Der tote Reformator - Frank Schlößer - E-Book

Der tote Reformator E-Book

Frank Schlößer

4,6

Beschreibung

Pfingstsonntag 1532: Rostocks streitbarer Reformator Joachim Slüter ist tot, vergiftet. Der Täter ist bekannt, aber auf der Flucht. Bürgermeister Bernd Murmann beauftragt den Vikar Dionysius Schmidt, den Mörder zu finden. Schmidt trifft die Menschen, die Slüter liebten oder hassten: den Papisten Detlef Dank- quart und den Martinisten Johann Oldendorp, Slüters Witwe Katharina und die junge Zisterzienserin Anna Sassen, den Prediger Antonius Becker und den Drucker Ludwig Dietz ... Alle erzählen ihre eigene Wahrheit – in dieser Stadt, die zerrissen ist zwischen dem alten und dem neuen Glauben, zwischen Angst und Hoffnung, zwischen alt und jung. Doch Bernd Murmann spielt ein eigenes Spiel. Dionysius Schmidt läuft auf einmal die Zeit davon ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 340

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,6 (18 Bewertungen)
14
1
3
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Frank Schlößer

Der tote

REFORMATOR

Inhalt

Der erste Doppelschilling

Der zweite Doppelschilling

Der dritte Doppelschilling

Der vierte Doppelschilling

Der fünfte Doppelschilling

Der sechste Doppelschilling

Der siebte Doppelschilling

Der achte Doppelschilling

Der neunte Doppelschilling

Epilog

Personenregister

Nachwort

Über den Autor

Der erste Doppelschilling,

mit dem du dich dem Bettler Dionysius Schmidt und seiner Geschichte anheimgibst.

Oh, ist das wirklich ein Doppelschilling? Ein ganzer Doppelschilling? Vergelt’s dir Gott, du hast ein gutes Herz. Du bist nicht aus Rostock, oder? Was willst du von mir? Was soll ich dir geben können, ich bin ein alter blinder Mann. Ich taste mich jeden Morgen an der Mauer entlang vom Lazarushospital bis hierher zum Heringstor, lass mich nieder und warte, dass mir jemand etwas Brot reicht oder einen Teller Grütze oder auch nur einen Becher Dünnbier. Gott sorgt immer für meinen Tag. – Jetzt hab ich zwei Schillinge! So viel Geld, dass ich bis zum Sonntag keinen Hunger leiden muss, ins Badehaus darf und mir endlich den verlausten Bart abnehmen lassen kann.

Warum gibst du einem altem Sünder einen Doppelschilling? Ich weiß es: Du willst meine Geschichte hören. Die Geschichte des Dionysius Schmidt, einst Vikar bei Magister Joachim Slüter zu St. Petri, der daselbst gesündigt und dafür mit Blindheit geschlagen wurde. Du willst wissen, wie der Slüter starb. Ob wirklich Gift in der Suppe war und wer sie ihm gegeben hat, sodass er sich lange quälte und erst am Pfingstsonntage anno 1532 gnädig entschlief … Ja, ich weiß es. Ich wollte es auch schon dem Gryse erzählen, diesem lutherischen Eiferer und weltlichen Geizhals. Aber er gab mir nur Pfennige. Er drängte mich mit seinen Fragen, den Slüter nur rein und gut scheinen zu lassen. Deshalb hab ich ihm seinerzeit nicht die ganze Geschichte erzählt.

Doch du hast deine Zeit gut gewählt. Man hat mir gesagt, dass gerade wieder ein Komet am Himmel Unheil verkündet – und die jungen Menschen glauben, dass es diesmal wirklich zu Ende geht. Ich hab ihnen erzählt, dass wir im Jahre des Herrn 1532 und noch einmal im Jahr darauf schon Kometen sahen und immer noch leben. Aber ich erreiche die Jungen nicht mehr, es scheint, als würden sie die Angst genießen, sie feiern dankbar jeden Frühlingsabend, den sie noch erleben dürfen vor dem drohenden Untergang der Welt.

Aber was schert mich die Welt: Ich fühle, dass mein eigenes Ende näher rückt und jetzt drückt mich der tote Slüter wieder. Ich will die ganze Wahrheit nicht mit ins Grab nehmen, meine Sünde wird meine Seele sonst im Fegefeuer halten – und wer betet in dieser Stadt schon für das Heil eines armen Mannes? Ich weiß, die Lutherischen sagen, dass es für niemanden ein Fegefeuer gibt. Aber ich denke nicht, dass sich auch der Teufel vom Luther hat reformieren lassen. So glaubt dieser Schreiberling Nicolaus Gryse bis heute, dass ich wegen dieser meiner Sünde in der Jugend von Gott geblendet wurde, als ich vor dreißig Jahren anno 1526 die frommen Worte »Gottes Wort bleibt in alle Ewigkeit« mit einem Teerquast auslöschte. Sie standen damals über der Türe des Hauses von Meister Jochim und natürlich waren die Lettern schon wenige Tage nach meinem Streich wieder zu sehen. Es war mir damals billig, dem Slüter gram zu sein, hatte er mir doch mein Auskommen als Vikar verübelt. Vom Lesen der Messen für die Toten der Handwerkerfamilien aus dem Kirchspiel von St. Petri konnte ich leben und studieren. Aber seit er 1521 in der Schule zu St. Petri begann, auf Deutsch zu predigen und die Heilige Schrift auszulegen, bekam ich immer weniger Messaufträge. Vier Jahre später war es ganz ungehörig geworden, einen Vikar für das Seelenheil eines Toten beten zu lassen. Ich wurde arm und ich wusste, wer daran schuld war: Slüter!

Aber nicht wegen der Sache mit dem Teerquast hat Gott mich geblendet. Sondern wegen einer ganz anderen Sünde, die darzustellen mir schwerfällt vor einem Fremden wie dir. Gleichviel: Ob ich dich nun kenne oder nicht – du hast mir den Doppelschilling gegeben und so wirst du meine Geschichte hören. Ich gebe mich in deine Hand und vertraue auf Gott, dass er es war, der dich zu mir geschickt hat. Um mir mein Gewissen zu erleichtern und mir dabei auch etwas für den Leib zu gönnen.

