Der tödliche Tanz des Monsieur Bernard - Marie Pellissier - E-Book

Der tödliche Tanz des Monsieur Bernard E-Book

Marie Pellissier

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  • Herausgeber: Diana
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Eine ungewöhnliche Ermittlerin auf Mörderjagd hinter der glänzenden Fassade der Pariser Oper

Hinter der glänzenden Fassade der Pariser Oper wird nach einer Premierenvorstellung der für sein exzessives Leben bekannte Ballettdirektor Guillaume Bernard tot aufgefunden. Mit ihrem untrüglichen Gespür für die Aufklärung von Verbrechen nimmt sich Gardienne Lucie der Sache an. Sie kannte Guillaume schon lange, wohnte er doch im Haus an der Place des Vosges, wo sie seit über 40 Jahren als Hausmeisterin das Regiment führt. Lucie will unbedingt wissen, was mit dem Ballettdirektor passiert ist. Und taucht tief in die Vergangenheit der Pariser Ballettszene ein, wobei sie sich gefährlich weit in den Kreis der Verdächtigen begibt …

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Seitenzahl: 451

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Zum Buch

Paris, Opéra Garnier. Nach einer Premierenvorstellung an der weltbekannten Pariser Oper gibt es einen Todesfall. Der Fall scheint klar: Der ebenso berühmte wie exzentrische Ballettdirektor Guillaume Bernard ist in Feierlaune die Treppe hinuntergestürzt. Doch eine glaubt keine Sekunde an einen Unfall: Gardienne Lucie. Ihre Intuition sagt ihr, dass mehr dahinter stecken muss. Lucie kennt Guillaume seit mehr als vierzig Jahren aus dem vornehmen Haus am Place des Vosges Nr.3, wo sie für Ordnung sorgt, die Post verteilt, Ratschläge gibt und die gute Seele des Hauses ist. Sie zweifelt an Commissaire Legrands Ermittlungskünsten und macht sich mit ihrem untrüglichen Gespür für die Aufklärung von Verbrechen auf Spurensuche. Womit sie tief in die Pariser Ballettszene eindringt und sich weit in den Kreis der Verdächtigen begibt – gefährlich weit …

Zur Autorin

Marie Pellissier, 1971 geboren, verliebte sich mit Anfang zwanzig in die Stadt Paris, wo sie viele Jahre verbrachte. Der tödliche Tanz des Monsieur Bernard ist nach Die tödliche Tugend der Madame Blandel ihr zweiter Kriminalroman. Heute lebt die Autorin mit ihrer Familie in Heidelberg.

MARIE PELLISSIER

Der tödliche Tanz des

Monsieur Bernard

Kriminalroman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt

und enthält technische Sicherungsmaßnahmen

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da wir uns diese nicht zu eigen machen,

sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt

der Erstveröffentlichung dieses E-Books verweisen.

Originalausgabe 11/2015

Copyright © 2015 by Marie Pellissier

Copyright © 2015 by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Dieses Werk wurde vermittelt durch

die Literarische Agentur Michael Gaeb

Redaktion  |  Carola Fischer

Umschlaggestaltung  |  t.mutzenbach design, München

Umschlagmotiv  |  © shutterstock

Satz  |  Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN 978-3-641-17390-6

www.diana-verlag.de

Für Armin

»Mensch, lerne tanzen, sonst wissen die Engel

im Himmel mit dir nichts anzufangen.«

Aurelius Augustinus

Montag, 2. Oktober

Das Geräusch war ihm durch Mark und Bein gegangen und hatte ihn aus dem Tiefschlaf in die Gegenwart katapultiert. SanftesRascheln, dachte Monsieur Rosenberg, während er stocksteif in seinem Bett lag und lauschte. Leise Töne waren eindringlich, gefährlich, jagten einem einen Schauer des Grauens über den Rücken. Da! Das Tippeln. Er kämpfte gegen den Impuls zu schreien. Wer hätte ihn hören sollen, allein in seiner Wohnung an der Place des Vosges?

Monsieur Rosenberg zwang sich, die Augen zu öffnen. Durch das Fenster fiel schwaches Licht des Pariser Nachthimmels. Die Partitur, mit der er gestern ins Bett gegangen war, lag neben ihm auf der Decke. Vorsichtig tastete er nach seinem Handy. 2.45 Uhr.

Das Geräusch war verstummt.

Was sollte er tun, mitten in der Nacht? Ihn fröstelte. Dann hörte er ein leises Wimmern neben sich. Nicht zu gebrauchen, der Hund! Fifi hätte den Angreifer in die Flucht schlagen sollen. Doch – wer sagte, dass es nur einer war? Traten sie nicht immer in Horden auf? Stattdessen versuchte der Hund, sich unsichtbar zu machen, nicht heldenhafter als sein Herrchen.

Wenn er die Augen einfach nicht mehr schließen würde? Vielleicht bliebe es dann still. Doch da! Erst das Rascheln, dann kleineSchritte. Monsieur Rosenberg spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Die Schritte klangen, als kämen sie näher. Die Schlafzimmertür stand offen!

Monsieur Rosenberg musste Hilfe rufen! Das Handy hatte lag glücklicherweise direkt neben dem Bett. Gott sei Dank. Aber wen? Und wer sollte aufmachen? Er selbst konnte unmöglich sein Bett verlassen, doch … Lucie! Wie eine Lichtgestalt erschien die kleine, unerschütterliche alte Dame vor seinem geistigen Auge, und augenblicklich wurde ihm warm ums Herz. Wozu hatte er diesen rettenden Engel als Gardienne? Während er ihre Nummer wählte, dachte er an die vielen Lachfalten um ihre strahlenden Augen. Es tutete in der Leitung. Wenige Minuten trennten ihn von seiner Erlösung. Die Hausmeisterin würde verstehen, dass es ein Notfall war. Es tutete vier Mal. Würde sie es verstehen? Weitere zwei Mal. Was würde ihr Mann Antonio sagen? Noch drei Mal. Doch die Biester ließen ihm keine andere Wahl!

