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Dezember 1952: Inspector Frank Grasbys Erfolgsquote lässt zu wünschen übrig. Als er im Rahmen eines Einsatzes versehentlich zwanzig der wertvollsten Pferde Englands in die Freiheit entlässt, ist seine Versetzung in das beschauliche Elderby in den North York Moors besiegelt. Das Dorf liegt abseits jeglicher Zivilisation, und der Leiter der Polizeistation schläft tief und fest, als Grasby dort eintrifft. Doch so ereignislos es hier auch zuzugehen scheint, der erste Fall lässt nicht lang auf sich warten: Im nahe gelegenen Holly House, Sitz des örtlichen Adels, gab es einen Einbruchsversuch. Vor Ort stört allerdings eine ungewöhnlich starke Rauchentwicklung die Ermittlungen von Grasby und Polizeipraktikantin Deedee – und beim Griff in den Kaminschacht fällt dem Inspector prompt eine Leiche vor die Füße. Spätestens als kurz darauf auch der Mann der Dorfärztin tot aufgefunden wird und Grasby einen ungewöhnlichen Auftrag erhält, wird immer unklarer, wem man in diesem Dorf vertrauen kann. Inspector Grasby steckt in gehörigen Schwierigkeiten …
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Seitenzahl: 451
Veröffentlichungsjahr: 2025
Inspector Frank Grasbys Erfolgsquote lässt zu wünschen übrig. Als er im Rahmen eines Einsatzes versehentlich zwanzig der wertvollsten Pferde Englands in die Freiheit entlässt, ist seine Versetzung in das beschauliche Elderby in den North York Moors besiegelt. Das Dorf liegt abseits jeglicher Zivilisation, und der Leiter der Polizeistation schläft tief und fest, als Grasby dort eintrifft. Doch so ereignislos es hier auch zuzugehen scheint, ein erster Fall lässt nicht lang auf sich warten: In Holly House, Sitz des örtlichen Adels, gab es einen Einbruchsversuch. Vor Ort stört eine ungewöhnlich starke Rauchentwicklung die Ermittlungen von Grasby und Polizeipraktikantin Deedee – und beim Griff in den Kaminschacht fällt dem Inspector prompt eine Leiche vor die Füße. Spätestens als kurz darauf hinter der Dorfkirche ein weiterer Toter aufgefunden wird und ein zwielichtiger Mann auf dem Revier auftaucht, stellt sich die Frage, wer Freund und wer Feind ist.
»Eskapismus für die kalten dunklen Nächte, die vor uns liegen« THE HERALD
© Kirsty Anderson
Denzil Meyrick wurde 1965 in Glasgow geboren und wuchs auf der schottischen Kintyre-Halbinsel auf. Nach einem Politikstudium arbeitete er u. a. als Polizist, freier Journalist und als Geschäftsführer einer Whisky-Destillerie. Bis zu seinem Tod 2025 lebte er am Loch Lomond.
Sibylle Schmidt hat in Berlin Theaterwissenschaften und Amerikanistik studiert. Sie übersetzt aus dem Englischen, u. a. JP Delaney, Ciara Geraghty, David James Poissant und Sharon Gosling.
Denzil Meyrick
Der Tote im Kamin
Ein Fall für Inspector Frank Grasby
Aus dem Englischenvon Sibylle Schmidt
Die englische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel ›Murder at Holly House‹ bei Transworld Publishers, London.
© Denzil Meyrick Ltd, 2023
E-Book 2025
© 2025 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG, Amsterdamer Straße 192, 50735 Köln, [email protected]
Alle Rechte vorbehalten.
Die Nutzung dieses Werks für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.
Übersetzung: Sibylle Schmidt
Lektorat: Maya Doering
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Satz: Fagott, Ffm
E-Book Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN E-Book 978-3-7558-1137-4
www.dumont-buchverlag.de
Für meinen verstorbenen Großvater Cyril Pinkney, vom Scheitel bis zur Sohle ein Yorkshire-Mann.
Prolog
Bisweilen gelangt man auf höchst eigentümliche Weise an Informationen über das Leben anderer Menschen.
Der Name Frank Grasby war mir zwar bereits zu Ohren gekommen – ein entfernter Cousin mütterlicherseits –, doch eigentlich wusste ich über Frank nur, dass er ab dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis irgendwann in die Sechziger für die Kriminalpolizei von York gearbeitet hatte.
In den Geschichten meiner Mutter hat er nie eine große Rolle gespielt. Ich gehe davon aus, dass Fehltritte oder fragwürdige Charakterzüge dazu geführt hatten, dass sie ihn nur selten erwähnte. Jedenfalls hatte ich nie den Eindruck gewonnen, dass der Mann ein interessantes oder auch nur bemerkenswertes Leben geführt hatte. Das änderte sich schlagartig, als mir nach dem Tod meiner Eltern mitsamt ihren anderen Habseligkeiten zwei kleine Holzkisten zugesandt wurden.
Als ich sie öffnete, erwachte mein Interesse an dem entfernten Verwandten. Denn die Kisten enthielten nicht nur Franks handschriftlich verfasste Memoiren, sondern auch eine Art Archiv, bestehend aus Polizeiberichten, Telexen, Zeugenaussagen, Notizen und anderen Erinnerungsstücken an Fälle, mit denen er als Inspector befasst gewesen war. Diese Dokumente füge ich im Folgenden hie und da ein, in der Hoffnung, dass sie erhellend sein mögen.
Über den guten Zustand der zahlreichen Notizbücher, in denen der Inspector über seine Laufbahn berichtete, war ich angenehm überrascht. Noch erstaunlicher fand ich, dass es mir trotz seiner nicht allzu leserlichen Handschrift ziemlich mühelos gelang, seine Texte zu entziffern. Da aber bekanntlich nichts auf der Welt vollkommen ist, stieß ich an ein paar besonders ungünstigen Stellen auf herausgerissene oder durch Wasserschäden unlesbar gewordene Seiten. Es bereitete mir großes Vergnügen, mich in Frank hineinzuversetzen und die fehlenden Elemente anhand des vorliegenden Materials zu ergänzen.
Frank Grasby ist ein geborener Schriftsteller, der unterhaltsam zu erzählen vermag. Nur hie und da neigt er zu Abschweifungen, die ich behutsam eingedämmt habe.
Deshalb entspricht alles Folgende im Großen und Ganzen dem Original. Einige Namen habe ich geändert, um den Ruf der Betreffenden, ob lebendig oder tot (die meisten Letzteres), zu schützen. Ferner war ich so frei, allzu ›explizite‹ Inhalte wie Kraftausdrücke oder Schilderungen Grasbys pikanterer Abenteuer ein wenig zu glätten. Mein Bestreben war es, den Text den Bedürfnissen der modernen Zeit anzupassen.
Die Memoiren springen zeitlich vor und zurück. Ich habe diesen Fall als ersten ausgewählt, da er das beste Bild dieses großartigen Kerls vermittelt. Außerdem hat er das selbst so beabsichtigt (siehe sein Vorwort im Folgenden).
Hiermit erhalten Sie nun einen Einblick in das abenteuerliche Leben des Inspector Frank Grasby.
Vorwort des Autors
Werte Leserschaft,
willkommen in meinem Sammelsurium an Erinnerungen. Ich möchte nicht der Reihe nach erzählen, sondern mit einem Fall beginnen, in den ich unwillentlich hineingeriet und der sich als Wendepunkt erwies, nicht nur für meine Berufslaufbahn, sondern für mein gesamtes Leben. Ein guter Anfang, wie Sie sehen werden.
Es kommt immer wieder vor, dass man ebenso unvorbereitet wie schlecht informiert in Situationen hineinstolpert. Heute wünschte ich mir, ich hätte damals, als ich von Superintendent Arthur Juggers in das Dorf Elderby geschickt wurde, Kenntnis vom folgenden Polizeibericht gehabt. Bedauerlicherweise bekam ich ihn jedoch erst sehr viel später zu Gesicht. Er enthält – zwischen den Zeilen jedenfalls – Informationen, die Einfluss auf mein Verhalten und meine Entscheidungen unmittelbar nach meiner Ankunft in Elderby gehabt hätten. Aber hinterher schlauer zu sein ist ziemlich typisch für mich.
Als ich gerade im Begriff war, diesen ersten Teil meiner Erinnerungen zu vollenden, entdeckte ich den Bericht im Polizeiarchiv. Ich füge ihn hier ein als Zeugnis der mörderischen Gefahr, in die ich mich damals unwissentlich begab.
Ich hoffe, Sie finden Gefallen an dieser packenden Geschichte aus meinem ereignisreichen Leben.
Frank Grasby
York, März 1975
*****
Polizeibericht
North Yorkshire, 17. Mai 1949
*****
Per Telex, 1050 Std.
Am Abend des 16. Mai 1949 gegen 2000 Std. ging bei der Polizei von Elderby ein Anruf aus dem ortsansässigen Pub Hanging Beggar ein. Die Wirtin meldete randalierende Gäste, die sich weigerten, das Lokal zu verlassen.
