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Charlotte erbt ein Haus am Lac du Der-Chantecoq in der Champagne. Die geborene Frankfurterin ahnte bislang nicht, dass sie eine französische Urgroßmutter hatte und reist nach Frankreich, um ihr Erbe anzutreten. Dort erfährt sie, dass ihre französische Mutter unter rätselhaften Umständen in Frankfurt am Main verstarb und ihre deutschen Adoptiveltern ein düsteres Familiengeheimnis mit ins Grab nahmen. Sie verbringt einen Sommer in dem Haus am See und findet das Tagebuch ihrer Urgroßmutter. Durch die Worte der verbitterten Frau erlebt Charlotte noch einmal die leidvollen Jahre der Vertreibung ihrer Familie aus einem der versunkenen Dörfer des größten Stausees in Frankreich. Familiendramen, Intrigen, Grundstückspekulationen und mysteriöse Todesfälle ziehen sich wie ein roter Faden durch vier Generationen bis in die heutige Zeit. Und auch Charlotte muss um ihr Leben bangen.
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Seitenzahl: 189
Veröffentlichungsjahr: 2024
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den Lac du Der-Chantecoq gibt es wirklich, das kleine charmante Dorf am „Meer in der Champagne“ auch.
Auch die drei gefluteten Dörfer hatte es einst gegeben, und ihre Namen werden in dem Stausee Lac du Der-Chantecoq und in den Dörfern Giffaumont-Champaubert und Sainte Marie du Lac-Nuisement gespiegelt, um niemals vergessen zu werden.
Aber der Nobelhügel in dem Neubaugebiet ist einzig meiner Fantasie entsprungen, wie auch die Handlung und die Personen frei erfunden sind. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Persönlichkeiten sind rein zufällig.
Als Fußnote und auf Seite 186 finden Sie die Übersetzungen der französischen Worte.
Alles war umsonst gewesen: die lauten Proteste, die vielen Eingaben, die wütenden Aufmärsche, und vor 2 Wochen machten sich 6 Pferdewagen aus den Bauernhöfen von Chantecoq, Nuissemont und Champaubert auf den langen Weg bis vor die Bezirksstadt. Léon war auch dabei. Und auch die vier größten Bauern aus Giffaumont, Les Grandes Cotes, Eclaron und Arrigny hatten sich mit ihren Traktoren auf den Weg gemacht. Die Kolonne war den beschwerlichen Weg bis in die Bezirkshauptstadt getuckert und auch wieder zurück - umsonst! Die Wut und die Enttäuschung haben sich in unsere Seelen gefressen, aber wir haben verloren. Léon hat es nicht ertragen, und vor drei Tagen haben wir ihn zu Grabe getragen.
Gedankenversunken klappte Charlotte das Tagebuch ihre Urgroßmutter Eugénie zu und schaute nachdenklich in den Himmel. Ein paar einsame Kraniche zogen vom See über das Dorf in die umliegenden Felder. Sie hatte gelesen, dass bis zu 200.000 Graukraniche im Frühjahr und im Herbst Zwischenstation am See machten, um sich für ihren langen Weg, vom Norden in den Süden und wieder zurück, die Bäuche vollzuschlagen. Ein paar, meist alte oder verletzte Vögel, blieben einfach das ganze Jahr über am See. Mensch und Vogel hatten sich aneinander gewöhnt, sodass sie nicht einmal mehr wegflogen, wenn ein neugieriger Tourist am Ackerrand anhielt, um Fotos zu schießen.
Sie hatte die Nacht durchgelesen, und ihre Gedanken verloren sich in der Morgendämmerung bis zu jenem heißen Frühlingstag, an dem alles begann …
Prolog
Die Sonne knallte auf das Pflaster und reflektierte wieder zurück. Charlotte wurde gleich zweimal gebadet. Über ihre Haut hatte sich ein feiner Schweißfilm gelegt, und das Sommerfähnchen klebte ihr am ganzen Körper. Die Schwüle staute sich seit Tagen in diesem späten Frühling und wer konnte, blieb daheim.