Aber, mein lieber Herr, so setzen wir uns an die Mauer vor das Tor, es ist schon bald Abend und die Steine sind warm von der Sonne und der Wind, der vom Hafen herüberweht, ist mild. Ich will dir die Schillinge nicht schuldig bleiben, sondern redlich berichten, wie sich die Geschichte zugetragen hat zwischen dem Slüter und seiner Frau Katharina und den Papisten Nyebur und Rotstein und Dankquardt, den Bürgermeistern und dem Oldendorp, seines Zeichens Professor und Stadtsyndikus. Und all denen, die in der Stadt aufgerieben waren im Streit zwischen dem alten Glauben und dem neuen Wort Gottes.

Ja, so sitzt sich’s gut. – Dass der Magister Joachim Slüter vergiftet war, das war mir schon erkenntlich, als der Böttcher Jochim Swanekow und ein Wollenweber starben, dessen Name mir entfallen ist. Sie hatten zusammen mit ihm das Bier aus einer Kanne getrunken, waren gleich danach mit Bauchkrämpfen von der Tafel gegangen und noch in der Nacht zu ihrem Schöpfer aufgefahren. Wenn nun Jochim Slüter nach diesem teuflischen Trunk noch etliche Wochen zu leben hatte, dann deshalb, weil er das Arsenik schon lange ertragen hatte. Er war davon krank und siech schon lange vor dieser Zeit, seine Frau Katharina schickte schon zu Martini anno 1531 erstmals nach dem Doktor. Seit über einem Jahr hatte ihm jemand langsam und mit geübten Händen das Gift verabreicht und als das bei diesem Festessen offenbar wurde, hatte es seine Wirkung bereits getan, sodass es nur noch abzuwarten war, wann der Herr seinen braven Knecht zu sich rufen würde. Er tat das am Pfingstsonntag, dem 19. Mai anno 1532. Am Nachmittag zwischen zwei und drei befahl sich Slüter seinem Herrn an, ohne Sorge und stark im Glauben. Alle seine Lieben waren um ihn, auch sein Sohn Elias, der damals erst drei Jahre alt war.

Ich muss anführen, dass ich zu dieser Zeit noch nicht lange auf der Seite der Lutheraner stand. Die Predigten, die Aufrichtigkeit und die Furchtlosigkeit Slüters hatten meinen Verstand zwar erreicht, aber ich hatte für meinen Ablassbrief bei einem der Heringshändler Geld geborgt und danach hart an diesen Schulden und am Zins gearbeitet. Mein Herz wollte noch lange Zeit hoffen, dass dieser Brief mir nach meinem Tod in den Himmel helfen würde. Was Luther und Slüter predigten, das machte diese Hoffnung zunichte, und es dauerte noch Jahre, bis ich den Ablassbrief tatsächlich nachts nach einem Disput in der Schütting der Schonenfahrer ins Feuer warf – und zugegeben: Ich war betrunken. Als ich am nächsten Morgen erwachte und mir die Tat vom vergangenen Abend wieder einfiel, da fühlte ich jedoch keine Reue, sondern Erleichterung: Was ich da verbrannt hatte, war – unmerklich über all die Zeit – von einer Hoffnung zu einer Last geworden, von welcher ich mich durch das Feuer befreit hatte. So verschlungen mir Luthers Weg der lebenslangen Buße, dem Glauben und der Liebe auch schien, so klar war mir an diesem Morgen doch, dass dieser gerade Weg über das Geld nicht zu Gott führen konnte.

Als Jochim Slüter eines Tages entdeckte, dass auch ich bei seiner Predigten stand, da trat er nach dem Gottesdienst an der Tür des Kirchhofes auf mich zu, segnete mich, nahm meine Hände in seine und lächelte mich auf eine Weise an, die mich ins Herz traf.

Noch wenige Jahre zuvor war er von der ganzen Stadt als der schwarze Ketzer verhöhnt und verdammt worden, wegen seines schwarzen Bartes und Haares. Doch er hatte es mit Hilfe des Schweriner Herzogs Heinrich und des Rostocker Rates vermocht, die Papisten aus den Klöstern der Franziskaner, der Dominikaner und der Kartäuser, die Prediger aus dem Domstift zu St. Jacobi und die altgläubigen Herren Professores der Universität zu übertrumpfen – unter dem Schutz des so wortgewandten und weit gereisten Syndikus Professor Johann Oldendorp. So kam es, dass ich Slüter und seiner Sache durchaus ergeben war, als er die Augen schloss.

Nach dem Tode dieses, ja unseres Rostocker Reformators am Pfingstsonntag hatte die Stadt einen Abend lang in einer Lähmung verharrt – als die lang erwartete Nachricht bekannt wurde, schlossen auch die Stände des Pfingstmarktes zwei Stunden früher und auf dem Großen Markt standen die Menschen in der Sonne beieinander. Manche Gruppen flüsterten mit ernsten Gesichtern, aus anderen Gruppen war Lachen zu hören. Böse Blicke legten sich wie ein straff gespanntes Netz aus Hanfseilen über den sonntäglichen Markt – weder die Slüterfreunde noch die Slüterfeinde wollten freiwillig das Feld räumen. Nur die Tatsache, dass Slüters toter Leib noch über der Erde lag und das Gefühl, dass seine Seele hier noch anwesend war, verhinderte, dass der Tag mit einer Schlägerei und möglicherweise mit weiteren Toten endete.

Schon gegen Abend des Pfingstmontages war der schlichte Sarg in Slüters kleinem Haus vernagelt worden und wurde dann die wenigen Schritte bis zu der Grube auf dem Kirchhof von St. Petri hinübergetragen. Der Totengräber hatte das Leichenbreit Slüters auf einer Stelle abgesteckt, auf der seit zwei Generationen niemand mehr begraben worden war. Nur ein paar alte Knochensplitter lugten aus dem Hügel neben dem offenen Grab hervor. Ein Gewitterguss hatte sich am frühen Nachmittag über der Stadt entladen, sodass etwas Wasser in der Grube stand. Jetzt schien die Sonne warm auf diesen Teil des Kirchenackers und die Stimmung unter den Menschen war durchaus heiter angesichts eines Todes, der so lange erwartet worden war. Sie standen bis hinunter zum Petritor, auch aus den anderen Kirchspielen der Stadt waren sie gekommen, auch ein paar Ratsherren wurden gelitten. Prediger Joachim Schröder hatte seinen Mentor und Lehrer mit einer schlichten Rede zum üblichen ersten Thessaloniker und vielen dankbaren Worten ins Grab begleitet.