»Oui«, meldete sich eine verschlafene Frauenstimme.

»Lucie, Gott sei Dank!«, stammelte Monsieur Rosenberg, vollkommen außer Fassung. »Lucie, bitte, Sie müssen sofort kommen! Ich habe Mäuse in meiner Wohnung.«

Im Schein der Nachttischlampe überlegte Lucie, ob sie sich vollständig anziehen sollte.

»Wer war denn das schon wieder?«, knurrte Antonio im Halbschlaf.

Lucie löschte das Licht. »Ich bin gleich wieder da«, flüsterte sie und griff nach dem Morgenrock. Antonio reagierte allergisch auf Störungen der Hausbewohner außerhalb ihrer Ansprechzeiten als Gardienne. Doch sie musste dem armen Monsieur Rosenberg helfen.

In der Kammer suchte Lucie nach Eimer und Besen. Wenn sie die Maus damit nicht erwischen sollte, so würde sie eine Lebendfalle brauchen. Lucie kletterte auf die Trittleiter und stöberte im obersten Fach hinter dem Düngemittel für die Topfpflanzen.

Dermaßen ausgestattet angelte sie nach dem Schlüssel für Rosenbergs Appartement im Kasten neben der Tür und machte sich auf den Weg in den vierten Stock. Das Treppenhaus war schwach beleuchtet, doch Lucie hätte den Weg auch blind gefunden. Schließlich putzte und umsorgte sie das alte Gebäude aus dem 18. Jahrhundert seit mehr als vierzig Jahren.

Oben knarrten die Dielen wie erwartet. Sie drehte den Schlüssel im Schloss, betrat die Wohnung, zog die Tür hinter sich zu und ging Richtung Schlafzimmer am Ende des Flurs.

»Ich bin da«, rief sie halblaut, um den Komponisten nicht zu erschrecken.

»Hier, Lucie, ich bin hier«, kam es zaghaft zurück. Dann sah sie ihn senkrecht im Bett sitzen, die Haare wirr, die Augen weit aufgerissen. Er starrte sie an.

Mit einem Mal wurde Lucie bewusst, dass ihre Erscheinung im geblümten Bademantel mit offenem Haar vielleicht nicht gerade dazu beitrug, sein Entsetzen zu mildern. Dafür kam Fifi schwanzwedelnd auf sie zugelaufen.

»Gott sei Dank sind Sie da, Lucie! Ich glaube, die sind in der Küche …«

Lucie ging in die kleine Küche und machte Licht. Ihr war klar, dass die Maus sich in den hintersten Winkel zurückgezogen haben würde und sicher noch mehr Angst hatte, als der Zweibeiner nebenan.

»Können Sie etwas sehen?«, rief Rosenberg.

Jetzt bestimmt nicht mehr, dachte Lucie. Der Boden unter dem Betontisch, in den Kochstelle und Spülbecken integriert waren, lag im Schatten, doch als Lucie sich hinkniete, konnte sie gut erkennen, dass hier zwar mal wieder gewischt werden sollte, dass sich aber außer Staubflusen nichts herumtrieb, was nicht hierher gehört hätte. Daneben stand über Eck der Kühlschrank. Ein hervorragendes Versteck. Ebenso der Geschirrschrank. Lucie versuchte den Besenstil unter dem Schrankboden entlangzuführen, aber er war zu dick.

»Tja, meine Kleine, da hast du wohl Glück gehabt.« Sie sah Fifis Fressnapf und daneben etwas von seinem Trockenfutter liegen. Kein Wunder, das zog Mäuse an. »Dann werden wir dich wohl mit einem Leckerbissen locken müssen.«

Lucie öffnete den Kühlschrank und betrachtete die verschiedenen Käsesorten. Ob Mäuse lieber Brie mochten, Comté, Munster, …? Lucie entschied sich für einen Gruyère, schnitt ein kleines Eck ab und legte es in die Falle. Beim Zurückräumen entdeckte sie eine geöffnete Schachtel Pralinen. Vielleicht stand die Maus mehr auf Süßes? Die Gardienne legte noch ein Stück Nougat neben den Käse. Wenn schon die Freiheit verloren ging, dann doch bitte in Saus und Braus. Lucie räumte Fifis Fress- und auch den Trinknapf in Rosenbergs Esszimmer und stellte die Falle in der Küche auf den Boden. Dann nahm sie Handtücher aus dem Schrank, schloss die Küchentür und dichtete mit dem Stoff den Türspalt ab.

Monsieur Rosenberg erwartete sie gespannt. »Konnten Sie die Maus fangen? Ich habe gar nichts gehört.«

Lucie schüttelte den Kopf. »Aber hier sind Sie sicher. Die Maus kann die Küche nicht verlassen, bis die Falle zuschnappt. Vielleicht möchten Sie morgen im CaféFrançais frühstücken? Und ich komme dann im Laufe des Tages vorbei, um das Tierchen abzuholen.«

Monsieur Rosenberg sah noch nicht überzeugt aus.

»Ich habe den Türspalt verschlossen. Es gibt keinen anderen Weg hinaus.« Sie hoffte, dass das stimmte.

Rosenberg ließ sich zurück in die Kissen sinken. Lucie lächelte und widerstand dem Impuls, seine Bettdecke fest um ihn zu wickeln, wie sie das früher bei ihren Söhnen gemacht hatte.