Nach der Betriebsversammlung hatte man die Belegschaft nachhause geschickt. Sie wurden mit ein paar dürren Worten des Dankes vom Hoteldirektor verabschiedet; der Eigentümer ließ sich schon lange nicht mehr blicken. Viele waren sowieso nicht mehr übriggeblieben – und jetzt war endgültig Schluss.
Die Hotelvillen sollten abgerissen und ein Wohnturm mit Büros und Geschäften auf das begehrte Grundstück gebaut werden. Frankfurts Innenstadt boomte mit exklusiven, völlig überteuerten Wohnungen in schwindelerregender Höhe. Ein Trend, der seit ein paar Jahren von den Vereinigten Staaten bis nach Deutschland herüberschwappte.
Charlotte hatte gerne in dem kleinen, exklusiven Hotelkomplex mit den vier feinen Residenzvillen auf dem weitläufigen Parkgelände im schicken Westend der Stadt gearbeitet, aber der Hotelbetrieb starb jeden Tag ein bisschen mehr. Der zukünftige Investor hatte sich bereits einen Namen in der Mainmetropole gemacht, das Angebot war unverschämt hoch, und der Eigentümer griff schnell zu.
Im Prinzip wussten sie es schon seit Wochen. Seit Monaten kursierten die Gerüchte. Charlotte hatte die Hiobsbotschaft mit ihren Folgen lange vor sich hergeschoben, letztendlich völlig verdrängt. Wer früher gehen wollte, konnte gehen. Charlotte gehörte nicht dazu, sie blieb bis zum Schluss.
Die verbliebene Belegschaft war für die nächsten drei Monate bei vollem Gehalt freigestellt. Und wer fünf Jahre oder länger in dem Franchiseunternehmen dieser großen, amerikanischen Hotelkette beschäftigt war, bekam auch eine Abfindung. Charlotte hatte gerade erst das vierte Jahr ihrer Betriebszugehörigkeit in der Tasche, also ging sie leer aus.
Ungeduldig kramte Charlotte nach dem Schlüsselbund. Da, endlich. Sie öffnete den Briefkasten und konnte gerade noch den Wust Werbeprospekte auffangen, der aus dem Behälter quoll. Sie schnaufte ärgerlich, die drei Aufkleber mit „Bitte keine Werbung“ kümmerte die Verteiler wenig. Die Kästen hingen in den betagten Stadthäusern meist in langen Reihen im Erdgeschoss oder, wie bei ihr, in der dunklen Toreinfahrt zum Hinterhof des alten Mietshauses. Bunte Prospekte und ein Haufen Wurfzeitungen lagen in dem überquellenden Papierkorb, auch in der gesamten Einfahrt verstreut. Charlotte bückte sich, sammelte den schmutzigen, zerfledderten Papierkram ein und schmiss ihn angewidert in die Tonne.
In der Souterrainwohnung war es angenehm kühl. Im Sommer kühl, im Winter kalt. Dafür überraschend günstig für eine 2-Zimmerwohnung mit Wohnküche und Duschkammer im Hinterhof eines alten Mietshauses, mitten in Sachsenhausen, Frankfurts angesagtem Stadtviertel im Süden der Stadt am Main.
Sie schleuderte die unbequemen Stadtschuhe von den Füßen. Erst eine Dusche oder erst den Papierkram aus dem Briefkasten? Sie entschied sich für ein Glas Eistee aus dem kleinen Kühlschrank und die Sichtung ihrer Post.
Ein namhaftes Hotel schickte ihre Bewerbungsunterlagen zurück, die sie auf gut Glück vor acht Wochen eingereicht hatte. „Leider haben wir uns gegen Ihre Bewerbung entschieden. Bitte nehmen Sie unsere Entscheidung nicht persönlich, bla, bla bla...“. Sie kannte das schon zu Genüge: „Erfahrung“ bedeutete in der Regel zu alt, „überqualifiziert“ war meist der Einwand für zu teuer. Eine ihrer jüngeren Kolleginnen hatte ihr beim Mittagstisch gesteckt, dass man an der Rezeption gerne jüngere und damit billigere MitarbeiterInnen suche und sich im Übrigen heutzutage nur noch online bewerbe.
