Der Tod lässt kein Schwein kalt - Ladina Bordoli - E-Book

Der Tod lässt kein Schwein kalt E-Book

Ladina Bordoli

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Ein verschneites Dorf, eine tiefgefrorene Leiche und ein Wollschwein als Hauptzeuge eines Mordes … »Die Polizei und der Arzt hatten den Tatort verlassen. Odette kniete nieder und kniff die Augen zusammen. Schuhabdrücke. Isoliert. In großen Abständen, als sei der oder die Unbekannte gerannt. Dazwischen ... die Abdrücke von Schweinehufen ... « Als die divenhafte Schauspielerin Odette Montebello nicht mal mehr eine Statistenrolle als Leiche angeboten bekommt, kauft sie kurzerhand ein Chalet in den Schweizer Alpen, um durch den Tapetenwechsel einer drohenden Midlife-Crisis zu entgehen. Doch ihr Traum von einer ruhigen Auszeit nimmt ein jähes Ende, als sie eines Wintermorgens die Leiche eines Jugendlichen in ihrem Garten findet – zur Vogelscheuche zweckentfremdet. Offenbar gibt es für die Tat nur einen einzigen Zeugen: Wollschwein-Dame Persephone von Odettes mürrischem Nachbarn Anton. Während die örtliche Polizei den Fall schnell als einen unglücklichen Unfall zu den Akten legt, fallen der erfahrenen Krimistatistin Odette sofort Ungereimtheiten auf. So beginnt sie, auf eigene Faust zu ermitteln, denn sie ahnt: Die entscheidenden Hinweise zur Überführung des Täters sind in Persephone verborgen – man muss nur kreativ werden … Ladina Bordoli wurde 1984 im Schweizerischen Jenaz geboren und lebt bis heute im Prättigau, einem kleinen Tal in den Alpen. Nach ihrer Matura begann sie, als Fachfrau für Unternehmensführung im elterlichen Bauunternehmen zu arbeiten. Sie entdeckte schon früh ihre Leidenschaft fürs Geschichtenerzählen und schreibt vorwiegend in den Bereichen Krimi, Fantasy und Frauenunterhaltung.

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Inhalt

Cover & Impressum

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Epilog

Prolog

»Wie soll ich es sagen, Odette … Die Rolle wurde an jemand anders vergeben.« Die Art, wie ihr Agent jemand anders betonte, klang alarmierend, um nicht zu sagen apokalyptisch. Ebenso wie die Tatsache, dass er ihrem Blick auswich und stattdessen imaginäre Staubpartikel von seinem Schreibtisch fegte.

»Wie meinst du das? Ich habe jahrelange Erfahrung beim Spielen von Leichen. Ich war in über zweihundertfünfzig Tatort-Folgen dabei, das weißt du!«

»Das ist der springende Punkt, Odette … Sie haben eine Jüngere engagiert.«

»Um eine Tote zu mimen? Ohne entsprechende Routine? Bist du dir eigentlich bewusst, wie schwierig es ist, dabei nicht zu atmen und das ständige Zucken der Lider zu unterdrücken, vom plötzlichen Jucken im Gesicht ganz zu schweigen. Einmal litt ich unter chronischem Lachreiz, das war …«

»Odette!«

Jetzt schnitt er ihr auch noch das Wort ab. Unglaublich. Was glaubte er eigentlich, wem er seinen Erfolg als Agent zu verdanken hatte? Ihr natürlich!

»Hannes, ich bin der Schweizer Export nach Hollywood, ich habe bei Mission Impossible an der Seite von Tom Cruise gespielt, schon vergessen?« Sie konnte sich ein triumphierendes Lächeln nicht mehr verkneifen und betrachtete ihre mit kunstvollen Ornamenten versehenen künstlichen Nägel.

»Ja, als Prostituierte, ich weiß, die Sequenz wurde im Kinofilm allerdings rausgeschnitten.«

»Darum geht es jetzt nicht.«

»Worum denn dann?« Ihr Agent raufte sich die Haare, und die Wangen nahmen eine rosige Färbung an, während eine Ader an der Schläfe verdächtig pochte.

»Ums Prinzip, Hannes. Wichtig ist immer, dass man dabei ist.«

Er lehnte sich auf dem Stuhl nach vorne, seine Augen funkelten mittlerweile erbost, was Odette anmaßend fand. »Im Prinzip, Odette, verhält es sich so, dass du für die Schauspielerei zu alt geworden bist! Die Branche ist erbarmungslos, die wollen keine Mordopfer, die an vertrocknete Semmeln erinnern, sondern schlafende Dornröschen-Schönheiten – das suchen die!« Er ließ sich mit einem erleichterten Prusten auf dem Stuhl zurückfallen, kramte nach einem Stofftaschentuch und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn.

»So, das reicht. Ich gehe jetzt!« Odette warf ihren Seidenschal galant über die gestrafften Schultern und schritt – nein, schwebte – erhobenen Hauptes zur Tür. Dann drehte sie sich noch einmal zu ihrem Agenten um und meinte: »Und versuche ja nicht, mich anzurufen, Hannes!« Das hatte früher immer funktioniert. Er hatte sie natürlich jedes Mal angerufen, schließlich war er von ihrem Talent abhängig.

Er seufzte. »Werde ich nicht, Odette … weil mich deinetwegen auch kein Schwein mehr anruft.«

Kapitel 1

Anton

Er nippte an seinem Kaffee und linste durch den Vorhang zum Nachbarhaus hinüber. Es war Mitte Nachmittag. Die meisten Bewohner des Ostschweizer Weilers Schiers-Maria hatten sich bereits in ihre warmen Stuben zurückgezogen. Die Sonne war längst hinter dem wuchtigen Landquarterberg verschwunden. Die bei Morgensonne in grellen Farben leuchtenden Herbstwälder an den Abhängen des Prättigaus verblassten mit dem Schwinden des Tageslichts und wichen zunehmend einem bedrückenden Grau. In dieser Jahreszeit konnte man den nahenden Winter gegen Abend riechen, so behaupteten einige der älteren Einheimischen. Anton gab ihnen recht.

Er schüttelte den Kopf, während er die Szene gegenüber verfolgte. Sie musste den Verstand verloren haben, die neue Nachbarin. Vor dem Haus parkte der Kleinbus eines Umzugsunternehmens. Dafür, dass die Dame alleinstehend sein sollte, hatte sie eine Menge Kram bei sich. Gerade wuchtete sie einen Koffer, der groß genug für eine gesamte Familie mit Hund gewesen wäre, aus ihrem knallroten Fiat Panda. Es hatte den Anschein, als würden ihre dürren Beine, die praktischerweise in hochhackigen Schuhen und Netzstrumpfhosen steckten, demnächst unter dem Gewicht wie Streichhölzer brechen. Anton legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Die Szene gegenüber wirkte so, als versuche eine Heuschrecke, eines seiner »Elefanteneier«, wie er die Siloballen nannte, in die Höhe zu stemmen. Urkomisch.

»Ein Suppenknochen, die Neue. Sollte mal wieder feste Nahrung zu sich nehmen«, brummte Anton vor sich hin. Seine graubraune Tigerkatze Olivia bestätigte die Worte mit einem zustimmenden Mauzen. Sie aßen beide gerne – und genug. Er und Olivia.

