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Ein sonniger Morgen im malerischen Trastevere, durch dessen schmale Gassen sich die Vespas schlängeln. Hier betreibt Giulia Malfante eine kleine Bar samt Pension und serviert gerade die ersten caffès, als Commissario Rignoni ihr die traurige Nachricht überbringt, dass einer ihrer Gäste tot am Ufer des Tiber aufgefunden wurde. Auf dem Sekretär des gemütlichen Zimmers: ein Abschiedsbrief. Signore Gianfranco Crivelli war nicht nur der Bruder eines einflussreichen römischen Industriellen, sondern hatte auch eine schillernde Vergangenheit: Er war mit einer der berühmtesten Schauspielerinnen Italiens verheiratet, stand in den siebziger Jahren mit einer linken Untergrundorganisation in Kontakt und vertrat als Anwalt Menschen, die unter Leuten wie seinem Bruder zu leiden hatten. Giulia kann nicht glauben, dass der alte Herr sich das Leben genommen hat. Dann steht der Neffe des Toten vor ihr, ein geheimnisvoller Brief seines Onkels hat ihn in die Bar Da Giuseppe geführt. Luca und Giulia beginnen, gemeinsam zu ermitteln. Mit den skurrilen Antiquaren Beppo und Nello stehen ihnen zwei belesene Helfer zur Seite, und mit Enrico, dem Freund von Giulias Tochter, ein Mann der Tat.
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Enzo Maldini
Ein Fall für Giulia Malfante
Oktopus
»Mehr noch als eine Stadt ist Rom ein geheimer Teil von euch, ein verstecktes Raubtier.«
Gianfranco Calligarich
So früh am Morgen war noch nicht mit Gästen zu rechnen, wenngleich manchmal der ein oder die andere Berufstätige hereinschneite, einen Caffè bestellte und in einer fliegenden Bewegung zu sich nahm. Man musste munter werden – vielleicht hatte der müde Gast Angst, an der Straßenbahnhaltestelle nach einer viel zu kurzen Nacht einzuschlafen und zu spät ins Büro oder in die Fabrik zu kommen. Tatsächlich gab es hier im klassischen Arbeiterviertel Trastevere sogar noch ein paar Arbeiter, auch wenn man sie fast schon an einer Hand abzählen konnte. Längst war der Stadtteil jenseits des Tiber von jungen Hipstern aus aller Welt eingenommen worden – und von Touristen. Die Ureinwohner taten sich manchmal schwer damit, sich in ihrem alten Quartiere noch zu Hause zu fühlen. Wenn sie es sich überhaupt leisten konnten, hier zu wohnen. Aber nach und nach, so schien es zumindest Giulia, nach und nach wurden die Alteingesessenen wieder präsenter. Manche, die hier aufgewachsen waren, kehrten zurück, als würden sie sich ihr Stückchen von Rom zurückerobern wollen. Vielleicht redete sie sich das auch nur ein, nun, da sie wieder hier war. Sie stammte aus Trastevere – es ließ sich nicht leugnen.
Ihr Vater hatte die Bar aufgebaut, er würde vielleicht sogar behaupten, er habe sie groß gemacht. Er hatte die goldenen Zeiten miterlebt, die Sechzigerjahre, als Elsa Morante und Alberto Moravia Stars waren und Federico Fellini, Marcello Mastroianni und Pier Paolo Pasolini zum Feiern vorbeikamen. Ja, auch bei Giulias Vater Giuseppe hatten sie manchmal ihren Caffè getrunken oder einen Aperitif am Abend, bevor sie weiterzogen in eins der noch ganz traditionellen Restaurants oder auch in Kaschemmen, je nachdem. Heute musste man dieses alte Trastevere mit der Lupe suchen, aber ganz untergangen war es noch nicht, Giulias Bar war der beste Beweis dafür: Nicht viel hatte sich verändert, seit ihr Vater jung gewesen war und Da Giuseppe eröffnet hatte, hier an der Piazza di San Francesco D’Assisi. Das Haus gehörte der Familie, im ersten Stock waren vier Zimmer, die an Touristen vermietet wurden – eine Neuerung, die Giulia eingeführt hatte, als sie im Jahr 2011 – vor vier Jahren – zurückgekommen war. Und im zweiten Stockwerk wohnte Giuseppe, komfortabel und geräumig. Als Wohnzimmer allerdings diente ihm sein altes Café. Er kam morgens spätestens um zehn, um genüsslich sein Cornetto zu verspeisen, und abends um zehn saß er noch mit seinen alten Freunden beim Glas Wein, bis Giulia die Rollläden herunterließ, mit den Gläsern klirrte, ein Gute-Nacht-Lied pfiff und den alten Herren einfach die Schlüssel auf den Tisch legte und nach Hause ging, wenn sie die Zeichen glattweg ignorierten.
Giulia selbst wohnte ein paar Straßen weiter. Manchmal kam es ihr komisch vor, dass nun alles seine Ordnung hatte. Sie war zurückgekehrt, und ihr Vater durfte stolz auf sie sein: die heimgekehrte Tochter. Das Erbe ihres Vaters hatte sie doch noch angenommen, nachdem sie sich so sehr dagegen gesträubt hatte. Das Sträuben – lange her. Sie konnte es allerdings nicht verhehlen, dass sie sich freute, morgens das Café aufzuschließen, Tische und Stühle vor die Tür zu stellen, die Markise herunterzukurbeln, die Kaffeemaschine anzuwerfen, die Panini vorzubereiten, ein Pläuschchen mit dem Pasticciere aus der Via della Luce zu halten, der ihr die Dolci vorbeibrachte, und schließlich alles in der Auslage zu drapieren. Die meiste Zeit in diesen frühen Morgenstunden aber durfte sie schweigen, bevor sie den restlichen Tag über ununterbrochen mit ihren Gästen plauderte, die meisten davon Stammgäste, also Freunde.