Nach ihrer anfänglichen Unbekümmertheit und vollmundigen Zuversicht – wäre doch gelacht, wenn sich mit ihren Qualifikationen in der Mainmetropole keine adäquate Stelle finden ließe – und einigen halbherzigen und in Folge abgeschmetterten Versuchen, hatte sie sich nur noch bei besagtem Hotel beworben, das ihr nun auch noch absagte. Danach hatte sie weitere Bewerbungen eingestellt; die ständigen Absagen waren einfach nur jämmerlich und deprimierend zugleich.
Sie begann den Haufen Papier zu sortieren. Das örtliche Blättchen brillierte hauptsächlich durch Anzeigen. Die spärlichen Artikel mit Lokalkolorit versteckten sich zwischen mehreren Inseraten – weg damit. Prospekte von Aldi, Lidl, Rossmann, Penny und einem unbekannten Autohaus – weg damit. Ein Lottoanbieter, ein Bettelbrief von einer sozialen Einrichtung und eine SPD-Mitgliederwerbung – weg damit. Dazwischen lag noch ein Brief mit einer französischen Briefmarke.
Neugierig studierte Charlotte den Absender: ein Maitre1 Millair aus einer unbekannten Stadt in der Champagne schickte ihr diesen Brief. Was wollte ein französischer Notar von ihr?
Sprachen waren in der Schule ihre Lieblingsfächer gewesen: Englisch sehr gut, Französisch gut, Spanisch als zusätzliches Wahlfach ebenfalls gut, und auch maßgeblich für ihre Entscheidung zu einer Ausbildung als Hotelfachfrau gewesen.
Der Notar schrieb ihr, dass sie das Haus ihrer Urgroßmutter Eugénie Moreau in der Champagne geerbt habe, und dass sie mit seinem Sekretariat einen Termin ausmachen müsse, um das Erbe anzutreten. Ihr persönliches Erscheinen sei zwingend notwendig.
Charlotte atmete tief durch. Bis eben hatte sie nicht einmal gewusst, dass sie eine Urgroßmutter in der Champagne hatte, und plötzlich war sie Besitzerin eines Hauses in Frankreich.
Sie griff zum Telefon: »Hallo Tante Henny, lange nichts gehört. Geht’s dir gut?«
»Ja doch, Kindchen, es geht mir gut. Du weißt ja, der Kleine hält mich auf Trab, das hält mich jung und gesund.«
Bei Henriette wusste man nie, ob „Kindchen“ ihre drei Söhne, ihre drei Schwiegertöchter oder ihre fünf Enkelkinder waren. Oder Charlotte, ihre Nichte und Patenkind. Das Alter spielte für Henriette Campe dabei nur eine untergeordnete Rolle. Fakt war, dass die jüngere Schwester von Charlottes verstorbenen Mutter gnadenlos als Babysitter für ihren jüngsten Enkelsohn ausgenutzt wurde. Aber sie tat es gern und beklagte sich nie.
»Wo bist du?«
»Bei Winfried und Evelyn. Sie sind zur Hochzeit von Evelyns bester Freundin eingeladen. Die heiratet zum zweiten Mal, und stell dir vor, in dem schönen Hamburg. Ich passe derweil auf Robin auf.«
Robin war ein Nachzügler und mit seinen 13 Jahren das verwöhnte Nesthäkchen von Tante Hennys Sohn Winfried.
»Sag mal Tante Henny, wusstest du, dass ich eine Urgroßmutter in Frankreich habe?«
Auf der anderen Seite der Telefonleitung war es still.