Die Neue kam angeblich aus Zürich und hatte die alte Hütte der Englers gekauft. Wer wollte die schon haben – bei dem ständigen Lärm, dem man hier ausgesetzt war? Bestimmt hatte man die Heuschrecke übers Ohr gehauen.

Jetzt tat sie ihm schon fast wieder leid. Allerdings nur beinahe. Soeben beobachtete er, wie sie mit ihren Armen wild in der Luft gestikulierte und die Männer des Umzugsunternehmens wie Sklaven herumhetzte und anschnauzte. Fehlte nur noch die Peitsche.

Anton rückte sich einen Stuhl vors Fenster und knabberte an einigen Totenbeinli. Eine geschiedene Dorfbewohnerin hatte ihm das köstliche Gebäck geschenkt – nicht ohne Hintergedanken, so vermutete er. Wenn man an einem derart schwach bevölkerten Flecken wohnte, war die Auswahl an möglichen Partnern nicht sehr üppig. Es war hinlänglich bekannt, dass Anton durch »eine Laune des Schicksals«, wie er es zu nennen pflegte, zum Eremiten degradiert worden war. Noch war er allerdings nicht bereit, an diesem Zustand etwas zu ändern, denn einsam fühlte er sich keinesfalls. Er betrachtete seine Katze, und ein Gefühl der Wärme stieg in ihm auf.

Olivia fläzte lieber auf der Couch, ihr war der Suppenknochen mit seinem hysterischen Gebrüll wohl zu laut. Er konnte es ihr nicht verübeln.

Nach einer Stunde fuhr der Kleinbus des Umzugsunternehmens davon. Anton konnte sich lebhaft vorstellen, warum sich die Städterin in das schnuckelige kleine Haus verliebt hatte.

Auf den ersten Blick wirkte das Chalet aus schokoladenbraunem Holz mit den sattgrünen Fensterläden und den zahnpastaweiß gestrichenen Fensterrahmen wie das Relikt aus einer noch heilen Welt. Der dazugehörige, mit einem Holzlattenzaun abgesperrte Garten vermittelte mit seiner derzeit wild wuchernden Vegetation eine verwunschene Romantik. Jeder Ortsansässige wusste jedoch, dass die vordergründige Idylle durchaus ihre Schattenseiten hatte. Das war aber gottlob nicht Antons Problem.

Sein Blick wanderte auf die Couch, wo Olivia noch immer tief und fest schlief. Dieser kurze Moment der Unachtsamkeit führte dazu, dass er die Neue aus dem Sichtfeld verlor.

Es klingelte.

Das schrille Läuten der antiken Türklingel ließ Anton vom Stuhl hochschnellen, und seine Katze sperrte ebenfalls erschrocken die Augen auf. Bevor er sich von dem Schock erholen konnte, läutete es schon zum zweiten Mal.

»Verflucht, ich komme ja!«

Missmutig schlurfte er zur Tür und öffnete. Ein Schwall kühler Herbstluft schlug ihm entgegen. Da er auf das, was nun vor ihm im Türrahmen stand, nicht vorbereitet war, machte er den Mund auf und schloss ihn sogleich wieder.

Aus der Nähe sah sie noch exotischer aus, als sie es in der ländlichen Einöde ohnehin war. Schulterlange, weinrote Locken wehten wie eine Feuersbrunst um ihr schmales Gesicht. Grüne Augen, die Olivias zum Verwechseln ähnlich waren, starrten Anton neugierig an. Schließlich erhellte ein freundliches Lächeln die Züge der Frau, die er auf Mitte fünfzig schätzte, also etwa gleichaltrig. Sie streckte ihm ihre Heuschreckenhand hin und meinte: »Ich bin Odette Ernestine Montebello. Odette reicht allerdings. Ich bin Ihre neue Nachbarin.«

Er hatte auch nicht vorgehabt, sie mit ihrem royalen Namen anzusprechen, falls sie das damit andeuten wollte. Das war ja schlimmer als bei Pippi Langstrumpf. Nach Odette hatte er ohnehin nicht mehr zugehört – viel zu anstrengend.

»Anton.« Er streckte ihr die Hand entgegen und wagte kaum, ihren Händedruck zu erwidern. Zu groß war die Gefahr, dass er die zarten Knöchelchen gleich in seiner Bauernpranke zerquetschte.

»Anton also … Das freut mich! Wir werden uns bestimmt mögen!« Ein irrwitziges Kichern verließ ihren Mund.

Zu ihrer Einschätzung konnte er nicht viel sagen. Schließlich kannten sie sich gerade mal gesprächsintensive drei Sekunden.

Als wäre ihr Schweigen im Allgemeinen zuwider, plapperte sie, ohne auf eine Antwort zu warten, weiter und kramte in ihrer Tasche nach etwas. »Hier, bitte schön, das Trockenfleisch ist für dich, die Pralinen für deine Frau. Als kleines Willkommensgeschenk sozusagen.« Wieder das Gackern.

»Meine Frau wohnt schon seit fünf Jahren nicht mehr hier.«

Sie starrte ihn betroffen an, und es war, als verliere ihr Gesicht an Farbe, allerdings war sie ohnehin eher von der durchscheinenden Sorte.

»Nun denn …« Sie verschränkte die Hände vor der Brust, was irgendwie niedlich wirkte. Würde sie sich nun verabschieden, oder sollte er das tun? Es war schließlich alles gesagt, oder nicht?

»Wie ich sehe, magst du Tiere. Bist du hauptberuflich Landwirt? Ich habe noch nie ein so seltsam behaartes Schwein gesehen wie das in deinem Gehege.« Das ständige Kichern nach jedem Satz musste eine Marotte sein, vermutete Anton, als sie schon wieder in dieses kindlich anmutende Lachen verfiel. Außerdem waren das ziemlich viele Fragen auf einmal. Er konnte sich nur noch an die Bemerkung mit dem Schwein erinnern, weil sie ihn ärgerte.

»Du meinst wohl meine Persephone. Ich habe sie nach einem tropischen Wirbelsturm benannt, der in den Tagesnachrichten für Aufregung sorgte. Sie ist ein Wollschwein. Ein richtiges Prachtexemplar ihrer Art. Daran ist nichts seltsam. Und ja, ich bin Bauer. Soweit ich weiß, ist das noch immer ein ehrbarer Beruf und kein Hobby.« Gottlob war ihm beim Reden noch eingefallen, was sie vor der Sache mit dem Wollschwein noch hatte wissen wollen.

Sie schien die leichte Verärgerung in seiner Stimme zu hören, denn sie antwortete hastig: »Oh, entschuldige, so meinte ich das nicht. Ich wusste nur nicht, was ich sonst hätte fragen sollen. Ich wollte nur höflich sein, etwas Konversation betreiben. Das … das handhaben wir Stadtmenschen so.«

»Hmpfgr.« Mehr fiel ihm dazu gerade nicht ein. Es war lange her, seit er so viele Worte mit einem Menschen ausgetauscht hatte. Mit den Tieren sprach er oft – sie akzeptierten ihn. Aber die Menschen? Seine Frau hatte ihn nie verstanden, weshalb sie eines Tages einfach die Koffer gepackt und ihn verlassen hatte. Eigentlich hatte sich ihm der genaue Grund ihrer Trennung bis heute nicht erschlossen. Wie auch immer, er war froh, dass die Heuschrecke nun Anstalten machte, ihr eigenes Zuhause aufzusuchen.

