Der Tormann - Milan Radin - E-Book

Der Tormann E-Book

Milan Radin

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Beschreibung

Der Torwart "Helmut Duckadam" machte Geschichte als der "Held von Sevilla", als er im Finale des Fußball-Europapokals der Landesmeister 1986 gegen den FC Barcelona alle vier Elfmeter hielt und Steaua Bukarest zum Triumph verhalf. Helmut Duckadam brachte sein größter Sieg – Unglück: Er geriet in die Hände der rumänischen Staatssicherheit. Und spielte nicht mehr in der Meisterschaft. Nicht mehr im Weltfinale gegen River Plate aus Argentinien. Nicht mehr im Supercup-Finale in Monaco. Er wurde zu einer Legende. Zu einem Mythos. "Der Junge aus der Daitschenstross, aus einem Dorf, von dem niemand zuvor etwas gehört hatte, wird jetzt zum Ducadam oder Duckadam. Und verschwindet wieder. Das Haus des Volkes, des Genossen Nicolae Ceaușescu, das zweitgrößte Gebäude der Welt, steht noch da, es wird immer da stehen, auch in tausend Jahren. Das menschliche Gedächtnis ist kurz, das Gute wird schnell vergessen. Nur an das Böse wird erinnert, hunderte, tausende von Jahren. Ducki, Helmut Duckadam, den letzten Berinǝ-pūvǝ, hat man schon vergessen. Oder?" Radins Roman verzaubert durch seinen Humor, der deutsche, österreichische, ungarische und rumänische Geschichte verblüffend leicht vor uns entfaltet. Er erzählt von einem fantastischen Sportler und wunderbaren Menschen – und von den deutschen Gemeinschaften der Gubaschen und Beriner aus dem kleinen Ort Semlak, in dem Duckadam aufwuchs. Deren Leben, Denken und Sprache, mit ihrem eigenen Tonfall und Witz, in dem die Tragik und Weisheit von Jahrhunderten mitschwingt, werden in diesem einzigartigen Roman lebendig.

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Seitenzahl: 445

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MILAN RADIN

Der Tormann

Roman

Copyright © Leykam Buchverlagsgesellschaft m.b.H. Nfg. & Co. KG, Graz – Wien 2021

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Covergestaltung: Doris Grahl, Art Direktion, Hamburg

Fotos: Vorderseite: catalby/istockphoto.com;

Rückseite: Delpixel/Shutterstock.com

Lektorat: Gundi Jungmeier

Satz: Gerhard Gauster

Druck: Finidr, s.r.o.

Gesamtherstellung: Leykam Buchverlag

www.leykamverlag.at

ISBN 978-3-7011-8193-3

eISBN 978-3-7011-8224-4

Die Drucklegung des vorliegendenBandes wurde unterstützt durch:

Gefördert von derStadt Wien Kultur

Inhalt

I. Epilog: Beriner und Gubaschen

II. Mein Semlak

III. Erste Welterkundung: Arad

IV. Zweite Welterkundung: der Bukarester Stern

V. Fünf Finalspiele

VI. Prolog

Gewidmet den Ballzauberern

Ilie BALACI, »Blondes Wunder«, verstorben am21.10.2018 (62 Jahre), geboren 13.09.1956,Lucian BĂLAN, verstorben am 12.11.2015 (56 Jahre),geboren 25.06.1959,Ilie BĂRBULESCU, verstorben am 01.02.2020(62 Jahre), geboren am 24.06.1957,Viorel TURCU, verstorben am 29.11.2020 (60 Jahre),geboren am 09.08.1960,die ich persönlich alle kennenlernen durfte

Die Ersten fanden den Tod,die Zweiten die Not,die Dritten das Brot.

geschrieben in Diniasch, 4. Jänner – 20. Dezember 2020

Das Leben ist voller Höhen und Tiefen, voller Überraschungen. Und wenn es manchmal schwer und bitter ist, wird es schön, sobald du es so sehen möchtest. Das Leben ist ein Wunder.

Ich bin in einem außergewöhnlichen Dorf aufgewachsen, in einer einzigartigen Gegend, in einer besonderen Gemeinschaft der Beriner und Gubaschen, heute verschwunden, verstreut in der großen Welt. Als kleiner Junge träumte ich davon, den entscheidenden Elfmeter für die Mannschaft meiner Gemeinde zu halten. Und gelungen ist mir in Sevilla, sogar alle vier Strafstöße gegen den FC Barcelona abzuwehren.

Ich habe in Zeiten gelebt, die heute unmöglich, unglaublich und unwirklich wirken, als alle Grenzen geschlossen waren, als wir ungeduldig donnerstags auf zwei Kilogramm Fleisch warteten, als wir uns über ein Paar Jeans, ein Kilogramm Orangen, freuten. Andere Zeiten. Aber auch ein anderer Fußball.

Du kannst in jeder Situation, egal wie schwer und ausweglos, Großes vollbringen, gute Dinge tun, die den Unterschied machen und ethisch richtig sind. Falls du es willst. Falls du es aber nicht willst, ist es leicht die Schuld auf andere Umstände zu schieben. Weil letztendlich der Mensch den Ort heiligt. Und genau du dieser Mensch sein kannst.

Durch Arbeit, viel Arbeit, Hingabe, Ernsthaftigkeit, Opferbereitschaft, enorme Opferbereitschaft, wirst du es sicherlich schaffen, dir deine Träume zu erfüllen. Erst wenn du hinfällst, auf dem Boden liegst, getreten und geschlagen von allen Seiten, erst dann wirst du entdecken, was für ein Mensch du bist.

Diese Geschichte erzählt über vergangene und verschwundene Zeiten, über Misserfolge und Willensstärke, über Höchstleistung, über mich und dich. Weil nichts unmöglich ist.

Helmut Duckadam

Für den polyglotten Milan Radin sind Sprachen nur ein Mittel: »Wir Mehrsprachigen«, erzählte er mir, »denken in Bildern, die wir dann in verschiedenen Sprachen zum Ausdruck bringen.« In diese Welt führt uns der Autor in diesem fesselnden Roman, beruhend auf der wahren Geschichte der Tormannlegende Helmut Duckadam. Mit diesem Werk setzt der Autor der Legende Duckadam ein Denkmal. Gleichzeitig legt er eine zeitgeschichtliche Dokumentation über die deutschsprachige Minderheit im Banat vor.

Dr. Peter RuggenthalerStv. Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung, Graz

Zeitungsartikel aus der BRD, 1989. Teil der Privatsammlung von Helmut Duckadam

»Gefeiert, gefangen, gefoltert

Ceaușescu jr. brach Star-Torwart beide Arme – er wollte sein Auto

Bukarest – Das Terror-Regime des Nicolae Ceaușescu verschonte auch Sportler nicht, die als Helden gefeiert wurden – bis sie verschwanden. Helmuth Ducadam machte Steaua Bukarest am 07. Mai ’86 zum Europa-Cupsieger, hielt im Finale gegen Bernd Schusters FC Barcelona vier Elfer. Der Torwart wurde zum besten Spieler des Finales gewählt. Prämie: ein neuer Mercedes.

Einige Wochen später meldete die rumänische Nachrichtenagentur ›Agerpress‹: Torwart Ducadam muß wegen einer chronischen Handverletzung seine Karriere beenden. Die Wahrheit wurde erst jetzt, nach drei Jahren, aufgedeckt. Ceaușescus Sohn war scharf auf den Mercedes, habe Ducadam angesprochen: »Du bist ein gewöhnlicher Bauer. Wozu brauchst du so ein Auto?« Der Torwart: »Meine Hände haben mir geholfen, das Auto zu gewinnen – und die werden es auch lenken.« Nach dem Training wurde Ducadam am Stadiontor erwartet. Vier Securitate-Schergen verschleppten und folterten ihn, brachen ihm mit einer Eisenstange beide Arme.

Ducadam (damals 27) konnte nie mehr ins Tor. Aber er ist glücklich, daß er noch lebt.«

I. Epilog: Beriner und Gubaschen

»Rein wie der hellste Edelstein, ist Mutterliebe ganz allein.«

Semlaker Sprichwort

Die Strada Nemțească ruhig. Verlassen und verwüstet. Die Kartoffelpflanzer längst weg. Eine Greisin, zweiundachtzig Jahre alt, geboren schon 1938, rastete im Schatten. Wartete neugierig auf den jungen Mann, der sich für ihre Geschichte besonders interessiert.

Nachdenklich saß sie vor ihrem Haus auf der alten Holzbank, die schon bessere Zeiten gesehen hatte. Erinnerte sich, wie einst diese selbe Daitschenstross das Zentrum der Erde war, erfüllt mit Leben, voll mit Menschen, Pferden, Kutschen, Kindern, Pεrinə und Gubāschə. Wollte nicht weg. War eine Berinerin. Die letzte im Torf. Das sie derart liebte. Ihr Haus war dort, ihre Jugend war dort, ihr Leben war dort.