»Merci, Lucie.« Er blickte sie dankbar an. »Ich wüsste nicht, was wir ohne Sie tun würden.«

Mit Eimer und Besen in der Hand stieg Lucie zufrieden die Treppe hinab. Sie liebte dieses alte Gemäuer. Die einzelnen Stufen, alles noch echte Handarbeit, individuell gefertigt, nicht perfekt und deshalb so vollkommen. So wie die Menschen, die hier lebten: Geschöpfe Gottes mit Ecken und Kanten, Stärken und Schwächen. Waren es nicht genau ihre Schwächen, die sie so liebenswert machten? Lucie freute sich schon darauf, wieder unter die warme Bettdecke kriechen zu können, als sie hörte, wie das Holzportal geöffnet wurde.

Für den Zeitungsausträger war es noch zu früh. Der kam erst um fünf. Jetzt musste es kurz nach drei Uhr sein. Vermutlich ein später Heimkehrer, dem sie nicht unfrisiert im Nachthemd begegnen wollte. Lucie hoffte daher, dass es sich um jemand aus dem Hinterhaus handelte und dass er sich leise verhielt, damit die anderen Bewohner nicht aus dem Schlaf gerissen wurden.

»Chantons et buvons, les amis, buvons donc!«, hörte sie es unten grölen. »Quand je bois du vin clairet, ami, tout tourne, tourne, tourne, tourne …«

Das gab es doch gar nicht! Betrunkene –Jugendliche? Clochards? Hatte sie vergessen, den Code zu aktivieren, der nachts das Gebäude vor unbekannten Eindringlingen schützte?

Lucie ging schnell zum nächsten Fenster und riss es auf. »Schtt!«, zischte sie, so laut sie konnte. »Silence!« Nur schemenhaft konnte sie im Hof zwei Gestalten durch das schwache Licht erkennen. Sie eilte die letzte Treppe hinab und hinaus in den Hof, bewaffnet mit Eimer und Besen.

Dort sah sie Guillaume Bernard, den Ballettdirektor der Pariser Oper, gestützt auf seinen besten Freund, den Ballettarzt Dr. Pierre Bourgeois. In der freien Hand trug jeder von ihnen eine Krücke. Während sie beide wie ein Schiff auf hohem Seegang dem Hinterhaus entgegenschwankten, stimmte Pierre ein neues Lied an: »Joyeux anniversaire …«

»Messieurs!«, Lucie stand nun direkt hinter ihnen und hob drohend den Besenstiel. »Es ist drei Uhr morgens!«

Die honorigen Herren schienen sie erst jetzt zu bemerken.

»Sie sieht gefährlich aus!« Dr. Bourgeois begann zu kichern.

»Sie führt ein strenges Regiment!« Guillaume Bernard strahlte sie an.

»Schluss jetzt!« Lucie bemühte sich um Autorität.

»Aber ich habe doch Geburtstag!«, strahlte Guillaume und eine Alkoholfahne strömte Lucie ins Gesicht.

»Sie sind ja betrunken!«, tadelte Lucie.

»Stimmt!« Guillaume blickte gewichtig. »Und Sie sind entzückend …« Er machte eine Pause, als suche er das passende Wort. »… derangiert!«

Lucie fiel es schwer, nicht zu lächeln. »Geben Sie mir Ihr Handy!« befahl sie Guillaume, der verdutzt gehorchte. Sie wählte die Nummer der Taxis Bleus und bestellte einen Wagen an die Place des Vosges, Nummer 3.

»Sie haben mir noch gar nicht gratuliert!«, maulte Guillaume. »Sechzig Jahre – das ist doch was … Ich habe oben eine Flasche Dom Perignon kalt liegen …«

»Genau«, erwiderte Lucie, »und deshalb müssen Sie morgen fit sein!«

»Ich bin immer fit …«, deklarierte Guillaume, mühevoll auf seinen Freund gestützt. »Fragen Sie die jungen Mädels! Nein, fragen Sie Pierre …« Er machte wieder eine Pause, und Lucie befürchtete schon, gleich würde er umfallen, doch er ließ nur die Krücke los, um Pierre auf die Brust zu klopfen. »Er ist schließlich mein Arzt …«

Das Handy brummte.

Lucie sah die Nachricht: »Docteur, Ihr Taxi ist nun da.«

Pierre Bourgeois blickte Guillaume fragend an.

Der nickte. »Man muss ihr gehorchen. Ich komme schon klar.«

»Bonne nuit!« Pierre gab Guillaume seine Krücke und ging nun deutlich weniger torkelnd in Richtung Ausgang. Lucie hob die zweite Gehhilfe auf und betrachtete Guillaumes Gips und das Kopfsteinpflaster. In diesem Zustand würde er das nicht allein schaffen. Sie seufzte: »Ich helfe Ihnen.« Und ärmelte ihn unter. Gott sei Dank war er nicht viel größer als sie. Für einen Mann sogar erstaunlich klein, aber attraktiv. Die sechzig Jahre sah man ihm nicht an. Lucie begleitete ihn zum Hinterhaus und öffnete die Tür. Guillaume hatte dunkle Haare, dunkle Augen, gebräunte, noch sehr glatte Haut, schöne weiße Zähne und einen durchtrainierten Körper. Doch seine Wirkung auf die Menschen, dachte Lucie, hatte er seiner starken Ausstrahlung zu verdanken, wie wohl so viele ehemalige Tänzer.