»Na dann, Anton, hat mich gefreut!« Ihre grünen Augen funkelten, während sie eine Reihe makellos weißer Zähne entblößte.

»Odette.« Er deutete mit dem Kopf ein Nicken an und rang sich sogar zu einem sanften Lächeln durch. Irgendwie fühlte er sich durch ihre offenkundige Freundlichkeit dazu genötigt. Dabei war es sonst ganz und gar nicht seine Art, sich zu Emotionen und dergleichen Schwachsinn hinreißen zu lassen.

Als Odette mit ihrem Fackelhaar im Haus gegenüber verschwunden war, atmete er erleichtert aus. Ihm war nicht einmal aufgefallen, dass er die Luft angehalten hatte. Er stellte die Pralinen in den Kühlschrank und schnitt für sich und Olivia ein wenig von dem geschenkten Trockenfleisch auf. Danach war es Zeit für das Melken und Füttern der Kühe.

Obwohl sie nicht oft zu essen schien, war Odettes kulinarischer Geschmack offenbar vorzüglich. Das Dörrfleisch war himmlisch, das fand Olivia auch.

Kapitel 2

Odette

Sie schloss die Tür hinter sich, blieb einen Moment nachdenklich stehen und bereitete sich schließlich einen Grüntee zu. Während sie an dem heißen Getränk nippte, dachte sie über ihren kauzigen Nachbarn nach. Ob wohl alle Leute auf dem Land so einsilbig waren? Immerhin konnten sie dann nicht so demütigend und beleidigend werden wie ihr Agent Hannes. Verbitterung färbte ihre Gefühle bei diesem Gedanken.

Wenn es allerdings um seine Fell- und Borstenfreunde ging, zeigte sich Anton erstaunlich mitteilsam, beinahe gesellig. Besonders dieses drollige Schwein, das auf den kunstvollen Namen Persephone hörte, musste sein ganzer Stolz sein. Dabei sah das Tier aus, als wäre ihm beim Trocknen seiner Zotteln der Föhn explodiert.

Sie war beeindruckt von Antons schlichtem Hof. Anders als in Stadtnähe, wo man Nutztiere für die Massenproduktion einsetzte, legte man hier offenbar mehr Wert auf Vielfalt und Bescheidenheit. Der Bauernhof des Nachbarn bestand aus einem Wohnhaus, das ihrem, von den roten Fensterläden abgesehen, zum Verwechseln ähnlich sah, und einem Holzstall hinter dem Haus. Auf dem rückseitigen Teil der Weide befand sich noch ein kleinerer Stall neueren Datums, was an dem hellen Holz zu erkennen war. Vermutlich die Unterkunft für das Wollschwein. Auf dem Schotterweg, der zu ihren Häusern führte, flanierten Hühner und ein stattlicher Hahn. Außerdem glaubte Odette, das vereinzelte Muhen von Kühen vernommen zu haben. Möglicherweise besaßen diese ein gesondertes Gehege hinter dem Stall. Der Freilauf des Wollschweins war nämlich gleichzeitig auch der Garten des Wohnhauses, da eine Treppe von der überdachten Veranda hinunterführte. Jedenfalls schien der Flecken Land einmal die Bezeichnung Garten verdient zu haben. Aktuell sah das Grundstück eher aus wie eine morastige Einöde.

Ihr Blick glitt über die Berge an Umzugskartons, die sich wie überdimensionale Legobausteine in ihrem neuen Zuhause stapelten. Obwohl es hier noch alles andere als wohnlich war, verströmte allein der Charakter des Häuschens Charme und Behaglichkeit. Odette hatte sich bewusst für ein Haus entschieden, das sich in jeglicher Hinsicht von ihrem bisherigen Leben in der Stadt unterschied.

Schwere, rußgeschwärzte Holzbalken trugen die Decke. Ein grüner Kachelofen war die einzige Wärmequelle in der Behausung. Die Holzdielen des Fußbodens waren abgewetzt von Abertausenden von Schritten. Die Türangeln und die ausgetretenen Stufen der Treppe in die obere Etage knarzten und knackten bei jeder Bewegung. In manchen Zimmern pfiff der Wind durch eine undichte Ritze der teilweise milchigen Fenster. Odettes neues Zuhause lebte und atmete. Es hatte zweifellos schon einige Generationen durch Freud und Leid begleitet. Deshalb hatte sie es ausgewählt.

Odette trommelte mit ihren aufgeklebten Kunstnägeln auf die Tischplatte. Der Umzug war ein folgenschwerer Entschluss gewesen, ein einsamer noch dazu. Sie hatte sich einen Teil ihrer Pensionskasse auszahlen lassen, um das neue Eigenheim auf dem Land finanzieren zu können. Ein Zurück gab es also nicht mehr. Mit dem Neuanfang ließ sie auch ihr bisheriges Umfeld, namentlich ihre Freunde, hinter sich. Wenn man sie denn noch als solche bezeichnen konnte. Odette musste den Tatsachen ins Auge sehen: Ihre ruhmreichen Tage als Schauspielerin gehörten der Vergangenheit an. Hannes hatte seine Drohung in die Tat umgesetzt und sich nie mehr bei ihr gemeldet. Ihre zunehmende psychische Verstimmung, die sich zu einer ausgewachsenen Krise entwickelte, führte dazu, dass sich ihre sogenannten Freunde ebenfalls schrittweise aus ihrem Leben verabschiedeten. Eine Odette, die nicht mehr unterhaltsam war, den Schein nicht mehr mit einem oscarreifen Lächeln wahren konnte, war wie ein Staubsauger, der nicht mehr bereit war, Staub zu schlucken. In der heutigen Wegwerfgesellschaft machte man sich gar nicht erst die Mühe, ihn zu reparieren. Man warf ihn weg und ersetzte ihn durch ein schillerndes, funktionstüchtiges Gerät, dessen Benutzung in erster Linie Spaß bereitete und keine Anstrengung erforderte. Sinnbildlich gesprochen.

Ihr war klar geworden, dass die Stadt und das Filmbusiness ihrer mentalen Gesundheit nicht mehr zuträglich waren. Sie brauchte einen kontrastreichen Neuanfang. Zwar war sie fünfundfünfzig und kurz vor uralt, aber das bedeutete ja nicht, dass man aus dem kläglichen Rest seines Lebens nicht doch noch etwas Großartiges machen konnte, oder? Neuerdings hatte sie eine Strickzeitschrift abonniert. Stricken, so schworen viele Experten, sei meditativ und heile die Seele. Abgesehen davon würde Odette einiges an Kleingeld sparen, wenn sie bald in der Lage wäre, Socken, Unterwäsche (ja, auch diese!) und Pullover selbst herzustellen. Aus demselben Grund hatte sie sich ein Haus mit Garten ausgesucht. Sie wollte diverse Gemüsesorten und wilde Beeren anbauen. In Hollywood nannte man das Superfood, und diese Nahrung hielt angeblich besser jung als Botox. Außerdem war sie preiswerter. Fehlten nur noch ein Job und der Emotional Rescue, wie die Rolling Stones so schön sangen. Odettes Neigung zum Singledasein hatte mittlerweile leider chronische Züge angenommen. Nebst ihrer Hausstauballergie war das eines jener negativ behafteten Phänomene, die sie einfach nicht in den Griff bekam. Sie seufzte. Das war nämlich noch nicht das Ende ihrer mentalen Bestandsaufnahme. Eine Rekapitulation ihrer glanzvollen Karriere führte ebenfalls zu einem enttäuschenden Ergebnis. Auch wenn Hannes ein Arschloch war … ihr millionenschweres Lächeln in Tom Cruises Richtung war tatsächlich dem Director’s Cut zum Opfer gefallen. Bitter, aber wahr.