Ohne Vittorio allerdings wäre sie verloren gewesen. Vittorio kam erst gegen elf. Ein junger schlaksiger Kerl, der ein Glücksgriff war. Ihr schien er zunächst ein bisschen reserviert, so wie er auch den Gästen gegenüber immer erst ausgesprochen zurückhaltend wirkte. Aber nach einer Weile taute er auf, und dann war er ein wahrer Schatz. Vittorio sah zu allem Überfluss recht schmuck aus, weshalb einige Frauen des Viertels regelmäßig vorbeikamen – Männer übrigens auch. Giuseppe würde zwar behaupten, die Männer kämen allein wegen Giulia, wegen ihrer wilden, rötlich schimmernden Locken, ihrer jugendlichen Verve, ihrer herzlichen und beherzten Art. Sie aber wollte sich das nicht einbilden, hatte sie doch immerhin eine volljährige Tochter. Die Zeiten waren vorbei, da ihr hinterhergepfiffen wurde. Und wenn es doch einmal vorkam, so ignorierte sie diese etwas machohafte Bewunderungsgeste geflissentlich. Sie konnte gut auf männliche Dummheiten verzichten, ohne Zweifel war sie eine emanzipierte Frau.
Wie sie es liebte, den ersten Caffè morgens allein zu trinken. Manchmal setzte sie sich einfach auf die Bordsteinkante vor ihrer Bar und schaute der Stadt dabei zu, wie sie erwachte. Zumindest dem kleinen Ausschnitt der Stadt, den sie hier zu Gesicht bekam, den vorbeiknatternden Autos und Vespas, den beschwingt und mit flatternden Armen grüßenden Geschäftsleuten der Nachbarstraßen, den beflissenen Kulturreisenden, die sich schon am frühen Morgen von Berninis seliger Lodovica Albertoni verzücken lassen wollten. Die Lage jedenfalls konnte besser nicht sein. An der Peripherie des touristischen Hotspots gelegen, herrschte hier noch ein bisschen dörflicher Friede.
Giulia hatte freilich gar nichts gegen Touristen, immerhin war sie jahrelang selbst eine gewesen. Wo sie überall herumgekommen war! Südamerika, Japan, Ghana, in ganz Europa natürlich, in Berlin hatte sie eine ganze Weile gelebt, sie sprach ein paar Sprachen, nicht unbedingt perfekt, aber passabel. Manchmal fragte sie sich, ob sie das Nomadendasein vermisste. Ja und nein, lautete dann stets die Antwort. Als ihre Tochter heranwuchs, wurde Giulia immer sesshafter, und das nicht nur notgedrungen, sondern auch einem inneren Bedürfnis folgend. Einige Jahre hatte sie mit der kleinen Carla in Berlin verbracht. Giulia nannte sie manchmal »tedesca«, und seltsamerweise hörte ihre Tochter das gar nicht ungern. Carla vermisste das ruppige Berlin. Sie sagte das nicht laut, aber Giulia konnte das spüren, weil es ihr ganz ähnlich ging. Den Berliner Winter allerdings vermisste sie nicht.
Die Glocken von San Francesco a Ripa läuteten ohrenbetäubend zum Morgengebet, eine deutliche Aufforderung. Der erste Gast kam, Elio, ein Werbegrafiker, alteingesessen und verschmitzt. Er las bei Giulia seine Zeitung, machte Witze über die Politik und kritzelte immerzu in ein Notizbuch. Und es kam noch jemand anderes, den sie jedoch nicht kannte und der, wie sich schnell herausstellen sollte, auch kein Interesse an ihrem Caffè oder einem Frühstücks-Snack hatte.
»Signora Malfante?« Der Mann hatte einen bestimmten und bestimmenden Ton. Zum Plaudern schien er nicht aufgelegt.
»Ja, ganz richtig, Giulia Malfante. Buon giorno. Und mit wem habe ich die Ehre?«
»Commissario Rignoni. Entschuldigen Sie bitte die Störung. Haben Sie einen Augenblick, können wir uns setzen?«
Giulia führte den Kommissar an einen Tisch in der Ecke, bot ihm ein Getränk an, aber der schüttelte nur den Kopf und bat sie, Platz zu nehmen. Giulia wunderte sich über diesen Besucher, und in den wenigen Sekunden, die nun vergingen, durchkreuzten unzählige schreckliche Ahnungen ihre Gedanken – zuerst dachte sie an ihre Tochter Carla, die im Centro wohnte. Giulia gehörte nicht zu den ängstlichen Müttern, von denen sie in ihrem Leben einige kennengelernt hatte, aber nun kamen ihr alle möglichen Unglücksfälle in den Sinn, die Carla ereilt haben mochten. Dann dachte sie an ihren Vater, der hoffentlich oben in seinem Bett lag und schlief und nicht auf dumme Gedanken gekommen war. Aber zuzutrauen war ihm doch einiges … Zum Glück wurde sie von diesen Fantasien rasch erlöst.
»Kennen Sie einen gewissen Gianfranco Crivelli?«, fragte der Commissario ohne weiteres Vorgeplänkel.
»Selbstverständlich. Er ist Gast in meiner Pension.«
»Wann«, fragte der Kommissar mit einer gewissen Dringlichkeit in der Stimme, »wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?« Er blickte sie dabei an, es schien Giulia fast, als würde er niemals zwinkern. Der Mann irritierte sie.
»Das muss gestern gewesen sein, gestern Morgen. Er hat hier in der Bar gefrühstückt, dann hat er sich verabschiedet.«
»Zu welcher Uhrzeit war das?«
Giulia überlegte. Sie war sich nicht ganz sicher, es musste aber vor 10 Uhr gewesen sein, denn ihr Vater hatte sich noch nicht blicken lassen.
»Ich denke, gegen halb neun oder neun«, sagte sie mit einer etwas unsicheren Stimme, über die sie sich ärgerte. Welchen Grund gab es, eine wackelige Stimme zu haben? Was wollte dieser schnöselige Commissario überhaupt von ihr? Jung und grün hinter den Ohren war er, auf jeden Fall etwas jünger als sie.
»Wissen Sie, wo Signor Crivelli hingegangen ist?«
»Nein, das kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Sie haben aber doch bestimmt ein gutes Verhältnis zu Ihren Gästen und unterhalten sich manchmal mit ihnen, nicht wahr?« Commissario Rignoni war ihr wenig sympathisch. Sie mochte seinen Ton nicht.