»Sie duften wunderbar, Lucie.« Guillaume blickte sie an, als sie auf den Fahrstuhl warteten. »Sie duften wie Frühling und Geborgenheit …«

Lucie wurde warm. »Wie ist das eigentlich mit Ihrem Fuß passiert?«

Sie betraten den Fahrstuhl, und Lucie stellte den Besen zwischen sich und den Ballettdirektor und hielt den Eimer vor ihren Bauch und Guillaume auf Abstand.

»Ich bin vor zwei Tagen in den Kulissen gestürzt.«

Die kleine Kabine setzte sich ruckelnd in Bewegung.

»Und jetzt brauche ich diese albernen Krücken. Eine Schmach für einen Tänzer!«

Plötzlich sah er sie eindringlich an. Ihr wurde mulmig.

»Lucie, ich bitte Sie doch nur um ein Glas Champagner mit mir. Wenn nicht auf meinen Geburtstag, dann auf meinen Abschied. Sie sind doch nun schon so lange meine Gardienne. Bitte.«

Der Fahrstuhl hielt, und Lucie half Guillaume hinaus. »Monsieur Bernard, vielen Dank für die Einladung, doch es ist halb vier am Montagmorgen, Sie sind betrunken, und Sie haben in wenigen Stunden Ihren großen Galaabend.«

Guillaume seufzte. »Anders ist es auch nicht zu ertragen.« Er versuchte, den Schlüssel in das Schloss zu stecken, doch er rutschte immer wieder ab.

»Das Älterwerden? Darf ich?« Lucie nahm den Schlüssel.

»Vielleicht auch das …« Er klang resigniert. Sie schloss auf.

»Gute Nacht, Monsieur Bernard. Und herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.«

»Gute Nacht, Lucie. Sie sind eine wunderbare Frau.« Guillaume strahlte wieder. »Ihr Mann ist zu beneiden …«

Auf ihrem Rückweg über den Hof dachte Lucie, dass es mit dem Alkohol schon eine komische Sache war. Noch nie hatte sie Guillaume so schwankend in seiner Stimmung erlebt. Sonst wirkte er immer wie ein Fels in der Brandung, ein Strahlemann, der alles im Leben erreicht hatte und es leichtfüßig zu genießen verstand. Er hatte von Abschied gesprochen, von Frühling und von Geborgenheit, während ihre Aufmachung im Morgenrock definitiv nicht angemessen gewesen war. Tantpis.

In ihrer kleinen Loge lag auf dem Esstisch noch der Brief des neuen Hausverwalters, den sie heute Mittag nur kurz überflogen hatte. Besser gesagt, gestern Mittag. Darin hatte Monsieur Platel sein Kommen angekündigt, er wollte mit ihr über die Installation von Briefkästen sprechen und bat sie, jetzt auch tagsüber den Zugangscode am Portal einzuschalten, sodass nur befugte Personen das Gebäude betreten konnten.

Lucie schüttelte den Kopf. Glaubte der Hausverwalter wirklich, ihre Aufgaben ließen sich dadurch reduzieren? Er hätte heute Nacht hier sein sollen …

Kurz vor vier Uhr. Sie freute sich, jetzt noch zwei Stunden ins Bett gehen zu können und kuschelte sich unter Antonios Decke. Er zog sie enger an sich. »Was war das denn für ein Radau?«

»Guillaume hat in seinen Geburtstag reingefeiert.«

»Ich bringe ihn um!«, sagte Antonio.

In der goldenen Oktobersonne entfaltete sich die Place des Vosges in ihrer ganzen Farbenpracht. Die Backsteinfassade über den ockerfarbenen Sandsteinbögen schimmerte in zartem Rot, das lichte Blätterdach der Platanen in Gelb und Grün, und die königlichen Kastanien in der Mitte des Platzes leuchteten in warmen Rotbrauntönen. Der Anblick war so schön, dass es fast schmerzte, denn dieser Höhepunkt der Pracht war ein letztes Aufbegehren vor dem Sterben, vor der Zeit der Kälte, der Dürre und des Stillstands.

Autumn Moves hieß die Choreografie, die Amandine zur Zeit mit den Tänzern des Pariser Balletts einstudierte. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, die Bewegungen des Herbstes einzufangen, die wilden Stürme, das sanfte Fallen der Blätter.

Amandine wandte den Blick ab vom Park mit seinen hübschen Springbrunnen und betrat den Bogengang unter den Arkaden. Vor zehn Jahren, das war ihr Eindruck, war Paris sauberer gewesen als heute. Ein grün gekleideter Straßenkehrer schleifte seinen Besen über das Trottoir, schob den Staub und Dreck in die Rinne am Straßenrand, um es dann in den unterirdischen Abwasserkanal zu befördern. Seine Bewegungen wirkten mehr müde als schwungvoll. Neben ihm die Bettstatt der Clochards.

Amandine öffnete das große Holzportal von Hausnummer 3. Es war eine der noblen Stadtvillen, Hôtel genannt, deren Erbauung Heinrich IV. in Auftrag gegeben hatte und die ursprünglich von Adelsfamilien bewohnt worden waren. Auch die heutigen Bewohner verfügten über Rang, Geld oder Namen.

Oder ein Herz aus Gold, dachte Amandine, als sie Lucie im Hof die roten Ahornblätter zusammenkehren sah, deutlich energischer als der Straßenkehrer draußen.

»Bonjour!«, rief Lucie und kam ihr entgegen. Ihre blauen Augen strahlten, die weißen Haare trug sie perfekt hochgesteckt. Das Gesicht hatte mehr Falten als früher, wirkte aber immer noch genauso lebendig und rosig. Freundliche Falten, dachte Amandine.