Dankbar konnte er durchaus sein, denn er würde bald die Pfarrstelle von St. Petri übertragen bekommen. Weil sein Vorgänger schon mit 42 Jahren aus dem Leben geschieden war, hatte er für sich und seine Familie eine gute Aussicht auf eine lange, einigermaßen einträgliche Zeit als Pfarrer von St. Petri. Schröder – wie sein Vorgänger stammte er aus Dömitz – würde die Früchte des Kampfes ernten können, den Slüter für Rostock und das Evangelium geschlagen hatte.

Schröder hatte dem Wunsch Slüters entsprochen, »Komm Schöpfer Geist« und »Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen« aus seinem Gesangbuch von der Gemeinde singen zu lassen. Die Leute legten alle Inbrunst, zu der sich dieser norddeutsche Menschenschlag aufraffen kann, in den Gesang. Und so erklangen die beiden Lieder wenigstens mit einiger Kraft. Die Melodie versandete natürlich jeweils in der zweiten Strophe, doch Schröder sang selbst sehr laut und gab mit der Hand weithin sichtbar weiter den Takt vor, sodass er die Gemeinde durch alle Verse hindurchzwang. Das war er Slüter schuldig. Der brummige Gesang verbreitete weitere Heiterkeit, weil die Menschen sich an Slüters Verzweiflung erinnerten, mit der ihr Prediger über Jahre versucht hatte, einen wenigstens halbwegs passablen Chor zu formieren. Die Gemeinde wusste, dass Schröder auch in dieser Frage nicht den Ehrgeiz seines Vorgängers besaß und so hatten sie beim Singen doppelte Freude. Die Gewissheit, dass ihre Qual jetzt ein Ende haben würde, stimmte sie froh: Schröder würde das Singen in den Gottesdiensten den Kindern des Kirchspieles von St. Petri überlassen, die älteren Generationen könnten zuhören und ihren Kindern sagen, wie schön ihr Lied geklungen habe. Selbst Slüters Witwe Katharina, die gefasst und mit ihrem Sohn Elias auf dem Arm bei der Grube stand, atmete hörbar auf, als die Gemeinde endlich wieder schweigen durfte.

Die Glocken läuteten nicht nur von St. Petri herunter, sondern auch von St. Nikolai und St. Marien herüber, als der Sarg hinabgelassen wurde. Wie immer gerieten schon beim letzten gemeinsamen Vaterunser die letzten Reihen in Bewegung, denn die Plätze in der nahen Schankwirtschaft Zum Weißen Schwan waren zu knapp bemessen für eine solche Menge durstigen Menschen.

Weder Joachim Schröder noch die Leichenredner hatten die Ursache für das frühe Ableben Slüters erwähnt. Ebenso wie der ehrwürdige Rat wollten sie vermeiden, dass sich aus diesem Begräbnis ein Protestzug bildete, der letztlich zu einem Tumult vor dem Rathaus führen könnte. Aber auch wenn ihnen das für den Augenblick gelungen war, so wussten alle, dass die Stadt keine Ruhe finden würde, bevor nicht der Mörder, der papistische Priester Joachim Nyebur, seine Strafe erlitten hätte.

Als ich nach dem Begräbnis den Alten Markt überquerte, winkte mich Bürgermeister Bernd Murmann heran und fragte mich ohne Umschweife, ob ich wüsste, was alle Welt munkelt.

Ich nickte nur.

»Komm morgen um Schlag sieben zu mir!«, sagte Murmann und drückte mir drei Schillinge in die Hand.

Unsere Bekanntschaft lag damals schon Jahrzehnte zurück und obwohl wir uns nie aus den Augen verloren hatten, so hatten wir doch in all dieser Zeit kein Wort miteinander gewechselt. Wenn wir uns sahen, dann grüßten wir uns nur mit den Augen und in einer stillen Übereinkunft wollte keiner von uns beiden, dass unsere frühere Begegnung in der Stadt offenbar wurde. Aber warum wendete er sich jetzt an mich? Und drückte mir mitten auf dem Markt Geld in die Hand? Auch wenn das beiläufig geschehen war, so hatten es doch ein paar der Umstehenden mit ungläubigen Blicken registriert. Also nickte ich ihm nur zu und verließ ihn.

Natürlich wusste ich, dass ich ihn in den frühen Morgenstunden nicht im Rathaus treffen würde, sondern im Hafen am Steg vor dem Fischertor, dort wo schon Schlag vier die Boote ablegten und er am Mittag, wenn sie vom Fang auf der Warnow zurückkamen, seine persönliche Akzise kassierte. Ich wusste es, er wusste es: Auch die Fischerknechte murrten nur dann offen über ihn, die anderen Bürgermeister und den Rat, wenn sie in ihrer Schütting beieinandersaßen, gleich oberhalb ihrer Landungsbrücke hinter dem Fischertor. Doch Murmann ließ alle paar Wochen ein Fass mit dem guten Bier aus Barth heranschaffen. Fremdes Bier war bei den Rostocker Brauerfrauen nicht wohl gelitten – und deshalb verhalf ihm dieses gemeinsame Geheimnis, dieser spitzbübische Jungenstreich, doch zu einer besonderen Vertrautheit mit den Strandfischern.

Schon am Abend des Pfingstmontags, wenige Stunden nach dem Begräbnis, zog Ruhe in der Stadt ein: Slüter war unter der Erde. Nicht nur die Papisten schienen aufzuatmen. Auch die Lutheraner konnten hoffen, ohne diesen queren Geist in Zukunft ruhiger leben zu können. Aber schon kurz nach Sonnenuntergang konnte ich erfahren, dass diese Ruhe trügerisch und gefährlich war. In einer Schütting in der Grube war ein Fass mit Doppelbier angesteckt worden und was ich dort zu hören bekam, ließ mich erschauern. Zuerst war die Beerdigung Slüters der Gegenstand der Gespräche: Wer wen dort gesehen hatte und warum der Joachim Schröder nicht ein kürzeres Lied für den Grabgesang ausgesucht hatte. Und dass man ihn nicht hatte verstehen können, denn einerseits sei der Prediger Schröder doch recht leise gewesen und außerdem sei die Gemeinde an Slüters niederdeutsche Zunge gewöhnt. Ja, der Schulmeister Schröder würde noch einige Zeit brauchen, bevor er die Fußstapfen seines Vorgängers halbwegs ausfüllen würde.