»Natürlich unterhalte ich mich zuweilen mit meinen Gästen, aber ich frage sie nicht aus. Sie erzählen mir von ihren Unternehmungen, wenn sie Lust dazu haben. Und wenn nicht, dann eben nicht.« Sie hatte die Sicherheit in ihrer Stimme wiedergewonnen. Und wunderte sich zugleich über den strengen Klang. Ob Rignoni es bemerkt hatte? Sie wollte es wiedergutmachen und fügte hinzu: »Wenn Sie mich aber fragen, was ich annehme, dann würde ich wohl auf einen Spaziergang tippen. Signor Crivelli schien einen Morgenspaziergang machen zu wollen. Er pfiff ein Lied und winkte mir beim Hinausgehen zu. Aber nun verraten Sie mir: Was ist passiert? Warum stellen Sie mir Fragen zu meinen Gästen?«
Commissario Rignoni ging darauf gar nicht ein, sondern sagte nur, eher zu sich selbst als zu seiner Gesprächspartnerin: »Aha.«
Dann sagte er noch einmal »Aha« und wollte von Giulia wissen, ob sie sich gar nicht darüber gewundert habe, dass er nicht zurückgekommen sei.
»Er ist nicht zurückgekommen?«, fragte Giulia ein wenig erschrocken.
»Sie haben ihn also nicht gesehen?«
»Nein, aber das will nichts heißen. Am Mittag mache ich oft Besorgungen. Mein Mitarbeiter Vittorio ist dann im Café, und gestern war auch Anna da, sie kümmert sich halbtags um die Pensionszimmer und hilft manchmal hier unten aus.«
»Dürfte ich Signor Crivellis Zimmer sehen?«
»Dürfen Sie das?«
»Ich kann Ihnen versichern: Ich darf. Ich habe die Frage, wenn ich ehrlich bin, nur aus Höflichkeit gestellt. Und um Ihnen weiteres Rätselraten zu ersparen: Crivelli wurde heute Morgen am Ufer des Tibers tot aufgefunden, gar nicht weit von hier. Er trug einen Hotelschlüssel in seiner Tasche bei sich, auf dem der Name Ihrer Pension eingeprägt ist.«
Giulia war wie vor den Kopf gestoßen. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, was ihr gerade in großer Nüchternheit verkündet worden war. Einer ihrer Gäste tot? Gefunden am Ufer des Tibers? Sie versuchte diese sehr einfachen Informationen – das waren sie ja ohne Zweifel – einzuordnen, aber das dauerte. Derweil starrte sie den Commissario ungläubig an, als sei er ein sprechendes Kamel oder ein fliegender Hund.
»Signora Malfante?« Von weit her kam diese Stimme, aber langsam fasste sich Giulia wieder.
»Ja, entschuldigen Sie. Ich bin ein wenig verwirrt. Natürlich können wir in sein Zimmer gehen. Ich werde Ihnen aufschließen.«
Giulia holte den Generalschlüssel hinter dem Tresen hervor und stieg mit Rignoni die Treppen ins erste Stockwerk hinauf. Auch wenn sie wusste, dass das Zimmer leer war – leer sein musste –, war es ihr unbehaglich, die Tür zu öffnen.
»Hier ist es.«
Der Commissario sah sich in dem kleinen, gemütlichen Raum um. Auf dem Sekretär lag ein Brief. Rignoni nahm ein Tuch aus seiner Tasche, hob das Papierstück an und begann zu lesen.
»Das dachte ich mir schon«, murmelte er vor sich hin. Und aus Giulia platzte es heraus: »Was dachten Sie sich?«
Commissario Rignoni drehte sich zu ihr um, zuckte mit den Schultern und bat Giulia, nichts im Zimmer anzurühren. Es würden gleich noch zwei Kollegen kommen, die sich – aus Routinegründen, wie er sagte – genauer umschauen würden.
»Können Sie mir nicht sagen, was passiert ist?«
»Nun, es sieht so aus, als hätte Signor Crivelli Hand an sich gelegt.«
Giulia wunderte sich über diese Ausdrucksweise. Ein Polizist, hätte sie erwartet, spräche von Selbstmord oder Suizid. Immerhin hätten solche Begriffe etwas Handfestes, erinnerten mehr an einen Fall als an eine ganz harmlos scheinende Handbewegung.
»Das ist wohl sein Abschiedsbrief. Ich nehme ihn mit aufs Präsidium, da wird er untersucht. Können Sie versichern, dass seit gestern niemand im Zimmer war?«
»Na, Anna war hier, das Zimmermädchen, sie fängt ihren Rundgang an, wenn die Gäste das Haus verlassen.«
»Ist sie hier?«
»Ja, in der Küche. Sie hilft morgens dabei, das Frühstück zu machen.«
»Gut, dann würde ich gern kurz mit ihr sprechen.«
Der Commissario steckte den Brief in eine kleinformatige Klarsichthülle, die er aus seiner Jackeninnentasche zauberte, und folgte Giulia wieder treppab ins Café. Er hatte etwas an sich, das sie irritierte. Es war der Duft eines bestimmten Aftershaves, nicht sehr scharf, aber auffällig, der sie an jemand anderen erinnerte, auf den sie nicht kam. Sie wusste, dass sie dieser Geruch beschäftigen würde, bis sie herausfände, wen Rignoni da aus ihrer Vergangenheit heraufbeschwor.
Anna, die sehr jung war und noch viel jünger aussah, wurde vom Commissario befragt. Giulia war immer wieder verblüfft über ihre Schüchternheit, die sich in manchen Momenten in eine geradezu mädchenhafte Albernheit und einen entzückenden Übermut verwandeln konnte. Jetzt wirkte sie eingeschüchtert. Rignoni wollte wissen, wann sie im Zimmer von Crivelli war, ob ihr etwas aufgefallen sei, ob Schreibzeug und ein Brief auf dem Tisch gelegen hätten. Anna hatte keines gesehen, zumindest erinnerte sie sich nicht daran. Sie hätte aber auch, fügte sie eilfertig hinzu, keinen Blick darauf geworfen oder etwas zurechtgerückt. Sie interessierte sich nicht für das Privatleben der Gäste. Dabei schaute sie Giulia an, fast als wollte sie mit ihren Augen fragen, ob sie wohl die richtigen Antworten gegeben hatte.