»Salut, Nounou.« Sie küsste Lucie auf beide Wangen. »Ich habe uns croissants aux amandes mitgebracht. Du magst doch Mandelcreme?«

Lucie legte ihre Arbeit beiseite und bat Amandine in ihre Loge hinter der kleinen Glastür im Eingang. »Sehr gern! Ich mache uns schnell frischen Kaffee!«

Amandine setzte sich auf einen unbequemen Holzstuhl an den runden Tisch, über dem eine weiße Tischdecke ausgebreitet lag. Lucie hatte das gute Porzellan gedeckt. Amandine hörte die Gardienne in der Küche hantieren:

»Immer noch schwarz?«

War der Raum früher auch so klein gewesen?

»Ja, bitte.«

Amandine betrachtete den lindgrün lackierten Wandschrank, die weiße Madonna aus Fatima, vor der eine brennende Kerze stand. Sie dachte daran, dass Lucie ihr als Kind Tischgebete beigebracht hatte und Gebete zur Nacht. Und auch das Vaterunser.

»Na, wie geht es dir jetzt in Paris?« Lucie erschien lächelnd mit zwei Tassen im Türrahmen und reichte Amandine eine davon. »Vorsicht, heiß.«

Dass es nicht leicht werden würde, sich der Vergangenheit zu stellen, hatte Amandine gewusst.

»Es ist sehr schön hier an der Place des Vosges.« Amandine nippte vorsichtig an der Tasse: »Vielen Dank, dass du mir die Wohnung von Florine vermittelt hast.«

»Leider muss ich jetzt immer diesen blöden Bluttest machen – Diabetes. David besteht darauf.« Lucie legte drei Schachteln auf den Tisch. Blutzuckerteststreifen, eine Packung mit der Abbildung eines Geräts auf dem »Diabetesmanagement« stand und eine »Stechhilfe Ultrasoft«. Amandine kannte Lucie gut genug, um zu wissen, dass der Gardienne diese Prozedur zuwider sein musste, es passte einfach nicht zu ihr, so viel Aufhebens um die eigene Gesundheit zu machen. »Ich werde das Croissant später essen.« Lucie schob die Packungen auf die andere Seite des Tisches. »Du hast ja nicht so viel Zeit. Jetzt erzähl mir lieber: Wie ist es an der Oper?«

Amandine lächelte. Wie erwartet ließ sich Lucie nicht von dem wirklich wichtigen Thema ablenken. Amandine brach ein Stück Croissant ab und tunkte es in den Kaffee. Sie war bei ihren ersten Begegnungen mit Guillaume äußerst vorsichtig gewesen. Er strahlte genauso wie damals, als sie noch dem Ballett angehört hatte, und schien kein bisschen gealtert zu sein. Der Ballettdirektor hatte sie gebeten, nach Paris zu kommen, um ihre inzwischen weltbekannte Choreografie mit dem hiesigen Ballett einzustudieren. Seit zwei Tagen fragte sie sich, ob dieser Grund nicht nur vorgeschoben gewesen war.

»Das Palais Garnier ist sehr schön geworden. Als ich fortgegangen bin, waren die Restaurierungsarbeiten ja noch in vollem Gange. Nun habe ich zum ersten Mal das Ergebnis gesehen.«

»Soso«, sagte Lucie und trank einen Schluck Kaffee.

Amandine war froh, dass Lucie nicht weiter in sie drang. Lucie war das beste Kindermädchen gewesen, das man sich hätte wünschen können. Sie hatte der kleinen Amandine viel Liebe und Geborgenheit geschenkt – so etwas wie eine heile Familie. Gerade deshalb hatte Amandine Lucie damals nicht mit dem wahren Grund für ihre plötzliche Abreise aus Paris belasten wollen.

»Wo früher einfach Farbe drübergepinselt wurde, hat man jetzt versucht, den Originalzustand wiederherzustellen. Und wo das nicht mehr möglich war, hat man sich bemüht, der ursprünlichen Absicht nahe zu kommen«, erklärte Amandine.

Lucie blickte sie mit ihren blauen Augen liebevoll an.

»Das Farbe drüberpinseln war noch nie meins …« Amandine nahm die Tasse in beide Hände und genoss die Wärme. Eine Weile sagte sie nichts. Im Leben einer jeden Tänzerin gab es eine Phase der optimalen Balance zwischen Physis und psychischer Reife. Sie selbst hatte auf ihrem Zenit aufhören müssen, damals vor zehn Jahren.

Lucie wartete.

»Die Oper, das Palais Garnier, war meine Heimat. Jetzt begegne ich Menschen wieder, die ich seit Langem kenne, und anderen, die ich erst kennenlerne. Als ich ankam, hatte ich das Gefühl, alles ist wie immer, und das ist es auch irgendwie. Aber ich selbst bin eine andere geworden … Man macht sich etwas vor, wenn man glaubt, dort anknüpfen zu können, wo man aufgehört hat … Jetzt ist die nächste Generation dran.« Als Choreografin gab Amandine weiter, was sie selbst über viele Jahre hinweg gelernt hatte. Aus Liebe zum Tanz förderte sie das Talent junger Tänzer. »Mit neuen Menschen zu arbeiten und alte Freunde wiederzutreffen ist eine große Freude.«

Es klingelte an der Tür.

»Entschuldige«, sagte Lucie. »Wahrscheinlich wieder Blumen für Guillaume. Die liefern hier schon den ganzen Tag riesige Bouquets ab.«

Die Vorboten der Show der Eitelkeiten, durchfuhr es Amandine.

Lucie öffnete, doch vor der Tür stand diesmal kein Blumenbote, sondern Madame Richard aus dem Hinterhaus, die von ihrem Dackel begleitet wurde.