»Tante Henny? Bist du noch dran? Hast du meine Frage gehört?«
Charlottes Ton wurde ungeduldig, und Henriette wusste, dass sie aus dieser Nummer nicht mehr herauskommen würde.
»Aber ja doch, Kindchen, deine Mutter hatte ganz am Anfang deiner Adoption sowas erwähnt. Von einer Urgroßmutter weiß ich allerdings nichts, nur von einer Großmutter«, Henriettes Stimme zögerte ein wenig, »die hatte dich nach deiner Geburt einzig unter der Vorgabe zur Adoption freigegeben, dass sie keinerlei Kontakt mit dir in Zukunft wünsche. Und das hat meine Schwester, also deine Adoptivmutter, immer respektiert.«
Charlotte konnte es nicht fassen. Abgründe taten sich vor ihr auf.
»Ich hatte eine Großmutter, die nichts von mir wissen wollte?«
»Tut mir leid, Kindchen, aber so war das. Was willst du denn jetzt machen? So ganz verstehe ich den Zusammenhang von einer Urgroßmutter zu deiner Großmutter nicht.«
»Ehrlich gesagt, ich auch nicht, Tante Henny. Aber ich habe eben erfahren, dass ich ein Haus in der Champagne geerbt habe. Nur, ich habe zurzeit wirklich andere Sorgen; ich bin gerade arbeitslos geworden. Das Hotel wird abgerissen, und so ein schicker Wohnturm soll auf dem Gelände gebaut werden. Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll.«
»Aber Kindchen, das ist doch geradezu optimal«, Henriette sah immer nur das Positive im Leben, »du machst einen Termin mit diesem Notar, mietest dir ein Auto und ab geht’s in die Champagne. Brauchst du Geld?«
»Ganz lieb von dir, Tante Henny, aber das Hotel hat mich für drei Monate bei vollem Gehalt freigestellt. Das geht schon.«
»Papperlapapp, was sind schon drei Monate. Morgen hast du 1.000 Euro auf deinem Konto. Die brauchst du schon alleine als Vorschuss für einen Mietwagen. Was ein Glück, dass du einen Führerschein hast. Und mach dir keinen Kopf wegen der Rückzahlung. Du, ich muss jetzt Robin vom Sport abholen. Halte mich auf dem Laufenden, ja? Tschüssi.«
Charlotte schaute auf ihr Handy. Das Display zeigte, dass ihre Tante aufgelegt hatte.
Irgendwie hatte Tante Henny recht. Sie musste was tun, das Leben ging weiter.
Die Fahrt war anstrengend gewesen. Sie hatte sich für die Bahn entschieden. Die Landschaft flog eintönig an ihr vorbei, und in der französischen Hauptstadt hätte sie sich beim Umsteigen fast verlaufen.
Auf dem Gare de l’Est2brodelte das Leben. Der Bahnsteig quoll fast über mit eiligen Menschen. Verschiedene Sprachen der Mitreisenden und quäkende Stimmen aus den überlasteten Lautsprechern machten eine Orientierung kaum möglich. Unter der gläsernen Kuppel tummelte sich ein Bistro neben dem anderen. Große Plakate und noch größere Bildschirme erschlugen sie mit Informationen, die sie nicht brauchte.
Charlotte suchte verzweifelt nach den blaumützigen, mit einem rotem Band versehenen Kopfbedeckungen der Beamten des SNCF3, die allesamt durch Abwesenheit, wie vom Erdboden verschluckt, glänzten. Gepäckträger, um sich zu erkundigen? Fehlanzeige! Rucksacktouristen, Anzugträger, Mütter mit quengelnden Kindern, schicke Französinnen, und Menschen wie Du und Ich, alle hasteten wie ferngesteuert umher.
Charlotte stand verloren auf dem Bahnsteig.
Das Handy rettete sie, und sie sank erleichtert auf einen bequemen Sitzplatz des Regionalzuges, der sie ohne Umsteigen nach Vitry-le-François, der Unterpräfektur des Departements Marne, bringen würde.