»Gut«, sagte Rignoni. »Das war erst einmal alles. Meine Kollegen werden gleich da sein. Bitte verändern sie nichts im Zimmer. Und seien Sie nicht verwundert. Es geht eben alles nach Vorschrift. Übrigens«, fügte er leise hinzu, »werden meine Kollegen dezent sein. Ihre Gäste sollen selbstverständlich nicht verschreckt werden, Selbstmord ist ja kein Verbrechen. Zumindest keines, das die Justiz zu interessieren hätte. Der liebe Gott mag das anders sehen.« Er lächelte.
Giulia war einem so seltsamen Menschen wohl noch nie begegnet. Sie wurde aus ihm nicht schlau. Und wie er sprach! Ihr Vater kam die Treppe herunter. Der Commissario grüßte ihn, blickte sich noch einmal zu Giulia um und trat dann energisch hinaus auf die Piazza.
Beppo und Nello hatten es sich bei Giulia bequem gemacht. Sie waren aufgetaucht, kurz nachdem sie ihrem Vater Giuseppe von dem morgendlichen Abenteuer erzählt hatte. Die beiden saßen an der Bar, tranken Cappuccini und blickten ihre Gastgeberin neugierig an. Ein Toter also, der gestern Morgen noch hier im Hotel gefrühstückt hatte – in ihren Gesichtern standen tausend Fragen.
»Und die Polizei war da«, sagten sie. Eine Feststellung, keine Frage. Es war eine Aufregung, die sich von Giulia auf die Brüder Beppo und Nello übertragen hatte.
Die beiden hatten vor zwei Jahren in der Via Natale del Grande ein Antiquariat aufgemacht – vom Erbe ihres Vaters, das äußerst üppig ausgefallen war. Vom einen Tag auf den andern mussten sie eigentlich gar nichts mehr tun. Das war auch ganz gut so: Mit ihrem Antiquariat verdienten sie genau genommen nichts, das beklagten sie jedenfalls immer, wenn sie bei Giulia einkehrten. Die Römer läsen nicht, grummelten sie. Die Römer starrten von morgens bis abends auf ihre Handys. Das Finanzamt habe kürzlich angefragt, ob sie überhaupt eine Gewinnabsicht hätten. Sie liebten Bücher und hatten eine romantische Vorstellung davon, inmitten ihrer Schätze zu sitzen, mit ihren Kunden ins Gespräch zu kommen, sich über Literatur auszutauschen, prächtige Bände wie Heiligtümer zu präsentieren. Dabei hatten sie beide einmal einen ganz anderen Weg eingeschlagen, ihrem alten Herrn zuliebe, der Bankier war und wusste, wie er sein Geld anzulegen hatte. Lange war das her! Beppo hatte Ingenieurwesen studiert und tatsächlich viele Jahre als Statikexperte in verschiedenen Ländern beim Bau von Brücken mitgearbeitet. Nello war Anwalt gewesen, in einer gut gehenden Kanzlei. Man hatte ihm die Partnerschaft angeboten, aber er war lieber ausgestiegen. Beide – gerade einmal Anfang 50 der eine, Mitte 50 der andere – waren aus ihrem Leben geflohen, um endlich, ohne Last des Gelderwerbs, zu lesen und zu horten, und manche der Bücher, die sie aus Nachlässen erwarben, würden sie niemals hergeben können.
Ihr Antiquariat war sehr eigen. Es handelte sich um zwei schöne, miteinander verbundene Räume, die Regale waren maßgefertigt und schwer und edel, und trotzdem wirkte alles geradezu elegant und großzügig. Es war Platz für eine kleine Sitzecke mit Sesseln und Sofa, es gab jeweils in der Mitte der Zimmer einen großen Tisch, der – zu Ehren von Fausto Coppi – auf zwei alten Rennrädern aus Stahl aufgebockt war und auf dem sehr luftig die neuesten Erwerbungen ausgestellt wurden. Es gab Abteilungen mit italienischer Belletristik, oftmals in Erstausgaben, Kunst- und Architekturbänden, Kochbüchern, historischen Werken und Nachschlagewerken zur Religionsgeschichte. Außerdem ein Regal mit englischer, deutscher, spanischer und französischer Literatur – handverlesene Titel, denn Beppo und Nello waren Kenner. Auf die Gestaltung der beiden Schaufenster legten sie besonderen Wert. Für jede Jahreszeit ließen sie sich etwas Neues einfallen, jetzt, im Frühling, waren grüne Bände ausgestellt, alle möglichen Schattierungen von grün, alle möglichen Genres, alle möglichen Formate. Prachtvoll sah das aus, und sie erzählten, dass sich zuweilen sogar Menschen in ihren Laden verirrten, die unumwunden und frei von Scheu zugaben, noch niemals ein Buch gelesen zu haben. Sie gingen dann meist mit einem Bildband nach Hause, manchmal aber auch mit einem Roman. Giulia ahnte, dass die Geschäfte so schlecht gar nicht liefen, wie es die beiden vielleicht gerne hätten – sie konnten sich nur so schwer von ihren Büchern trennen. Bald würde womöglich nicht einmal mehr das Finanzamt eine spitze Bemerkung machen können.
»Und dein Gast hat sich wirklich umgebracht?«, fragte Beppo.
»Es ist ja schon sehr ungewöhnlich, dass die Polizei in so einem Fall diesen Aufwand betreibt«, fügte Nello hinzu.
Giulia hatte ebenfalls ihre Zweifel. »Ich weiß auch nicht. Es ist schon merkwürdig. Signor Crivelli wirkte so wohlgemut und aufgeräumt.«
»Crivelli?«
»Ja, Gianfranco Crivelli. Er war so …« Giulia kam nicht dazu, ihren Satz zu beenden.