Der Diensthabende, Inspector D.P. Moore, nahm den durchgestellten Anruf zu Hause entgegen und traf um circa 2015 Std. im Pub ein.
Bei seiner Ankunft hatte sich die Lage in dem Lokal bereits beruhigt. Vorschriftsmäßig blieb Inspector Moore jedoch vor Ort, um Aussagen von der Wirtin und den Gästen aufzunehmen und sicherzugehen, dass keiner der Unruhestifter zurückkehrte.
Nach Erledigung dieser Aufgabe verließ er den Hanging Beggar um circa 2215 Std. und begab sich auf den Heimweg.
Obwohl ich dem Dienstplan gemäß einen freien Tag hatte, nahm ich gegen 2355 Std. am selben Abend einen Anruf vom Hauptquartier in Pickering entgegen. Die Ehefrau des Inspector, Mrs Moore, hatte die Nachtschicht telefonisch benachrichtigt, dass ihr Mann noch nicht nach Hause zurückgekehrt und sie sehr besorgt sei. Die Nachricht, dass er den Pub verlassen und den Rückweg antreten würde, liege bereits einige Zeit zurück.
Kurz nach Mitternacht unternahm ich eine rasche Durchsuchung der betreffenden Umgebung, auch des Polizeireviers von Elderby – für den Fall, dass Inspector Moore sich dort aufhielt, um einen Bericht über die Ereignisse zu verfassen, und nach diesem anstrengenden Tag über der Arbeit eingeschlafen war.
Da ich Inspector Moore jedoch weder dort noch im Dorf und Umgebung ausfindig machen konnte, rief ich im Hauptquartier in Pickering an und meldete ihn um 0222 Std. am Morgen des 17. Mai als vermisst.
Ich und sieben Kollegen aus Pickering trafen uns um 0500 Std. am Morgen des 17. Mai und bereiteten eine groß angelegte Suche vor, die im Morgengrauen begann, circa um 0620 Std.
Gegen 0745 Std. sprach ein Dorfbewohner, ein vertrauenswürdiger Mann namens Andrew Moleston, die Constables aus Pickering an und berichtete, er habe beim Angeln am Wehr etwas Merkwürdiges bemerkt. Das Wehr befindet sich circa drei Kilometer östlich von Elderby.
Dort fanden die Constables Rickmannsworth und Hastie um 0824 Std. die Leiche von Inspector Moore auf, die sich am Flussufer in den Algen verfangen hatte.
Nach einer kurzen Untersuchung des Geländes, beginnend um 0931 Std., bei der ich selbst zugegen war, wurde von Militärarzt Dr. Terrance Clancy um 0935 Std. offiziell der Tod festgestellt.
Inspector Moores sterbliche Überreste wurden um 1005 Std. unter meiner Aufsicht zur Obduktion nach Pickering verbracht.
Sgt. E.M.P. Bleakly
Polizeirevier Elderby
York, Dezember 1952
1
Jeder Wochentag geht mit einem bestimmten Gefühl einher, finde ich. Montage werden gemeinhin verabscheut, Freitage sorgen für gute Laune. Und Sonntage erinnern mich auf unangenehme Weise an meine eingebüßte Frömmigkeit. Der engelsgleiche Chorknabe, der ernsthaft erwogen hat, die kirchliche Laufbahn von Vater und Großvater einzuschlagen, existiert schon lange nicht mehr. Ich habe trotzdem ein schlechtes Gewissen, dass ich die Kirche nur noch um diese Jahreszeit aufsuche – von anderen Feiertagen, Hochzeiten und Beerdigungen abgesehen. Und von Letzteren habe ich reichlich zu viele erlebt.
Mein Beruf als Inspector bei der Kriminalpolizei verschafft mir vielleicht ein wenig Nachsicht in der Gemeinde, aber nie genug, um den Zorn meines geistlichen Vaters zu beschwichtigen. Selbst die Hölle kann nicht schlimmer wüten als ein Dorfpfarrer, der von den Bischöfen seiner Kirche geschasst wurde.
Aber da Weihnachten vor der Tür steht, habe ich beschlossen, als Kirchgänger zu besserer Form aufzulaufen. Wenn ich aufrichtig bin, brauche ich nämlich jede Hilfe, die ich kriegen kann, da ich mal wieder in der Patsche sitze.
Ich bemühe mich, daran nicht zu denken, während ich durch die verqualmten Korridore des Polizeireviers von York marschiere. Mein Vorgesetzter, der mich heute wohl in die Mangel nehmen wird, hat durchaus Ähnlichkeit mit dem Mann, dem ich mein Dasein verdanke, wenn auch nicht körperlich. Mein Vater, Reverend Cecil Grasby, ist groß, mager und so bleich wie ein Geist. Superintendent Arthur Juggers dagegen ist stämmig und rotgesichtig, ein bodenständiger, gedrungener Mann mit einer Schwäche für Pfeifentabak und Bier. Er wirkt, als könnte er eine dicke Mauer durch reine Willenskraft zum Einsturz bringen. Bestimmt kennen Sie diesen Menschenschlag. Wir vertragen uns aber ganz anständig – zumindest manchmal.
Vor der schweren Eichentür rücke ich meine Krawatte zurecht und drücke meine Zigarette in einem Aschenbecher aus. Ein glänzendes Messingschild verkündet Name und Rang meines Vorgesetzten.
»Wer lungert da draußen herum?«, höre ich ihn von drinnen brüllen. »Hier weiß doch jeder, dass ich das nicht ausstehen kann!«
Er scheint das Gehör einer Fledermaus zu haben – einer grimmigen, übellaunigen Fledermaus.
Ich klopfe an. Als mir in grollendem Tonfall Einlass gewährt wird, betrete ich das Büro. Es sieht so aus, wie man es erwarten würde: holzgetäfelte Wände, gerahmte historische Fotografien, diverse Ehrenurkunden für Tapferkeit und andere Leistungen. Der Geruch von Tabak und Bier ist allgegenwärtig, aber nicht unangenehm. An der Wand hinter Juggers hängt ein Gemälde vom Cricket-Stadion in Headingley. Cricket ist eine Sache, die uns beide verbindet, und ich beabsichtige, diesen Umstand für meine Verteidigung zu nutzen. Wäre der Zweite Weltkrieg nicht dazwischengekommen und hätte ich nicht eine unselige Neigung zu regelwidrigen Würfen gehabt, würde ich jetzt für Yorkshire spielen, anstatt Missetäter und Schurken zur Strecke zu bringen. Aber das Leben kann grausam sein, wie wir alle wissen.
»Nicht hinsetzen«, blafft mein Vorgesetzter, ohne von seiner Zeitung aufzublicken.
Ich gehorche und lege mit meiner Taktik los. »Heute Morgen habe ich den jungen Fred Trueman getroffen, Sir.« Ich habe den Eindruck, dass mein Vorstoß in Richtung des Yorkshire County Cricket Club den erwünschten Effekt hat, denn Juggers blickt auf und fixiert mich über den Rand seiner Halbbrille hinweg.
»Kein Geplauder, Grasby – diesmal nicht. Wären Sie nicht so untauglich, könnten Sie da draußen sein, trotz Ihres Alters. Mit dem Schläger werden Sie wohl kaum schlechter sein als mit dem Notizbuch.«
»Sir?«, frage ich scheinheilig, als hätte ich keine Ahnung, worum es geht.
»Lady Winthorpe, zum Teufel. Klingelt da etwas?«
»Ah.«
»Sie wollen in Admere House einen diebischen Dienstboten schnappen, und im Nu rennen zwanzig Pferde frei in der Gegend herum – die wertvollsten Vollblüter Englands!« Die Zeitung wird zur Seite gefeuert. »Sieben sind immer noch verschwunden!«
»Nur ein Missgeschick mit dem Stallknecht, Sir.«
»Missgeschick? Sie haben den Burschen verhaftet und vergessen, die Stalltür zu schließen. Verfluchte Blödheit nennt man so was!«
»Dazu muss man aber sagen, dass Constable Armley auch anwesend war, Sir. Solche Dinge sind eigentlich seine Aufgabe.«
»Der Constable war mit Handschellen an den Verhafteten gefesselt. Wie hätte er da noch die Ställe sichern sollen?«
»Nun …«
»Wenn diese verdammten Pferde nicht gefunden werden, wird Seine Lordschaft den Chief Constable verklagen. Was sagen Sie dazu?«
Ich versuche, mir eine geeignete Antwort einfallen zu lassen, verziehe aber letztlich nur das Gesicht.