»Bonjour. Das war ja heute Nacht wieder ein Lärm!«

Die alte Dame streckte ihr eine Plastiktüte entgegen. Lucie hatte es aufgegeben, sie zu bitten, die Kleidungsstücke im Wäschekorb liegen zu lassen, damit sie sich leichter bügeln ließen.

»Wie lange werden Sie brauchen?« Madame Richard lugte an Lucie vorbei in ihre Loge.

Lucie überlegte. Da selbst die frisch gewaschene Wäsche von Madame Richard immer verknüllt und muffig war, wusch Lucie diese vor dem Bügeln noch einmal, was sie der alten Dame natürlich nicht verriet. Heute Abend war die Gala im Palais Garnier, bis dahin war ihr Tag schon verplant. »Übermorgen, denke ich.«

»Ist das nicht Amandine?«, rief Madame Richard und stand im nächsten Moment am Esstisch.

»Isadora!« Amandine strahlte Madame Richard an, erhob sich und begrüßte sie mit Wangenkuss.

Was hat Amandine mit der alten Klatschbase zu tun, fragte sich Lucie.

»Du bist wieder in Paris, Mädchen? Welche Freude, dich zu sehen!«

Wie konnte Madame Richard Amandine als Mädchen bezeichnen? Amandine war inzwischen über vierzig. Die Einzige, die dieses Recht für sich beanspruchen durfte, war doch wohl Lucie, die ihre Windeln gewechselt, ihre ersten Schritte begleitet und ihre ersten Worte gehört hatte, damals, als junge Frau, nachdem sie Portugal verlassen hatte.

»Was machst du denn hier?« Madame Richard betonte das Wort »hier« so, als wäre sie ihrerseits erstaunt, dass Amandine bei Lucie zu Besuch war.

»Oh, meine liebe Nounou hat mir eine Wohnung zur Zwischenmiete besorgt.«

Madame Richard zog die Augenbrauen hoch, als könnte sie nicht glauben, dass Lucie Amandines Kindermädchen gewesen war.

»Sie kennen mein Mädchen?«, fragte Lucie angriffslustig und doch klug genug, das »mein« gelassen über die Lippen zu bringen.

Amandine lächelte. »Isadora war meine Ankleidedame an der Oper.«

»Aha.« Lucie war nicht besonders erfreut, dass die beiden sich anscheinend seit Langem kannten. Madame Richard hatte vor drei Jahren die Wohnung an der Place des Vosges von einer Großcousine geerbt. Wie und wo sie bis dahin gelebt hatte, davon hatte Lucie bisher kaum etwas erfahren. Eine Ankleidedame also – was war das schon?

»Die Ankleidedame ist für eine Tänzerin der wichtigste Mensch an der Oper. Sozusagen das Rundum-sorglos-Paket für das äußere und innere Wohlbefinden einer Tänzerin.« Madame Richard strahlte, während Amandine fortfuhr: »Sie kümmert sich in erster Linie um die Garderobe, doch sie begleitet auch die Auftritte, reicht Wasser in den Pausen und tröstet im Notfall über manchen Kummer hinweg.«

»Kannst du dich noch an Die Kameliendame erinnern?«, fragte Madame Richard. »Vierzehn Mal umkleiden innerhalb von zwei Stunden und dazu jedes Mal eine neue passende Frisur. Der Frisör und ich hatten zusammen immer nur ein bis zwei Minuten Zeit.«

Für Lucie klang das wie ein Boxenstop beim Autorennen.

»Diese individuelle Betreuung bekommen natürlich nur die Solisten«, erklärte Madame Richard. »Und ich hatte das Glück, die beste Tänzerin zu begleiten, die das Pariser Ballett jemals hervorgebracht hat.« Sie lächelte Amandine an. »Die Einzige, die sich Étoile hätte nennen dürfen, wenn es nach mir gegangen wäre. Leider wird der Titel inzwischen ja inflationär vergeben … Aber was will man von diesem Ballettdirektor schon anderes erwarten.«

Ein abfälliger Seitenhieb auf Guillaume. Das kannte Lucie schon. Madame Richard sprach lieber über andere Menschen, anstatt etwas von sich preiszugeben. Ob sie Guillaume nicht leiden konnte, weil sie selbst ein unbedeutendes Dasein fristete, während Monsieur Bernard erfolgreich eines der besten Ballette der Welt leitete?

Wie zur Bestätigung klingelte es wieder an der Tür. Ein Bote, der Blumen für Guillaume brachte. Der zwölfte Strauß, die Geschenkpakete nicht eingerechnet.

Die Dämmerung war über die Stadt hereingebrochen. Auf der Place de l’Opéra herrschte munteres Treiben. Touristenbusse, Stadtbusse und der Flughafenbus bahnten sich ihren Weg vorbei an Pkw-Kolonnen. Lucie stand oben auf der breiten Treppe vor dem Palais Garnier, wie das Operngebäude nach seinem Erbauer genannt wurde. Vor der Kulisse des hell leuchtenden Feierabendverkehrs flanierten Passanten, ließen sich auf den Stufen nieder oder bildeten einen Kreis um einen jungen Sänger, der mit Gitarre und Verstärker englische Songs zum Besten gab. Die Menschen klatschten im Takt in die Hände, und zwei Pärchen schwangen das Tanzbein. Es war ein freundlicher Oktoberabend, noch warm für die Jahreszeit.

Heiter gestimmt gesellte sich Lucie zu den Gästen, die in Abendgarderobe zum Eingang der Oper strömten. Sie war mit Nathalie im Innern des Gebäudes vor der Boutique verabredet. Ihre Schwiegertochter arbeitete bei der AROP, der Organisation zur Förderung der Oper, und hatte in dieser Funktion eine Freikarte für den heutigen Abend bekommen. Guillaume Bernard hatte es sich nicht nehmen lassen, Lucie zwei Karten für die Ballettgala anlässlich seines Geburtstages zu schenken.