Doch dann wechselten die Gespräche schnell hinüber zu Nyebur, zu Slüters Mörder. Wenn man ihn fände, so die Meinung, müsse man ihn ohne großes Gerede am Hafenkran erhängen. Denn für den ordentlichen Rostocker Gerichtsgalgen vor dem Steintor müsse es eine Verhandlung geben, dann würden Gutachten eingeholt, er würde vielleicht noch jahrelang im Lagebuschturm sitzen und dieser Aufwand an Bewachung und Verköstigung sei so ein Hetzer und Schwarzkünstler nicht wert. Andererseits: Hatte Jochim Slüter sein Ende nicht selbst herausgefordert? Wer wie er mit Weib und Kind gesegnet sei, der müsse doch vernünftig sein und dürfe nicht ungestraft über Jahre hinweg gefährliche Reden schwingen. Schließlich wisse man doch, wie weit in dieser Stadt die Arme der Bürgermeister und der Pfaffen reichten. Professor Oldendorp hätte seinen Schützling Slüter zwar in allen Disputationen klug herausreden können. Doch dem Handeln des Pöbels gingen nun mal keine Reden voran, für diese Leute reichte es aus, sich im Recht zu fühlen, um es sich herausnehmen zu können. Da sei alles Disputieren vergebens – und das hätte Slüter doch wissen müssen, da er doch seine Schäfchen aus der Altstadt auch immer wieder zur Ordnung rufen und Aufruhr verhindern musste. So sei es geradezu billig, dass Slüter durch fremde Hand hatte sterben müssen – ja, er trüge daran schließlich selbst Schuld. Denn lieber sei man doch altgläubig und lebendig als neugläubig und tot.

Wie sie alle da redeten hatten sie nichts verstanden von dem, was in der Welt vor sich ging und was sich selbst mir – einem leichtfertigen jungen Mann, der ich damals war – erschloss: Ohne Menschen wie den Slüter und den Luther und den Bugenhagen würden wir heute noch den Papisten Geld dafür zahlen, dass sie uns erlaubten, mit all unseren Sünden und in aller Schlechtigkeit in den Himmel auffahren zu dürfen. Und den aufrechten Adolf Clarenbach, den man zu Köln verbrannt hatte – nur wegen seines unbeugsam gepredigten Evangeliums. Und den Heinrich von Züthpen, der in Heide vom verführten Pöbel erschlagen und verbrannt worden war, ohne sein Bekenntnis zum neuen Glauben widerrufen zu haben. So lang waren diese Zeiten noch nicht her, als dass sich diese bierselige Abendgesellschaft in der Schenke nicht mehr daran erinnern mochte. Dennoch schien es vergessen und schließlich einigte man sich an den Schanktischen: Es sei zwar ungut, jemanden zu vergiften. Aber wenn es der Nyebur nicht getan hätte, dann wäre eben ein anderer zum Zuge gekommen. Und das sei so absehbar gewesen, dass man Slüter durchaus vorwerfen könne, sich der Gefahr sehenden Auges ausgesetzt zu haben. Deshalb sei der Prediger selbst daran schuld, dass jetzt Katharina als Predigerwitwe durchs Leben gehen und der kleine Elias den Vater entbehren musste. Wobei – so wurde eingewandt – ein solches Weib wie die Katharina, so schön flachsblond und so gut ausgestattet unter der Schürze wie auch im Beutel, die würde sich doch bald trösten können und mancher aus der Runde bot sich an, Slüters Platz in diesem Bette einzunehmen!

Solche Reden hörte ich noch am Abend von Slüters Bestattung und ich hätte ihnen gern erwidert. Doch ich wusste, wie schnell ein Disput mit den Knechten der Schmiede und der Lohgerber durch ein paar Fausthiebe beendet wurde. Diese Menschen waren nicht daran gewöhnt, mit Worten zu streiten. Also trug ich meine Erkenntnis an diesem Abend nicht vor und auch später nicht. Ich schwieg und stahl mich davon wie ein geprügelter Hund. Dabei hatte ich tatsächlich Prügel erfahren durch diese niedrigen und tumben Worte.

So schlief ich schlecht in dieser Nacht und nachdem ich früh erwacht war, hielt mich nichts auf meinem Stroh. Ich machte mich auf, überquerte die Grube und auf meinem Weg durch die Mittelstadt gab ich meine letzten zwei Pfennige für ein Brot und einen Stockfisch, sodass ich durstig war, als ich durch das Bramowsche Tor aus der Stadt ging, um auf dem Hügel vor dem Grapengießertor auf den Hafen der Strandfischer hinunterschauen zu können.

Wirklich, da erblickte ich den Rotschopf von Murmann. Er stand ruhig am leeren Steg und als er sah, wie ich die Bastion herabstieg, kam er mir entgegen und traf mich wie zufällig am Fuße der Treppe nah bei der Stadtmauer. Weiter hinten am Wokrenter Tor, da herrschte um diese frühe Zeit schon Betriebsamkeit und großes Gewühl, damit die schwere Arbeit schon getan war, wenn es heiß würde. Doch hier vor den Stegen der Fischer war es ruhig, und so zog mich Murmann in den Schatten der Mauer und eröffnete mir seinen Auftrag. Joachim Nyebur musste noch in der Stadt sein, die Wachen an den Toren waren angehalten, ihn ohne großes Aufsehen festzusetzen. Und Murmann war sicher, dass sie das auch tun würden. Ich sollte nun den Nyebur finden und ihn überreden, sich der städtischen Gerichtsbarkeit auszuliefern. Es wäre schwierig, ihm den Giftmord nachzuweisen, sodass er wohl mit einem Vergleich davonkommen würde und um des Friedens willen nur aus der Stadt geworfen würde. Dann könne er sein Leben auf dem Land verbringen oder auf einem Schiff bis nach Spanien gelangen und sich den Amerikafahrern anschließen. Dort frage derzeit niemand die Deutschen nach dem Woher, jeder sei willkommen, den Eingeborenen das Kreuz Christi nahezubringen. Dann nahm Murmann mich beiseite und fragte leise und vertraulich: »Glaubst du daran, dass der Nyebur es getan hat?«