Draußen dämmerte es bereits. Die Herbstabende geizten an diesem Ort der Welt offenbar mit Licht, denn die Sonne verschwand ziemlich rasch hinter den Bergwipfeln und tauchte die Umgebung in verschiedene Nuancen von Nachtschattenblau.

Persephone freilich schienen weder die Kälte noch der Mangel an Tageslicht etwas auszumachen. Sie trottete nach wie vor frohen Mutes von einem Ende des Geheges zum anderen, steckte ihren Rüssel in den matschigen Untergrund oder grunzte vergnügt, als führe sie Selbstgespräche.

Im Haus nebenan ging das Licht an. Ob der grimmige Anton wohl kochen konnte? Odette beherrschte es jedenfalls nicht – noch nicht. Sie war es gewöhnt, am Set von Caterern verpflegt zu werden. Im Kühlschrank starrte ihr gähnende Leere entgegen. Nun bereute sie es, die Pralinen an ihren Nachbarn verschenkt zu haben, zumal seine Frau ja ohnehin nicht mehr dort lebte, um sie zu essen. Andererseits durfte sich Odette nun nicht gehen lassen, bloß weil sie der Leinwand den Rücken zugekehrt hatte. Sie wollte über kurz oder lang schließlich nicht aussehen wie Persephone.

Mit einer entschlossenen Bewegung griff sie zu ihrem Handy. Eine ihrer wenigen verbliebenen Freundinnen, selbst Schauspielerin, Single, lebenserfahren (ein diplomatisches Synonym für alt) und beruflich auf dem Abstellgleis, hatte von einer neuen Dating-App geschwärmt. Nina hatte ihren üppigen Busen oder ihren knackigen Hintern für Nahaufnahmen jeglicher Art im Sinne eines Leichendoubles zur Verfügung gestellt, bevor sie wie Odette mit dem Abgelaufen-Stempel gebrandmarkt wurde.

Diese App war speziell für Frauen und Männer mittleren Alters konzipiert, und das Resultat war dermaßen genial, dass Nina bereits nach zwei Monaten Verliebtsein nach Südfrankreich zu ihrem Angebeteten zügelte. Die ganz große Liebe, hieß es.

Flame-Cut war die reifere Variante von Tinder und bedeutete so viel wie abgebrannt. Die App bestand auf ehrlichen Profilen, daher gab es schonungslose Rubriken für naturbedingte optische Entgleisungen, Schreck-lass-nach-Marotten und altersverursachte Defekte und Probleme. Odette dachte nach, dann eröffnete sie ein Profil.

Name und Alter: Odette Ernestine Montebello, Ü40.

Beruf: Renommierte Schauspielerin mit Kontakten nach Hollywood.

Derzeitige Tätigkeit: Im frühzeitigen Ruhestand.

Schonungslos ehrlich: Anorektisch veranlagter Stoffwechsel, Netzstrumpfhosenfetischistin, Neigung zur Damenbartbildung (Laserbehandlung geplant), Lachfalten im Gesicht, nymphomanische Züge bei zunehmendem Mond.

Odette hielt sich bei solchen Angelegenheiten immer an die Sandwichregel. Einige scheinbar negative Eigenschaften, die eigentlich positiv waren, danach weniger erfreuliche Dinge, die man aber relativierte, und zum Schluss noch etwas Schmeichelhaftes.

Klick und weg. Sie war zufrieden mit dem Start ihres neuen Lebens.

Kapitel 3

Odette

Sie zog die Bettdecke über den Kopf und hoffte, dass ihr die Ohrstöpsel nun die wohlverdiente Ruhe bescherten. Das Singen, das wohl eher als mehrstimmiges Krakeelen bezeichnet werden musste, war eine Zumutung.

Als die Maklerin ihr im Sommer das Haus gezeigt hatte, hatte sie versucht, Odette davon abzuhalten, mit den Nachbarn zu reden. Bestimmt hätte ihr dann irgendjemand verraten, warum niemand hier wohnen wollte, obwohl es so idyllisch auf einer erhöhten Terrasse mit Blick über das gesamte Tal lag. Der Grund waren die Gymnasialverbindungen.

Die Hütte der Verbindung Concordia lag nur einen Katzensprung von Odettes neuem Zuhause entfernt, jene der Fraternitas gottlob etwas weiter weg. Odette hatte das schnuckelige Häuschen der Concordia aus dunkel gebranntem Holz mit den orange-weiß-violett bemalten Fensterläden für ein Ferienhaus gehalten. Weit gefehlt, wie sie schon wenige Wochen nach ihrem Einzug in dieses alpine Paradies feststellen musste.

Eine Horde von Jugendlichen war mit Mützen und Farbbändern bekleidet, singend und lachend an ihrem Haus vorbeigezogen. Sie schenkte ihnen keine Beachtung. Als sie sich jedoch an besagtem Tag zu Bett legte, ging es los. Die Schüler verließen ihre Hütte, brüllten durch die nächtliche Stille und erlaubten sich derbe Scherze. Sie kritzelten Odettes hölzerne Eingangstür mit Kreide voll, schnitten ihrem Besen die Borsten ab und füllten das Milchfach des Briefkastens mit leeren Bierflaschen. Dabei sangen sie ständig diese schrecklich ordinären Lieder, deren Text Odette wie ein dämonisches Echo verfolgte.

Odette hoffte inständig, dass ihr das in dieser Nacht – einmal, nur einmal – erspart bleiben würde.

Schließlich versank sie in einen unruhigen Schlaf.

Zu ihrem Erstaunen hatten die Ohrstöpsel wahre Wunder bewirkt. Odette erwachte erst wieder, als die Sonne ihre matten Finger durch eine Ritze der zugezogenen Vorhänge streckte. Sie rekelte sich in ihrem Bett, stand auf und tapste schlaftrunken zum Fenster. Mit einem Ruck riss sie die Gardinen auf, um die milde Wärme der Wintersonne auf ihrer Haut spüren zu können. Ein traumhaftes Panorama begrüßte sie an diesem Morgen. Der wolkenlos blaue Himmel spannte sich über ein glitzerndes Winterwunderland. Waren die Wintermonate in der Stadt stets grau, matschig und nass, so fand man sich hier auf dem Land in einem Traum aus Weiß wieder. Die Bäume trugen den Schnee wie gezuckerte Ballkleider. Dächer stemmten ihre hölzernen Schultern tapfer gegen die meterhohen Schneemassen. Die Kühe dampften bei ihrem morgendlichen Auslauf auf der Weide wie heiße Maroni auf dem Zürcher Weihnachtsmarkt. Odette seufzte und lächelte. Tiefer Frieden erfüllte sie.