Nach insgesamt neun Stunden Reisezeit stand sie endlich vor der Kanzlei des Notars, gerade noch rechtzeitig zu ihrem Termin.
»Bitte nehmen Sie Platz, Madame Stetten. Mein aufrichtiges Beileid zum Tod ihrer Urgroßmutter und Ihrer Großmutter natürlich auch. Hatten Sie eine gute Fahrt?«
Charlotte war verwirrt. In dem Schreiben war von einem Testament ihrer Urgroßmutter die Rede, jetzt kam auch noch der Tod einer Großmutter ins Gespräch.
»Verzeihen Sie bitte, aber ich verstehe nicht ganz. Sie hatten geschrieben, dass ich das Haus meine Urgroßmutter geerbt habe. Was hat meine Großmutter, also ihr Tod, damit zu tun?«
Der Notar erklärte es ihr:
»Anhand der Aktennotizen meines Vorgängers hatte Ihre Urgroßmutter Eugénie Moreau nur ein Kind, einen Sohn, Léon, der früh verstarb, und sie holte ihre Schwiegertochter und ihre Enkelin, also Ihre Mutter, kurz nach seinem Tod zu sich ins Haus.
Ihre Großmutter hatte lebenslang ein verbrieftes Wohnrecht in dem Haus Ihrer Urgroßmutter. Und da Ihre Urgroßmutter schon lange tot ist, Ihre Mutter bei Ihrer Geburt verstarb und vor Kurzem Ihre Großmutter auch verstorben ist, sind Sie jetzt die alleinige Erbin dieses Hauses.
Ein etwas kompliziertes Erbrecht, das wir hier in Frankreich haben, ich weiß. Außerdem war es etwas schwierig, Sie aufzutreiben. Es hat eine Weile gedauert, bis wir Ihre Identität und Ihren Aufenthalt in Deutschland klären konnten.
Sie erben ein altes Haus, sehr schön gelegen auf einem hübschen Grundstück am Lac du Der-Chantecoq. Übrigens, falls Sie es verkaufen wollen, kann ich mich gerne darum kümmern. Die Grundstücke am See sind sehr begehrt.«
Charlotte schwirrte der Kopf.
»Nur damit ich das richtig verstehe: meine Großmutter ist erst kürzlich verstorben und deshalb greift jetzt ein Testament meiner Urgroßmutter, indem ich ihr Haus am See erbe, ist das richtig?«
»Ganz genau, und ein Sparguthaben Ihrer Urgroßmutter kommt mit einem hübschen Sümmchen noch hinzu. Mit dem Erbschein bekommen Sie das Geld von jeder Filiale der Crédit Agricole4ausbezahlt.«
Die Sekretärin der Kanzlei überreichte Charlotte einen dicken DIN A4-Umschlag mit allen beglaubigten Dokumenten, einen Schlüsselbund und eine Rechnung über 1.074,85 Euro Notariatsgebühren mit dem Vermerk, dass ein paar Nachforderungen noch möglich seien.
Dank Tante Henny musste sie ihr Konto erst einmal nicht überziehen.
»Und denken Sie daran, falls sie das Haus verkaufen möchten, wir übernehmen das gerne für Sie.«
Die Route zum Lac du Der war auf großen Schildern, mit einem ansprechenden Logo, an jeder Straßengabelung ausgewiesen. Die Kilometer zogen sich durchs flache Land, vorbei an bestellten Äckern, niedrigen Eichenwäldern und unzähligen Kiesgruben. Die schnurgerade Landstraße wurde bald wellig, danach hügelig, und zum Schluss überquerte sie zahlreiche, kleine Flüsse. Endlich kam eine größere Wasserfläche in Sicht. Eine gut ausgebaute Straße führte an dem See entlang, ab und zu bog eine Auffahrt zu einem Deich mit einer fulminanten Aussicht auf 48 Quadratkilometer Wasser, soweit das Auge blickte. Der Verkehr hielt sich in Grenzen, die Luft flimmerte vor Hitze.