Das war eine heikle Frage und ich wäre gern um eine Antwort verlegen gewesen. Allerdings schien es mir, als begebe sich mit dieser Frage auch Murmann in meine Hand – hätte man sie laut auf dem Großen Markt gestellt, so hätte man sich mindestens ein paar Schläge eingefangen. So bedachte ich meine Antwort. »Nyebur hat sämtlichen Papisten der Stadt ihre Bitten erfüllt, die sie in ihren Predigten verhohlen und abends in der Schenke unverhohlen geäußert haben: Tagsüber wünschten sie dem Ketzer in aller Frömmigkeit die ewige Verdammnis und nachts beim Bier flehten sie jemanden herbei, der Slüter auf diesen Weg bringt.«

Murmann nickte. »Nur ist es ein langer Weg zwischen dem Wunsch und der Tat. Der Jochim Nyebur mag ein schlimmer Eiferer sein, aber ist er auch der Mann, der einem Ehemann und Vater eines Sohnes über ein halbes Jahr seinen Todeszorn verbergen und ihm immer wieder Gift reichen kann? Auch wenn letztlich Slüters Buchdrucker der letzte Missetäter gewesen sein soll.«

Ich blickte Murmann an. Zweifelte er an dem, was für die ganze Stadt als Wahrheit galt?

Er nickte nur. »Hätten die Papisten nicht genug Gelegenheiten gehabt, Slüter in ihrem ehrlichen Zorn zu erschlagen? Er hätte morgens tot in der Grube gelegen und wäre nicht der erste gewesen, der langsam in Richtung Strand getrieben wäre. Oder sie hätten ihm das Haus anzünden können.«

Ich wartete ab. Wie weit würde Murmann mir noch seine Gedanken öffnen?

»Arsenik?«, er schüttelte wieder den Kopf. »Das ist nicht das, was ich von den Papisten erwarte.« Er schwieg kurz und sah mich an. »Verstehst du, was ich sage?«

Ich nickte langsam, er hatte mich inzwischen am Hemd gefasst und an sich herangezogen. Dann fühlte ich, das er mir zwei Münzen in die Hand drückte. Es waren zwei gute, neue Dänische Mark.

»Du bekommst noch vier dazu, wenn du mir herausfindest, was passiert ist. Entweder kannst du Beweise bringen, dass es der Nyebur war. Oder du sagst mir, wer ihm das Gift wirklich gegeben hat.« Er schloss seine Hand um meine mit den Münzen. »Geh zu allen, auch zu seinen Feinden! Geh zu Katharina, zu Oldendorp, zu Dankquardt und zu den lutherischen Predigern! Setz dich zu ihnen, gib ihnen Bier! Lass sie reden! Dann zähle zwei und zwei zusammen! Du hast nicht viel Zeit. Wenn sie Nyebur finden, wollen sie einen kurzen Prozess. Und sei verschwiegen!«

Das sagte er zu mir und die beiden Markstücke wurden warm in meiner Hand. Ich fühlte mich geehrt, dass der Bürgermeister sich so an mich erinnerte und mich auf diesen Weg schickte. Dann warf er mir noch einen verschwörerischen Blick zu und gab mir einen vertraulichen Schlag auf die Schulter.

Erst als ich zur Grube hinaufstieg, wurde mir der Hals eng. Wenn ich Fehler machte, wenn ich zu offen war, dann hätte ich schnell in den Verdacht geraten können, ein Günstling der Papisten zu sein. Murmann hatte genügend Männer in der Stadt und vermutlich hatte er sie alle losgeschickt, Nyebur zu finden. Doch viele kannten seine Spitzel und mich hatte er ausgesucht, weil ich seit unserer Heringssommerzeit nicht mit ihm gesehen worden war. Und weil ich weit unter ihm stand. Wenn sie meiner habhaft würden, dann würde er keineswegs sagen, dass er es war, der mich losgeschickt hatte. Dann würde das Wort eines Bürgermeisters gegen das des Wüstlings und Lügners stehen, der ich damals war. Weggehen konnte ich auch nicht, denn Murmann hatte seine Männer in der Stadt und an den Toren. Die würden ihm nicht nur die beiden Dänischen Mark zurückbringen, sondern auch noch einen meiner Finger. Ich konnte nur verlieren. – Und wie du siehst: Es ist genauso gekommen.

Mein Freund, du willst wissen, wie es kommt, dass ein blinder Bettler einen Bürgermeister kennt? Dazu musst du zuerst bedenken, dass ich nicht von Geburt an blind bin und wenn ich auch mein Vikariat verloren hatte, so musste ich doch keineswegs betteln. Die Familien, für deren Tote ich früher gebetet hatte, schickten mich im Kirchspiel von St. Petri als Tagelöhner von Schmiede zu Schmiede und als einzelner Mann mit einer Stadtmauerbude neben dem Alten Tor konnte ich von diesen paar Schillingen eine Woche leben. – Aber du fragst mich nach Murmann …

Bernd Murmann kannte ich schon von der Vitte. Er war schon mit dreizehn Jahren zum ersten Mal rübergefahren zum Schonenmarkt nach Falsterbo. So wie alle Rostocker Kinder, die sich alt genug fühlen, um endlich von ihren Eltern wegzugehen, mit den Schonenfahrern mitgenommen werden wollten zu den Heringssommern. Viele von den Jüngeren kamen nach einigen Wochen wieder zurück in den Schoß ihrer Familie, mit grindigen Händen und blauen Flecken, gründlich geheilt vom Fernweh und dem Willen, es endlich ganz allein schaffen zu wollen. Wer im nächsten Jahr trotzdem wieder mitfahren wollte zur Vitte, der hatte eine gute Chance, auch später seinen Platz in Rostock zu finden. Der hatte sich eine Stufe emporgekämpft und konnte sich nun daran beteiligen, den Jüngsten beizubringen, dass ihr Platz nicht auf der Vitte war. Murmann blieb schon beim ersten Versuch den ganzen Sommer über. Das lag auch daran, dass er mit dieser Fahrt seinem Vater in Rostock entfliehen konnte, einem ehemaligen Stückgießer, der sich dem Suff ergeben hatte, nachdem ein Spritzer flüssigen Eisens ihm den linken Fuß gekostet hatte. Dort in den Heringssommern habe ich Bernd Murmann kennengelernt. Wir waren nie Freunde. Aber wer sich noch von der Vitte her kennt, der teilt die gleichen Jugenderinnerungen und ein wichtiges Stück Leben – im Guten wie im Bösen.