War gerade zurückgekehrt. Hatte eigentlich gar nicht lange bleiben wollen, in diesem Deutschland, das all ihre Freunde, all ihre Nachbarn, alle, die sie kannte, aufgefressen hatte. Der COVID hatte ihre Pläne durcheinandergebracht, hatte bei ihrer Tochter viel länger bleiben müssen als geplant. Hatte Angst, dass dieses Deutschland sie ebenfalls auffressen würde. Zum Glück war sie stärker, stärker als dieses Dschermania, stärker als COVID. War eine Berinerin. Die letzte. Einmal, vor gar nicht so langer Zeit, hatte ihre Volksgruppe mehr als zweitausend Seelen gezählt. Eine große Familie. Die k. und k. Monarchie, die Dualmonarchie, das Königreich Rumänien, der Erste und anschließend der Zweite Weltkrieg, die Sowjets, der Hunger, die Volksrepublik Rumänien, der Kommunismus hatten ihre Dorfgemeinschaft nicht auffressen können. Dieses Dschermania aber schon. Alle waren weg. Für immer. Die Kirche war noch da. Der Friedhof. Und sie, die letzte Berinerin.

Der Siebenundsiebzigjährige Krieg

Sie war gerade sechs, sieben Jahre alt. Die kleine Lisa-Elisabet. Der Große Krieg, der schon vor dreißig Jahren, 1914, begonnen hatte und sogar bis 1991 andauern sollte, tobte heftig. Überall. Im Osten. Aber auch im Westen. Eigentlich beinahe überall.

Am 3. Juli 1944 wurde Arad schwer bombardiert, vor allem das k. und k. Bahnhofsgebäude und die Waggonfabrik. Die Front kam immer näher. Die Frontlinie stand nun schon in Nordostrumänien, im Raum der heutigen Republik Moldawien. Das waren neunhundert, tausend Kilometer von Semlak. In der damaligen Zeit war das aber noch ziemlich weit weg. Da waren noch die Karpaten dazwischen, die deutsche Heeresgruppe Südukraine (Ostrumänien) unter dem GenOberst Frießner, schließlich auch noch die Dritte und die Vierte Rumänisch-Königliche Armee.

Am 20. August erfolgte dann unerwartet der dritte Schlag, der schon am 22. Juli begonnenen Sommeroffensive der Roten Armee, nämlich die Großoffensive der sowjetischen Verbände, genauer der Zweiten und Dritten Ukrainischen Front unter dem Armeegeneral Malinowski und dem Armeegeneral Tolbuchin. Innerhalb von wenigen Tagen wurden große Teile der deutschen Heeresgruppe Südukraine zwischen den Städten Jassy und Chișinău eingekesselt und bis zum Monatsende völlig aufgerieben.1

Dann, am 23. August, erklärte das Königreich Rumänien unter dem König Mihai, Michael von Hohenzollern-Sigmaringen, dem Deutschen Reich den Krieg. Und am drauffolgenden Tag, am 24. August 1944, um 16:30 Uhr, wurde die Kriegserklärung des Rumänischen Königreiches an das Deutsche Reich im Radio vorgelesen. Diese Nachricht überraschte viele. Die einen, vor allem die Mitglieder der Kommunistischen Partei, freuten sich. Die anderen, besonders die Deutschstämmigen, waren besorgt und verängstigt.

Die Lage wurde plötzlich sehr ernst. Zu diesem Zeitpunkt, gemäß einer Übereinkunft, nämlich dem Abkommen vom 12. Mai 1943, unterzeichnet zwischen der rumänischen Regierung und der Regierung des Deutschen Reiches, befanden sich etwa 50.000 rumänische Staatsbürger, eingesetzt an verschiedensten Fronten, in der nun feindlichen deutschen Wehrmacht. Alle dort eingereiht, weil sie deutschsprechend, die meisten sogar deutschstämmig waren und somit den Befehlen in der deutschen Sprache folgen konnten. Jetzt, auf einmal, ab sofort wurden sie alle wie auch ihre Familien zu Feinden des Staates Rumänien, in dem sie geboren worden waren, in dessen Armee sie 1941 eingezogen waren, und dessen Staatsbürgerschaft sie letztendlich hatten.

Dramatische Momente. Dein Nachbar, dein Spielkamerad, könnte jetzt auf der anderen Seite stehen. Und du könntest ihn erschießen. Oder er dich. Es brach das Chaos aus. Und sie war sechs, sieben Jahre alt. Die kleine Lisa-Elisabet.

In der Nacht vom 25. auf den 26. August werden in Lugoj schlafende deutsche Flughafenverteidiger durch das Dreizehnte Rumänische Regiment Călărași überrumpelt und verhaftet. Fünf deutsche Offiziere, zehn Unteroffiziere, 25 Soldaten. Beschlagnahmt wurden fünf Flugzeuge und drei Kanonen Kaliber 37 mm, was immer das bedeutete, und weitere Kriegsmaterialien, die man am Flughafen fand. Am 26. August wurden weitere 500 deutsche Soldaten in Timișoara, zu Deutsch Temeswar, entwaffnet und gefangengenommen.2 Verbündete, die noch immer überall in Rumänien nebeneinander zelteten und Dienst hatten, zu gemeinsamen Armeeverbänden gehörte hatten, waren jetzt plötzlich Feinde. Die einen stürmten nur, so schnell wie nur möglich, auf die anderen los, wer schneller war, wer mehr Leute vor Ort hatte, der überrumpelte und verhaftete die anderen.

Und so, plötzlich über Nacht, war der Krieg im Banat angekommen, in Lugoj, in Timișoara, in Arad. Und Semlak war da ganz in der Nähe. Die Tausendkilometerentfernung verschwand in wenigen Tagen, jetzt wurde überall herumgeschossen, Truppenverbände aller kriegsführenden Parteien liefen herum. Dazu noch Partisanen, Titoisten und Saboteure, welche alles Mögliche in die Luft jagten. Das Chaos war überall.

Viele Deutschstämmige fürchteten sich vor den Soldaten der sowjetischen Armee, die begleitet wurde von Gerüchten über alle möglichen Gräueltaten, verübt vor allem gegen Frauen. Sie luden das ganze Hab und Gut auf den Zweispänner und flohen zunächst in Richtung deutscher Verbände nach Serbien. Viele Ungarischstämmige fürchteten sich vor den Soldaten der königlichen rumänischen Armee und flüchteten in Richtung Budapest. Und da waren noch die Bessarabier, die 1941 vor den in Moldawien einmarschierten Sowjets nach Rumänien, ins Banat und sonst wohin geflohen waren, um ein neues Leben zu beginnen. Sie konnten nirgendswohin ziehen.

Die Vorhut der Krasnaja Armija, der Roten Armee, unter dem Armeegeneral Tolbuchin passierte am 29. August Bukarest und marschierte weiter in Richtung Donau, nach Giurgiu, in Richtung Bulgarien. Das Zentralkomitee der Rumänischen Kommunistischen Arbeiterpartei sprach große Anerkennung für die siegreiche und heldenhafte Roten Armee, den großen Befreier des Landes, aus. Am 30. und am 31. August 1944 zogen schließlich weitere Truppenverbände in Bukarest ein. Zu dieser besonderen Gelegenheit wurde am Universitätsplatz eine riesige Kundgebung von der Rumänischen Kommunistischen Partei PCR, von der Sozialistischen Partei PSD und von der Patriotischen Union organisiert.

Fünfzehntausend deutsche Wehrmachtsangehörige wurden im Raum Bukarest verhaftet. Am 2. September stimmte endlich der Reichsführer SS Heinrich Himmler einer Evakuierung der deutschen Bevölkerung zu. Die ungarischen Stellen lehnten diese aber vehement ab, sie verboten kategorisch einen Rückzug und richteten sich administrativ ein, so auch in der Mureșgegend. Eine ungarische Militäreinheit, Grenzgendarmen und Soldaten, marschierte in Semlak ein, quartierte sich in der Großgasse ein und begann sofort vom Dorfende bis zu ihrer Kommandostelle eine Telefonleitung zu legen.

Am 12. September 1944 wurde in Moskau der Friedensvertrag zwischen dem Königreich Rumänien und der Sowjetunion unterzeichnet.

Immer wieder, immer deutlicher war das Donnern der Kanonensalven von den Kämpfen östlich von Arad zu hören. Im Dorf war man mehrheitlich mit der Entfernung der Sonnenblumenkerne von den Tellern beschäftigt, als plötzlich, am Donnerstag den 14. September 1944, irgendwann gegen 14:00, vier deutsche Militärs, drei Soldaten und ein Wehrmachtsoffizier, in Semlak eintrafen. Und sie war sechs, sieben Jahre alt. Die kleine Lisa-Elisabet.

Sie ließen umgehend eine Versammlung einberufen. Und verkündeten dort, dass die Sowjets in der Nähe waren und alle sofort fliehen sollten.

Was war das nur für ein Moment! Sprachlosigkeit. Schreck. Panik. Ratlosigkeit.

–Wie denn das, fliehen, fragte jemand. – Alles hierlassen und nur so fliehen? Warum denn? Was habe ich gemacht, um fliehen zu müssen?

Schon lange war es her, hunderte von Jahren, seit sich hier Tataren, Janitscharen, Arnauten, Freischärler, Banditen, Pferdediebe herumgetrieben hatten.