»Gianfranco Crivelli?«, riefen beide vollkommen synchron. Sie sahen zunächst sich und dann Giulia an, und schließlich blickten sie hinter sich, wo am kleinen Tischchen in der Ecke Giulias Vater in die Gazzetta dello Sport vertieft war. Er hatte den Aufschrei der beiden mitbekommen und linste über die Zeitung hinweg zur Bar. Schulterzucken seinerseits, aufgeregtes Handwedeln bei den Brüdern.
»Gianfranco Crivelli, ungefähr Mitte 70, ein distinguierter Herr?«
»Ja, Mitte 70, das dürfte stimmen.«
Beppo und Nello blickten sich an.
»Wenn das nicht …«, sagte Beppo.
»… ein starkes Stück ist«, fügte Nello an.
»Könntet ihr mich einmal aufklären, was in euren Köpfen vor sich geht, und wer dieser Gianfranco Crivelli eurer Ansicht nach ist?«
»Also, liebe Giulia …«, begann Nello in einem kaum kaschierten pädagogischen Tonfall, den Beppo in selber Tonlage aufgriff: »… Gianfranco Crivelli, wenn es denn unser Gianfranco Crivelli ist, könnte man als eine Legende der italienischen Linken bezeichnen.«
»Im Übrigen ein Kollege von mir«, ergänzte Nello, »ein Anwalt. Und was für einer. Er galt als Rächer der Entrechteten, verteidigte die, die es sich nicht leisten konnten, aber auch einige Prominente der brigate rosse. Man nannte ihn den brigatista Crivelli.« Beppo und Nello atmeten lautstark und im Chor aus.
Giulia schaute hinüber zu ihrem Vater, der sich aber hinter seine Zeitung duckte.
»Das war ihm nicht gerade in die Wiege gelegt, also der Kampf für die Linke. Er stammte aus einem sehr bürgerlichen, sehr katholischen, sehr wohlhabenden Haus. Du kannst dir vorstellen, dass er für Aufsehen gesorgt hat.«
»Ich erinnere mich«, hörte man Giulias Vater nun hinter der Gazzetta hervormurmeln. »Ich erinnere mich.« Manchmal sprach er mit sich selbst, was Giulia zunehmend Sorgen bereitete. Eine Alterserscheinung, von der sie nicht wusste, was sie davon halten sollte. Aber diesmal legte er die Zeitung auf den Tisch und kam zur Bar.
»Er war doch mit Silvana Zano verheiratet gewesen, nicht wahr?«
»Das stimmt, natürlich, das hatte ich schon fast vergessen«, sagte Beppo.
»Ein aufsehenerregendes Paar«, sagte Giulias Vater. »Die waren übrigens in den späten Sechzigerjahren einmal hier in der Bar. Gefolgt von einer Horde Paparazzi. Ich glaube, ein Foto, das damals in einer Zeitung gedruckt wurde, müsste ich noch irgendwo haben. Ich suche es später.«
Silvana Zano kannte sogar Giulia. Sie war eine der exzentrischsten Schauspielerinnen des Landes gewesen, hatte mit Marcello Mastroianni und Vittorio de Sica gedreht, aber auch in Frankreich mit Alain Delon und Jean-Paul Belmondo. Giulia war ihr schon in ihrer Kindheit begegnet, wenn sie an Sonntagen im Fernsehen alte Filme ansah. Zanos Leben endete unglücklich. Sie starb bei einem Reitunfall, da musste Giulia etwa zehn gewesen sein.
»Und als Zano ums Leben kam, war sie da noch mit Crivelli zusammen?«, fragte sie in die Runde der allwissenden Herren.
»Oh ja«, sagte Beppo. »Das muss ihm das Herz gebrochen haben. Er tauchte danach kaum noch in der Öffentlichkeit auf, sondern verschwand einfach. Auch der politische Kampf war verloren. Aber es waren die Achtzigerjahre. Der politische Kampf war noch nicht ganz vorbei, aber eigentlich schon.«
Nello nickte und machte ein betrübtes Gesicht.
»Dass Gianfranco Crivelli ausgerechnet nach Trastevere kommt, in einem deiner Zimmer wohnt und sich am Tiber umbringt! Was das wohl zu bedeuten hat?«, fragte Beppo.
Giulia wunderte sich mindestens ebenso sehr wie die beiden Antiquare. Vielleicht erklärte das auch, warum der Commissario sich so merkwürdig verhalten hatte.
»Wie ist er denn umgekommen? Ist er in den Fluss gesprungen?«, frage Nello.
Giulia wusste darauf nichts zu sagen. Sie hatte den Kommissar nicht gefragt, und er hatte von sich aus nichts gesagt. Dieser Tag nahm einen äußerst kuriosen Verlauf: Plötzlich war Giulias kleine heile Welt ein bisschen aus den Fugen geraten. Ein Mann, mit dem sie sich gestern noch unterhalten hatte, war nun tot. Die Polizei durchwühlte eines ihrer Zimmer. Und dann stellte sich auch noch heraus, dass ihr Gast einmal eine bekannte Persönlichkeit gewesen war, die einst auf geheimnisvolle Weise aus der Öffentlichkeit verschwand, um dann bei ihr – ausgerechnet in ihrer Pension – wieder aufzutauchen. Seltsam!
Ihr Vater verabschiedete sich. Er wollte einen alten Freund treffen, mit dem er sich über die letzten Spiele von i Giallorossi austauschte und traditionellerweise das erste Gläschen Rotwein des Tages trank. Er war natürlich Anhänger von AS Rom; immerhin stammte Giuseppe ursprünglich aus dem Arbeiterviertel Testaccio, und schon sein Vater war ins Stadion gegangen, um die Gelb-Roten anzufeuern. Die Leidenschaft hatte sich also vererbt, allerdings nicht ganz so energisch auf Giulia. Wobei sie im Zweifel doch immer sehr familienbewusst gegen Lazio war und das auch, wenn es hart auf hart kam, mit einiger Deutlichkeit kundtun konnte. Beppo und Nello mussten ebenfalls los, das Antiquariat sollte wieder geöffnet werden, sie erwarteten eine neue Lieferung alter Bücher. Es war schließlich ein ganz normaler Tag, auch wenn er sehr ungewöhnlich begonnen hatte.
