der drei Meter große sitzende Löwe vor dem Eingang, der normalerweise von Touristen umlagert und fotografiert wird, ist ein Zeichen für beides: Schönheit und Gewalt. Ursprünglich sollte die Skulptur den Hafen von Piräus bewachen, doch die Venezianer entführten den steinernen Löwen zusammen mit drei seiner Artgenossen 1697 bei der Belagerung Athens.

Als er über die Ponte de L’Arsenal geht, sieht er die beiden mit Zinnen versehenen Türme aus dem 16. Jahrhundert. Sie sind schön, kein Zweifel, und doch – auch sie entstanden als Teil einer gigantischen Kriegsmaschinerie.

Als die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen ist, streift er seine Schuhe ab und kickt sie in eine Ecke im Flur. Auf Strümpfen geht er ins Wohnzimmer. Auf Spotify sucht er Songs von Fabrizio De André und dreht die Musik auf. Dann legt er sich aufs Sofa und schließt die Augen.

Es ist der zweite Selbstmordversuch eines jungen Afrikaners. Einer ist gelungen, den anderen konnte Anna Klotze knapp verhindern. Beide geschahen vor den Augen der Öffentlichkeit. Der erste wurde von Hunderten Smartphones von Touristen aus aller Herren Länder dokumentiert, den zweiten sehen sich nun Tausende Menschen aus aller Welt auf YouTube an. Ein Selbstmord in der angeblich schönsten Stadt der Welt ruft ein enormes Echo hervor, weil er nicht zu einer Stadt passt, die von ihrem romantischen Image lebt und dieses Jahr für Jahr in Millionen von Euros verwandelt.

Wird dies der letzte Suizidversuch in Venedig sein? Vermutlich nicht. So sehr Morello den Questore Perloni verachtet – in diesem Punkt hat er recht: Nachfolgetaten sind möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich. So oder so ist es wichtig, der Sache auf den Grund zu gehen und das Motiv für den versuchten Selbstmord zu ermitteln. Im Übrigen muss er diese Bande von Corona-Betrügern finden und verhaften.

Morello geht in die Küche und öffnet eine Flasche Rotwein. Als er den ersten Schluck getrunken hat, klingelt sein Telefon. Das Display verkündet: Mamma. Er seufzt und nimmt ab.

Kaum hat er sich mit »Buongiorno, Mamma« gemeldet, bestürmt ihn seine Mutter mit ihren Fragen und Sorgen. Was bekommst du im Norden zu essen? Deckst du dich auch nachts immer gut zu, dort oben in der Kälte? Wir vermissen dich. Dann schluchzt sie und gibt den Hörer an seine Schwester Giulia weiter. Sie berichtet, in ihrer Heimatstadt Cefalù gebe es nur einen einzigen Fall von Corona, ein Mann, der geschäftlich in Bergamo gewesen sei, und dieser Mann sei in Quarantäne. Die Stadt sei bislang verschont geblieben von der neuen Pest. Nachdem er das Gespräch beendet hat, legt er sich aufs Sofa. Nach ein paar Minuten dämmert er weg.

Die Klingel reißt ihn aus dem Schlaf.

Morello stemmt sich aus dem Sofa.

Cazzo – er war fest eingeschlafen.

Als er die Wohnungstür öffnet, drängt sich Silvia an ihm vorbei.

»Mein Commissario! Schön, dass du da bist. Ich halte das Eingesperrtsein nicht mehr aus.«

»Silvia – wir dürfen unsere Wohnungen nicht verlassen«, sagt er.

»Verhafte mich doch, Antonio«, antwortet sie schelmisch und stemmt die Fäuste in die Hüfte. »Am Montag ist das Elend vorbei, und wir dürfen wieder hinaus auf die Straße, hinaus ins Leben. Ich habe Lust zu feiern.«

Sie drückt ihn zurück aufs Sofa. »Aha, mein Commissario hat eine Flasche Rotwein geöffnet.«

Sie nimmt sein Glas, trinkt einen Schluck und setzt sich zu ihm.

»Schau mich an. Was fällt dir auf?«

Morello blinzelt sie an. »Was soll mir auffallen? Du bist wunderschön.«

Er greift nach ihrer Schulter, um sie an sich zu ziehen, doch Silvia nimmt seine Hand und legt sie zurück auf die Lehne.

»Nicht so schnell. Schau mich an. Was fällt dir auf?«

»Ich sehe ein lächelndes, schönes Gesicht.«

»Und was fällt dir in dem Gesicht auf?«

»Mmh, diese wunderschönen strahlenden Augen?«

»Falsch.«

»Das ist nicht falsch. Deine Augen stehen ein bisschen zusammen, so wie bei einer Katze. Das sieht schön aus – und ein bisschen gefährlich. Beuteblick …«

»Das meine ich nicht. Such nach etwas anderem.«

»Mmh, ich könnte deine Ohren loben und preisen. Sie sind zart, weich und nahezu durchsichtig, wie aus …«

»Nicht die Ohren.«

»Nicht die Ohren … Dann musst du mir helfen.«

»Der Mund.«

»Der Mund?«

»Ja, der Mund.«

»Du meinst diesen vollen wunderbaren Mund mit dieser sündigen Unterlippe. Wenn ich sie küsse, spüre ich das bis in …«