»Kein Wunder, dass Sie Grimassen schneiden, Grasby. Ich bin gegenwärtig das Einzige, was Sie vor der Erwerbslosigkeit bewahrt. Mit der Aristokratie darf man es sich nicht verscherzen. Als Nächstes steht hier die junge Königin vor der Tür und verlangt Ihren Kopf. Und den werde ich ihr auch servieren – hübsch angerichtet. Die hat schon genug Sorgen, das arme Mädchen, und soll sich nicht auch noch über unfähige Polizisten aus Yorkshire den Kopf zerbrechen.«
Es folgt eine Aufzählung verheerender etwaiger Konsequenzen, die mich das Fürchten lehrt, während Juggers’ Gesicht zusehends die Farbe von Roter Bete annimmt. Um sich zu beruhigen, greift er nach seiner Pfeife und beginnt, sie zu stopfen. Währenddessen kommt bei mir die Sorge auf, dass man mich nach East Yorkshire zwangsversetzen könnte – vor meinem inneren Auge sehe ich einen regnerischen Dienstagabend am Hafen von Hull. So etwas ist schon vorgekommen, müssen Sie wissen. Mumford, ein Kollege von mir, endete dort als Bobby an der berüchtigten Hessle Road. Nichts für schwache Nerven, kann ich Ihnen versichern.
»Wollen Sie, dass ich nach den Pferden suche, Sir?«, biete ich an.
»Grundgütiger, bloß nicht! Den Chef würde der Schlag treffen! Nein, Grasby, das war eine Stümperei zu viel, jetzt ist Schluss.«
O nein, die Hessle Road! Mir werden die Knie weich.
»Er will Sie eine Zeit lang aus dem Weg haben. Bis sich die Lage beruhigt hat.«
»Aber ich habe doch einen guten Ruf, Sir. Habe etliche Halunken ihrer gerechten Strafe zugeführt, seit ich aus dem Krieg zurück bin.«
Juggers steht auf. Sein Bauchumfang strapaziert mächtig die Uniformhose. »Daran gibt es keinen Zweifel. Aber Sie haben auch jede Menge Scherereien verursacht.«
»Nicht mehr als andere, würde ich sagen. Von den Pferden vielleicht abgesehen.«
Er deutet mit dem Zeigefinger auf mich. »Und was war mit der alten Mrs Stank?«
»Ach so, das Zitat in der Yorkshire Post.«
»Ganz genau. ‚Nach dem verdächtigen Todesfall äußerte sich Inspector Grasby von der Kriminalpolizei York: ›Grandma Stank tatsächlich, warum nur.‹‘«
»Ein unpassender Kommentar, das gebe ich zu. Aber ich wollte das Prozedere etwas auflockern.«
Als hätte er meinen Einwand nicht vernommen, fährt Juggers fort: »Und was war mit der Tochter des Oberbürgermeisters, bitte schön?«
»Das war eine komplizierte Angelegenheit, Sir.«
»Sie haben Sie wegen Trunkenheit und Belästigung der Allgemeinheit einsperren lassen!«
»Weil sie sich im Minster Inn auf dem Boden wälzte!«
»Sie hatte einen epileptischen Anfall!«
»Sie müssen aber zugeben, dass das erst später vom Arzt festgestellt wurde. Das war für niemanden ersichtlich, auch für den Wirt nicht.«
Der Superintendent schüttelt nachdrücklich den Kopf, was seine Hängebacken in Bewegung versetzt. »Dann erzählen Sie mir doch was über James Thomas Goss.«
»Ein Vertrauensbruch, Sir. Ehre unter Dieben scheint der Vergangenheit anzugehören.«
»Ihre Dummheit wohl leider nicht. Sie bringen einen der meistgesuchten und raffiniertesten Diebe, nach dem die Metropolitan Police jemals gefahndet hat, nach London und lassen ihn dann entkommen!« Juggers’ Gesicht läuft wieder purpurrot an.
»Unpünktlichkeit, Sir. Er sollte am Bahnhof Euston übergeben werden, und die Kollegen waren zu spät dran.«
»Und Sie mussten mal austreten, weil Sie die gesamte Zugfahrt damit verbracht haben, mit dem Verbrecher Bier zu saufen!«
»Wir brauchten eine Erfrischung – es war ein heißer Tag, Sir.«
»Sie hätten ihn mit zur Toilette nehmen müssen! Den Kerl mit Handschellen irgendwo fixieren, während Sie sich erleichtern.«
Obwohl das ein heikles Thema ist, bleibe ich hartnäckig. »Das wäre hinderlich gewesen, offen gestanden. In Gesellschaft kann ich nicht, Sir.« Ich denke, dass die meisten Männer das auf einer belebten Herrentoilette schon einmal erlebt haben. Juggers sieht das anders.
»Waschlappen! Nein, Sie haben die prächtige Idee, den Halunken an die Bar zu schicken, um dort noch ein paar Bier zu bestellen, während Sie abwesend sind. Worauf der sich natürlich im Nu aus dem Staub macht.«
»Und das auch noch mit meinem Zehnpfundschein, den ich ihm gegeben hatte!«
»Ja, was haben Sie denn erwartet?«
»Dass er sein Wort hält.«
»Das ist ein verfluchter Verbrecher! Was würden Sie denn tun, wenn Ihnen zehn Jahre im Bau drohen, Ihnen ein Volltrottel die Chance zum Abhauen gibt und Sie obendrein noch mit dem nötigen Fahrgeld ausstattet?«
»Er wurde ja noch geschnappt.«
»Zwei verfluchte Jahre später! Und in der Zwischenzeit ist er in zahllose Häuser eingebrochen!«
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieses Gespräch keine gute Wendung nimmt, und flehe stumm, dass Juggers die Aufzählung meiner Verfehlungen hier beendet. So oder so beschließe ich, meine Verteidigungsversuche aufzugeben. Sie scheinen meine Lage nur zu verschlimmern. Aber wie sich herausstellt, ist am Urteil ohnehin nichts mehr zu rütteln.
»Nein, Grasby, die Würfel sind gefallen – obwohl ich es trotz allem bedaure, Sie zu verlieren. Wenn Sie sich nicht gerade dämlich anstellen, sind Sie ein durchaus fähiger Polizist.«
»Nicht Hull, Sir. Bitte tun Sie mir das nicht an, um der alten Zeiten willen.« Ich wäre bereit, flehentlich auf die Knie zu sinken. Doch das würde meinen Vorgesetzten vermutlich noch mehr auf die Palme bringen. Stattdessen setze ich eine bittende Miene auf, die an Juggers’ guten Willen appellieren soll. Ich stelle mir die schlimmsten Kaschemmen von Hull vor – an einem Freitagabend, wenn die Fischerboote in den Hafen einlaufen –, und mich schaudert. Außerdem hat mir dieser bizarre Helm, den man auf Streife tragen muss, noch nie gestanden, und da ich die lange, schlaksige Statur von meinem alten Herrn geerbt habe, sehe ich in Uniform aus wie ein Laternenpfahl. Die Leute lachen über mich.
»Elderby, da geht’s für Sie hin.«
»Sir?« Ich zermartere mir das Hirn. Wo um alles in der Welt soll das sein? In Hull entsteht ein neues Viertel mit Sozialwohnungen. Ich hoffe, das trägt einen anderen Namen.
»Es ist weit genug entfernt vom Chief Constable, kann ich Ihnen versichern. In den North York Moors. Sie sind fürs Erste versetzt.« Juggers wendet sich ab und blickt zum Fenster hinaus auf die Schneeflocken, die langsam auf die Passanten und Fahrzeuge herabsinken. »Sie waren ein passabler Spieler, guter Umgang mit dem Schläger. Und Ihr Oberarmwurf konnte sich sehen lassen.« Er nickt nachdenklich, spielt innerlich zweifellos gerade eines meiner gelungenen Innings für die zweite Mannschaft Yorkshires nach. »Ein Pech war das mit den Wrist Spins, wie? Die haben Sie einfach nie richtig beherrscht.«
Verflucht.
»Sie behalten Ihren Rang und Ihre Anstellung als Inspector. Danken Sie mir nicht.«
»Danke«, sage ich automatisch.
Er dreht sich um. Seine Schweinsäuglein funkeln, als er sagt: »In der Gegend von Elderby hat es etliche Diebstähle auf den Farmen gegeben. Wir sind den Kollegen gegenüber zur Unterstützung verpflichtet. Sie haben nicht unsere Mittel und unser Personal. Die meisten der betroffenen Farmen gehören Lord Damnish.«
O nein, nicht schon wieder der Adel.
»Sorgen Sie für Ordnung, bringen Sie den oder die Schuldigen zügig zur Strecke, damit ich die Chance habe, Sie zurückzuholen, wenn sich hier alles beruhigt hat. Und diese Gäule eingefangen wurden, natürlich.«
Mein Gehirn arbeitet auf Hochtouren. Sie können es sich bestimmt denken: die Fragen, die ein solcher Umzug aufwirft – wo soll ich schlafen, und wie komme ich überhaupt dorthin? Außerdem: Was mache ich an Weihnachten? Die Gegend ist nicht so weit entfernt, aber wenn es in den North York Moors schneit, dann schneit es wirklich, das können Sie mir glauben.