Luca Crivelli war am Vormittag von der ligurischen Küstenach Rom zurückgekehrt. Er war noch etwas müde, nicht nur von der Reise. Luca hatte mit Freunden gefeiert, in einer Villa bei Levanto, die direkt am Meer auf einer Anhöhe lag, umgeben von einem an den Hang geschmiegten Park, der von der luxuriösen Verschwendungsfreude seiner Besitzer zeugte. Pflanzen aus allen Weltgegenden konnte man dort bestaunen, sorgsam gepflegt von einem Heer von Gärtnern. Der Blick, den Luca von seinem Zimmer aus aufs Meer hatte werfen können, war atemberaubend gewesen. Er wäre lieber nicht abgereist, die Urlaubswoche war viel zu schnell vergangen, doch es gab noch einen anderen Grund dafür, warum es ihm schwergefallen war, am Morgen seinen Koffer zu packen. Die Abschiedsnacht hatte es nämlich auf überraschende Weise in sich gehabt. Da war dieser bezaubernde Simone aus Florenz gewesen, verdammt gut aussehend und obendrein gar nicht mal so blöd. Er war anhänglich, wich Luca den ganzen Abend nicht mehr von der Seite. Sie hatten sich gut unterhalten, und irgendwann wurde die Unterhaltung schweigend weitergeführt, zunächst noch mit den Augen, dann aber mit den Lippen, und schließlich – er wusste gar nicht mehr, wie sie auf seinem Zimmer gelandet waren –, mit allen anderen Körperteilen. Luca zitterte beim Gedanken an die vergangenen Stunden.
Es gab allerdings nicht wenige gute Gründe, warum er seine Freunde und Simone in ihrem Paradies zurücklassen und nach Rom heimkehren musste. Nicht nur, dass wichtige Prüfungen an der Universität anstanden. Nicht nur, dass er einer Freundin versprochen hatte, sie bei einem Arztbesuch zu begleiten (es ging um eine Schönheitsoperation). Nicht nur, dass seine Mutter darauf bestanden hatte, er möge unter allen Umständen einem festlichen Essen im Hause Crivelli beiwohnen, zu dem auch Valeria Sala eingeladen sei, die gebildete, äußerst hübsche, überaus vermögende Freundin eines Geschäftspartners seines Vaters. Valeria Sala – seit Kindestagen kannte man sich, und wie im 19. Jahrhundert hatten sich sowohl ihre als auch seine Eltern in den Kopf gesetzt, dass eine Liaison der beiden Familien mittels Heirat der Kinder nicht nur eine entzückende, sondern obendrein noch gewinnbringende Angelegenheit wäre. Die Pläne waren mit einigem Ehrgeiz verfolgt worden, als Valeria und Luca kurz vor ihrem Schulabschluss standen. Aber die Anstrengungen schienen nicht recht zu fruchten, sodass zumindest die Väter ihre Freude an der Kuppelei verloren. Die Mütter hingegen ließen sich durch die Widerspenstigkeit der Kinder nicht so rasch entmutigen, und immer wieder starteten sie neue Versuche, die beiden in ein Traumpaar zu verwandeln. Luca war inzwischen 26, und er wusste schon seit einigen Jahren, dass sich sein Interesse an Frauen sehr in Grenzen hielt. Seine Eltern wussten das nicht, sie ahnten es vermutlich nicht einmal, weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Ein sich als schwul outender Crivelli – das wäre ungefähr so gewesen, als würde der Papst öffentlich verkünden, regelmäßig eine Domina aufzusuchen.
Der wichtigste Grund aber, der ihn zur Abreise genötigt hatte, war ein geheimnisvoller Brief gewesen. Das Schreiben hatte ihn auf verschlungenen Pfaden über einen Freund erreicht, den Absender kannte er nur als mythische Figur oder besser: als Persona non grata. Sein Onkel Gianfranco war in der Familie nicht wohlgelitten. Wie zu biblischen Zeiten hatte man ihn verstoßen – oder vielleicht hatte er sich selbst hinausgestoßen aus seiner Familie –, und damit der Bann nicht gebrochen wurde, durfte nicht einmal der Name in Nebensätzen erwähnt werden. Seine Eltern zumindest waren sehr konsequent im Verschweigen, und Luca hatte sich nur über entferntere Verwandte so etwas wie einen verschwommenen Eindruck von seinem Onkel verschaffen können: Als eigensinnig war er beschrieben worden, als gerecht und fast schon über die Maßen moralisch – ganz das Gegenteil seines Bruders, also Lucas Vater, der ein kühler Geschäftsmann und ein zuweilen ziemlich autoritärer Brocken war. Es gab Jahre, da hatte Luca seinen Vater ohne den Hauch eines Zweifels gehasst. Er war froh gewesen, auf einem Internat zu sein, um diesem Mann nicht jeden Tag unter die Augen treten zu müssen. Angst und Wut hielten sich bei Luca lange Zeit die Waage. Inzwischen hatte er fast ein wenig Mitleid mit diesem in seinen Konventionen und Ansprüchen gefangenen Vater, der sich seinen Erfolg durch eine geradezu einschüchternde Disziplin erkauft hatte und dessen Mangel an Empathie ihn für all seine Geschäftspartner zu einem gefürchteten Gegner machte. Man musste bei ihm damit rechnen, dass er immer schon drei Schritte voraus war und zugleich mit einem gezückten Messer hinter dem Rücken auftauchen konnte. Er hatte einen – Luca empfand diesen Begriff als sehr passend – angeborenen Killerinstinkt. All das beim eigenen Vater als grundsätzliche Eigenschaften wahrzunehmen, auf die der sich auch noch etwas einbildete und die er an seinen Sohn weitergeben wollte, führte bei Luca zu eisigem Trotz: In allem wollte er das genaue Gegenteil seines alten Herrn sein, wollte das Gegenteil denken und empfinden und vor allem leben. Angst und Wut und, ja, sogar Hass – das waren die Antriebskräfte, die Luca zu einem sensiblen Mann gemacht hatten, der Männer liebte und die Kunst und manche Künstler anbetete – und dem Geld doch ziemlich egal war. Nun, das war wiederum nur die halbe Wahrheit. Natürlich hatte er sich um Geld niemals Gedanken machen müssen – sein Vater nämlich ließ sich nicht dazu reizen, den Sohn zu verstoßen oder ihm mit dem Entzug des Erbes zu drohen. Vielleicht sah er in dessen Eigensinn sogar seinen eigenen gespiegelt.