»Ich habe einen neuen Lippenstift.«

»Oh, ein neuer Lippenstift. Ich gestehe: Ist mir nicht aufgefallen.«

»Er ist vegan.«

»Bitte – was?«

»Er ist vegan.«

»Okay«, sagt er irritiert. »Du trägst also einen veganen Lippenstift?«

Sie beugt ihren Kopf zu ihm und gurrt ihm ins Ohr: »Stell dir vor: ohne Aluminiumsalze. Ohne Silikon. Nur pflanzliche Bestandteile. Sonnenblumenöl aus Bio-Anbau. Nichts Schädliches und Ungesundes enthält dieser Lippenstift.«

Morello legt einen Arm um sie. Verwirrt murmelt er: »Das ist sicher eine gute Sache. Sehr gesund vermutlich.«

»Ja«, flüstert sie heiser. »Überhaupt nicht schädlich. Du wirst schon sehen. Schließ die Augen und lehn dich zurück.«

Morello tut, was sie sagt.

Er spürt ihre Hand auf seinem Knie. Sie schiebt sich ein kleines Stück den Oberschenkel hinauf.

»Wie gefällt dir das?«

Er ist erstaunt über die Sachlichkeit in ihrer Stimme. Er blinzelt vorsichtig, sodass sie es nicht bemerkt, und sieht, wie sie die Wirkung ihrer Berührung an seinem Gesichtsausdruck prüft. Morello schließt die Augen wieder. Er spürt, wie sich ihre Finger langsam aufwärtsbewegen, und öffnet erneut kaum merkbar die Augen. Die Berührung durch ihre Hand ist warm und angenehm, doch ihr Blick wirkt in gewisser Weise interessiert und forschend, als führte sie ein wissenschaftliches Experiment mit ihm durch.

Die warme Hand schiebt sich auf seiner Hose weiter nach oben.

»Weißt du nun, warum ich einen gesunden Lippenstift aufgelegt habe?«

Ihre Stimme ist immer noch kühl. Ihre Hand streicht nun mit leichtem Druck über sein Glied, und er spürt erleichtert, dass es sofort reagiert.

»So langsam kommt mir … eine Idee …«, stammelt er.

Mit der linken Hand drückt sie ihn fester zurück in das Kissen, während ihre rechte den Gürtel öffnet. Wieder ist Morello überrascht über die Konzentration in ihrem Gesicht. Doch als sie sich über ihn beugt, ist es ihm egal.

Später liegt er allein in seinem Schlafzimmer und starrt zur Decke. Silvia ist vor einer halben Stunde gegangen. Während sie leise ihre Kleider vom Boden aufhob, legte er den Kopf auf seinen Arm und stellte sich schlafend. Ihn irritierte das Gefühl der Erleichterung, das sich einstellte, als er hörte, wie die Wohnungstür leise ins Schloss fiel.

Sie hatten Sex. Er kennt die Abläufe, die sich bei ihnen mit einigen Variationen eingespielt haben. Natürlich, er weiß immer noch, wie es geht. Er mag es. Und trotzdem, irgendetwas stimmt nicht, und er weiß nicht, was es ist. Wenn er in sich hineinhört, fühlt er sich auf eine eigentümliche Art unbefriedigend befriedigt. Körperlich entspannt ist er, das schon, auch müde, aber eher so, wie er es vom Joggen kennt. Er staunt darüber, dass keiner seiner Gedanken Silvia sucht oder auch nur kurz bei ihr verweilt. Sofort fühlt er sich schuldig. Er versucht sich ihren Anblick ins Gedächtnis zu rufen, wie sie auf ihm saß und ihr Oberkörper sich aufbäumte, wie sie sich vorhin auf dem Sofa über ihn beugte, und doch … keines der Bilder ruft eine innere Resonanz hervor, stattdessen spürt er eine Anstrengung, sogar einen leichten Widerwillen, sich diese Dinge wieder vor Augen zu führen. Sie haben zusammen geschlafen, und dann ist Silvia gegangen, und nun ist er irritiert, dass er darüber erleichtert ist.

Ist sie enttäuscht? Hat sie gespürt, dass er nicht richtig bei ihr war?

Er sieht Sara vor sich. Wie anders, wie viel freier, ungezwungener und somit schöner war es gewesen, mit seiner Frau zu schlafen. Wie vertraut ihre Körper miteinander gewesen waren, und – er schämt sich für diesen Ausdruck – wie hölzern er eben gewesen war. Wie glücklich er damals war. Bis zu jenem Tag, an dem die Katastrophe alles beendete und die Bombe, die ihm galt, die Liebe seines Lebens tötete.

Seine Schuld.

Allein meine Schuld, denkt er.

Seine Gedanken eilen zurück zu Sara.

Morello hebt vorsichtig einen Fuß und versucht, in der engen Calle nicht auf die Menschen zu treten. Sie winden sich auf dem Boden. Die Schatten der Häuser lasten dunkel und schwer auf allem, und sogar der Himmel schickt schwarze Wolken, die so niedrig über ihm dahinziehen, dass die Dächer kaum auszumachen sind.

All die Kranken tragen eine Schutzmaske. Schwarze Flecken stehen über aufgerissenen Augen auf ihrer Stirn, auf den Armen und Bäuchen, von denen sie ihre Hemden gerissen haben.