Aber damit du das verstehst, muss ich dir mehr über die Rostocker Vitte erzählen. Heute fährt kaum noch jemand hin, die Heringsschwärme bleiben aus und seit auch die Fastenzeit etwas ist, das man mit seinem eigenen Gewissen verhandeln kann, gibt es noch weniger Absatz für den Hering. Die Rostocker Vitte wird sterben und die Schonenfahrer haben jetzt schon mehr Bier- als Heringsfässer an Bord. Vor dreißig Jahren waren die deutschen Länder angewiesen auf den Hering aus der Ostsee. Inzwischen wird auch der Hering aus der Westsee gehandelt, von dem die niederländischen Händler behaupten, dass er größer und fetter sei als der schonensche. Und billiger!

Damals entschied sich dort drüben auf dem dänischen Sandhaken im Öresund, wer in Rostock etwas zu sagen haben würde und wer nicht. Die Ratsfamilien schickten ihre Söhne hin, allerdings mit genügend Geld, um dort die Sommerbuden errichten zu können. Damit bestimmten sie, wer mitfahren und einziehen durfte. Diese Söhne herrschten dort über die Jugend von Rostock und Warnemünde, die sich mit ihrer Hände Arbeit die ersten Schillinge selbst verdienen konnten. Das Geschäft mit den Heringen wird seit Jahrhunderten von den alten Schonenfahrern und den Kaufleuten betrieben. Sie waren auch die Ratsherren und hatten mit ihren Verbindungen zu den Warnemünder Fischern bereits ihren Anteil am Heringsgeschäft abgesteckt. Sie zahlten dem dänischen König Christian, dem zweiten dieses Namens übrigens, den festgelegten Zoll für die ausgeführten Heringslasten.

Die Kaufleute ließen sich auf der Vitte zu Beginn der Heringszeit im Juni blicken, sie achteten darauf, dass zuerst die Deiche erneuert wurden, und sie sorgten dafür, dass der Lübecker Vittenvogt ein Auge auf die Rostocker hatte. Alle Buden mussten auf dem abgesteckten Gebiet der Rostocker Vitte stehen. Vor hundert Jahren war sie so groß gewesen, dass sie über einen eigenen Vogt und eine eigene Kirche verfügte. Gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts hatte es schon einmal so ausgesehen, als ob die Vitte und das Schonenfahrergelag am Ende wären – nicht einmal hundert Kaufleute und Fischer aus Rostock und Warnemünde kamen damals für den Sommer nach Falsterbo. Sie fürchteten, dort zwischen die Russen und die Schweden zu geraten. Doch nach dem Krieg war die Rostocker Vitte noch einmal gewachsen, wenn auch längst nicht zur alten Größe.

Wenn also die Väter die Rostocker Vitte für den Sommer eingerichtet sahen, dann überließen sie bis zum Oktober ihren Söhnen das Regiment des Schonenmarktes. Sie planten den Heringsfang mit den aufmüpfigen Söhnen der Fischer von Warnemünde, sie teilten die Mädchen zum Ausnehmen und zum Einsalzen ein und sie sorgten für den Abtransport der gefüllten Heringstonnen.

Aber sie pflegten dort auch die Feindschaften der alteingesessenen Familien: die Kerkhoffs gegen die Pegels, die Freses mit den Makes gegen die Türkows. Auch die Außengrenzen der Vitte wollten geschützt werden, denn die Vitten der Stralsunder, der Wismarer und der Lübecker lagen nebenan und so gut die Väter der verschiedenen Ratsfamilien miteinander Geschäfte machen konnten, so gut konnten sich ihre Söhne auf der Vitte gegenseitig die Zähne einschlagen und ihre Untergebenen zu nächtlichen Überfällen in die anderen Lager schicken. Der Streit drehte sich auch um den Besitz des Salzes. Wenn gegen Ende des Heringssommers die Zahl der Salzfässer abnahm und der Nachschub aus Lüneburg, aus der Bretagne und aus Portugal ins Stocken geriet, dann wurden die letzten Reserven zwischen den Vitten verkauft. Natürlich stiegen die Preise und das erhöhte die Bereitschaft der Burschen, sich das Salz mit unlauteren Mitteln gegenseitig abzujagen. Denn am Salz darf man nicht sparen, so ist die Regel. Die Rostocker Tonne war fast zwei Jahrhunderte lang das feste Heringsmaß: Vierzehn Schock der schonenschen Heringe mussten dort hineinpassen. Und sie mussten auch dann noch essbar sein, wenn die Tonne zur Fastenzeit im nächsten Jahr in Wien oder in Nürnberg oder in Prag geöffnet wurde. Die Rostocker Kaufleute bekamen es zu spüren, wenn eine ihrer Tonnen irgendwo verdorben angekommen war: Diese eine Tonne wurde so oft weitererzählt, bis aus ihr ganze Wagenladungen mit ungenießbarem Hering geworden waren. Und wenn es einmal hieß, dass der schonensche Hering nicht mehr der Hering sei, der er früher mal war, dann bekamen das nicht nur die Rostocker Schonenfahrer zu spüren, sondern auch die Stralsunder, die Lübecker und die Wismarer.

Wer sich also im Sommer auf der Vitte behaupten konnte, wer dort dafür sorgen konnte, dass die Geschäfte der Väter wie geplant erledigt wurden, der konnte auch später das Handelshaus der Familie weiterführen. Kurz: Die Söhne der Rostocker Kaufleute lernten in den Vittensommern ihr Geschäft. Wie Könige ihre Untertanen, so mussten sie die Jungen und die Mädchen beherrschen, die für ihre Ratsfamilie in den Vittensommer gefahren waren. Sie mussten die Salzvorräte kalkulieren und vor den anderen Gruppen verteidigen. Und sie mussten es nach den Sommern schaffen, wieder Frieden zu schließen. Denn die eiserne Regel seit Jahrhunderten ist: Alles was auf der Vitte geschieht, bleibt auf der Vitte. Das war schon immer so und es ist diese Regel, die dafür sorgt, dass die Rostocker Ratsfamilien meist unter sich bleiben, wenn es darum geht, die frei gewordenen Stühle in der blauen Stube neu zu besetzen.