Luca war also weniger der Prüfungen wegen zurückgekehrt. Auch nicht, weil er sehr erpicht darauf gewesen wäre, seiner Freundin beim Schönheitschirurgen die Hand zu halten oder gar von seiner Mutter einmal mehr in die Arme von Valeria Sala getrieben zu werden. Der eigentliche Grund war dieser seltsame, dringliche Brief, den er von seinem Onkel erhalten hatte, von einem Gespenst der Familie, das zwar überall herumspukte, aber doch verschollen schien. Was hatte noch mal in dem Brief gestanden? Von der heiligen Familie war die Rede gewesen, und damit hatte der unsichtbare Onkel nicht jene gemeint, der man in Roms Aberhunderten Kirchen begegnen konnte. Damit meinte er die Familie Crivelli, und es war ein Ton in den wenigen Zeilen seines Onkels, der ihm gefallen hatte, der ihm zeigte, dass es möglich war, eine Distanz zur heiligen Familie aufzubauen, auch wenn man ihr niemals ganz entkommen konnte. Er wünsche sich, hatte der Onkel geschrieben, möglichst bald, in wenigen Tagen schon mit Luca zusammenzutreffen. Einen bestimmten Ort, einen bestimmten Tag und eine bestimmte Zeit hatte er genannt. Alles in diesem Brief klang so, als hätten die beiden sich vergangene Woche zum letzten Mal gesehen und würden sich nun auf ein Getränk verabreden. Der Onkel schien die Tatsache zu übergehen, dass er für Luca ein Fremder war – und umgekehrt auch Luca für ihn ein Fremder sein musste. Gleichwohl gab ihm der Onkel sehr deutlich zu verstehen, dass er mit niemandem über das geplante Treffen sprechen sollte – er zog gar nicht in Betracht, dass Luca möglicherweise kneifen, keine Zeit oder vielleicht einfach keine Lust auf eine Begegnung haben könnte. Und er hatte mit dieser Annahme ganz recht. Luca war so neugierig und aufgeregt wie lange nicht mehr, obwohl natürlich auch seine Nacht mit Simone einen gewissen Aufruhr in ihm erzeugt hatte. Der Brief hatte etwas Konspiratives und Clandestines, und dass er von seinem Onkel zu einem solch verschwiegenen, heimlichen Treffen eingeladen worden war, von dem der Rest der Familie nichts wusste, steigerte die Spannung nur umso mehr. Was seinen Onkel allerdings bewogen haben konnte, sich mit ihm in Verbindung zu setzen, blieb ihm ebenso rätselhaft wie die Schlusszeile des Briefes: Die Zeit drängt, und das Kommende wird die Vergangenheit erhellen, hatte sein Onkel geschrieben, bevor er mit einem sehr innigen Gruß endete: In Liebe, dein Gianfranco. Was konnte in der Vergangenheit geschehen sein, und was würde ihm sein Onkel berichten, das ein anderes Licht auf Vergangenes werfen konnte? Luca hatte sich im Haus der Freunde, wenn er auf seinem Balkon saß und aufs Meer hinausblickte, das Gehirn zermartert. In dem Schreiben hatte er aber keinen weiteren Anhaltspunkt gefunden, keine Spur, die ihn weiterbringen konnte. Ihm fehlte so viel: eine Geschichte, in der Gianfranco Crivelli eine Rolle spielte. Ihm fehlten die Erzählungen, die doch über alle anderen Familienmitglieder kursierten, die bei Festen imposant ausgeschmückt und mit immer neuen Volten weitergegeben wurden, um Aufstieg und Glanz der Familie Crivelli in die nächste Generation zu tragen. Natürlich hatte er von seinem Onkel gelesen, hatte in alten Zeitungen auch Berichte gefunden über dessen Anwaltstätigkeit, über seine berühmtesten Fälle, über seine angeblichen Verbindungen in den linken Untergrund, über seine Ehe mit Silvana Zano, über deren Tod und sein Verschwinden aus der Öffentlichkeit. Vielleicht, dachte Luca in den vergangenen Nächten, vielleicht wollte er nun seinen Teil der Familiengeschichte an Luca weitergeben. Vielleicht hatte er Erkundigungen eingeholt und ihn auserkoren– nicht seine beiden Schwestern oder irgendjemand anderes aus der weitverzweigten Verwandtschaft –, um ihm anzuvertrauen, was in den letzten Jahrzehnten passiert und was ihm widerfahren war. Luca ertappte sich dabei, von diesem Gedanken geschmeichelt zu sein. Aber ganz sicher war er sich nicht, ob er damit auf der richtigen Fährte war. Warum sollte er ausgerechnet jetzt auftauchen, warum wollte Onkel Gianfranco überhaupt wieder Kontakt zur Familie, obwohl er doch die letzten 25 Jahre sehr gut ohne sie gelebt hatte?