Die Klimaanlage schaffte die 32 Grad Außentemperatur nur bedingt. Der Peugeot 208 war der einzig verfügbare Kleinwagen in dem Portfolio des französischen Autovermieters gewesen, aber sie hatte keine Lust auf teure Limousinen, flotte Sportwagen oder schwere Geländewagen gehabt, also ignorierte sie den Zustand des älteren Vehikels und freute sich über den niedrigen Preis.
Als sie endlich in dem menschenleeren Dorf einen Mann in seinem Vorgarten werkeln sah, fragte sie ihn nach der Adresse. Er erklärte ihr umständlich, dass sie hier, in der Mitte des alten Dorfes, vollkommen falsch sei. Sie müsse in Richtung Hafen fahren, dort gäbe es Ferienhäuser und Neubaugebiete. Und da müsse sie hin.
Sie fuhr, wie von dem Mann angewiesen, bis zu einer abgeriegelten Anlage mit kleinen, aber gepflegten Holzhäuschen, Reihe an Reihe. Charlotte stellte ihr Auto auf einen der ausgewiesenen Außenstellplätze und lief durch die unbewachte, halb geschlossene Schranke, die ein großes Schild „Privatgelände, betreten für Unbefugte verboten“ zierte. Sie überlegte kurz und entschied, dass sie nicht zu den Unbefugten zählte.
Die Häuschen waren alle mehr oder weniger identisch gebaut. Es gab drei verschiedene Typen, die sich nur von der Größe unterschieden. Außer winzigen Terrassen mit ein paar Blumentöpfen darauf, bot sich kaum Grünes auf den kleinen Grundstücken. Man konnte praktisch von einem Haus in den Suppentopf des Nachbarn spucken.
Sie hatte sich ihr Erbe irgendwie anders vorgestellt.
Ein Gärtner arbeitete an einer Hecke in der Anlage, und sie fragte ihn nach der gesuchten Straße. Der schüttelte den Kopf.
»Da sind Sie hier falsch. Sie müssen weiter bis zu dem Gebiet der ganz alten Ferienhäuser fahren, und dann durch ein Neubaugebiet, dort finden Sie Ihre Straße.«
Schon in Vitry-le- François hatte Charlotte nach einigen vergeblichen Versuchen das komplizierte, fremde Navigationssystem aus dem Mietauto aufgegeben. Sie hatte es auch nicht wirklich gebraucht, denn der Lac du Der war bestens ausgeschildert. Inzwischen war sie aber so müde und genervt, dass sie über ihr Handy versuchte, die Straße zu finden. Das wollte sie immer wieder durch einen Weg schicken, der mit einem Bauzaun und einem großen dahinter liegenden Sandhaufen gesperrt war.
Endlich stellte sich ihr Handy um. Es schickte sie ein gutes Stück weiter, über einen kleinen Kreisel an einem Waldstück vorbei, bis zu einer Ferienhaussiedlung mit größeren Häusern und auch größeren Grundstücken. Ein weitläufiger Komplex mit Restaurant und Empfang warb für die Vermietung von Chalets. Die nette Dame an der Rezeption schickte sie in einem großen Bogen zu einer Straße, die am Wasser entlang zu einer weiteren Gruppe abseits gelegener Behausungen führte.
Wieder Ferienhäuser. Dieser Teil der Siedlung war offenbar in Privatbesitz, vielleicht aus den 80er oder 90er Jahren. Einige Quartiere machten einen verlassenen und verwahrlosten Eindruck und wirkten sehr ungepflegt. Ab und zu stand oder hing ein handgemaltes Schild „Zu vermieten“ mit krakeligen Telefonnummern im Vorgarten oder am Haus. Charlotte quälte sich durch menschenleere Gassen, die in der Mitte eine tiefe, schmale Rinne für das Regenwasser hatten. Daneben verdichteten große Felsbrocken die Grundstücke und machten ein Umkehren unmöglich.