–Es ist hier für euch nicht mehr sicher! Die Sowjets mögen keine Deutschen, antwortete einer der Wehrmachtsoldaten.

–Was heißt, sie mögen keine Deutsche? Vielleicht die aus dem Reich nicht. Die wollten Moskau erobern! Nicht wir! Und jetzt sollen wir fliehen? Alles verlieren? Alles dalassen? Warum?

–Wir haben uns nichts zu Schulden kommen lassen! Wir sind einfache Bauern, sagte auch ein anderer.

–Ja, aber deutsche Bauern!

Die Soldaten drängten die Menschen, zu fliehen, weil es ihnen eben angeordnet worden war.

Das war eine komische Sache, mit diesen Befehlen. Irgendein Tindəleckə, der irgendwo in einem Zimmer saß, in seinem Elfenbeinturm, gab Befehle aus, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hatten, die ihm womöglich viele Vorteile einbrachten und für die er ziemlich sicher nie haften würde. Der Tintenlecker – sehr trefflich in der semlekerischen Mundart beschrieben und in unserer Welt als der Beamte oder der Büroangestellte bekannt. Aber viele, die mit seinen Befehlen nichts zu tun hatten, mussten die Folgen ausbaden, womöglich sogar mit ihrem Leben dafür bezahlen.

Es ging also hin und her. Bei der Versammlung. Und schließlich in den kleineren Gruppen an den Gassenecken. Und letztendlich auch noch zu Hause. Sollte man bleiben? Sollte man gehen? Wer sollte bleiben? Wer sollte gehen? Was sollte man mitnehmen? Wo noch ein zweites Pferd für den Zweispänner besorgen? Die Gubaschen beschlossen fast alle zu bleiben. Die Beriner zu gehen.

Am nächsten Tag, am Freitag den 15. September 1944, um fünf Uhr morgens setzte sich der Treck mit den Evakuierten in Bewegung. Am Friedhof vorbei. In Richtung Deutschpereg. Nach Makó zum Bahnhof, wo auf sie die Eisenbahnwaggons warten sollten. Insgesamt 90 Wagen. Offene Zweispänner. Viele nur mit Frauen und Kindern. Die Großeltern, viele wollten oder konnten nicht weg. Wollten bleiben, um ihre Häuser zu bewachen. Geplant und berechnet war nur eine dreiwöchige Flucht. Kurz nach Ungarn. Vielleicht sogar bis zur Donau. Bis in die Türkei womöglich.

Das war eine komische Sache, mit der Angst. Man hatte Angst vor dem, was man kannte. Ebenfalls hatte man Angst vor dem, was man zwar nicht kannte, sich aber ganz genau vor Augen führen konnte, wie Hexen und Werwölfe. Man hatte nur Angst vor Dingen, die man sich vorstellen konnte. Bei denen man die Ausprägungen, die Folgen gut visualisieren konnte.

Man hatte keine Angst vor Verschleppungen, Arbeitslagern, vor den wochenlangen Reisen in Viehwaggons bis nach Sibirien. Denn so etwas hatte noch niemand gesehen oder erlebt. Man dachte, der ganze Spuk würde in zwei, drei Wochen vorbei sein, und man würde nach Hause kommen. Und man würde weiterhin so leben können wie bisher.

Gegen Abend, als die begleitenden deutschen Soldaten gerade nicht in der Nähe waren, verließen viele Gespanne die geordnete, schon über mehrere Kilometer langgezogene Kolonne. Manche fuhren zurück, andere zu Verwandten in nichtdeutschen Dörfern. Manche versteckten sich auf ihren Salaschen, auf den Höfen, die außerhalb der Ortschaft auf den weit offenen Feldern lagen. Andere kamen bei rumänischen oder slowakischen Bekannten unter. Sie verschwanden über nur ihnen bekannte Gewannenwege.

Ein völliges Durcheinander. Eine lange Lichterkette schlängelte sich durch die Nacht hindurch. Fast alle Zweispänner hatten eine Laterne brennen, um zu verhindern, dass jemand verloren ging.

Die Kolonne passierte über einen Feldweg schließlich bald auch die ungarische Grenze, die eigentlich keine mehr war und erreichte in der Nacht Mezőhegyes, wo entlang des Straßenrandes der erste Halt gemacht wurde. Die Erwachsenen waren sehr nachdenklich. Und mürrisch. Ob es richtig war wegzulaufen? Die Großeltern alleine zu lassen. Ob sie sich noch wiedersehen würden? Und überhaupt, wohin waren sie unterwegs? Wusste das überhaupt jemand? Man fuhr einfach geordnet in einer Kolonne in Richtung Westen. Aber wer führte diese? Und stimmte die Fahrtrichtung? Auch die Pferde waren ruhig und vermittelten den Eindruck, nachdenken zu wollen. Aber niemand wusste, ob diese auch wirklich nachdenken konnten. Nur die mitgereisten Kinder freuten sich. Für sie war es noch ein lustiges Abenteuer.

Am nächsten Tag ging es nach Tótkomlos oder Slovenský Komlóš einem mehrheitlich slowakischen Dorf, das allen stark im Gedächtnis bleiben sollte: Dort starb die erste flüchtige Semlakerin, weit weg von ihrem Dorf, weit weg von ihrem Haus. Und sie musste dort, im fremden Lande, begraben werden. Damit hatte niemand gerechnet. Der Tod sollte ab nun ihr ständiger unsichtbarer Begleiter sein. Ebenfalls erfuhren sie jetzt, dass die Lage bei Makó, der Ortschaft wo József Pulitzer oder amerikanisch Joseph Pulitzer geboren wurde, aussichtslos war und dass sie ihre Reise in Richtung Westen fortsetzen sollten.

Die Rote Armee überquerte die Karpaten und kampierte in der siebenbürgischen Tiefebene. Am 16. September 1944 erreichte der Generalmajor Ogorodov mit den ersten sowjetischen Infanteristen die Stadt Timișoara. Am 17. September begann die große sowjetisch-rumänische Offensive zur Überquerung des Flusses Mureș in der siebenbürgischen Tiefebene, in der Gegend Oarba de Mureș – Dealul Sîngiorgiu – Iernut, wo es zu einer bedeutenden Schlacht kam. Am 18. September zogen sich die letzten deutschen Wehrmachtsverbände aus Timișoara zurück. Bald danach begannen bei Arad die sowjetischen Spezialkräfte mit dem Brückenbau über den Mureș.

Der Weg führte weiter nach Orosháza und nach Szentes wo auch übernachtet wurde. Aus diesem Szentes kamen die Siedler, die in der Nähe von Timișoara Uj-Szentes, das heißt Neu-Szentes, auf Rumänisch Dumbrăvița, gründeten. Am 20. September vormittags wurde dann die Theiß überquert und Csongrád, abgeleitet vom slawischen Crnograd oder Tschornij Grad, die Schwarze Stadt, erreicht. Bald schlossen sich ihnen andere Flüchtlingstrecks aus dem rumänischen Banat an. Und aus dem serbischen Banat, aus der Batschka und aus Slawonien. Es wurden die Wege der Kolonnen aus Nordsiebenbürgen, das damals noch zu Ungarn gehörte, gekreuzt. Mit dabei waren sogar ein paar rumänische Legionäre, Mitglieder der faschistischen Eisernen Garde, die auch vor den Sowjets und den Kommunisten flüchteten. Tausende, hunderttausende Menschen waren unterwegs. Ins Ungewisse. Über hunderttausend deutschstämmige Rumänen waren auf der Flucht. Es hätten aber fünfhunderttausend evakuiert werden sollen. Ein neues Zeitalter brach an. Für die Deutschen, aber auch für die Rumänen. Und sie war sechs, sieben Jahre alt. Die kleine Lisa-Elisabet.

Eine hektische Zeit. Am 22. September wurde die Stadt Arad von der Roten Armee und der Königlichen Rumänischen Armee befreit. Am 25. September 1944 trafen die ersten Sowjets in Semlak ein. Sie richteten dort sogar ein Munitionslager ein und ließen einige Wochen lang die verbliebenen Bewohner mit Pferdewagen täglich Granaten und Patronen zur ungarischen Front karren. Am 10. Oktober hörte schließlich das schon zwei Wochen andauernde Kanonendonnern an der nahen ungarischen Grenze auf. Die Frontlinie war durchgebrochen und weiter zur Donau, nach Budapest, geschoben worden. Insgesamt gerieten 56.455 deutsche Wehrmachtsangehörige, darunter 14 Generäle, in rumänische Gefangenschaft und wurden an die Sowjets ausgeliefert.