Lucie erblickte Nathalie im Gespräch mit einer älteren Dame, direkt neben einem jungen Mann, der das Programm des Abends in die Luft hielt und lautstark anpries. Nathalie wirkte angespannt, ihr Gesicht sah müde aus. Die Stirn in Falten gelegt, zwirbelte sie an einer blonden Haarsträhne. In ihrem schlichten schwarzen Kleid mit dem weißen Kragen wirkte sie fast verloren inmitten der vielen Besucher. Lucie war froh, dass sie Antonio überzeugt hatte, zu Hause zu bleiben. Sie wollte Nathalie auf den Zahn fühlen, und dafür musste sie allein mit ihr sprechen können. Seit dem letzten gemeinsamen Familienabend vor zwei Wochen machte Lucie sich Sorgen um Nathalie. Ob ihr die Zwillinge, die Arbeit an der Oper und ihre sonstigen Aufgaben über den Kopf wuchsen? Heute Abend würde Lucie es herausfinden, das hatte sie sich fest vorgenommen.

Nathalie verabschiedete sich von der Dame und bemerkte ihre Schwiegermutter Lucie.

»Bonsoir, ma chère belle-mère.«

Sie begrüßten einander.

»Eigentlich wollte ich dir noch das Haus zeigen, bevor es losgeht, vor allem das Grand Foyer. Aber leider muss ich noch Hand anlegen für den Cocktail in der Pause.« Nathalie seufzte. Gemeinsam stiegen sie zwischen den Statuen von Händel und Gluck die Stufen hoch, ließen den beengten Vorraum hinter sich und gelangten zur großen Freitreppe. »Magst du dich noch etwas alleine umsehen und wir treffen uns dann im Zuschauerraum?«

Lucie nickte und zeigte die Eintrittskarte einem jungen schwarz gekleideten Kontrolleur. Nathalie eilte rechts die Marmortreppe hinunter, während Lucie langsam die Grand Escalier nach oben stieg. Über mehrere Etagen erhob sich der Raum dreißig Meter hoch. Kostbare Leuchter, verzierte Säulen, große Bögen, verspielt wirkende Balkone, alles in perfekter Symmetrie aufeinander abgestimmt. Lucie war überwältigt. Allein die vielen verschiedenfarbigen Sorten Marmor, die für das Treppengeländer verwendet worden waren. Sie strich über den kalten Handlauf.

»Darf ich Sie nach oben geleiten?« Ein älterer Herr mit dichtem grauem Haar im schwarzen Anzug hatte sich zu ihr gesellt und bot ihr seinen Arm.

Lucie nahm dankend an und fühlte sich plötzlich wie eine Königin, als sie Stufe für Stufe hochschritt, erhaben über die Probleme des Alltags, dem Himmel sehr nahe. Oben angekommen lächelte der nette Herr verschmitzt: »Ich sehe, Garnier hatte Erfolg.«

Lucie blickte ihn fragend an.

»Der große Architekt unseres Palais wollte die Menschen aus ihrem Alltag in eine höhere Welt führen – über diese Freitreppe. Das ist ihm bei Ihnen wohl gelungen.«

»Was meinen Sie mit höherer Welt?«

Der Herr deutete auf die wunderschön bemalte Decke des Raumes über dem Treppenhaus. »Die Welt, nach der wir streben, in der Minerva die Brutalität der äußeren Welt mit ihrem Schild abwehrt, da oben rechts. Die Welt von Orpheus, der mit seinem Gesang die feindlichen Kräfte des Universums betört. Die Welt der Freude und der Träume, die sich hier erfüllen. Das wahre Leben!«

Bei aller Begeisterung für die kunstvolle Gestaltung fragte sich Lucie, an was für einen Zeitgenossen sie da geraten war. Hatte er einen über den Durst getrunken, war er Angehöriger einer Sekte oder Kunsthistoriker? Rein äußerlich betrachtet wirkte der ältere Herr durchaus bodenständig. »Sehen Sie dort, Apollo auf seinem Wagen, der Gott des Lichtes und der Beschützer der Künste.«

»Wir wollen ihn mal nicht verherrlichen, mon cher ami!« Die Dame, die Lucie vorher bei Nathalie gesehen hatte, mischte sich in das Gespräch ein. »Immerhin war Apollo Anstifter zum Muttermord!«

Lucie war entsetzt.

»Ja, da staunen Sie«, fuhr die Dame ungerührt fort. »Apollo befahl Orestes, seine Mutter Klytämnestra zu töten, um damit den Mord an seinem Vater zu rächen.« Die Dame grinste und blickte Lucies Kavalier herausfordernd an. »Ja, so viel zum wahren Leben, der Welt der Freude und der Träume …«

»Was passierte dann?«, wollte Lucie wissen.

»Orestes tat, wie ihm geheißen. Zur Strafe wurde er in den Wahnsinn getrieben.«

Lucie fand das nicht gerecht. Wenn einem Gott etwas befahl, dann musste man doch gehorchen. Die griechischen Götter taugten eben nichts. Wie konnten sie befehlen zu morden?

»Immerhin verteidigte Apollo Orestes erfolgreich vor dem obersten Rat in Athen«, warf der Herr ein.

»Leider«, erwiderte die Dame. »Athene kam ihm zu Hilfe. Der Untergang des Matriarchats … So ist das mit den Vatertöchtern. Haben Sie Kinder?«, fragte sie Lucie.