Ihr Erbe entpuppte sich mehr und mehr als Fehlgriff. Ihr war heiß, und sie war enttäuscht.
Plötzlich kamen Gebäude in Sicht, die nur durch brusthohe Hecken vom See getrennt waren. Diese wurden eindeutig ganzjährig bewohnt.
Und dann blickte man auf eine niedrige Anhöhe mit einer Handvoll Immobilien, die ganz sicher nicht die vorgeschriebenen 100 Meter Abstand zum See einhielten. Die ungewöhnlichen Anwesen, mit einem spektakulären Blick über das Wasser, mussten ein Vermögen wert sein.
Charlotte schaute entgeistert auf die Bauten, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Man hatte den Eindruck, dass ein Haufen durchgeknallter Architekten ihre kühnsten Träume in einem Wettbewerb verwirklicht hatten.
Ein Glashaus auf Stelzen schien über dem Boden zu schweben. Eine Kreation aus Beton und Glas ähnelte einer überdimensionierten runden Pillendose mit Schwimmbad auf dem Dach. Wieder ein anderes war ein Kubus, der nur auf der Seeseite verglast war, und bei einem weiteren tanzte die Hälfte des oberen Stockwerkes in der Luft. Ein Landhaus im amerikanischen Kolonialstil mit einer rundum verlaufenden Veranda und wuchtigen Säulen dominierte zwischen alten Kastanienbäumen.
Alle Anwesen schienen spöttisch auf die Normalsterblichen zu ihren Füßen herunterzublicken.
Eine schmale Grasfläche trennte auf der linken Seite mehrere neuzeitliche Häuser von diesen futuristischen Schöpfungen. Zwei fielen in ihrer Bescheidenheit völlig aus dem Rahmen: ein einfacher Bungalow mit einem kleinen Garten am Ende der Straße und auf der Seeseite ein etwas abseits gelegenes Fachwerkhaus, das den Schriftzug „Souvenir engloudi5“ trug.
Charlotte atmete auf, den Schriftzug hatte sie in den Unterlagen gelesen, das also war ihr Erbe.
Der Nachlass entpuppte sich als betagtes Fachwerkhaus in L-Form, mit einer vorderen Terrasse und einem Vorgarten sowie einem nach hinten gelegenen Grundstück. Von der hinteren Terrasse hatte man einen atemberaubenden Blick auf den See. Das Grundstück war mit schattigen Obstbäumen bepflanzt und die Büsche sorgsam gestutzt.
Links vom Haus schloss sich ein Wald an, der wieder in das alte Dorf zurückführte. Ein mit Baupaletten verrammeltes Gartentor führte von ihrem Grundstück direkt in den Wald.
Der See flimmerte und glitzerte im Sonnenlicht. Die Lage war beeindruckend. Kein Wunder, dass der Notar ihr beim Verkauf des Hauses behilflich sein wollte.
Der Vorgarten sah seltsam gepflegt aus. Am Zaun blühten Kaskaden pastellfarbiger Wicken, um die Eingangspforte zog sich ein pinkfarbiger Rosenbogen. Der Rasen war gemäht, auf der kleinen Terrasse vor dem Haus standen helle Gartenmöbel und blühende Blumenkübel. Charlotte wunderte sich. Ihre Urgroßmutter war schon lange tot, und nach Auskunft des Notars war ihre Großmutter ebenfalls schon vor einer Weile verstorben. Wer kümmerte sich hier um das Haus?
Sie stocherte mit den Schlüsseln erst im Gartentor, dann an der Haustür herum. Am Schlüsselbund hingen mehrere Schlüssel, und endlich passten zwei davon.
Im Haus roch es muffig, und sie riss alle Fenster und Fensterläden weit auf. Die Hitze strömte in das Haus und ließ unzählige Staubkörnchen im Licht flimmern.