Des Weiteren, nach dem unerwarteten, plötzlichen Seitenwechsel des Königreichs Rumänien und dem Zusammenschluss mit dem kommunistischen Sowjetstaat, öffneten sich für die großangelegte Offensive der Roten Armee solche Breschen an der Ostfront, dass die gesamte neuaufgebaute deutsche 6. Armee und große Teile der 8. Armee eingekesselt wurden. Etwa 150.000 Wehrmachtsangehörige fielen bei den Kämpfen, weitere 106.000 gerieten in sowjetische Gefangenschaft. Wenn man dem Generalmajor Hans Kissel glauben wollte, dann war das für die deutsche Wehrmacht ein zweites Stalingrad.3

Am 1. Oktober 1944 führte die Zeitung România liberă die Rubrik Figuri de trădători ein, zur Enttarnung der ersten Verräter. Am 2. Oktober begann die Tageszeitung Scînteia damit, die »Viața Mareșalului Stalin«, das Leben des Marschalls Stalin, in sieben Folgen herauszugeben. Am 8. Oktober überquerten die sowjetischen Truppen die Theiß und nahmen Szeged ein.

Der Semlakertreck zog weiter und weiter in Richtung Westen. Immer weiter. Niemand wusste, wie die Lage wirklich war. Es gab keine Zeitungen, keine neuen Informationen. Über die Frontlinie. Über die bevorstehende Route. Über die Versorgungsmöglichkeiten. Das Reiseziel wurde immer wieder neu definiert. Nun hieß es plötzlich, dass man weder zurückgehen noch hierbleiben konnte. Und dass der neue Bestimmungsort die Türkei wäre. Diese Nachricht verwirrte manche mehr, andere weniger. Welche Türkei jetzt? Man war ja die ganze Zeit durch Ungarn unterwegs.

–Ja-aa, ja-aa, indi Türkaaai, indi Türkaaai, wir foahren indi Tür-kaa-ai, sang froh, ungefähr so, die kleine Lisa-Elisabet.

In der Ferne, vom Wind umgedichtet, hörte man nur: »O-uouo-o-uouo, ua-aai«. Für sie war das lustig. Niemand wusste warum. Auch sie nicht. Aber für sie war das lustig.

Die Kolonne erreichte irgendwann am achten Tag Kiskunfélegyháza, wo der größte ungarisch-schreibende ungarische Dichter Sándor Petőfi aufgewachsen war, der in seiner lateinischen Geburtsurkunde als Alexander Petrovics mit slowakischer und serbischer Abstammung geführt worden war. Den Flüchtigen war aber nicht nach dichten zumute. Obwohl der eine oder andere sehr wohl auf den Gedanken kam, ein eigenes Tagebuch zu führen, um sich selbst später an die bereiste Strecke noch erinnern zu können. Oder um seinen Nachfahren und der Nachwelt einen Bericht zu hinterlassen.

Schließlich erreichte man noch rechtzeitig bei Dunaföldvár die blaue Donau, die kaum jemand bis jetzt gesehen hatte. Und man wurde angeschrien, sich zu beeilen. Die Bombenleger der Wehrmacht waren gerade dabei, die Sprengung der Brücke vorzubereiten. Diese wurde, sobald es möglich war, dann auch gesprengt. Nun wurde es allen im Semlakertreck klar, dass es keinen Weg zurück mehr gab.

Die vier deutschen Begleiter aus der Wehrmacht verschwanden auch. Einer nach dem anderen. Hin und wieder musste man rechts anhalten, da entweder die BMW R 12 oder die Zündapp K 800 Motorradgespanne der Wehrmacht vorbeifuhren oder verschiedene Militärfahrzeuge in die eine oder in die andere Richtung eilten.

Inzwischen begannen die herbstlichen Regentage. Der Boden weichte stark auf, sodass die Pferde und die Wagen im Schlamm steckenblieben und alle nur noch mühsam vorwärtskamen. Auch hatten die meisten Wagen kein Verdeck, man war also der Nässe und dem schlechten Wetter ausgeliefert. Tagsüber und vor allem nachts. Für die vielen Kinder war es jetzt überhaupt nicht mehr lustig. Ihre Abenteuerlust verblasste nach ein paar Tagen. Die Fahrt in den offenen Wagen wurde für sie und für ihre erwachsenen Begleiter zu einer qualvollen Erfahrung.

Es passierten viele Unfälle. Jemandem schlug das Pferd voll ins Gesicht und er verlor ein Auge. In einem anderen Fall konnte sich in der Nacht ein Pferd irgendwie befreien und davonlaufen. Für den Zweispänner brauchte man aber beide Stangenpferde, das linke Sattelpferd und das rechte Handpferd. Die Familie war verzweifelt. Sie konnten nicht mehr weiter, mussten ihren Wagen aufgeben und schauen, bei wem sie wohl mitfahren durften. Und man fuhr sofort weiter. In westliche Richtung. Es wurde fast ausschließlich kaltes Essen verzehrt. Einigen Familien gingen die mitgebrachten Vorräte aus und sie waren auf die Hilfe der anderen angewiesen.

Endlich über der Donau. Endlich in Transdanubien. Der Semlakertreck befand sich nun im Törökország, was auf Ungarisch »Land der Türken« oder einfach »die Türkei« bedeutet. Diese Region hatte nach der Schlacht von Mohács 1526 und der Eroberung von Buda 1541 für etwa 150 Jahre zum Ottomanischen Reich gehört. Nach dem Rückzug, der nach der Wiedereroberung von Buda durch die Habsburger 1686 begonnen hatte, war das beinahe menschenleere Gebiet von slowakischen, kroatischen und serbischen Kolonisten sowie von Pfälzern, Mainfranken, Hessen, Westerwäldern, Fuldaern, Ostfranken, Bayern und Schwaben wieder besiedelt worden. Somit war in Transdanubien, im südlichen Teil der Donau-Drau-Platte, in den Komitaten Tolna (Tolnau), Baranya (Branau) und Somogy (Schomodei), ein kompaktes deutsches Siedlungsgebiet entstanden, mit der Stadt Pécs, Fünfkirchen, auch Quinque Ecclesiae auf Lateinisch, Päťkostolie auf Slowakisch oder Pečuh auf Kroatisch, als ihrem strahlenden Leuchtturm. Wieder eine Stadt mit vielen Gesichtern und Namen. Die Türkei, der Törökország, wurde somit zur Schwäbischen Türkei.

Nach dem sie die Donaubrücke überquert hatten, erreichten die Semlaker im Komitat Tolnau, etwas südlich gelegen, das Dorf Németkér oder Kremling. Hier, in dieser mehrsprachigen Umgebung, fühlten sich die Flüchtlinge vom nördlichen Mureșufer endlich wieder zu Hause. Die Ankömmlinge wurden von den etwa zweitausend Deutschen im Ort sehr freundlich aufgenommen und einquartiert. Im Übrigen wurde hier, was viele überraschte, sogar eine ähnliche Mundartvariante gesprochen, sodass man sich problemlos verständigen konnte. Auch schauten die Häuser ähnlich aus und verfügten ebenfalls über einen Vorhof und einen zweiten Teil im hinteren Bereich. Hier konnte wieder die Wäsche gereinigt werden und auch man selbst konnte sich im Lawōr, wie man die Waschschüssel nannte, waschen. Es gab warmes Essen und Heu für die Pferde. Aber auch hier konnten sie letztendlich nicht bleiben. Am 3. oder vielleicht am 4. Oktober, das wollte niemand so genau wissen, mussten sich die Semlaker von ihren netten Gastgebern verabschieden.

Das Vorankommen gestaltete sich jetzt noch viel schwieriger als zuvor. Die größeren Ortschaften mussten nun sicherheitshalber umfahren werden, da die Luftangriffe zu einer regelmäßigen Erscheinung wurden. Folglich wurde jetzt immer öfter nachts gefahren. Die Wagenlaternen durften nicht mehr angezündet werden, sodass man gut aufpassen musste, um sich nicht zu verirren oder gar den vorderen Zweispänner voll zu rammen. Zwar führte der Weg nun durch eine wunderschöne herbstliche Hügellandschaft, aber niemand konnte sie genießen, weil die Karren der Semlaker keine Bremsen hatten und somit bergab schwer zu manövrieren waren.

Székesfehérvár, zu Deutsch Stuhlweißenburg, das administrative Zentrum des Komitats Fejér, wurde der Luftangriffe wegen sorgfältig umfahren. Der ungarische Name wird zusammengesetzt aus Szék »Stuhl« und Fehérvár (»weiße Burg«) und bedeutet so viel wie »Stuhl aus der Weißen Burg« oder »Weiße Burg, wo der Stuhl lag«. Sie ist auch als »Stadt der Könige« bekannt, da sie im Mittelalter neben Buda die Krönungsstadt der ungarischen Könige war.

Der Stuhl, in Stuhl weißenburg, bezeichnete den Herrschersitz. In den lateinischen Sprachen, wie Rumänisch oder Französisch … war der Herrschersitz dort, wo sich der Kopf befand, also in der »Kopfstadt« vom lateinischen Wort caput, von dem sich la capitale, capitală usw. ableiten. Im Deutschen befindet sich ebenfalls das Haupt, in der Haupt stadt. Und in slawischen Sprachen bezeichnet der Tisch, cmoл (stol), die Hauptstadt, z. B. stolica auf Russisch, Bulgarisch oder Polnisch, was richtigerweise mit der »Tischstadt« zu übersetzen wäre. Wenn man aber jemanden fragen würde: Wie heißt die »Stuhlstadt« oder noch besser die »Tischstadt« von Russland? Da würde man mit Sicherheit blöde Blicke ernten. Also wird man die Frage umformulieren müssen in: Wie heißt die »Hauptstadt« von Russland? Wird da jetzt nicht mehr über-setzt, sondern frei interpretiert? Und wer entscheidet wie weit frei interpretiert werden darf? Der Über-setzer?