Als hätte er meine Gedanken gelesen, lässt Juggers sich wieder an seinem mächtigen Schreibtisch nieder und blättert seine Papiere durch. »Wir haben Sie bei einer Mrs Hetty Gaunt einquartiert. Sie wird dafür sorgen, dass Sie es über die Feiertage behaglich haben.« Er beäugt mich finster. »Sie ist eine Witwe gewissen Alters, also kommen Sie gar nicht erst auf Gedanken niederer Natur, Grasby. Sie sind einer der wenigen ledigen Männer hier auf dem Revier. Jedenfalls von denen mit ausreichend Rang und Erfahrung, um mit Lord Damnish umzugehen. Dem kann ich schließlich keinen Grünschnabel schicken, nicht wahr?«
»Gewiss nicht, Sir. Schon allein der Gedanke.« Ich bedaure allerdings, dass keine verheißungsvollere Vermieterin in Aussicht steht. Eine junge Witwe wäre erfreulich gewesen. Davon gibt es seit dem Krieg jede Menge. Ich bin noch völlig ungebunden, müssen Sie wissen. Und da mein vierzigster Geburtstag näher rückt, fürchte ich inzwischen, als Junggeselle zu enden. Mrs Gaunt ist vermutlich eine strenge alte Dame. Aber die Aussicht auf eine triste Weihnachtszeit allein mit meinem Erzeuger lässt einen Tapetenwechsel gar nicht so übel erscheinen.
»Nehmen Sie den Rest des Tages frei, packen Sie Ihre Sachen. Stubby Watts stellt Ihnen einen Wagen zur Verfügung. Elderby ist ein nettes Örtchen, wenn auch etwas entlegen.« Juggers greift wieder nach der Zeitung. »Und verbocken Sie es diesmal nicht. Beim nächsten Mal gibt’s die Hessle Road!«
Und das war’s. Ich beschließe, mir auf der Stelle eine Landkarte zu beschaffen.
2
Stubby Watts, ein kleiner Bursche im Blaumann, setzt seine ölverschmierte Kappe ab und reibt sich die blasse Glatze. Er ist Automechaniker und für den Fuhrpark der Yorker Polizei zuständig. Stubby gilt als griesgrämig, hat heute aber einen guten Tag.
»Viel haben wir nicht im Angebot.« Er lässt den Blick durch die riesige Werkstatt schweifen, dem Anschein nach ein Autofriedhof. »Ich hab da noch diesen Austin A30, der war aber im Krieg.«
Er führt mich zu einem grünen Wagen im üblichen ramponierten Zustand. Üblich sage ich, weil das bei Polizeiwagen meistens so ist, ob sie als solche erkennbar sind oder nicht. Die Kollegen am Steuer bringen den Fahrzeugen wenig Achtung entgegen, weshalb sie in aller Regel zerdellt und verschrammt sind und Brandlöcher in den Sitzen haben.
»Wie läuft der?«, frage ich hoffnungsvoll.
»Nicht so gut wie früher mal. Ein Unfallwagen, wissen Sie?«
»Aber Sie haben ihn wieder hingekriegt?«
»Ich bin Mechaniker, kein verdammter Zauberkünstler. Aber ja, ich hab getan, was ich konnte.«
Ich spähe durchs Seitenfenster und bin angenehm überrascht, dass nirgendwo alte Kippen oder fettiges Zeitungspapier mit Resten von Fish and Chips herumliegen. Stubby überreicht mir die Schlüssel, und ich beuge mich durchs Fenster und starte den Motor. Der Wagen erwacht mit ungesundem Ächzen zum Leben.
»Das hört sich aber nicht sehr überzeugend an, Stubby.«
»Was Besseres gibt’s gerade nicht, junger Mann. In ’nem Schneesturm sind Sie dankbar dafür. Und der wird kommen, das können Sie mir ruhig glauben.«
Die pessimistische Wettervorhersage geflissentlich überhörend, steige ich ein. Kleine Autos haben die unangenehme Eigenschaft, großen Menschen das Gefühl zu vermitteln, sie befänden sich in einer Sardinenbüchse. Meine Knie kommen meinen Ohren unbehaglich nah, aber das ist bei meiner Länge nun mal nicht zu vermeiden. Der Austin vollführt eine Fehlzündung mit den üblichen Tücken wie einer schwarzen Qualmwolke und einem lauten Knall, der mich an den Krieg erinnert. Bei solchen Lauten fängt mein Gesicht zu kribbeln an, was sich äußerst unerfreulich anfühlt. Dieses scheußliche Kribbeln war mein ständiger Begleiter während meiner Militärzeit.
»Macht er das öfter?«, erkundige ich mich.
»Glaub ich nicht. Muss einfach mal ordentlich ausgefahren werden, um die Spinnweben rauszupusten.«
Wenn Männer der Technik wie Stubby sich in blumigen Formulierungen ergehen, um die Eigenheiten von Fahrzeugen zu beschreiben, werde ich grundsätzlich misstrauisch. Die »Spinnweben« sind für mich ein klassisches Beispiel dieser Art. Und als ich den Motor aufheulen lasse, wiederholt sich das Spektakel mit Knall und Rauch.
»Wie gesagt: Muss nur mal ordentlich ausgefahren werden.« Bei diesen Worten streicht sich Stubby zweifelnd übers Kinn.
Traue niemals einem Automechaniker. Mit diesem Motto kommt man gut durchs Leben.
Da ich aber gegenwärtig keine andere Wahl habe, fahre ich den Austin vom Gelände. Im Rückspiegel sehe ich Stubby den Mund bewegen, er scheint etwas zu rufen. Einen freundlichen Abschiedsgruß vermutlich. Ich winke dankend durchs offene Fenster.
Die Fahrt nach Hause dauert nicht lang. »Zu Hause« ist das Domizil meines Vaters, ein kleines Cottage im Norden von York, das ihm von der Church of England bei seiner vorzeitigen Entlassung in den Ruhestand zugeteilt wurde. Umsonst gibt es aber bekanntlich nichts im Leben, und als Gegenleistung muss er für geistliche Kollegen aus der Region einspringen, wenn sie krank oder im Urlaub sind. Es gibt einen Ausdruck dafür, aber den vergesse ich ständig.
Dass mein alter Herr diese Aushilfsdienste verabscheut, lässt er die Gemeinden spüren. Bei seinen Gottesdiensten erschreckt er die ihm anvertrauten Schäfchen mit Androhungen von Hölle und Fegefeuer fast zu Tode. Das ist seine Methode, sich an der Kirche zu rächen, die ihn mit einer kläglichen Rente und kaum mehr als Spesen für diese Pflichten abspeist. Wenn die jeweiligen Herren Pfarrer wieder vor ihre Gemeinden treten, finden sie selbige bestimmt erheblich reduziert vor, da gehe ich jede Wette ein.
Als ich mich in einer Rauchwolke und unter kleineren Explosionen dem Haus nähere, sehe ich meinen Erzeuger in seinem winzigen Vorgarten stehen und zur Regenrinne hinaufstarren. Mein Vater trägt einen langen Mantel, der mir gehört, und obwohl ich keinesfalls als breitschultrig gelten kann, hängt das Kleidungsstück so schlapp an ihm herunter wie das weite Gewand an einem Chorknaben. Er erinnert mich an eine unterernährte Krähe. Ich hatte zuvor eine anständige Wohnung in der Stadtmitte, habe es aber als meine Pflicht angesehen, sie nach dem Tod meiner Mutter aufzugeben. Obwohl mein Vater protestierte, wusste ich, dass er froh sein würde, seinen Sohn bei sich zu haben.
»Da würde ich ja lieber mit Abimelech zusammenwohnen«, sagte er damals.
Zum Glück bin ich nicht bibelfest genug, um diese Bemerkung deuten zu können.
»Was ist das denn?«, will er jetzt wissen und beäugt argwöhnisch mein Gefährt. Er besitzt einen deutlich vornehmeren Wagen: einen betagten Bentley, geerbt von seinem Vater, der nichts Geringeres als ein Bischof gewesen war.
»Ich habe Neuigkeiten!«, verkünde ich leichthin.
»Ah.« Die Äußerungen meines Vaters geraten nicht selten einsilbig.
»Ich muss für eine Weile weg, fürchte ich. Und ich weiß noch nicht, für wie lange. Tut mir leid wegen Weihnachten und so.«
»Musst du ins Gefängnis?«, fragt er wenig mitfühlend.
»Nein, ist eine vorübergehende Versetzung in die North York Moors. An einen Ort namens Elderby.«
»Ich vermute eher, die haben dich endlich durchschaut und wollen dich aus dem Weg schaffen.«
Mein Vater kann entnervend hellsichtig sein, was ich schon immer sehr lästig fand.