Als ihr Blick allerdings auf den Garten vor ihrem Haus fiel, gefror ihr das Blut in den Adern.

Sie stieß einen spitzen Schrei aus, taumelte nach hinten und hielt sich entsetzt die Hand vor die Augen. Das musste eine Fata Morgana sein – ausgelöst durch die Schneeblende oder was auch immer es auf dem Land sonst noch für mysteriöse Erscheinungen gab.

Vorsichtig trat sie erneut ans Fenster und linste zwischen ihren Fingern nach draußen. Nein, es hatte sich nichts an der Tatsache geändert, dass in ihrem Garten ein junger Mann ähnlich einer Vogelscheuche mit ausgebreiteten Armen und hängenden Beinen an einem Holzkreuz hing. Er trug einen schlichten blauen Kapuzenpullover, weite Jeans mit einem bunten Ledergürtel und klobige schwarze Turnschuhe. Die Insignien der Concordia, das Farbenband und die Mütze in Orange-Weiß-Violett, vervollständigten die Aufmachung. Der braunhaarige Junge war mit Seilen an ein Holzgebilde gebunden, das an eine Heinze zum Heutrocknen erinnerte. Sein Kinn ruhte auf der Brust, als sei er ohnmächtig.

Oder tot.

»Ach du meine Güte!« Erst in diesem Augenblick entdeckte Odette, dass sich noch jemand in ihrem Garten aufhielt.

Persephone.

Irgendjemand musste sie aus ihrem Gehege herausgeholt und auf ihr Grundstück gejagt haben. Die Wollschweindame rannte wie von Sinnen im Zickzack von einem Ende des Zauns zum anderen und gab eine Mischung aus Grunzen und Quieken von sich. Odette zog sich eilig an und jagte sofort zu ihrem Nachbarn.

»Anton!«, brüllte sie, während sie völlig aufgelöst an dessen Tür hämmerte und klingelte. Die Kälte kroch vom Boden her unter ihre Kleidung, und ihre Zähne klapperten so stark, dass ihre Kiefer schmerzten. Nach einer gefühlten Ewigkeit erschien ihr Nachbar endlich im Türrahmen. Die braun melierten Haare standen ihm wirr vom Kopf ab und erinnerten an Persephones Borsten. Er kniff ständig die graublauen Augen zusammen, als müsse er noch die Reste des Schlafs aus ihnen blinzeln. Sie musste ihn von der Couch heruntergeklingelt haben, denn normalerweise war er frühmorgens bereits im Stall bei seinen Tieren und somit längst wach.

»Was zum Kuckuck ist eigentlich …«

»Was in mich gefahren ist?« Odettes Stimme überschlug sich. »Da ist ein Toter in meinem Garten. Hast du denn in der Nacht gar nichts gehört?«

Besser, man kam sofort zur Sache.

»Na, na, wollen wir jetzt mal nicht gleich den Teufel an die Wand malen, oder? Natürlich nicht. Das Krakeelen der Jungs bin ich ja schon gewöhnt, und außerdem befindet sich mein Schlafzimmer im rückseitigen Teil des Hauses«, brummte Anton verstimmt und kratzte sich ratlos am Kopf.

»Falls er trotz der Kälte noch gelebt haben sollte, ist er zwischenzeitlich jedenfalls gestorben, weil du noch immer hier herumstehst und nach Flöhen suchst, anstatt mir endlich zu helfen!«

Da war eine gottverdammte Leiche in ihrem Garten! Wenn jemand das beurteilen konnte, dann ja wohl sie, die Oscarpreisträgerin aller Leichenschauspieler.

Schließlich bequemte sich ihr lethargischer Nachbar endlich dazu, sich etwas überzuziehen und ihr zu ihrem Haus zu folgen. Vor dem Gartentor blieb er wie angewurzelt stehen. Die Augen drohten ihm aus den Höhlen zu quellen.

»Persephone? Um Himmels willen, was machst du denn hier? Komm her, mein Mädchen, komm her!« Seine Stimme nahm einen weichen und fürsorglichen Klang an, während er versuchte, sich dem immer noch wild herumrennenden Schwein zu nähern. Schließlich gelang es ihm, das Tier durch sein Murmeln und etliche Streicheleinheiten so weit zu beruhigen, dass es sich zurück in sein heimisches Gehege führen ließ.

Odette schlich sich derweil an den jungen Mann heran, der den Eindruck erweckte, bloß ein kleines Nickerchen in sehr unbequemer Lage abzuhalten. Sie wagte nicht, irgendwas anzufassen, doch sie hielt ihm einen Finger unter die Nase, um festzustellen, ob er noch atmete.

Tat er nicht.

»Wir sollten einen Arzt und die Polizei rufen«, schlug Anton vor, als er aus Persephones Gehege zurückgekehrt war. »Bloß nichts anfassen.«

Da stimmte ihm Odette zu.

Unfassbar, da wollte sie ihrem alten Leben den Rücken kehren, und das Erste, was ihr im vermeintlichen Garten Eden begegnete, war eine Leiche. Mokierte sich das Schicksal etwa über ihre gescheiterten Karrierepläne?

In diesem Moment bemächtigte sich ihr ein überaus ketzerischer Gedanke. Was, wenn es Mord war? Mit Morden kannte sich Odette schließlich aus …

Kapitel 4

Anton

Obwohl Reto Gruber und sein Kollege von der Kantonspolizei Graubünden aufgrund ihrer Uniform durchaus einen ernst zu nehmenden Eindruck machten, schien seine Nachbarin ihren Fähigkeiten nicht zu trauen.

»Sind Sie von der Kriminalpolizei? Wo sind eigentlich die Spurensicherung und der Arzt?« Odette verschränkte die Arme vor der Brust, während sie den Polizisten auf Schritt und Tritt folgte.

Reto Gruber, ein vierzigjähriger Glatzenträger, dessen kupferblonder Haarkranz aus Stoppeln an die einstige Pracht auf seinem Schädel erinnerte, richtete die wasserblauen Augen verärgert auf Odette. »Gute Frau, wir versuchen hier, unserer Arbeit nachzugehen, was uns zunehmend schwerfällt, wenn Sie uns ständig zutexten, ja? Kollege Arpagaus und ich sind von der Kantonspolizei Graubünden, vom regionalen Polizeiposten der Gemeinde Schiers, zu der auch Schiers-Maria gehört. Dieser Fall hier scheint nicht besonders kompliziert zu sein, also braucht es die Kriminalpolizei aller Wahrscheinlichkeit nach gar nicht. Wir müssen schließlich auch das Budget im Auge behalten, wir sind hier auf dem Land und nicht in Hollywood.« Mit einem langen Blick auf Odettes unangemessenes Schuhwerk und anklagend erhobenem Zeigefinger fügte er trocken hinzu: »Und so etwas, meine Liebe, nennen wir hierzulande auch kriminell. Sie könnten sich mit den Absätzen den Knöchel brechen oder Schlimmeres.« Grubers ausgeprägter Adamsapfel hüpfte geschäftig auf und ab.