Schon interessant, ein und dieselbe Sache, die Hauptstadt, war der Ort, wo sich mal der Kopf, mal der Stuhl und mal der Tisch befand. Konnten sich die alten Vorfahren nicht einig werden? Wie sollte man sich dann überhaupt verstehen? Wenn jeder die Welt um sich ganz anders sieht? Wie konnte man Dinge über-setzen? Und erst Gefühle? Wie konnte man nur den Olivenbaum in die Eskimosprache übertragen? Gab es deshalb so viele Kriege? Weil man sich nicht verstand? Oder waren es doch die Toten, die zu Lebenden werden wollten und periodisch Krawall machten?

In jedem Begriff war ein Sinn zu finden, jeder Begriff trug seine unsichtbare Bedeutung in sich. Nur dass uns diese heute oft verborgen bleibt. Sind wir unwissend geworden? Unwissender als früher? Haben wir den Zugang zu Gott, zur Natur, zum Kosmos verloren, waren wir in unserem Materialismus unwissend geworden?

Der Name der Stadt Székesfehérvár war also durch wörtliche oder durch eine teilweise Übersetzung aus dem Ungarischen gebildet worden. Deutsch Stuhlweißenburg, Lateinisch Alba Regalis oder Alba Regia, Slowakisch Stoličný Belehrad, Serbisch cmoлнu Бeoгpaд oder Stolni Beograd, Kroatisch Stolni Biograd, Slowenisch Stolni Belograd, Tschechisch Stoličný Bělehrad, Polnisch Białogród Stołeczny oder Białogród Królewski, Türkisch İstolni Belgrad usw.

Schon interessant, die Welt um uns herum. Schade nur, dass so viele Blinde herumlaufen.

Ein sechsjähriges Mädchen in einem Zweispänner mit ihrer Familie übernachtete zitternd in der ungarischen Puszta, irgendwo in einem riesigen gefrorenen Obstgarten ohne Anfang und ohne Ende, den sie nie vergessen wird. Überall, verängstigte, desorientierte Menschen. Mangelhafte Verpflegung. Bei strenger Kälte wurde unter freiem Himmel kampiert. Die physische und psychische Belastung für Kinder, Frauen, Greise, Kranke war groß. Immer wieder hörte man in der Ferne Artilleriebeschuss. Die Überflüge der Flugzeuge und die Luftangriffe gehörten irgendwie zur täglichen Routine.

Bei der Volkszählung 1930, vor dem Krieg, hatten sogar 745.421 Deutschstämmige im Königreich Rumänien gelebt und 4,1 % der Gesamtbevölkerung vom damaligen Großrumänischen Staat ausgemacht. Im Banat bildeten sie 23,7 %, in der Bukowina, zu Deutsch Buchenland, 8,9 %, in Siebenbürgen 7,9 %, in Bessarabien 3 % und in der Dobrudscha an der Schwarzmeerküste 2,8 % der jeweiligen Bevölkerung. Jetzt waren viele unterwegs. Viele auf der Flucht.

Gab es überhaupt den freien Willen? Gab es die Freiheit? Oder war das alles nur eine schöne Lüge? Weil irgendwo, weit, weit weg, im Olymp der Götter, irgendwann um dieselbe Zeit über die Zukunft der irdischen Untertanen entschieden wurde:

Am 9. Oktober 1944 trafen sich in Moskau der Marschall Wissarionowitsch Dschugaschwili Stalin und der britische Premierminister Winston Churchill.

Auf einem weißen Blatt Papier bot der Brite den Sowjets Rumänien an, zu 90 %. Dafür sollte er von Griechenland 90 % bekommen. Stillschweigend machte der Genosse Stalin ein Häkchen darunter.4

Und so wurden die Schicksale dieser Länder, die Schicksale von Millionen Menschen von zwei alten Männern, von diesen lebenden Göttern, an diesem einen Tag für die kommenden 45 Jahren stillschweigend besiegelt. Der eine verstarb 1953, der andere hielt durch bis 1965, wir aber durften deren Lebenswerk veredeln. 45 Jahre lang! Bis 1989 sogar.

Am 11. Oktober befreiten die sowjetische Rote Armee und Königliche Rumänische Armee die Stadt Cluj, auch als Klausenburg oder Kolozsvár bekannt, Claudiopolis auf Latein oder Cloizânburg auf Idisch, eine Sprachvariante, die sich aus dem Mittelhochdeutschen bildete und die 1930 noch 15 % der hiesigen Stadtbevölkerung, etwas mehr als 13.000 Menschen sprachen.

Am Tag drauf kam es zur Befreiung von Oradea, geführt noch als Großwardein, Nagyvárad, im Slowakischen Veľký Varadín oder auf Latein Magnovaradinum.

Am 15. Oktober, sichtlich erholt und gestärkt, zogen die Semlaker weiter in Richtung Westen. Immer weiter. Diese erneute Ost-West-Bewegung, die einer vor dreihundert Jahren begonnenen West-Ost-Bewegung folgte, war eigentlich ein klarer Beweis dafür. Die Rückkehr in die alte Heimat, diese Rückkehr zum Ausgangspunkt erklärte doch alles. Die Zeit verläuft nämlich nicht linear. Ist keine lineare Achse. Die Gelehrten hatten zwar klare Achsen mit Zahlen definiert, was man auch machen kann. Und trotzdem waren sich die verschiedenen Gelehrten aus den verschiedenen Kulturen bis heute nicht einig, wie genau die Zeit zu zählen sei. Wo genau und wann genau war der Ausgangspunkt? Die verschiedenen Kalender spiegeln die verschiedenen Weltanschauungen wider. Was auch logisch ist, diese Tatsache, dass sie sich nicht einigen konnten. Der Fehler lag nämlich im Versuch, die Zeit als eine geradlinige Dimension zu betrachten. Die Zeit ist aber nicht linear, sondern kreisförmig. Warum sollten sich sonst die Menschen vom Ausgangspunkt zum Endpunkt und dann wieder zurück bewegen? Wenn nicht deshalb, weil die Zeit kreisförmig ist? Wie der Tag. Wie die Nacht. Wie die Woche. Wie der Monat. Wie das Jahr.

In Hidegség, auch Vedešin genannt, einem ungarischen Grenzort mit einer starken kroatischen Volksgruppe, wurden die Semlaker für mehrere Stunden am Straßenrand angehalten, um andere Flüchtlinge, darunter den Treck der Sachsen aus Siebenbürgen, passieren zu lassen. Das war noch eine dieser besonderen Begegnungen des Siebenundsiebzigjährigen Krieges. Freudig, weil man eigene Landsleute traf, traurig, weil man erkannte, dass das Leid groß war und dass derart viele Menschen ihr gesamtes Hab und Gut hatten aufgeben müssen.

Am 18. oder am 19. Oktober 1944, das wusste niemand ganz genau, wurde die deutsche Grenze bei Sopron beziehungsweise Ödenburg, oder von den Burgendlandkroaten Šopron genannt, erreicht. Das goldene Tor zum Westen. Oder zum Osten. Wie man es eben wahrnehmen will.

Die Gubaschen hatten fast alle beschlossen, in Semlak zu bleiben. Flohen nicht nach Ungarn, nicht in den Westen, nach Österreich oder Frankreich. Waren alle zu Hause. In der Nacht vom 10. auf den 11. Jänner 1945 wurde mit den Verhaftungen der deutschstämmigen Rumänen begonnen. 70.000 Banater Schwaben, Sathmar Schwaben, Sachsen, Gubaschen, Beriner, Landler, Zipster wurden gefangengenommen und in das Land der Sowjets, in das Land der Volksräte gefahren, tagelang, wochenlang, in vollbeladenen Viehwaggons. Die geheime Operation lief im ganzen Land gleichzeitig und dauerte bis Ende Jänner an. Einzelne wurden sogar noch im Februar verhaftet.5 Die Gubaschen traf ihre Entscheidung, nicht fliehen zu wollen, sehr hart. Sie landeten im »Extrazug«, der sie tief in den Osten führen sollte. Aus dem viele nie mehr zurückkehren würden.

Am 12. Februar wurden die kommunistischen Kommissare und Aufwiegler in die rumänischen Dörfer geschickt, um Bauern zu überzeugen, ihrer Bewegung beizutreten und sofort mit der Aufteilung der Güter der Großgrundbesitzer zu beginnen.

Am 7. März kamen die ersten Züge mit den verschleppten Semlakern im Uralgebirge an. In Kuwaldik, dem Arbeitslager Nummer 1902. Andere wurden früher ausgeladen, im ukrainischen Donbass, in Kriwoi Rog, in Woroschilowskij Rayon, in Enakiewo, in Dnjepropetrowsk oder in Frunse, in der sowjetischen Republik Georgien.