»Nein, keineswegs.« Ich hebe überlegen das Kinn – das kann ich ziemlich gut. »Ich soll für Lord Damnish ein Verbrechen aufklären.«
»Hört, hört.« Vaters Nase tropft, und er wischt sie mit dem Ärmel meines Mantels ab. »Na, da kann ich nur hoffen, dass du dich geschickter anstellst als mit den Pferden von Lady Winthorpe. Das stand in der Post, hast du das gesehen?«
Ich murmle etwas von einem Missverständnis und versuche, mich ins Haus zu verziehen. Aber mein Vater kann sich so stur in etwas verbeißen wie ein dürrer Windhund in seinen Knochen und heftet sich sofort an meine Fersen.
»Ich weiß wohl, dass du dich mit diesem Adelsgesocks auf Augenhöhe fühlst. Daran ist diese elende Schule schuld, auf die deine Mutter dich unbedingt schicken wollte. Aber ich kann dir versichern, für diese Leute bist du nicht mehr wert als ein Fleck auf einem weißen Kragen.«
Mein geschätzter Herr Vater verweist auf meine Zeit am Hymers College, einer elitären Privatschule in Hull. Das war kein Zuckerschlecken, kann ich Ihnen sagen. Ich wurde dort zwar zu einem passablen Cricket-Spieler, habe mir aber auch einen ziemlich blasierten Akzent zugelegt. Alles in allem jedoch war die Schulzeit von Vorteil für mein Leben. Ich bezweifle stark, dass ich es ohne sie in den Rang des Inspector geschafft hätte. Von meinen Polizeikollegen musste ich mir zwar anfänglich einiges anhören. Aber als sie feststellten, wie trinkfest ich war, rauften wir uns zusammen. Außerdem stieg die Cricket-Mannschaft des Reviers dank mir in bislang unbekannte Sphären auf. Das stärkt die Moral und sorgt für reichlich Freunde.
Ja, ich habe bereits erwähnt, dass ich noch ungebunden bin. Das liegt nicht daran, dass ich mich nicht bemüht hätte. Ich würde gern behaupten, einfach noch nicht die richtige Frau gefunden zu haben, doch das wäre gelogen. Leider muss ich zugeben, dass jede sympathische Frau mit rekordverdächtiger Geschwindigkeit das Weite sucht, sobald sie mich besser kennenlernt. Die traurige Wahrheit ist, dass Frauen mich für einen Nichtsnutz halten. Meine Liebe zu Cricket und allem, was damit einhergeht, erweist sich zusätzlich als Stolperstein, denn sie sorgt häufig für Ebbe in der Kasse. Aber sei’s drum, ich gebe die Hoffnung nicht auf.
Bedauerlicherweise kann der neue Chief Constable, Sohn eines Fischers aus Whitby, Menschen mit kultivierter Sprechweise nicht ausstehen. Trotz meiner Nobelschule befinde ich mich nun also in dieser misslichen Lage.
Mein Vater verabscheut die privilegierten Schichten gleichermaßen. Vor einigen Jahren hatte er offenbar eine theologische Meinungsverschiedenheit mit König George V. Der Streit trug nicht dazu bei, das Ansehen meines alten Herrn in der anglikanischen Kirche zu verbessern, und seither hasst er hartnäckig sämtliche blaublütigen Menschen. Und ich kriege davon auch was ab wegen meiner Eliteschule. Aber was soll ich denn machen? Sie haben mich schließlich dorthin geschickt. Es gab da ein Stipendium für Söhne von Geistlichen. In den ersten Trimestern wurde ich von den anderen nur »Erzbischof von York« genannt, aber das ließ ich an mir abprallen. Ich habe ein heiteres Gemüt, müssen Sie wissen.
Auch jetzt beschließe ich, mich nicht um die Kommentare meines Vaters zu kümmern, und begebe mich in die kärgliche Dachstube, die mein Schlafzimmer darstellt. Die Tür ist unglaublich niedrig, und etliche Beulen und blaue Flecken haben mich gelehrt, den Kopf einzuziehen, wenn ich den Raum betrete. Vermutlich wurde das Haus zu einer Zeit erbaut, als die Bürger von York noch ein gutes Stück kleiner waren.
Anlässlich meines neuen Auftrags packe ich meinen zweiten Anzug und ein paar andere Habseligkeiten in den alten Koffer, der meiner Mutter gehört hat. Wenn ich an sie denke, empfinde ich mehr als nur einen Anflug von Traurigkeit. Sie war eine liebevolle Frau, immer darum bemüht, ihrem Sohn die Wunder der Welt nahezubringen. Auf ihre Unterstützung konnte ich mich verlassen, sogar für mein Cricket-Spielen, was mein Vater verabscheute. Ich vermisse sie sehr, seit sie vor sieben Jahren dahingeschieden ist, und denke noch immer täglich an sie, besonders in dieser Jahreszeit. Ein weiterer Grund, sich aufs Land zu verziehen, denke ich bei mir.
Ich schüttle die tristen Gedanken ab und tappe nach unten, in der Hoffnung auf Abendessen. Erfreut stelle ich fest, dass wir Gesellschaft haben. Ich war so mit meiner Packerei und der bevorstehenden Reise beschäftigt, dass mir durch das Plappern des Radios die Ankunft von Lord Parsley entgangen ist – oder Mitch, wie ich ihn seit der Zeit nenne, als ich noch ein kleiner Knirps war.
Lord Parsley verdankt den Titel seiner steilen Karriere beim Militär. Er und mein Vater sind zusammen aufgewachsen und, obwohl sie grundverschieden sind, Freunde geblieben. Mitch ist klein, stämmig und rotgesichtig und mittlerweile beim militärischen Geheimdienst tätig. Darüber spricht er allerdings kaum – nur zu verständlich. Die Geheimnisse, mit denen er zu tun hat, möchte man schließlich nicht Hinz und Kunz auf die Nase binden.
Mein werter Vater, gut einen Kopf größer als unser Gast, kredenzt diesem gerade in der Küche ein Glas des hausgemachten höllisch starken Holunderweins.
»Nun, junger Francis«, sagt Mitch, der mich seit jeher mit meinem Taufnamen anspricht, herzlich lächelnd, »ich höre, du reist ins Niemandsland.«
»So sieht’s aus, Mitch. Ich konnte doch nicht zulassen, dass Ehemänner um diese Jahreszeit von ihren Familien getrennt werden. Da hab ich mich freiwillig gemeldet«, flunkere ich.
»Das ehrt dich. Du warst immer schon ein anständiger Kerl.«
»Von wegen. Ein Taugenichts«, bemerkt mein Vater.
»Hör nicht auf ihn, Francis«, sagt Mitch. »Vielleicht findest du da in den Hügeln endlich eine Frau. Ein Mann braucht eine Frau, weißt du? Ohne meine Jess wäre ich verloren, das kann ich dir sagen. Wird dir bestimmt gefallen dort.«
»Ehrlich gesagt, weiß ich noch nicht viel über diesen Ort«, gestehe ich.
Er wirft mir einen merkwürdigen Blick zu, und seine Miene verdüstert sich einen Moment. Doch dann ist Mitch sofort wieder so heiter wie zuvor. »Auf dich und Elderby!« Er prostet mir zu, worauf mein Vater mir widerwillig auch ein Glas einschenkt.
Bei all seinen Unarten muss man meinem alten Herrn lassen, dass er ein guter Koch ist. Was vermutlich daran liegt, dass Kochen meiner Mutter gar nicht lag. Sie hat es fertiggebracht, einen Salat anbrennen zu lassen. Heute Abend tischt mein Vater Rotzunge mit Nusssoße, Kartoffeln und Erbsen auf. Ein durchaus eindrucksvolles Mahl, vor allem angesichts der anhaltenden Rationierung von Lebensmitteln.
Obwohl er als Sohn eines Bischofs im Wohlstand aufgewachsen ist, geriert sich mein alter Herr gern als Teil der Arbeiterklasse. Deshalb gibt es zu der erfreulichen Mahlzeit nicht etwa einen guten Sauvignon Blanc oder Spätburgunder, sondern ein weiteres großes Glas Holunderwein. Wobei ich nicht behaupten möchte, dass der nichts taugt: Durch den Zusatz von Honig erzeugt mein Vater einen durchaus angenehmen Geschmack. Zu angenehm, offen gestanden. Der Honig täuscht nämlich darüber hinweg, wie hochprozentig das Gebräu tatsächlich ist.
Nach einigen Gläschen und angeregten Plaudereien habe ich ordentlich einen sitzen, ebenso mein Vater und unser Gast. Schließlich wirft Mitch einen Blick auf seine noble Uhr und zeigt sich überrascht. »In guter Gesellschaft verfliegt die Zeit im Nu, nicht wahr? In zehn Minuten soll mein Chauffeur hier sein.« Er versucht, sich zu erheben, fällt aber auf den Stuhl zurück und lacht lauthals.
»Du verträgst immer noch nichts, wie ich sehe«, lallt mein Vater, während er vergeblich versucht, eine Kartoffel aufzuspießen, die vom Teller gerutscht ist.