Anton pflichtete der Einschätzung der Gesetzeshüter insgeheim bei. Abgesehen von ihrer absonderlichen Fußbekleidung sah Odette heute allerdings ganz anders aus als sonst. Ihre stets penibel gepflegten und perfekt frisierten roten Locken standen ihr drahtig und stumpf vom Kopf ab. An der Stelle, wo sie auf dem Kissen gelegen hatte, klebten sie ihr sogar am Schädel, und ihr Gesicht war nicht wie üblicherweise zu einem faltenlosen Kunstwerk zugekleistert.

An seinen Kollegen gewandt fuhr Reto Gruber ungerührt fort: »Hanspeter, wärst du so nett und würdest mir mal die Jungs aus der Hütte der Concordia herholen? Ich gehe mal eben zu Chrigi Berger, der ist ja Vehdokter und sonntags bestimmt zu Hause. Ich denke, das sollte für eine rudimentäre medizinische Einschätzung reichen. Dann kann er sich auch gleich noch den Hotsch nebenan ansehen.«

Er rieb sich die klammen Hände, kramte in seiner Jackentasche und holte eine Tabakpfeife daraus hervor. Umständlich stopfte er sie und zündete sie an. Gierig nahm er einige Züge und wollte sich gerade auf den Weg zum Tierarzt machen, der am Eingang der Siedlung wohnte, nur fünf Minuten von Antons Heim entfernt.

»Was in drei Teufels Namen sind ein Vehdokter und ein Hotsch?« Seine neue Nachbarin gehörte offenbar nicht zu der sprachbegabten Sorte. Anton tauschte mit Gruber und Arpagaus einen vielsagenden Blick und meinte trocken: »Sie kommt aus der Stadt … aus Zürich.«

Die beiden Polizisten antworteten ihm mit bedeutungsschwangerem Murmeln und mitleidig verzogenen Mundwinkeln. Sie verstanden sich. Beinahe ohne Worte, wie Anton es mochte. Seiner Nachbarin erklärte er: »Sie sprechen von einem Tierarzt, und mit Hotsch ist mein Schwein Persephone gemeint. Es ist anzunehmen, dass es ihr nicht besonders gut geht. Sie ist sehr sensibel, musst du wissen.«

Odettes Gesichtszüge entgleisten ihr komplett. »Sie rufen einen Veterinär herbei?«, rief sie entsetzt. »Um eine menschliche Leiche zu untersuchen? Ja, sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen? Das Schwein, oder wie Sie das hierzulande nennen mögen, in Ehren, aber … denken Sie nicht, dass die Psyche eines Tieres im Vergleich zu einem Toten der Gattung Homo sapiens sekundär ist?« Sie schnappte nach Luft, und hektische Röte, die definitiv nicht von der Kälte stammte, kroch über ihre Wangen.

Gruber hörte sie jedoch nicht mehr oder gab vor, schon zu weit entfernt zu sein. Jedenfalls reagierte er auf ihre Anschuldigungen nicht einmal mit einem Schulterzucken. Hanspeter Arpagaus, den Anton auf Mitte dreißig schätzte, durchquerte Odettes Grundstück mit großen Schritten und sprang am rückseitigen Ende desselben in einem eleganten Satz über den Lattenzaun. Die halblangen dunklen Locken des jungen Mannes wippten bei dem beneidenswert sportlichen Zwischenspiel.

Anton versuchte, der Buchstabensuppe, die den Mund seiner Nachbarin wie eine Maschinengewehrsalve verlassen hatte, einen Sinn abzugewinnen. Weder verstand er ihr völlig überbordendes Temperament noch die seltsamen Fremdwörter. Es lief doch bisher alles ganz gut, oder nicht? Gruber und Arpagaus waren zwei fähige Burschen, was wollte man mehr. Ein Blick in Odettes Gesicht verriet ihm jedoch, dass sie das anders sah.

Mit entsetzt aufgerissenen Augen starrte sie dem behände wie ein Reh über den Zaun springenden Arpagaus hinterher. Dann wandte sie sich ruckartig zu Anton um.

»Anton, so geht das nicht. Der Tatort wird verunreinigt, qualifiziertes medizinisches Fachpersonal fehlt, der Dienstweg wird nicht eingehalten … Ich sage dir, das ist ganz, ganz schlecht. Ich weiß, wovon ich rede, ich habe Erfahrung, was Mord angeht. Ich habe bei über …«

»… zweihundertfünfzig Tatort-Folgen mitgespielt, das erwähntest du bereits mehrfach«, beendete er ihren Satz. Ihrem pikierten Blick nach zu urteilen war das nicht gerade eine galante Antwort, aber sie hatte diese Tatsache schon annähernd tausend Mal erzählt. Nun legte sich ein gekränkter Ausdruck um ihre Mundwinkel, und Anton fühlte sich schuldig. Hätte er doch besser den Mund gehalten und ihr Geschwafel wie eine Lawine über sich ergehen lassen. So wie damals bei seiner Frau. Allerdings war diese dennoch eines Tages voller Groll ausgezogen.

Bevor die Situation noch unangenehmer wurde, kam Kollege Arpagaus mit sieben Jungs im Schlepptau bei der Vogelscheuche an. Auch dieses Mal wählten sie die Cowboyvariante, schwangen sich über den Zaun und überquerten Odettes Grundstück – mit insgesamt achtmal zwei Füßen … Ein Seitenblick auf seine Nachbarin bestätigte Antons Befürchtung. Sie war sauer, stinksauer.

Kurze Zeit später stand auch der Tierarzt in Zivil mit einem ledernen Koffer im Montebellogarten. Christian Berger umkreiste den steif gefrorenen, an dem hölzernen Kreuz hängenden jungen Mann mehrmals, wobei er die Stirn in angestrengte Falten legte. Nachdem er dessen Vitalfunktionen überprüft hatte, schüttelte er den Kopf.

»Ist er tot?« Odette konnte nicht warten, bis der Tierarzt sich von selbst dazu entschloss zu sprechen. Anton warf ihr einen strafenden Blick zu, den sie mit hochgezogenen Augenbrauen quittierte.

»Ich fürchte, ja«, kommentierte Berger die Situation in knappen Worten. »Hier kommt jede Hilfe zu spät. Der Junge ist durchgefroren wie ein Eis am Stiel … pardon, ich meinte natürlich Eis am Kreuz.« Ein leises Grummeln ging durch die Reihen der Anwesenden. Anton schätzte die entspannende Wirkung von Galgenhumor sehr.

Odettes empörtem Gesichtsausdruck nach zu urteilen brachte sie für den derben Scherz, der in einem rauen Tal wie dem Prättigau zur Tagesordnung gehörte, kein Quäntchen Verständnis auf. Eine leichte Form der Schnappatmung setzte bei ihr ein. Kein gutes Zeichen, fand Anton.

»Finden Sie das etwa lustig? Wurde der arme Bursche möglicherweise umgebracht?« Erneut durchschnitt Odettes hysterischer Sopran die morgendliche Stille.

»Was sagt ihr dazu? Wie heißt der Junge überhaupt? Offenbar ist er einer von euch.« Gruber wandte sich den sieben Jungs zu, die wie die Märchenzwerge dicht beieinanderstanden und ihren Kollegen mit weit aufgerissenen Augen anstarrten.