Ebenfalls am 7. März fand in Bukarest ein geheimes Treffen zwischen einer Delegation der Rumänischen Kommunistischen Partei PCR, geleitet von Hana Rabinsohn alias Ana Pauker, und einer Abordnung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, geleitet von Evgheni Suhalov, statt. Das Thema der Besprechung war die kommunistische Machtergreifung in Rumänien gemäß eines Dreijahresplans, der vom bulgarischen Kommunisten Gheorghi Dimitrov im Auftrag von Stalin erarbeitet worden war, und dem dann zwei weitere Fünfjahrespläne folgen sollten.

In einem vertraulichen Bericht, den ein Agent des Office for Strategic Services (heute CIA) nach Washington schickte, steht, die Quelle habe kein geschriebenes Exemplar erhalten können, könne aber »… trotzdem frei aus dem Gedächtnis heraus die folgenden Etappen des Dreijahresplanes wiedergeben:

a.)Durchführung einer Agrarreform, Verstaatlichung der landwirtschaftlichen Flächen und das in den Ruintreiben der Großgrundbesitzer;

b.)die Abschaffung der jetzigen Armee und Erschaffung einer neuen Armee;

c.)Verstaatlichung der Banken;

d.)Auflösung der kleinen Bauernhöfe, die von den neuen Landwirtschaftlichen Genossenschaften aufgesaugt würden;

e.)Abdankung des Königs und Vertreibung der königlichen Familie;

f.)stufenweise Abschaffung aller Unternehmen, die Export-Import-Geschäfte mit amerikanischen oder britischen Firmen abwickelten und die Ausrichtung der rumänischen Exporte hin zur Sowjetunion und zu den Ländern, die sich unter sowjetischer Herrschaft befinden;

g.)Unterdrückung der historischen politischen Parteien durch Verhaftungen, Ermordungen und Entführungen ihrer Mitglieder;

h.)Gründung einer Polizeiorganisation, hervorgehend aus einer Volksmiliz nach dem Modell des NKWD;

j.)Ausrichtung der ländlichen Bevölkerung zur Industrie;

k.)Einreiseverbote für Fremde, außer denjenigen aus den Ländern, die sich unter dem sowjetischen Einfluss befinden.«6

Auch der dritte lebende Gott, der weit weg war, über dem Großen Teich, äußerte sich zur Lage auf der Erde:

Am 11. März 1945 schickte der amerikanische Präsident Roosevelt dem britischen Premierminister Churchill ein Telegramm: »Es ist offensichtlich, dass die Russen eine Regierung nach ihrem Geschmack gebildet haben, aber zusätzlich zu den Gründen, die Sie in Ihrer Nachricht dargelegt haben, denke ich, dass Rumänien kein guter Ort ist, um uns mit den Russen zu messen«.7

Am 21. März 1945 empfahl die Scînteia ihren Lesern ein paar Buchtitel, die unbedingt gelesen und studiert werden sollten: J. W. Stalin, Kurze Biografie; W. I. Lenin, Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution; A. I. Vîșinschi, Der Sowjetische Staat im Heimatverteidigungskrieg; E. Loșkin, UdSSR. Eine große Industriemacht.

Der Umbau schritt zügig voran. Am 23. März wurde die neue Landwirtschaftsreform beschlossen, niemand durfte mehr als fünfzig Hektar Land besitzen, 1.468.000 Hektar wurden verstaatlicht. Kleine Bauern und Landlose halfen beim Enteignen der Großen begeistert mit. 900.000 Familien wurden zu Landbesitzern. Kurzfristig, da bald die Gesamtverstaatlichung und Zwangskollektivierung durchgeführt werden sollte.8

Die Sowjets, die »Neuen Menschen« des »Homo comunisticus« Wissarionowitsch Dschugaschwili, holten sie schließlich alle noch ein. Dort, in der Steiermark. Die Liebe für Semlak, für Rumänien war unermesslich groß. Die kleine Lisa-Elisabet mit ihrer Mutter Elisabet-Lissi und ihrem Vater Adam fuhren zurück, zu ihren Berinern.

Die Rückkehrer konnten aber in ihre Häuser nicht einziehen. In einigen hatten sich die neuen Behörden eingenistet, die Gebäude, die gebraucht wurden, wurden in die staatliche Kollektivlandwirtschaft eingegliedert. Alles unter der neuen Roten Devise: Totul e a poporului! Alles gehört dem Volk! Auf die Hauswand oder an die Pforte, mit dicker roter Farbe, die sich gruselig strömend auf der Fassade verewigte, wurden die Buchstaben PMA aufgetragen. Diese Inschrift, eine von vielen neuen Abkürzungen, die man schnell lernen musste, um sich in der neuen Welt mit ihrer in Veränderung befindlichen Sprache, mit neuen Bräuchen und Riten zurechtzufinden, stand für Proprietatea Ministerului Agriculturii. Eigentum des Landwirtschaftsministeriums.9

Man kam folglich unter, wo immer man nur konnte. Bei den Verwandten, bei den Bekannten. Auch die kleine sechsjährige Lisa-Elisabet hatte kein Zuhause mehr. Das Haus ihrer Ahnen war von einer anderen Familie besetzt worden. Diese schweren Momente, diese Existenzängste würden ihr eigenes Leben, das ihrer gesamten Familie und das Leben ihrer Volksgruppe für immer prägen.

II. Mein Semlak

1947. Dreißigster Dezember: Abschaffung der Monarchie und Ausrufung der Volksrepublik Rumänien, dem Vaterland derjenigen, die arbeiten, mit den Händen und mit dem Verstand, aus den Städten und aus den Dörfern. Es wird die Realisierung der bürgerlich-demokratischen Revolution abgeschlossen und zur Ausführung der Aufgaben der sozialistischen Revolution übergegangen.10

Der Toboschar

Es gab im Torf viele wichtige Leute. Der Genosse Bürgermeister war wichtig. Der Genosse Vorsitzende der örtlichen CAP war vielleicht noch wichtiger. Dort war die Arbeit, dort waren die Tiere, die Pferdewagen, der Mais, dort war auch die Partei. Der Genosse Schuldirektor war ebenfalls sehr wichtig. Der Genosse Priester der evangelischen Kirche. Und der Genosse Priester der rumänisch-orthodoxen Kirche. Und der Genosse Priester der römisch-orthodoxen, unierten Kirche. Und andere Genossen Priester der anderen Kirchen.

Der Genosse Sportprofessor war ebenfalls wichtig. Ohne ihn keine Schulmannschaft. Und noch ein paar andere waren wichtig, wie der Nachbar, der Schuster. Er war kein Genosse, er war der Patschker11. Oder der Onkel Walti. Aber er war trotzdem sehr wichtig. Er hatte so viel Cunșaft, von überall her kamen die Menschen zu ihm.

Der wichtigste Mensch im Torf war aber der Toboșar. Wer das war? Nun, das wäre leicht mit einer Fußnote zu erklären. Aber der Toboșar war keine marginale Erscheinung, kein Störfaktor, keine Fußnote. Er war ein wichtiger Mensch. Wahrscheinlich der wichtigste von allen. Für manche war er sogar der Genosse Toboșar. Für die älteren noch immer der Herr Toboșar. Gut, es war jetzt nicht mehr korrekt und auch nicht mehr wünschenswert, imperialistische Vokabel zu verwenden, solche wie Herr. Neue Zeiten, neue Wörter, vieles veränderte sich, vieles war in Bewegung. Nur der Toboșar blieb.

Auf Deutsch richtig ausgesprochen hieß er: der Toboschar. Das Wort an sich war aber Rumänisch. In solchen gemischten Gemeinschaften, wie in Semlak, wanderten die Wörter frei von einer Sprache in die andere, kamen schließlich sogar oft wieder zurück, verändert, bereichert mit anderen Bedeutungen. Irgendwie waren da alle mehrsprachig. Auf jeden Fall aber waren alle Bewohner des Ortes multikulturell, da jeder mit den Traditionen der anderen aufwuchs.

Der Toboschar war meistens irgendwo auf den staubigen Straßen anzutreffen. Überall wo Menschenmassen zusammenkamen, auf dem Wochenmarkt, auf dem Sportplatz, vor den Kirchen, im Zentrum beim Eisessen, dort war immer auch er anzutreffen.

Ohne ihn hätten die Menschen wohl völlig in der Dunkelheit getappt. Er alleine kannte die volle Wahrheit, die ganze Wahrheit. Und er alleine war offiziell beauftragt worden, von wem auch immer, wahrscheinlich vom Genossen Bürgermeister und vom Genossen von der Miliția oder vom Genossen Schuldirektor oder von irgendjemandem, den anderen Menschen die Wahrheit näherzubringen, die anderen zu informieren.

Er lief also herum, machte einen tosenden Lärm mit seiner Trommel und informierte alle über die kommenden Ereignisse. Schrie herum so laut er nur konnte. Und ärgerte sich fürchterlich, wenn sich da hin und wieder einer fand, der nicht zuhörte und ihn zwang, seinen gut einstudierten Text zu wiederholen. Er war das Radio, er war der Fernseher, er war die Zeitung, die rumänische, die ungarische, die slowakische und die schwäbische gleichzeitig.