Und im Frühling bekamen manche von den Mädchen, die ein Jahr zuvor mit auf der Vitte gewesen waren, ihre unehelichen Kinder – gezeugt in den Grasdünen südlich von Falsterbo. Manche von ihnen wurden im Nachhinein mit einer Heirat legitimiert. Aber längst nicht alle. Ich bin auch so ein Schonenkind. Obwohl ich nie erfahren habe, wer mein Vater ist, so hat die Stadt doch immer für mich gesorgt – uns Schonenkindern wurden die gleichen Rechte zuerkannt wie den ehelichen Kindern. Deshalb bewahrten die jungen Mütter auch das Geheimnis um ihren Sündenfall. Wenn sie versuchten, den Vater des Kindes öffentlich zu machen, wenn sie ihn an seine Verantwortung oder gar an seine Liebesworte erinnerten, schadeten sie sich und dem Kind so, dass sie die Stadt verlassen mussten. Auch deshalb hatte ich keine Not zu leiden – ich bin ein Schonenkind, also hilft man mir.

Nach diesem oder jenem Glauben hat in diesen Heringssommern niemals jemand gefragt. Auf der Vitte gab es genügend andere Aufgaben zu bewältigen und auch ohne Pfaffen und Scholastiker genügend Gelegenheiten zum Streit. Der Tag des Herrn wurde dort nur wenig geheiligt, denn auch der Hering – wenngleich eines der Geschöpfe Gottes – hatte die Bibel nicht gelesen und niemand brachte es übers Herz, den Strom der silbernen Fische einen ganzen Tag lang unnütz an der Vitte vorüberziehen zu lassen. So lange man im Licht etwas erkennen konnte, wurde gearbeitet. Die Hände der Fischermädchen wurden beim Ausnehmen der Heringe rissig, beim Einsalzen und beim Einstapeln in die Tonnen schmerzten sie weiter und erst wenn die Haut nach einigen Wochen hart und schwielig geworden war, konnten sie lernen, dass man auch während dieser Arbeit lachen und schwatzen konnte. Der Fang war nicht weniger hart. Immer im Kampf mit den Möwen, die natürlich die Heringsströme auch für sich entdeckt hatten und sowohl an Land als auch auf dem Wasser ständig um uns waren mit ihrem Geschrei und ihrem ätzend stinkenden Schiss.

In den Booten arbeiteten wir meistens in der prallen Sonne und mit den immer weiteren Wegen auf den Öresund hinaus war das Einholen der immer vollen Netze eine Qual, die jeden Morgen von Neuem begann. Nur wer am Marschenfieber erkrankte, das von den Mücken in den vielen Wasserläufen der flachen Halbinsel in die Vitten getragen wurde, der konnte ein paar Tage lang mit Schüttelfrost im Schatten liegenbleiben. Natürlich gab es nicht nur laue Nächte, sondern auch wochenlang kalten Regen und Sturmfluten, in denen wir uns bis auf dem Burghügel von Skanör flüchten mussten. Es gab Streit um die Huren, die manchmal von Malmö herüberkamen, es gab Diebe und es gab furchtbar aufgedunsene Leichen, die nach den Schiffsunglücken im Öresund am Strand der Nase angeschwemmt wurden, wie die Halbinsel von den Einheimischen genannt wurde.

Doch du weißt, mein Freund, dass die süßen Erinnerungen sich vordrängen. Wenn ich heute an meine Heringssommer zurückdenke, dann sehe ich bierselige Runden an dem Feuer, das Nacht für Nacht an der Nordspitze der Halbinsel entzündet wurde. Dort versammelten sich die Fischer, Ausnehmerinnen, Packerinnen, Böttcher und Schiffer der deutschen Vitten von Danzig bis Hamburg und wir blickten gemeinsam auf die zahllosen Schiffe, die durch den Öresund fuhren. Wir rösteten Krabben und brieten Fisch und wenn es auch oft nur wenige Stunden waren, so kommt es mir heute vor, als hätten wir alle diese Nächte dort im weißen Sand gelegen mit dem Blick in das Sternenzelt. Ich setzte mich so, dass ich auf der anderen Seite des Feuers immer die schwarze Grete sehen konnte, in die ich mich in jedem Sommer aufs Neue verliebte. Sie hieß eigentlich Anna Sassen, doch weil ihr Lachen mich jedes Mal mit der Wucht eines Kanonenschusses traf, nenne ich sie mit ihrem tiefschwarzen Haar nach dem Namen des Dreipfünders, der, anno 1523 gegossen, als Geschütz für das Kuhtor eingeschossen worden war und schließlich den Namen Schwarze Grete erhalten hatte. Ich bekam meine schwarze Grete während der Winter in Rostock jedoch kaum zu Gesicht, weil ihr Vater, der gottesfürchtige und einigermaßen wohlhabende Schuhmacher Hans Sassen aus dem Kirchspiel von St. Petri, sie kaum aus dem Hause ließ. Er war einer der wenigen, der sich dem neuen Glauben und Slüters Predigten verweigerte und lieber am Sonntag zur Messe in die Marienkirche ging, und später, nachdem auch sie lutherisch geworden war, bis nach Kessin fuhr, um in der dortigen Kirche das Abendmahl in der alten Form zu empfangen – selbst auf die Gefahr hin, die zehn Gulden Strafe an den Rat zahlen zu müssen, die auf den Besuch einer Messe nach der alten Lehre standen. Die schwarze Grete wurde während der Heringssommer von ihren Brüdern zuverlässig bewacht, für mich gab es tagsüber nur ein paar verstohlene Blicke, die ich ihr zuwerfen konnte, wenn ich unseren Fang an Land brachte und sie sich ans Ausnehmen machte. Sie war für mich eine zusätzliche Qual in diesen Sommern. Wenn ich sie im Schein des Feuers mit den anderen Mädchen lachen sah und so unendlich begehrte, sie küssen und berühren zu können, dann wollte ich augenblicklich sterben vor Glück und Sehnsucht.