»Ganz im Gegenteil«, entgegnet Mitch. »Seit ich regelmäßig deinen Hausgemachten trinke, ist meine Toleranz für alles gestiegen, was mir sonst noch so vorgesetzt wird.«
Das leuchtet mir ein. Da ich eine liberale Mutter hatte, führe ich mir seit meinem zehnten Lebensjahr alkoholische Getränke zu Gemüte. Meine Frau Mama war der Ansicht, man solle sich möglichst früh daran gewöhnen, was mir seither den einen oder anderen Kater eingebracht hat. Aber ich kann jedenfalls mit Fug und Recht behaupten, dass ich was vertrage.
»Elderby, sagtest du?« Mein Vater beäugt mich vom Tischende aus über den Rand seines Glases hinweg.
»Ja, in den North York Moors, Vater«, antworte ich.
»St. Thomas’s-on-the-Edge.«
»Was soll das denn heißen?«, frage ich, worauf Mitch wieder vor Lachen prustet.
»Das ist die Kirche von Elderby, du Holzkopf.«
»Klingt ja ziemlich albern.«
Mein alter Herr lächelt jetzt auf eine Weise, die mir verdächtig vertraut ist.
»Heißt das etwa, du warst schon mal dort?«
»In letzter Zeit nicht«, antwortet er ausweichend und widmet sich eingehend den Resten seines Fischs.
Dieses Verhalten kenne ich schon mein Leben lang. Ich sehe ihm an, dass er etwas über dieses Kaff weiß, aber er wird es mir nicht sagen. Früher hätte ich nachgebohrt, aber inzwischen spare ich mir die Mühe.
»Ich freue mich jedenfalls darauf«, betone ich. »Es ist bestimmt herrlich, mal wieder auf dem Land zu sein.«
»Ach, Francis«, meldet sich Mitch zu Wort, »sei doch so gut und hilf mir auf, ja?«
Ich komme der Aufforderung nach und reiche Mitch seinen schweren Wollmantel. Unser Gast bedankt sich fürs Essen und macht noch einen letzten Scherz. Als ich ihn hinausbegleite, steht der Wagen mitsamt Chauffeur bereits vor dem Eingang.
Mitch Parsley kramt in seinen Taschen, und einen peinlichen Moment lang fürchte ich, er sei so betrunken, dass er mir Trinkgeld geben wolle. Doch dann reicht er mir seine Visitenkarte, auf der allerlei militärische Ränge aufgelistet sind. »Gib auf dich acht da oben, mein Junge.« Er zieht vielsagend die Augenbrauen hoch, rülpst und sagt schließlich: »Kannst mich jederzeit anrufen, vergiss das nicht.« Dann wankt er Richtung Auto, und der Chauffeur springt gerade rechtzeitig heraus, um seinen Fahrgast am Arm zu packen und auf die Rückbank zu verfrachten.
Durchs Fenster kann ich noch immer Mitchs seltsam bedeutungsschwangere Miene sehen. Das gibt mir Rätsel auf. Warum benehmen sich alle so geheimniskrämerisch, sobald von Elderby die Rede ist? Nun, das bleibt wohl abzuwarten.
Als ich in die Küche zurückkomme, drückt mein alter Herr gerade eine Zigarette in seinem Weinglas aus. Er murmelt etwas Unverständliches und sackt langsam mit offenem Mund nach vorne. Das macht er schon seit Jahren so – er betrinkt sich und schläft dann von einem Moment auf den anderen ein. In ein paar Stunden wird er auf dem Sofa aufwachen und ins Bett gehen. Ich packe ihn am Arm, und wir stolpern in das kleine Wohnzimmer, wo ich den alten Knaben auf das rissige alte Ledersofa bette und eine Wolldecke über ihn breite.
So geht das jeden Abend. Wir essen, genehmigen uns ein paar Gläser, und ich bringe ihn hierher, damit er seinen Rausch ausschlafen kann. Ich bin froh, dass mein Vater noch ein paar gute Freunde in der Nähe hat. Wie er da so auf dem Sofa liegt, sieht er plötzlich sehr alt aus. Das Alter ist kein Zuckerschlecken, so viel steht fest.
Ich ziehe die Visitenkarte von Mitch Parsley aus der Tasche und studiere sie. Zwei Telefonnummern sind angegeben und die Adresse seines Büros in der Catterick-Kaserne in Richmond. Ich überlege, warum er mir die Karte gegeben hat, und führe es auf den fortgeschrittenen Zustand seiner Trunkenheit zurück.
Auch ich sollte jetzt schleunigst ausnüchtern, denn morgen steht meine Reise nach Elderby an.
3
Die Fahrt in den Norden wäre gewiss vergnüglich gewesen, hätte mein Wagen nicht diese unangenehme Neigung zu Fehlzündungen. Eine Heizung hat er auch nicht, und die Schneefälle sind heftig. Wie ich schon geahnt habe, muss dieses Gefährt nicht »nur mal ordentlich ausgefahren werden«, wie Stubby Watts behauptet hatte. Während ich an drollig mit Schnee bedeckten Kühen und Schafen auf den Feldern vorbeifahre und durch ein Dorf nach dem anderen gondle, die unter der weißen Decke alle gleich aussehen, erlaubt sich das Auto in den ungünstigsten Momenten ohrenbetäubende Knallerei mitsamt Rauchschwaden.
Die Einwohner von Thirsk und Helmsley kommen noch ungeschoren davon. Aber als ich durch Pickering tuckere – eine Kleinstadt, die ich besonders mag, seit ich dort einmal eine kleine Liebelei hatte –, erschreckt der Austin eine alte Dame so sehr, dass sie sich ans Herz greift und ein paar Schritte rückwärtstaumelt. Ein bäuerlich wirkender Mann droht mir mit seinem Stock.
Willkommen in den North York Moors, denke ich mir. Ich muss gestehen, dass ich etwas besorgt bin um die alte Dame. Sie sah aus, als erleide sie gerade einen Herzinfarkt. Ich gebe ordentlich Gas, um Pickering zügig hinter mir zu lassen.
Was mir überdies Sorgen bereitet, ist die Frage, ob ich mein Reiseziel überhaupt erreichen werde, die schmale Straße ist zunehmend verschneit. Doch als ich auf der Hochebene ankomme und mich umsehe, besticht die Landschaft durch atemberaubende Schönheit. Die Heidesträucher haben sich in weiche weiße Hügel verwandelt, die Szenerie erinnert an eine prachtvolle Hochzeitstorte. Ein Falke schwebt über einer kleinen Anhöhe und stößt dann blitzschnell nieder. Als er wieder aufsteigt, sind seine Klauen jedoch leer, und er scheint enttäuscht zu sein. Das kommt mir irgendwie bekannt vor. Nicht auszuschließen, dass der Pechvogel mit den Grasbys verwandt ist.
Dennoch bin ich guter Stimmung und beschließe anzuhalten, um mir eines der Schinkensandwiches zu genehmigen, die ich mir heute früh in Eile zubereitet habe. Mein Vater, der gestern ausgiebig von den alkoholischen Früchten seiner Arbeit gekostet hatte, bereitete mir keinen feierlichen Abschied. Er hob lediglich den Kopf wenige Zentimeter vom Kissen und verbot mir, die letzte Milch aufzubrauchen. Er hat im Umgang mit Familie, Freunden und eigentlich sämtlichen Mitmenschen noch nie ein gewinnendes Wesen an den Tag gelegt. Ich habe keine Taufe von ihm erlebt, bei der der Täufling angesichts seiner grimmigen Miene nicht in entsetztes Geschrei ausgebrochen wäre.
Jedenfalls, wie er wohl sagen würde, bin ich nicht auf einer Mission ans andere Ende der Welt und beabsichtige, so schnell wie möglich nach York zurückzukehren. Ich hoffe, dass ich die Diebstähle schnell aufklären kann und dass die entlaufenen Gäule inzwischen den Weg nach Hause finden.
Wie sich herausstellt, hat der Schinken auf meinem Sandwich schon bessere Tage gesehen. Er ist leicht schleimig und verströmt einen unappetitlichen Geruch. Nachdem ich zwei kleine Bissen zu mir genommen habe, schleudere ich den Rest aufs Feld. Vielleicht freut sich der erfolglose Grasby-Falke über die kleine Mahlzeit. Ein Quäntchen Glück braucht schließlich jeder mal, auch ein Vogel.
Meinen Notizen zufolge muss ich in wenigen Kilometern links abbiegen. Da ich bereits auf der Straße nach Whitby bin, kann es nicht mehr weit sein. Ich bin gespannt auf meine Kollegen im Polizeirevier – und natürlich auf meine Gastgeberin, Mrs Gaunt. Und ich habe die feste Absicht, diese vorübergehende Versetzung als Urlaub zu betrachten, als Tapetenwechsel und angenehme Pause vom täglichen Einerlei und den wiederholten Zwangsbesuchen in Superintendent Juggers’ Büro.