Luca hatte vorsichtshalber sein Handy auf der Fahrt nach Rom abgestellt, ließ es ausgeschaltet, als er aus dem Zug stieg, machte es auch nicht an, als er mit einem Taxi zu dem vom Onkel vorgeschlagenen Ort fuhr. Seine Mutter würde irgendwann bestimmt anrufen, und er wollte nicht in ein Gespräch mit ihr verwickelt werden. Luca kannte sich. Ihm war es nicht gegeben, ihr gegenüber zu schwindeln. Schon als Kind war er beim Flunkern sofort ertappt worden, sodass er sich gar nicht mehr darin versuchte. Entweder sagte er die Wahrheit – was für alle Beteiligten und sowieso für ihn nicht immer sehr angenehm war. Oder er schwieg einfach. Luca konnte Geheimnisse gut für sich behalten. Aber wenn ihn seine Mutter gefragt hätte, wo er sich aufhalte, welche Geräusche denn im Hintergrund zu hören seien, wohin er unterwegs sei – da wäre er eingeknickt und hätte ihr gestehen müssen, dass er verabredet und gerade auf dem Weg zu einem Treffen war. Und hätte seine Mutter dann nachgefragt … Ach, er wollte es besser nicht darauf ankommen lassen. Also verzichtete er auf sein Handy, auch wenn es ihm schwerfiel, denn natürlich hoffte er auf eine Nachricht von Simone. Weil er konsequent sein Kommunikationsgerät ignorierte, malte er sich die WhatsApp-Botschaften seines nächtlichen Liebhabers umso lebhafter aus – schwärmerische Sehnsuchtsbekundungen, der Wunsch nach einem baldigen Wiedersehen, mit den Fingerspitzen geflüsterte Leidenschaft. Aber er blieb standhaft. Keiner sollte wissen, wo er war. Mit niemandem wollte er sprechen, bevor er nicht seinem Onkel von Angesicht zu Angesicht begegnet war, bevor er nicht von ihm gehört hatte, welche Neuigkeiten oder Geheimnisse er ihm anvertrauen wollte. Das Taxi hielt. Er kannte Trastevere natürlich, aber die Bar an der Piazza di San Francesco D’Assisi kannte er nicht. Er stieg aus. Und sah als Erstes eine gut aussehende, rotblond gelockte Frau, die einem Gast lachend einen Campari servierte. Er setzte sich an einen freien Tisch vor dem Café. Und wartete.
»Was darf ich Ihnen bringen?«, fragte Giulia den Gast,den sie zuvor noch nie gesehen hatte.
»Un caffè, per favore.«
Giulia verschwand im Innern der Bar, und während sie mit geübten Handgriffen die eben aufgenommenen Bestellungen auf einem Tablett unterbrachte, schielte sie mit einem Auge nach draußen zu dem jungen Mann. Wie alt mochte er sein? Mitte 20 vielleicht? Ein paar Jahre älter als ihre Tochter, das auf jeden Fall. Er kam ihr bekannt vor. Sie konnte nicht festmachen, an wen er sie erinnerte. Aber dass er etwas an sich hatte, was ihr schon einmal begegnet war, bei einem anderen Menschen, das konnte sie mit Bestimmtheit sagen. Giulia nahm das Tablett, ging wieder hinaus auf die Terrasse, brachte Cola und Kaffees an die anderen Tische, bevor sie dem adretten Fremden seinen Espresso hinstellte.
»Bitte sehr«, sagte sie.
Er bedankte sich, schaute sich ein wenig unruhig um, als ob er jemanden erwartete. In der nächsten halben Stunde trank er noch drei weitere Espressi, was sehr ungewöhnlich war. Seine Nervosität schien sich von Minute zu Minute zu steigern. Giulia beobachtete seine fahrigen Bewegungen. Immer wieder wuschelte er mit der Hand durch die Haare. Am Handgelenk trug er eine Kette, an der ein kleiner goldener Anker baumelte; er glitzerte, als Giulia ihm einen Wein brachte, den er bestellt hatte. Während sie das Glas auf den Tisch stellte, fragte er, ob möglicherweise ein älterer Herr im Café gewesen sei und eine Nachricht hinterlassen habe. Er sei mit ihm verabredet, aber nun sei schon eine Dreiviertelstunde vergangen und er sei sich nicht sicher, ob er vielleicht etwas falsch verstanden habe.
»Nein, Signore, und ich bin den ganzen Tag hier im Café gewesen. Darf ich fragen, wen Sie erwarten?«
»Ja, selbstverständlich. Mein Name ist Luca Crivelli, und ich wollte mich hier mit meinem Onkel Gianfranco Crivelli treffen.«
Giulia ließ das Tablett fallen, zum Glück war kein Geschirr mehr darauf. Es schlug direkt vor den pinkfarbenen Turnschuhen Luca Crivellis auf den Boden. Die anderen Gäste blickten zu ihr hinüber. Sie hob das Tablett auf und lächelte entschuldigend, auch wenn ihr das eigene Lächeln eher wie eine Grimasse vorkam.
»Verzeihen Sie«, sagte Giulia. »Darf ich mich setzen?«
Sie wartete seine Antwort erst gar nicht ab, nahm Platz und erzählte Luca, was am Morgen geschehen war, ganz ruhig und mit allem Feingefühl, das sie in ihrer eigenen Aufregung aufbringen konnte. Und als sie bemerkte, dass der junge Mann mit den Tränen kämpfte, legte sie ihm ihre Hand auf den Unterarm. Eine Geste, die ihr ganz angemessen vorkam und gar nicht zu vertraulich, obwohl sie hier einem Wildfremden gegenübersaß. Immerhin hatte sie ihm gerade eine Todesnachricht überbracht, und sie konnte ja nicht ahnen, dass die Beziehung zwischen Onkel und Neffe eine war, die gerade erst beginnen sollte. Es war eine merkwürdige Situation: Eine ganze Weile saßen Giulia und Luca Crivelli stumm beieinander; sie hatte ihre Hand noch immer nicht zurückgezogen, und für einen außenstehenden Beobachter hätte dieser Anblick gewiss etwas sehr Anrührendes gehabt.
»Tot? Sind Sie sicher? Mein Onkel? Aber Signora, das kann nicht sein …« Und während diese wenigen Worte aus ihm herauspurzelten, zog er einen Brief aus seiner Jacketttasche, faltete das Blatt auseinander, las mit einem etwas wirren Blick darin, bevor er Giulia das Papier hinhielt, den Finger unter eine Zeile haltend, in der das Café genannt war, in dem sie gerade saßen: Da Giuseppe.
»Können Sie mir noch einmal sagen, was die Polizei herausgefunden hat?«