»Jan Durrer heißt er. Und nein, er wurde nicht umgebracht.« Der Größte unter den Schülern trat einen Schritt nach vorne. Seine Stimme klang dünn, und er wischte sich immer wieder die Hände an der Hose ab. »Wir haben ihn im Zuge eines witzigen Rituals an diesem Holzkreuz platziert … und dann leider vergessen.« Er senkte beschämt den Kopf, und Röte kroch seine Wangen empor bis über die Ohren. Auch die übrigen Jugendlichen blickten angestrengt auf den Boden. Die Erleichterung darüber, nicht sprechen zu müssen, war ihnen anzusehen.

»Vergessen?«, äffte ihn Odette nach und gestikulierte wild mit den Armen.

Anton wich einen Schritt beiseite. Beinahe hätte sie ihm mit ihrem irren Fuchteln eine Ohrfeige verpasst. Das hätte gerade noch gefehlt.

»Bitte, Frau …«, wandte sich Gruber an Odette und nagte an seiner Pfeife.

»Montebello!« Sie streckte Brust und Kinn nach vorne.

»Ich bitte Sie, Frau Montebello, halten Sie sich ein wenig zurück. Ich bin es, der hier die Fragen stellt, ja?«

An Grubers Schläfe pochte eine Ader. Anton konnte es ihm nicht verdenken. Seine Nachbarin hatte eine ungewöhnlich penetrante Art, die Szene zu dominieren. Sie führte sich gerade so auf, als wäre es ihr Recht und ihre Aufgabe, das Unglück aufzuklären. Dabei besaß man für solche Fälle selbst auf dem Land Fachleute.

»Aller Wahrscheinlichkeit nach also Tod durch Erfrieren, begünstigt durch übermäßigen Alkoholkonsum«, fasste der Tierarzt die Situation zusammen.

Zum ersten Mal seit seiner Anwesenheit zückte Gruber nun Stift und Papier. »Ich bin ganz bei dir, Chrigi. Zusätzlich würde ich noch in den Bericht schreiben, dass besagtes Unglück aufgrund eines ausufernden, ebenfalls alkoholmotivierten Schabernacks zustande kam.« Er starrte die Schüler eingehend an, ehe er hastig etwas in sein zerfleddertes Notizheft kritzelte. Da blieb sein Blick an etwas hängen, und er trat einen Schritt auf den Toten zu. Mit Daumen und Zeigefinger fischte er eine Geldbörse aus dessen Gesäßtasche. Routiniert klappte er sie auf und entnahm ihr eine Identitätskarte. »Jan Durrer«, las er vor und nickte allen Anwesenden zu. »Das wär’s dann von meiner Seite. Chrigi?«

»Mhm. Werde jetzt noch zu Antons Hotsch gehen. Armes Ding.« Mit diesen Worten stapfte der Tierarzt davon, und Anton beeilte sich, ihm zu folgen.

»Wie bitte? Das war’s? Stellt denn niemand fest, ob der Junge vielleicht irgendwelche Substanzen im Blut hat? Gift beispielsweise?«, schnappte Odette empört.

Anton blieb neugierig stehen und wandte sich um. Gruber baute sich vor seiner Nachbarin auf. Den Zuckungen in seinem Gesicht nach zu urteilen brauchte es nicht mehr viel, bis er vor unterdrücktem Ärger explodierte. Odette ignorierte die Warnzeichen und starrte ihn mit hervorquellenden Augen an, die jeder Kuh zur Ehre gereicht hätten.

»Natürlich übergeben wir die Leiche einem Allgemeinmediziner zur definitiven Untersuchung«, erklärte Gruber paffend. »Dies ist jedoch nicht der erste Fall dieser Art. Kürzlich ertrank eine Schülerin unter Drogeneinfluss nachts in einem Bergsee. Ihre Kollegen schliefen derweil in ihren Zelten – ebenfalls narkotisiert. Giftattentate sind auf dem Land ebenso unwahrscheinlich wie Skifahren am Äquator. Es handelt sich hier, gemäß meiner beachtlichen Erfahrung, um einen bedauerlichen Unfall. Mord, Frau Montebello, gehört für mich in die realitätsfremde Welt der Unterhaltungsindustrie … der Sie ursprünglich entstammen, wenn ich es durch das Buschtelefon richtig vernommen habe, korrekt?«

Odette lief rot an und schnappte nach Luft. Bevor sie jedoch zu einem stakkatoartigen Redeschwall ansetzen konnte, fuhr der Polizist ungerührt fort: »Ich schätze fantasievolle Menschen wirklich sehr. Meine dreijährige Nichte malt beispielsweise wundervolle Tierfiguren – natürlich mit dem nötigen Interpretationsbedarf, aber beeindruckend kreativ. Allerdings definiert sich mein Beruf nicht über Mutmaßungen und Fantastereien, sondern über Fakten und jahrzehntelange Erfahrung. Wenn Sie mich und meinen Kollegen jetzt also entschuldigen, dann organisieren wir jemanden, der den Jungen aus Ihrem Garten entfernt.«

Mit diesen Worten wandten sich die beiden Beamten der Kantonspolizei ab und stapften davon. Reto Gruber erledigte einige Telefonate, während sein Kollege Hanspeter Arpagaus die bleichen Schüler zurück auf ihre Hütte scheuchte. Anton folgte dem Tierarzt zu Persephones Gehege.

Die Wollschweindame befand sich in einem erbärmlichen Zustand, das erkannte er sofort. Sie stand mit der Schnauze zum Lattenzaun in der hintersten Ecke des Pferchs und wiegte den Kopf unablässig hin und her. Ein konstantes, leichtes Knurrquieken verließ ihre Kehle. So hätte Anton den befremdlichen Klang beschrieben. Er tauschte einen vielsagenden Blick mit dem Tierarzt, der zustimmend nickte, als hätte er seine Gedanken erraten. Vorsichtigen Schrittes, um das Knirschen auf dem schneebedeckten Untergrund auf ein Minimum zu reduzieren, näherte er sich seiner Persephone. Ihre Flanken hoben und senkten sich in hektischem Rhythmus. Sie stand noch immer unter Schock.

»Mäuschen?« Zögerlich legte er dem Wollschwein eine Hand auf den Rücken und ließ die Finger sanft über die borstigen Zotteln gleiten. Als Persephone nicht panisch quiekend davongaloppierte, atmete er erleichtert aus. Anton war nicht einmal aufgefallen, dass er den Atem angehalten hatte.

»Braves Mädchen, so ist es gut. Du brauchst keine Angst zu haben, ich bin bei dir. Dir kann nichts geschehen. Papa ist ja da.« Er kraulte Persephone nun sanft zwischen den Ohren und legte sein Gesicht an ihre Wange. Sie stellte das Knurren ein. Das Einzige, das nun schnaubend die Stille durchbrach, war ihr Atem, der in weißen Puffwölkchen die Schnauze verließ. Langsam beruhigte sich die Bewegung ihres Brustkorbs. Sie wandte den Kopf und drückte ihn an Antons Brust.

»Ich kann ihr etwas zur Beruhigung spritzen, wenn du möchtest«, schlug Berger vor, der sich bisher bewusst im Hintergrund gehalten hatte.