»Zwei Söhne.« Lucie dachte an Arthur und David.

»Aha«, meinte die Dame und machte ein saures Gesicht.

»Und zwei entzückende Schwiegertöchter«, schob Lucie hinterher.

»Freuen Sie sich. Da lobe ich mir doch Minerva, die Göttin der Weisheit und der Kunst. Die Hüterin des Wissens. Die Beschützerin der Handwerker. Da oben an der Decke Richtung Osten.«

Lucie konnte eine schlanke Frauengestalt erkennen, die den brutalen Kräften der äußeren Welt einen Schild entgegenhielt und dadurch Raum schuf für die schönen Künste. Von oben wurde sie von einem Engel beschirmt. Was für ein schönes und gewaltiges Bild, durchfuhr es Lucie. War nicht genau das die Aufgabe eines jeden Menschen? Einen inneren Raum zu schaffen, in dem Schönheit und Liebe regierten, und sich dabei nicht von den äußeren Kämpfen aus der Ruhe bringen zu lassen. Im Grunde war das auch die Aufgabe einer Gardienne. Minerva gefiel ihr.

Es läutete. Lucie wollte gerade ihre Gedanken mit den beiden älteren Herrschaften teilen, da bemerkte sie, dass sie bereits gegangen waren. Schade. Sie suchte ihren Platz in der Loge. Die Atmosphäre im Saal erinnerte sie ein bisschen an Weihnachten. Dunkelrot, wohin sie blickte, die Stühle waren mit rotem Samt bezogen, die Wände mit kostbarer roter Tapete verkleidet, auf dem Fußboden lag roter Teppich. Alles Ton in Ton. Nur die Säulen zwischen den Logen und die Balkonbrüstungen leuchteten golden. Was musste es für eine Arbeit sein, das alles hier sauber zu halten. Und was für eine Freude.

Lucie betrachtete das große, runde Gemälde von Chagall an der Decke, an dem sich die Geister schieden, weil es mit dem Stil des ausgehenden 19. Jahrhunderts brach. In der Mitte hing der große Kristalllüster.

»Der wiegt mehr als eine Tonne. Als Gardienne lebst du hier gefährlich«, frotzelte Nathalie, die, von Lucie unbemerkt, aufgetaucht war und sich nun neben sie an die Brüstung stellte. »Dieser Lüster hat mal eine Concierge erschlagen. Allerdings ist das schon einige Hundert Jahre her. Und die Frau soll auf Platz Nummer 13 gesessen haben.«

Lucie warf einen Blick auf ihre Karte. Vielleicht sollte sie mit Nathalie tauschen? Auf eine Mitarbeiterin der AROP hatte der Lüster es bisher ja nicht abgesehen. Andererseits hatte Nathalie das Leben noch vor sich. Das erinnerte Lucie an ihre Mission für den heutigen Abend. »Ist gerade viel los bei dir?«, fragte sie, während sie sich auf den roten Sessel mit der Nummer 13 setzte. Die Türen zu den Logen wurden geschlossen.

»Unser Chef ist wegen Burn-out krankgeschrieben. Diese Woche finden die Feierlichkeiten für Guillaume Bernards Geburtstag statt. Und jetzt sind auch noch die Mitarbeiter der Putzfirma in einen Warnstreik getreten!« Nathalie senkte die Stimme, denn das Licht im Saal ging aus. »Deshalb haben wir versucht, über die AROP freiwillige Putzkräfte zusammenzutrommeln, aber du kannst dir vorstellen, dass die Resonanz nicht sehr groß ist.« Der Dirigent erschien, und das Publikum klatschte. »Vor allem waren die Arbeiten überhaupt nicht koordiniert«, fuhr Nathalie lauter fort. »Heute ging es gerade noch, aber für morgen sehe ich schwarz.«

»Ich kann doch helfen!« Lucie flüsterte gegen die einsetzenden Instrumente an.

»Lass mal«, gab Nathalie zurück.

Ein böser Seitenblick traf die beiden.

Der Vorhang hob sich, und Lucie sah auf der Bühne einen jungen Mann auf einem Lehnsessel im Salon eines gediegenen Gutshauses schlafen. Zu seinen Füßen erhob sich eine weiß gekleidete Tänzerin in wadenlangem Tutu, enger Corsage und weißem Kranz im Haar. Sie küsste den jungen Mann auf die Stirn und er erwachte.

»Entschuldige, ich habe dir gar kein Programm besorgt«, sagte Nathalie so leise wie möglich. »Der junge Bauer heißt James. Er soll heute seine Cousine Effie heiraten. Die Tänzerin in Weiß ist ein Luftgeist: LaSylphide in der Choreografie von Pierre Lacotte.«

Ein Herr räusperte sich in der Reihe hinter Nathalie.

Lucie sah, wie James auf der Bühne versuchte, das ätherische Wesen zu fangen, doch die Sylphide verschwand im Kamin. Weitere Tänzer eroberten die Bühne. Eine ältere Frau führte Effi herein. James zögerte, wandte sich ihr dann aber doch zu.

Lucie staunte, wie allein durch Tanz und Gesten die Geschichte erzählt werden konnte, ohne dass ein einziges Wort fiel. Lange war sie nicht mehr im Ballett gewesen, genau genommen seit Amandine Paris vor vielen Jahren verlassen hatte. Dabei hatte Nathalie öfter angeboten, ihr günstige Karten zu besorgen.

Als plötzlich aus dem Kamin eine alte Hexe auftauchte, zuckte Lucie zusammen. Sie hatte lange, buschige graue Haare, eine furchterregende Nase und jagte mit wallendem zerfetztem Mantel über die Bühne.

ENDE DER LESEPROBE