Der Toboschar kündigte alle wichtigen Ereignisse im Torf an. Eines Tages tauchte er auf und begann zu trommeln: drm-drm-drm – drm-drm-drm!

–Leute, Leute, kommt alle her, kommt alle her! Drm-drm-drm – drm-drm-drm!

–Hört alle zu! Hört alle zu!Die Menschen kamen, wie immer, alle angelaufen, einer nach dem anderen, da jeder der Erste sein wollte, der die wichtigen Neuigkeiten hörte.

–Morgen ist eine große Besprechung im Rathaus, eine wichtige Besprechung im Rathaus!Drm-drm-drm – drm-drm-drm!

–Hört alle zu! Românii, Rumänen, sollen alle um 18:00 Uhr kommen!Drm-drm-drm – drm-drm-drm!

–Hört alle zu! Ungurii, Ungarn, sollen alle um 18:30 Uhr kommen!Drm-drm-drm – drm-drm-drm!

–Hört alle zu! Nemții, Deutsche, sollen alle um 19:00 Uhr kommen!

Und er ging weiter. Und schrie weiter. Bis man ihn nicht mehr hörte. Nur noch seine Trommel. Und irgendwann hörte man sogar sein Trommeln nicht mehr. Nur seine Nachricht, die war krumm. Irgendwie falsch. Der Toboschar hatte sicherlich etwas durcheinander gebracht. Oder gab es drei Besprechungen? Für jede Volksgruppe eine eigene?!

Der Genosse Bürgermeister verstand seine Arbeit sehr gut. Er hatte keine Lust mehr, eine Besprechung drei Mal abzuhalten. Und er dachte nach.

Er wusste, er konnte sich darauf verlassen, dass die Deutschen um 19 Uhr kommen würden. Die Ungarn würden sich verspäten, 15 Minuten, im schlimmsten Fall 30 Minuten, also würden sie ebenfalls pünktlich um 19 Uhr da sein. Die Rumänen, die würden sich bestimmt verspäten, da liefen die Uhren anders, diese würden eine halbe Stunde, eine Dreiviertelstunde, im schlimmsten Fall sogar um eine Stunde später erscheinen.

Und so begann zum ersten Mal die Besprechung pünktlich und er musste nicht alles mehrmals wiederholen, weil sich ständig jemand verspätete.

Der Toboschar kündigte auch das kommende Derbi, das Spiel der Spiele, gegen den Nachbarort an. Das war hier wie Steaua gegen Dinamo. Oder wie Lazio gegen AS Roma. Ein Derbi.

Șeitin, auf Ungarisch Sajtény, auf Deutsch Scheitin, war eine uralte Siedlung, schon 1138 in einer Urkunde vom ungarischen König Béla erwähnt, damals als »Villa Sahtu«, im Zusammenhang mit irgendeinem Kloster Dumis.

Șeitin war geografisch gerade fünf Kilometer entfern, lag auf derselben Uferseite des Mureș wie Semlak. Es herrschte aber eine große Rivalität zwischen den zwei Ortschaften. Seit Jahren, seit Jahrzehnten, seit Jahrhunderten, wahrscheinlich gab es sie schon lange vor der Erfindung des runden Lederballes. Seit immer eben. Niemand wusste, wann und wie es begonnen hatte, aber die Rivalität war da. Und ein Sieg gegen die Șeitiner, das war wie Ostern und Weihnachten zusammen.

Jung und Alt, Kinder, Greise, Frauen, Genossen und Nicht-Genossen, tausend Zuschauer, eilten zum Stadion beim Deich am Mureș. Bei einem normalen Spiel kamen 300 bis 500 Zuschauer, beim lokalen Derbi galten aber andere Gesetze. Das war einer dieser Momente, in denen die Zeit stehen blieb, in dem sie alle vereint waren unter einer Fahne.

Der Fußballplatz lag neben dem Mureș, der mit seinen 789 Kilometern zweitlängste Fluss Rumäniens. Die Zuschauertribüne befand sich auf dem Deich. Bretter wurden systematisch auf Baustämmen angebracht und Sitzplätze eingerichtet. So konnte man das Geschehen auf dem Feld schön von oben beobachten. Und trotzdem konnte während des Derbis kaum jemand ruhig sitzen, alle standen auf, jubelten, gestikulierten. All diese erwachsenen Menschen inmitten einer gereizten Zigarettenwolke. Man trank Bier. Und noch mehr selbstgebrannten Schnaps oder Wein. Das war alles erlaubt. Während des Spiels. Vor dem Spiel. Nach dem Spiel, in den Kneipen im Ortszentrum.

Die Menschen spazierten langsam hin. Es war ein Ritual, an jedem zweiten Sundāg Nachmittag. Grüppchen marschierten auf dem staubigen Feldweg hin, dazwischen Opas mit Stöcken, um Schlangen und herrenlose Hunde zu verscheuchen. Auch Helmut war dort, mit seinen Klassenkameraden. Nur Peter fehlte. Er war der Einzige in der Klasse, der Fußball nicht mochte.

–Das ist etwas für Trottel! Wie kann man nur so dumm sein, dieses Spiel zu spielen? Zwanzig Idioten laufen einem braunen Objekt nach, und wenn sie ihn erreichen, hauen sie drauf und dann laufen sie ihm wieder nach, um ihn wieder mit voller Kraft wegzuschießen! sagte dieser immer wieder.

Die anderen waren sich alle einig: So etwas kann nur einer sagen, der nichts von der Welt versteht und sicherlich dumm sterben wird. Er war dumm geboren und würde noch dümmer sterben. Also ließen sie ihn in Ruhe.

Auch Ewald fehlte heute. Er liebte Fußball, wollte kommen … Aber seine Mutter, die war wohl von einer anderen Welt. Ohne Herz. Nur Knochen und Haut.

Helmut, Willi, Karli, Fritz, sie schauten vor dem Spiel bei ihm vorbei. Wie immer. Sie gingen von Haus zu Haus in der Strada Nemțească, der Daitschenstross, und sammelten die Bande ein.

–Komm Ewi, was machst Du?

Dieser, mit richtigem Namen Ewald, saß auf einem kleinen Bänkchen vor dem alten Birnbaum in seinem Innenhof, mit der schwäbischen Ziehharmonika in der Hand.

–Komm Ewi, lass jetzt die Scheißharmonika!

–Komm Ewi, wir werden uns verspäten und die Jungs beim Aufwärmen verpassen!

–Sofort, noch fünf Minuten. Muss noch diese zwei Lieder üben …

–Tue weiter! Kannst du nicht ein bisschen schneller spielen …

–Lass die Scheißlieder, die kannst später noch einüben …

–Und morgen …

–Sofort, noch fünf Minuten. Diese zwei noch … Wenn ihr meine wahren Freunde seid, dann werdet ihr auf mich warten. Außerdem werden sie sich beim nächsten Spiel auch aufwärmen!Und sie warteten. Eine volle Minute lang.

–Komm Ewi, wir werden uns verspäten und die Jungs beim Aufwärmen verpassen!

–Lass jetzt die Scheißharmonika!

–Na gut …

Er stand auf, legte die Harmonika ins Gras. Wollte gehen, als gerade seine Mutter aus dem Haus herauskam.

–Ewald, was ist los? Ihr Bengel, lasst ihn in Ruhe! Er wird Musiker, versteht ihr das nicht? Von eurem blöden Fußball kann keiner leben! Das ist was für Spinner! Geht sofort weg, oder …!

Und weg waren sie. Auf dem Weg zum Stadion, zur Hada, wie sie ihn liebevoll nannten. Warum er so hieß? Niemand wusste es. Wahrscheinlich war das wieder so ein Wort, das viel herumgewandert ist, ohne je den Ort verlassen zu haben. Auf Ungarisch heißt das Heer had. Es könnte also sein, dass der Name aus der Zeit stammte, als Semlak Teil der Militärgrenze am Mureș war und dort die Schießübungen der Grenzer stattfanden. Genauso aber konnte es vom ungarischen Wort határ, auf Deutsch am Rand, an der Grenze, ausgesprochen hotaar, auf Rumänisch hotar, kommen. Im Deutschen werden das weiche B und das harte P, das weiche D und das harte T oft in der Aussprache geebnet, vor allem in Dialekten, so konnte ebenfalls Hada entstanden sein, der Name des Fußballplatzes an der Grenze.

Der Fluss Mureș, oder Marosch, war lange Zeit die Grenze zwischen dem habsburgischen und dem osmanischen Reich und trennte Semlak, ja Arad beziehungsweise die historische rumänische Region Crișana vom Banat. Heute noch bildet er über eine Länge von 22,3 Kilometern die Staatsgrenze zu Ungarn.

Der Mann in Schwarz

Die lange und wechselvolle Geschichte wird unsichtbar, ist aber für die Ewigkeit in der Topografie eingraviert. Zuerst die Kutina die Ecke an der Ortseinfahrt, heute noch gibt es eine Stadt mit diesem Namen in Kroatien.