Als ich das Fenster einen Spalt öffne, um den Zigarettenrauch rauszulassen, und die kalte Luft tief einatme, in der ich einen Hauch des salzigen Meeres schmecken kann, erinnere ich mich daran, wie viel schlimmer meine Lage sein könnte. Es hätte nach Hull gehen können statt nach Elderby. Es empfiehlt sich, immer das Gute an einer Situation zu sehen. Und ich weiß, wovon ich rede, ich muss das schon mein Leben lang so handhaben.
Ich setze meine Fahrt fort und verpasse, wie es mir ähnlich sieht, um ein Haar den Abzweig. Wobei ich zu meiner Ehrenrettung vorbringen kann, dass das rostige Eisenschild schneebedeckt und deshalb leicht zu übersehen ist. Ich weiß, dass ich zu Übertreibungen neige, aber ich kann mir bildlich vorstellen, wie mittelalterliche Schmiede stolz auf ihr frisch erschaffenes Werk geblickt haben. Jedenfalls ist das Schild uralt und wurde garantiert seit dem Bau dieser Straße nicht ausgetauscht.
Mir wird nun auch klar, warum diese angebliche »Straße« auf der Karte, die ich heute früh studiert habe, nur gestrichelt dargestellt war. Stellen Sie sich den holprigsten Feldweg vor, den Sie je zu Gesicht bekommen haben, und zwar in einem heftigen Schneetreiben. Im Schneckentempo zockle ich über das Geröll vorwärts, alle paar Meter lauern unvermutet tiefe Schlaglöcher. So ähnlich stelle ich mir eine Tour im Himalaja vor. Erstaunlicherweise ist der Austin jetzt mucksmäuschenstill. Konzentriert sich wahrscheinlich angestrengt darauf, die Buckelpiste nach Elderby zu überleben. Ich gebe mich der Hoffnung hin, dass dies die Art von »Ausfahren« ist, die Stubbys Ansicht nach die »Spinnweben aus dem Motor pustet«.
Mir kommt der Gedanke, dass ein Schurke, der aus Elderby fliehen will, auf dieser Straße und bei solchen Witterungsverhältnissen ganz schlechte Karten hätte.
Sie sehen, da kommt prompt mein sonniges Gemüt wieder zum Vorschein.
Nach einer Höllenfahrt, die Stunden zu dauern scheint, ist endlich ein lang gestreckter Bergrücken in Sicht. Ein Turm ragt aus dem Schnee auf. Das muss die Kirche mit dem absonderlichen Namen sein, von der mein Vater erzählt hat, St. Thomas’s-on-the-Edge. Erneut überlege ich, woher mein Vater dieses Dorf kennen könnte, gebe aber rasch wieder auf. Ich werde es wohl ohnehin nie erfahren.
Als hätte ich nicht bereits Mühsal genug, steigt die unsägliche Straße nun auch noch steil an. Nicht nur gerät der kleine Wagen immer wieder gefährlich ins Schlingern, auch der Motor scheint an seine Grenzen zu stoßen. Er gibt ein schrilles Heulen von sich, das jedem Unglücklichen, der während des Kriegs die Sirenen der Stuka-Bomber vernommen hat, bekannt vorkommen dürfte.
Am Ende der Steigung kann ich ein weiteres Schild ausmachen, von dem ich stark vermute, dass es auf den Ortseingang hinweist. Doch knapp zweihundert Meter vor Erreichen dieses Ziels beschließt der Austin, mit einem tiefen Seufzer und einem letzten Ächzen zum Erliegen zu kommen.
Obwohl ich sofort die Handbremse ziehe, fürchte ich angesichts der Steigung, dass das Gefährt sich rückwärts überschlagen und mich unsanft wieder zum Fuße des Abhangs befördern könnte. Während mir Schweißperlen auf die Stirn treten (die übliche Reaktion, wenn ich mich in lebensbedrohlichen Situationen befinde), versuche ich angestrengt, den Motor erneut zu starten. Doch das hat nicht den gewünschten Effekt, lediglich ein erschöpftes Seufzen und ein Rasseln ist zu vernehmen. Der letzte Atemzug eines Sterbenden.
Verflucht!
Aufgrund allerlei unerfreulicher Erfahrungen mit Maschinen ist mir klar, dass der Rest des Wegs à pied zurückgelegt werden muss. Ich nehme meinen Trilby ab, bevor ich mich mit aller Kraft gegen das nutzlose Vehikel stemme, um es an den Straßenrand zu schieben. Nachdem das gelungen ist, setze ich den Hut wieder auf, hole den Koffer meiner geliebten Mutter aus dem Kofferraum und beginne mit dem Aufstieg nach Elderby.
Bemerkenswert an diesem Teil der Reise ist, dass ich erheblich schneller vorwärtskomme als mit dem Auto, obwohl ich sehr vorsichtig gehe, um nicht auszurutschen oder in eine Schneewehe zu geraten. Das veranlasst mich dazu, meine Erwägungen über etwaige flüchtige Verbrecher zu korrigieren. Wenn sie ein wenig Tempo vorlegten, würden sie die Hauptstraße vermutlich schneller erreichen als jeder, der ihnen in einem Fahrzeug auf den Fersen wäre. Inzwischen wünsche ich mir, ich hätte die elende Karre an der Hauptstraße stehen lassen und mich gleich zu Fuß auf den Weg gemacht.
Sehen Sie, das ist das Problem mit der modernen Welt. Wir gehen davon aus, dass der Fortschritt gleichbedeutend ist mit Annehmlichkeiten und Effizienz. Dabei hätte ein gutes Pferd diese Strecke im Nu bewältigt. Ich bin nun wahrlich kein Maschinenstürmer, frage mich aber manchmal, wie unsere Zukunft aussehen soll. Unlängst las ich, dass die indigene Bevölkerung von Nordamerika schlimme Folgen prophezeit hat, sollte die Menschheit nicht anders mit dem rasanten technologischen Fortschritt umgehen, der mit der Industriellen Revolution seinen Anfang nahm. Ich habe nicht wenige Wildwestromane verschlungen. In denen wird das immer so dargestellt, dass die Sioux in Ruhe nachdenken und eine Friedenspfeife rauchen, während sich die Cowboys die Hucke vollsaufen. Meiner reichlichen Erfahrung nach vernebelt Alkohol das Hirn, und im nächsten Moment sind die Burschen dann auch schon umzingelt. Die haben es nicht besser verdient, würde ich mal sagen! Hatten schließlich keinerlei Recht, sich dieses Land anzueignen.
Als ich noch einen letzten Blick auf den nutzlosen Schrotthaufen werfe, den ich am Straßenrand zurückgelassen habe, frage ich mich, ob all das, was wir technisch erreicht haben, einmal für unseren Untergang sorgen wird. Mächtig düsterer Gedanke.
Just als meine Beine zu protestieren beginnen und meine Füße schon taub sind vor Kälte, erreiche ich den Höhenrücken. Und von dort aus sehe ich unter mir wahrhaftig eine Straße mit Läden, Wohnhäusern und anderen Gebäuden. Aus ein paar Dutzend Schornsteinen steigt Rauch zum bleigrauen Himmel auf. Das muss Elderby sein, unterhalb dieser Anhöhe gelegen wie Häuser von Tagelöhnern vor einer Burg. Und tatsächlich befindet sich hier die Kirche, deren Turm nur knapp über den Gipfel des Hangs hinausragt. Merkwürdiger Ort für ein Gotteshaus. Und wieder frage ich mich, was mein Vater wohl mit diesem Ort zu schaffen hat. Er schien mir verdächtig viel zu wissen.
Beflügelt vom nahenden Ende der Reise stapfe und schlittere ich hangabwärts. Ich nehme mir vor, im Polizeirevier als Erstes Stubby Watts anzurufen und ihm gehörig den Marsch zu blasen.
Mir gefällt der Gedanke, dass die braven Bürger dieser kleinen Ortschaft gewiss nachts ruhiger schlafen werden, wenn Frank Grasby hier erst mal für Ordnung sorgt. Doch während ich die Hauptstraße entlanggehe, erfasst mich unversehens Beklommenheit. Es kommt mir beinahe vor, als würde ich beobachtet, von vielen Augenpaaren, die geradewegs in meine Seele starren. Ich beruhige mich damit, dass die Ursache für das mulmige Gefühl gewiss nur mein Unbehagen vor der nächsten Begegnung mit einer Adelsfamilie und meine religiöse Erziehung sind, und stapfe tapfer weiter.
*****
Polizei von North Riding of Yorkshire
Bericht: 18. Dezember 1952
*****
an: DIV HQ, 09277345, 1031 Std.
Anruf von Holly House, Elderby, eingegangen um 1015 Std. im Polizeirevier Elderby.
Einbrecher im Anwesen von Lord Damnish gemeldet.
Fahre sofort hin, Bericht folgt.