»Lass mal, ich denke, sie kommt klar.« Anton wusste, wie ungehalten Persephone auf den Stich einer Nadel reagierte. Diese Schmerzen wollte er ihr ersparen.

Das Motorengeräusch eines herannahenden Fahrzeugs unterband eine weitere Konversation. Anton und der Tierarzt drehten sich beinahe gleichzeitig um. Gruber hatte einen Krankenwagen beordert, um die Leiche des Jugendlichen fachgerecht abzutransportieren. Ein Arzt öffnete die Beifahrertür, sprang behände heraus und zog mithilfe der Sanitäter eine Trage aus dem Heck des Wagens. Christian Berger verabschiedete sich von Anton und ging auf den Mediziner zu, um ihm seine Erkenntnisse über den Verstorbenen mitzuteilen. Gruber und Arpagaus waren ebenfalls zum Krankenwagen zurückgekommen.

Nur Odette schien das geschäftige Treiben vor ihrem Haus gar nicht zu kümmern, was Anton sehr absonderlich vorkam, denn das entsprach absolut nicht ihrem sonstigen Verhalten. Typischerweise wäre sie an vorderster Front, mit unüberhörbarem Stimmorgan, die Dirigentin des Geschehens gewesen. Stattdessen schlich sie in gebückter Haltung durch ihren Garten und inspizierte das Meer an Fußspuren, das die Schüler und Polizisten hinterlassen hatten.

Vielleicht sollte Christian Berger die Beruhigungsspritze besser in die Venen von Antons Nachbarin jagen …

Kapitel 5

Odette

Sie starrte den Schülern hinterher, die sich wieder auf ihre Hütte trollten. Mal abgesehen davon, dass die gesamte Meute erneut den Schnee in ihrem Garten niedertrampelte, verspürten anscheinend weder der Polizeibeamte Gruber noch sein Kollege Herr Arpagaus das Verlangen, besagte Bande zu verhören. Ihre seltsamen Blicke, begleitet von nervösen Gebärden, waren Odette jedoch keinesfalls entgangen. Dazu kam noch dieser hinterwäldlerische Veterinär, der sich nicht nur geschmacklose Scherze erlaubte, sondern das Wohl des borstenbewehrten Ungetüms auf Antons Bauernhof auch noch über die Befindlichkeit eines Menschenjungen stellte.

Sie war über alle Maßen schockiert und verärgert. Das Leben auf dem Land hatte sie sich anders vorgestellt. Nachdem Odette wiederholt versucht hatte, an den gesunden Menschenverstand der Anwesenden zu appellieren, hatte sie sich nichts vorzuwerfen. Sie beschloss, die absurde Darbietung der Gesetzeshüter und des Tierarztes für den Moment zu ignorieren. Das änderte freilich nichts an ihrem Bauchgefühl, das ihr klar und deutlich mitteilte, dass hier etwas faul war. Auch wenn man ihr unfairerweise unterstellte, in einer Parallelwelt der Unterhaltungsindustrie zu leben, so war sie doch der Meinung, dass man gerade dort einiges über die Typologie von Morden lernte. Schließlich war es das erklärte Ziel eines jeden qualitativ hochstehenden Films, der Realität so nahe wie möglich zu kommen.

Einzig was die unglückliche Wahl ihrer Schuhe betraf, musste sie Herrn Gruber insgeheim recht geben. Viel Zeit zum Nachdenken hatte sie nach der Entdeckung des Toten in ihrem Garten allerdings auch nicht gehabt. Außerdem standen ihre Winterschuhe zum Trocknen neben dem Stubenofen, weil Antons Tigerkatze Olivia gestern, aus welchem Grund auch immer, ein sehr unappetitliches Häufchen vor ihrer Haustür zurückgelassen hatte. Leider hatte Odette besagte braune Liebeserklärung zu spät entdeckt und war hineingetreten. Das aber nur so nebenbei. Mittlerweile wäre das Schuhwerk bestimmt trocken, doch wollte sie sich unter keinen Umständen die Blöße geben, Gruber in seinem Urteil zu bestärken. Lieber bewies sie den Herren der Schöpfung, dass man im Schnee durchaus mit High Heels laufen konnte, auch wenn man bis zu den Knöcheln in selbigen einsank.

Gerade wurde der steif gefrorene Junge mithilfe mehrerer Sanitäter sorgfältig von seinem Marterpfahl abgenommen und auf eine Trage gelegt. Der Humanmediziner beugte sich über ihn und untersuchte erneut die Vitalfunktionen.

Odette trat bewusst einige Schritte zurück und schwieg. Um nicht zu frieren, verschränkte sie die Arme vor der Brust. Ihr Verstand arbeitete auf Hochtouren. Wieso vergaßen sieben Jungs ihren Kollegen im Garten einer Nachbarin? Selbst wenn sie alle ihre individuelle Promillegrenze überschritten hatten, musste doch mindestens einer daran gedacht haben, dass noch ein Schüler draußen festgebunden war? Sogar wenn sie aufgrund ihres bedauernswerten Zustands eingeschlafen waren, musste irgendwann doch einer erwacht sein und das Fehlen des Jungen bemerkt haben? Und war es nicht verdächtig, dass alle sieben absolut identisch reagiert hatten? Keiner hatte den Achten im Bunde vermisst. Niemand war aufgewacht. Und auch wenn sie selbst in dieser Nacht Ohrstöpsel getragen hatte, musste doch irgendjemand anders den Jungen rufen gehört haben? Man konnte es drehen und wenden, wie man wollte, für ein simples Unglück gab es im vorliegenden Fall einfach zu viele ungeklärte Fragen. Es war ihr ein Rätsel, warum Gruber und Arpagaus sich weigerten, das zu sehen.

Von einem unerklärlichen inneren Impuls getrieben, lief Odette los. Sie beugte sich nach vorne, um den zertrampelten Schnee in ihrem Garten besser in Augenschein nehmen zu können. Eine heiße Welle der Verärgerung stieg in ihr auf, als sie feststellte, dass es schwierig bis unmöglich war, die Fußspuren zum Tatzeitpunkt von den frischen zu isolieren. Arpagaus hatte mit seiner kopflosen Aktion ganze Arbeit geleistet. Der Schnee war großflächig platt getreten, einzelne Schuhabdrücke waren kaum mehr auszumachen.

Odette überlegte sich gerade eine entsprechende Bemerkung, als sich die gesamte Truppe mit der Trage aus ihrem Garten entfernte. Der tote Junge wurde im Krankenwagen verstaut, der Arzt und Gruber tauschten einige Worte, die sie nicht verstand, und verabschiedeten sich schließlich. Die Polizisten und der Veterinär riefen Odette über den Zaun hinweg auch noch Abschiedsworte zu. Offenbar hielt es keiner für nötig, ihr die Hand zu geben, wie es der Anstand in so einer Situation geboten hätte.

»Sie hören wieder von uns, falls wir noch etwas brauchen, Frau …«

»Montebello!«

»Richtig.« Gruber tippte sich an einen imaginären Hut und wandte sich dann an Anton.

Unerhört, dass er sich ihren Namen nicht merken konnte, geschweige denn den Versuch unternahm, ihn zu notieren.

Ende der Leseprobe