Des Weiteren die Dolina, eine kleine Ansiedlung am Hang zwischen dem Quetschegartə und dem Dorf. Dieser slawische Name für einen Hang oder einen Hügel stammt wahrscheinlich aus der Zeit der Militärgrenze, als Semlak eine serbische Siedlung war, die von bosnisch-orthodoxen und sogar griechischen Grenzern bewohnt wurde. Dort in der Nähe, irgendwo am Nordhang beim Krautfeld, war auch die Siedlung der Semlaker Rroma, aus irgendeinem Grund Harrisburg gerufen.

Dazwischen, eingekreist vom Hauptarm des Mureș sowie der Dolina und der Ieruga12, befand sich die Hada. Sie war einmal eine Insel mit einem Auwald sowie einem Jagdrevier der hiesigen Grafenfamilie gewesen. In den Dreißigern wurde ein Schutzdamm, ein Deich aus Erde, angehoben, der sie vor den Überschwemmungen durch den Mureș schützen sollte. Sportplätze wurden errichtet, ein Fußballplatz, ein Tennisplatz.

Die Ieruga, ein trockener Altarm des Mureș, die das Dorf von der Hada trennte, wurde jeden Frühling überflutet, das Wasser blieb oft weit bis in den Sommer stehen. Eine kleine Brücke, eigentlich ein Damm mit einem Durchlass darunter, führte zum Stadion hin,13 welches eigentlich mitten im Überschwemmungsgebiet lag. Dort konnte kein Weizen angebaut werden. Nutzloses Terrain. Genau richtig für ein Fußballstadion. Ein sehr modernes. Man hatte Umkleidekabinen mit je zwei Holzbänken. Musste sich nicht mehr im Gebüsch umziehen. Und sogar ein Plumpsklo!

Der Rasen war schön saftig und grün, ein, zwei Mal im Jahr fuhr man sogar mit einem Traktor mit angezogenem Wiesenwalzer drüber, um vor allem die Maulwurfshügel zu ebnen. Das Gras war noch am Vortag, gestern am Samstag, händisch mit der Sense gemäht worden, alles stand für das große Derbi bereit.

Helmut befand sich unter den Zuschauern. Es kam ihm vor, als wäre er schon immer da gewesen. Konnte sich gar nicht mehr erinnern, wann er zum ersten Mal beim Derbi dabei gewesen war. Aber er war da. War aufgeregt. War begeistert. Von der Atmosphäre, von den vielen Menschen dort. Von den Akteuren auf dem Spielfeld, die jeder im Ort kannte.

Da war zuerst dieser Schutsu, der zentrale Verteidiger, der Kapitän der Mannschaft. Hatte einmal in der Divizia C, ja sogar B gespielt, hieß es. Ein Zauberer. Wie er den Ball annahm, weiterspielte, welche Ruhe, welche Eleganz. Ein Gentleman. Mit echten Fußballschuhen. Ein richtiger Profi.

Helmut wartete aber neugierig auf den Mann in Schwarz. Dieser war anders. Anders als alle anderen. Und das faszinierte ihn. Er war der einzige Mann in Schwarz im ganzen Stadion.

Helmut war selbst ebenfalls einer. Derzeit nur in der Schule. Nun, in jedem Dorf gab es mindestens einen Schwarzen Mann. Wie ein geheimer Bund trugen sie alle, mythisch, elegant Rollings, langarmige schwarze Rollkragenshirts.

Die Schiedsrichter waren schon da. Arm, irgendwie. Alle beschimpften sie. Wenn nicht die Fans der Heimmannschaft, dann diejenigen der Gastmannschaft, alle beschimpften sie. Und das war lustig, irgendwie, denn man beschimpfte sie schön sanft, meistens. »Schiedsrichter, du Ochse!« oder »Du Pferd!« oder »Du blindes Schwein!« oder so.

Die Spielbälle waren aufgepumpt worden. Es waren braune, aus lohgegerbtem Leder, so bezeichnete man rohgares, vorwiegend mit Eichen- und Fichtenrinde in der Grube gegerbtes Leder. Des Weiteren waren die Bälle imprägniert worden, um zu verhindern, dass sie sich bei Regen mit Wasser vollsogen. Sonst mussten sie sofort ausgetauscht werden und man spielte mit einem anderen, trockenen Ball weiter. Auch waren diese schwer zu erkennen, in der Dämmerung. Und im Schwarz-Weiß-Fernsehen noch weniger. Da wusste man nie, wo der Ball war.

Folglich wurde bei der WM in Mexiko der Telstar eingeführt. Ein Wahnsinnsball, den es zunächst eben nur im Fernsehen gab. Der Name wurde abgekürzt von »Star of Television«. Anders als alle anderen Fußballbälle bis dahin bestand er aus zwölf Fünfecken und zwanzig Sechsecken, 32 handvernähten Panels, schwarzen und weißen. Nun konnte man den Fußball auch richtig sehen. Es wurde folglich sogar eine Variante mit rot und schwarz produziert, für winterliche Verhältnisse. Mathematisch, geometrisch gesehen war solch ein Fußball ein Ikosaederstumpf, also ein vollkommen symmetrisches Ikosaeder, dessen zwölf Winkeln zu Fünfecken geebnet wurden. Wer dachte, er brauche keine Mathematik fürs Fußballspielen, der scheint sich geirrt zu haben …

Der Spielball in Semlak bestand aber weiterhin aus vernähten Lederstreifen, meist waren es sechs Gruppen von zwei, drei nebeneinanderliegenden Streifen, und war mit einer Schweineblase gefüllt. Hatte seitlich eine Öffnung, durch welche die Schweineblase oder irgendeine Gummiluftkammer hineingegeben und herausgenommen werden konnte, um bei Bedarf mit Klebstoff geflickt zu werden. Die Öffnung wurde schließlich geschlossen und mit einer Lederschnur festgezogen und verknotet. Der Teil des Balles mit der Öffnung war ziemlich hart, fester als der Rest des Lederballes. Es tat immer teuflisch weh, wenn man ihn genau an dieser Stelle mit dem Kopf erwischte. Schlimmer noch, durchnässt erreichte er das Doppelte seines ursprünglichen Gewichtes und konnte zwei, drei Kilogramm wiegen. Bei einem Schuss ins Gesicht konnte es einem richtig schwindlig werden. Blaue Flecken am Rücken, am Oberschenkel erinnerten sogar noch zwei Wochen später an die Begegnung.

Die Hada war an jedem zweiten Sundāg das Zentrum der Welt. Gerade drei Lei kostete die Eintrittskarte. Mit diesem Geld kaufte man die Bälle, Limonade und was man sonst noch so im Sportverein benötigte.

Plötzlich lief er auf den Rasen hinaus, der Schwarze Mann vom FC Semlacana, der Fußballmannschaft der örtlichen Landwirtschaftlichen Genossenschaft, der schon vor einigen Jahren alle Bauernhöfe beigetreten waren. Freiwillig selbstverständlich, um den Ausbau der modernen Welt, der neuen kommunistischen Welt voranzutreiben und um sich auch eine eigene Squadra leisten zu können.

Helmut war faszinert von Johny, dem Mann, der ganz in Schwarz gekleidet war. Mit einem Rollkragenshirt, straff gezogen bis zum Kinn, mit Handschuhen, richtigen, professionellen, nicht solchen von Schweißern, die die Anfänger verwendeten. Die Schuhe mit Stollen, so scharf wie Zähne, aus Leder, persönlich vom Meister Patschker angefertigt. Auf dem Rücken die magische Nummer eins.

An den Beinen kniehohe, ebenfalls schwarze Stulpen. Aus Baumwolle, angefertigt vom Dorfschneider persönlich. Darunter, eingenäht, feinere oder dickere hölzerne Stäbe, die das Schienbein einigermaßen vor Schlägen schützen sollten. Wenn sie brachen, wurden sie ausgetauscht. Der Dorfschneider schaffte es nämlich, nach einigem Probieren, besondere Fußballstulpen anzufertigen, bei denen die Holzstäbe mühelos rein und raus gingen. Das erleichterte nicht nur das Auswechseln der beschädigten und gebrochenen Stäbe, sondern auch das Waschen der Stulpen.

Helmut war fasziniert von Johny, von der Art wie dieser auf den Rasen spazierte, wie er den Ball hinausschoss, wie er die ganze Mannschaft dirigierte, wie ein Orchesterdirigent. Begeistert von seinen Paraden, von der Weise, wie er den Ball bei voller Geschwindigkeit in der Luft fing. Wie ein schwarzer Panther.

Helmut schaute sich das Spiel gar nicht an. Es interessierte ihn nicht wirklich, was die anderen Feldspieler so taten. Die vergeudeten ihre Zeit mit irgendwelchen unnötigen Zirkusnummern, auf die sie nachher sogar noch stolz waren, anstatt direkt das gegnerische Tor anzugreifen und den Tormann ins Spiel zu bringen. Helmut stellte auch fest, dass sie den Ball kaum zum Schlussmann zurückspielten, es sei denn, sie kamen stark in Bedrängnis und schoben schließlich mit einem glatten, gefährlichen Rückpass die ganze Verantwortung dem Tormann zu. Das war nicht wirklich die feine englische Art.

Helmut fixierte seinen Schwarzen Mann