Mein Freund, dort habe ich Bernd Murmann kennengelernt. In seinem ersten Heringssommer war er ein schweigsamer Rotschopf, der die Sonne von Schonen kaum ertragen konnte. Ich hatte schon den dritten Heringssommer vor mir, und wenn ich einen Gulden besessen hätte, ich hätte ihn verwettet darauf, dass dieser schmale Junge nach spätestens drei Wochen darum betteln würde, zurück nach Rostock fahren zu dürfen. Aber ich irrte mich. Bernd Murmann biss sich durch. Wenn ihn jemand beleidigte, auslachte oder zu Boden stieß, dann verkniff er sich die Tränen, stand auf und arbeitete stumm weiter. Doch er vergaß niemals, wer ihn gedemütigt hatte. Seine Rache kam sicher, unerwartet und so, dass man nie wissen konnte, ob es wirklich Murmann gewesen war, der Scherben im Fisch versteckt hatte, an denen sich die Ausnehmerin die Hand aufriss. Oder der das Messerheft gelockert hatte. Oder der den Nagel aus dem Fassdeckel so aufgebogen hatte, dass ich ihn mir in die Hand rammen musste, als ich damals das Fass mit einem Faustschlag verschloss. Irgendwann fiel mir auf, dass Murmann immer, wenn solche Unfälle geschahen, in einiger Entfernung das Geschehen beobachtete – mit einer Falte senkrecht in der Stirn und einem kühlen Blick aus seinen zusammengekniffenen blauen Augen. Auf dem letzten Schiff fuhren wir beide im Oktober jenes ersten Sommers zurück nach Rostock, seine Stirnfalte wurde immer tiefer, je größer der Turm von St. Petri wurde und als ich sah, wie er sich wortlos an seiner Mutter vorbeidrückte, die ihren jüngsten Sohn nach fünf Monaten so sehnlich an der Landungsbrücke der Schonenfahrer erwartete, da hatte ich endgültig Angst vor ihm. Murmann hatte sich als Jüngster unter den Rostocker Vittenbewohnern, selbst mit allen Demütigungen und der harten Arbeit, bei uns wohler gefühlt als zu Hause bei seiner Familie.

Schon im nächsten Heringssommer war aus Murmann ein Mann geworden. Er sorgte dafür, dass der Sohn der Kerkhoffs sich zufällig so am Bein verletzte, dass er schon nach wenigen Tagen nach Rostock zurückgebracht werden musste. Dann übernahm er wie selbstverständlich die Führung in der Kerkhoff-Gruppe und selbst diejenigen, die schon einen Heringssommer mehr hinter sich hatten, ordneten sich ihm unter. Er verzichtete jetzt auf die heimliche Rache ebenso wie auf Reden, sondern schlug augenblicklich, eiskalt und beherrscht zu. Auch auf denjenigen, die meinten, sich grundlos an unseren Frischlingen vergreifen zu können. So sorgte er in der Kerkhoff-Gruppe für eine merkwürdige, von Angst getragene Gerechtigkeit. Aber er stellte auch unter Beweis, dass er in der Lage war, die Arbeiten einzuteilen und zu leiten. Als schließlich der alte Kerkhoff nach Schonen zurückkam, um den Heringssommer zu beschließen, da musste er bekennen, dass der schmale Bernd Murmann, der Sohn eines verbitterten und versoffenen Stückgießers, seine Truhen zuverlässiger gefüllt hatte als jeder seiner Söhne in den Jahren zuvor.

In Murmanns drittem Heringssommer, der mein fünfter und letzter sein sollte, führte er die Gruppe des Ratsherren Pegel. Jetzt konnte er auch sicher mit Worten seine Meinung vertreten – er verhandelte mit dem Vogt der Lübecker Vitte. Und als der Salzfahrer für zwei Wochen ausblieb, war er es, der den anderen Vitten mit Salz für einen guten Preis aushelfen konnte.

Nur vor den Mädchen hatte Murmann Angst. Doch die Huren, die manchmal für ein paar Vollmondnächte von Malmö herüberkamen, hielten das für Schüchternheit. Für sie wurde Murmann dadurch nur noch interessanter, denn sie glaubten wohl, ihn zu einem »ersten Mal« verführen zu können. In einer dieser Nächte zog ihn schließlich eine der Frauen bis hinter Falsterbo an das Südende der Halbinsel, in die verschwiegenen Dünen. Sie meinte wohl, dass er schon bezahlen würde, wenn er erst von ihrem Nektar getrunken hätte. Eine Stunde später sah ich, wie sich Murmann still in seine Bude schlich. Am nächsten Morgen stand der Büttel von Falsterbo mit dem Vogt der Lübecker Vitte in unserer Mitte und fragte, wo der Murmann sei, der die Hure gestern grün und blau geschlagen hatte. Doch auf dem Gebiet der Vitten herrschte Lübisches Recht, wenn der Lübecker Vogt Murmann dem dänischen Büttel nicht ausliefern würde, dann müsste er wieder abziehen. Also war es für uns eine Frage der Ehre, Murmann nicht zu verraten. Er habe den ganzen Abend bei uns am Feuer gesessen, logen wir. Die Dame müsse sich irren – sei sie nicht ohnehin von zweifelhaftem Ruf? So blieb dem Büttel nichts weiter übrig, als Murmann einen langen drohenden Blick zuzuwerfen und unverrichteter Dinge wieder abzuziehen. Murmann hat sich weder bedankt noch jemals ein Wort über diesen Vorfall verloren.

In diesem Sommer hat die schwarze Grete mich endlich entdeckt. Sie war öfter in meiner Nähe, erwiderte meine Blicke und sorgte schließlich geschickt dafür, dass ihre beiden Brüder oft genug woanders zu tun hatten. So nahm ich mir schließlich – das drohende Ende unserer allsommerlichen Zweisamkeit vor Augen – ein Herz und sprach sie an.

Wir hatten zwei wunderbare Abende, in denen wir nebeneinander zwischen den anderen am Feuer saßen, ganz nah. Ihren Brüdern hatte sie den Mund verboten mit dem Hinweis, dass sie dem Vater sonst verraten würde, wie sie es mit der Hure getrieben hätten – gleichzeitig und so laut, dass die Gruppe, die um das Feuer saß, ihren Vergnügungen jederzeit zu folgen vermochte.

Am nächsten Abend fanden Anna und ich auch unsere stille Düne hinter Falsterbo. Als wir dann schließlich im Oktober zurücksegelten, verhakten sich unsere Hände wie von selbst, als wir in Rostock von Bord gingen – alle sollten es sehen: Anna Sassen und Dionysius Schmidt kamen als Paar von Schonen zurück.