Die Siebzigerjahre erschlugen sie fast. In der offenen Wohnküche standen ein Gasherd mit Propangasflasche und ein alter Kohleherd. Einbauschränke, Regale, und ein größerer Resopaltisch mit sechs Stühlen füllten den geräumigen Raum. In einer Ecke standen ein abgenutztes Sofa und ein altmodischer Kühlschrank. Eine imposante Flügeltür führte auf die hintere Terrasse, und ein großes Fenster neben der Eingangstür, die nur durch eine halbhohe, offene Fachwerkwand vom Eingang zur Küche getrennt war, brachte noch mehr Licht in den Raum.
Sie wurde fast sentimental, als sie einen Teekessel auf dem Gasherd entdeckte, der noch mit Wasser gefüllt war.
Neugierig schlenderte sie durch das Haus. Rechts neben der Wohnküche befand sich ein bürgerliches Wohnzimmer und ein neuerer Anbau mit einer kleinen Kammer, die eine Tür zum Vorgarten und ein Fenster zur Straße hatte. In dem Jungmädchenzimmer stand ein Bett, neben dem sich ein Einbauschrank versteckte. Dazu ein Tisch, vor dem ein Stuhl stand, eine hübsche Kommode, darüber ein kleiner Spiegel. Damit war die karge Möblierung der Kammer komplett.
Auf der anderen Seite der geräumigen Wohnküche gab es mehrere Räume: ein bescheidenes Esszimmer, direkt gefolgt von einem komplett leeren Raum. Ein lichtdurchfluteter Erker ersetzte einen Flur, der in ein schlichtes Bad mit Dusche führte, danach schloss sich ein möbliertes Schlafzimmer an, einst modern und jetzt nur noch retro.
Dahinter lagen eine zugemüllte Rumpelkammer und eine Scheune, in der ein abgedecktes Auto stand. Vorsichtig lüftete Charlotte die Abdeckung über dem Auto. Unter dem Plastik versteckte sich ein betagter Renault R4, auf den ersten Blick noch recht gut erhalten. Der Kastenwagen hatte trotz der Plane eine dicke Staubschicht, wie auch die Werkzeuge in den Regalen an den Wänden. Ein in die Jahre gekommenes Damenfahrrad lehnte zwischen verschiedenen Gartengeräten, und ein imposanter Mähbenziner und mehrere leere Obst- und Gemüsesteigen standen wahllos verteilt in der Scheune herum. Auf der einen Seite der Wand stapelte sich sorgsam aufgeschichtetes Brennholz.
Sie kehrte in das Haupthaus zurück. Und entschied, in dem Jungmädchenzimmer zu übernachten. Das musste das Zimmer ihrer Mutter gewesen sein. Sorgsam inspizierte sie den Wandschrank und die Kommode. Alles leer bis auf etwas Bettwäsche, die in der Kommode einsortiert war. Charlotte stellte ihre Reisetasche auf den Stuhl und bezog das Bett mit der muffig riechenden, mürbe gewaschenen und sorgsam gebügelten Leinenwäsche aus der Wäschekommode.
Müde setzte sie sich an den Küchentisch und überlegte, was sie als nächstes tun sollte. Der Notar hatte ihr gesagt, dass sie sich im Rathaus melden müsse. Dort würde man ihr alles Notwendige erklären.
Es klopfte hart am Küchenfenster, dann riss jemand an der Türglocke. Sie ging ans Fenster. Draußen standen drei Männer. Zwei trugen Uniform, der dritte war ein altes, dünnes Männchen mit einer Baskenmütze auf dem Kopf.
»Madame, öffnen Sie bitte, hier ist die Polizei.« Geballte Autorität sprach aus der Stimme.
Charlotte öffnete das Küchenfenster. Das klemmte, und erst als sie den Riegel verkehrtherum drehte, öffnete sich die altmodische Verriegelung.
»Ja bitte, kann ich Ihnen helfen?«
»Guten Tag Madame, Ihr Nachbar hat uns gerufen, weil er sich Sorgen macht, da sich offenbar Fremde im Haus von Madame Moreau aufhalten. Darf ich fragen, wer Sie sind?«