Sgt. E.M.P. Bleakly
Polizeirevier Elderby
4
Zunächst scheint es mir, als würden sämtliche Einwohner des Dorfs noch an ihren Matratzen horchen – weit und breit keine Menschenseele zu sehen. So muss es in Spanien oder Südfrankreich um die Mittagszeit sein; dort machen die Leute wohl ein geruhsames Schläfchen, um der Mittagshitze zu entgehen. Aber das kann hier kaum der Grund sein. Es ist gerade mal halb zehn Uhr morgens. Und Winter.
Doch als ich mich einer Reihe kleiner Geschäfte mit weihnachtlich dekorierten Schaufenstern nähere, sehe ich endlich einen Menschen. Eine junge, blonde Frau kommt aus der Metzgerei Fletcher und entfernt sich flotten Schrittes.
Ich bleibe einen Moment stehen, um die Szenerie auf mich wirken zu lassen. Die Läden sehen allesamt gepflegt aus, Schilder verweisen auf Angebot und Besitzer. Neben dem Schlachter befindet sich der Gemüseladen Vine’s, der wiederum an Swaddles angrenzt, ein kleines Postamt mitsamt Zeitungskiosk. Die Schlagzeile der heutigen Yorkshire Post wurde auf das Aufstellschild vor dem Eingang gepinselt, und als ich sie lese, wird mir ganz anders.
Noch immer keine Spur von teuren Rassepferden.
Aber ich versuche, mich davon nicht irritieren zu lassen, gewiss haben die Bürger von Elderby ohnehin keinerlei Interesse an diesem Thema.
»Haben Sie sich verlaufen?« Die Stimme gehört zu einem stämmigen, rotgesichtigen Mann mit einer blutbefleckten Schlachterschürze, der in der offenen Tür der Metzgerei steht.
»Bei der überschaubaren Anzahl an Straßen hier eher schwierig«, erwidere ich. »Sie sind Mr Fletcher, vermute ich?«
»Nee, der ist tot. Ich bin Braithwaite.« Er beäugt mich argwöhnisch, wobei er ein Auge zukneift, als wollte er mich ins Visier nehmen. »Sie sind der neue Polizist.« Seine finstere Miene und der verdrossene Tonfall erinnern mich in Kombination mit seiner Statur massiv an Superintendent Juggers.
»Ja, der bin ich.« In Elderby scheint es keinerlei Geheimnisse zu geben.
Braithwaite, der neue Schlachter, mustert mich von Kopf bis Fuß, schüttelt den Kopf, wendet sich abrupt ab und marschiert in seinen Laden zurück.
Als ich hinter mir das Klacken hoher Absätze höre, drehe ich mich um. Eine Frau, schätzungsweise in ihren Vierzigern, stöckelt auf mich zu. Sie trägt einen dicken schwarzen Mantel über einem geblümten Kleid, und ihre Haare sind so leuchtend rot wie ihr Lippenstift.
»Der gute Bert. So liebenswürdig wie immer.« Sie zieht an ihrer Zigarette und pustet den Rauch aus. »Als Schlachter ist der nicht halb so gut wie sein Vorgänger. Sie sind also der Neue?«
Ich gewinne den Eindruck, dass meine geplante Ankunft hier allgemein bekannt ist. »Inspector Grasby«, sage ich und strecke der Dame die Hand hin. »Erfreut, Sie kennenzulernen.«
»Gute Manieren, muss ich ja sagen«, lautet die Erwiderung. »Kommt hier nicht oft vor. Ich bin Ethel. Ethel Robson, die Wirtin vom Pub da drüben.« Sie weist über ihre Schulter auf die gegenüberliegende Straßenseite, während sie meine Hand ergreift.
Das Lokal mit der malerischen Fassade und den Schneehäubchen auf den Erkerfenstern sieht zwar einladend aus, der Name ist jedoch äußerst abschreckend – der Hanging Beggar. Ich meine, ich trinke bekanntlich gern mal ein Gläschen oder zwei. Aber in einem Etablissement, das nach einem erhängten Bettler benannt ist, kommt wohl nicht die rechte Behaglichkeit auf, fürchte ich.
»Sagen Sie’s nicht, Inspector Grasby«, bemerkt Ethel prompt. »Abscheulicher Name, ich weiß. Aber wir haben ihn nun mal mit dem Pub übernommen. Haben überlegt, ihn zu ändern, aber da gäbe es bloß einen Aufstand.«
Zumindest ist die Dame gesprächiger als der Schlachter. »Nun, hat einen eigenen Charme, könnte man sagen.«
»Ja, ist nun mal der Hanging Beggar, da ist nichts dran zu rütteln. Ich weigere mich aber, das Originalschild wieder aufzuhängen. Da lass ich auch nicht mit mir reden.«
»Ich vermute mal, es gab darauf einen Bettler am Galgen zu sehen?«
»Ganz genau. Und noch schlimmer: Drumherum stehen feixende Dorfbewohner, während er da noch zappelt. Das spricht doch Bände über diesen Ort. Angeblich hieß der Pub früher ›Der fröhliche Ackermann‹. Ist geändert worden, als sie hier irgendeinen armen Teufel aufgehängt haben, und seither so geblieben.« Sie verzieht das Gesicht.
»Darf ich Sie um einen Gefallen bitten?«
»Na, gewiss doch.«
»Wo befindet sich das Polizeirevier?«
»’n Polizist, der nicht weiß, wo er hinmuss. Sie passen gut zum Rest der Truppe.«
»Ah.« Das klingt nicht vielversprechend.
»Straße runter, dann rechts. Sie können’s nicht verfehlen.«
»Verbindlichsten Dank.«
»Ich hoffe doch, Sie schauen nach der Arbeit auf ein Glas vorbei? Das Bier ist gut, und ein schmucker Mann ist in Elderby immer gern gesehen. Wenn es so weiterschneit, wird auch mächtig was los sein. Die Gäste schauen beim Trinken gern dem Schnee zu. Alle wunderlich hier, kann ich Ihnen nur sagen.« Sie lächelt, winkt zum Abschied und betritt die Metzgerei.
Während ich die Straße entlangschlendere, bekomme ich das weitere Angebot an Geschäften zu Gesicht. Hier gibt es tatsächlich alles, was man braucht: eine Bäckerei, einen Fischhändler (gewiss dank der Nähe zum Küstenort Whitby), einen Eisenwarenladen, eine Arztpraxis, gleich daneben einen Tierarzt und erstaunlicherweise ein Hutgeschäft. Wenn man nun noch das Polizeirevier und die Filiale der Martins Bank dazunimmt, hat man das, was meine Mutter ein »Bilderbuchstädtchen« genannt hätte. Und für das Seelenheil der Bewohner wird in St. Thomas’s-on-the-Edge gesorgt.
Jetzt wird mir auch klar, dass das Dorf nicht so winzig ist, wie ich anfänglich vermutet hatte. Von der Hauptstraße zweigen etliche schmale Straßen ab, die von rustikalen Cottages gesäumt sind. Wirklich ein nettes Örtchen.
Die düsteren Gedanken an Hull sind schon vergessen.
Wäre am Eingang des dunklen Sandsteingebäudes nicht die übliche blaue Lampe angebracht, könnte man das Polizeirevier von Elderby auch für ein Wohnhaus halten.
Ich steige drei Stufen hinauf und finde mich in einem engen Empfangsraum wieder, in dem ein uniformierter junger Mann hinter der Theke eifrig mit Telefonieren beschäftigt ist. Er spricht einen Dialekt, den ich kaum verstehe, scheint aber danach zu verlangen, dass sofort ein Wagen beim Revier eintrifft.
Da mein Kollege mir keinerlei Beachtung schenkt, lasse ich ein Hüsteln vernehmen. Als auch das keine Reaktion erbringt, bleibt mir nur ein deutliches: »Guten Tag!«
Der Bursche bewegt den Kopf in meine Richtung, legt eine Hand auf die Sprechmuschel und grunzt etwas Unverständliches. Ich stelle mich vor und frage nach dem diensthabenden Vorgesetzten.
Der genaue Wortlaut seiner Antwort bleibt mir ein Rätsel, doch ich kann ihr scharfsinnig entnehmen, dass ich im Flur durch eine Tür auf der rechten Seite gehen soll. Ich bedanke mich, obwohl das Gespräch wenig ergiebig war, und begebe mich in einen Gang, der am Ende eine Biegung nach links macht. Es riecht hier wie in jedem mir bekannten Revier: nach Desinfektionsmittel, Tabak, altem Holz und Schweiß. Wiewohl ich mir noch unsicher bin, wann hier zuletzt jemand ins Schwitzen gekommen ist.
Diese Zweifel finde ich kurz darauf bestätigt. Rechter Hand entdecke ich eine Tür mit der Aufschrift »Sergeants«, und in der Hoffnung, hier jemanden anzutreffen, mit dem ich mich verständigen kann, klopfe ich und trete ein, ohne auf ein Zeichen zu warten. Ich bin schließlich Inspector, habe also jedes Recht dazu.