Der Tote von der Isar - Frank Schmitter - E-Book

Der Tote von der Isar E-Book

Frank Schmitter

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Beschreibung

Im Leben gerühmt, im Tod vergessen … Der Fund einer Leiche im nördlichen Teil des Flauchers gibt dem Kommissar Gerald van Loren Rätsel auf: Der Tote trägt die Kleidung eines Obdachlosen, doch seine körperliche Verfassung und der Obduktionsbericht sprechen eine andere Sprache. Als sich schließlich die Witwe des Unbekannten auf eine Vermisstenanzeige meldet, stellt sich heraus, dass dieser ein einflussreicher Anwalt war. Gemeinsam mit seinem Kollegen Batzko taucht Gerald ein in die Welt der Münchner Schickeria, in der ein Fehltritt ganze Existenzen ruinieren kann – etwas, das die Ermittler bald am eigenen Leib erfahren sollen … Dieser fesselnde und psychologisch fein gezeichnete Regio-Krimi bietet beste Unterhaltung für alle Fans von Andreas Föhr und Andreas Franz.

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Seitenzahl: 326

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch:

 

Der Fund einer Leiche im nördlichen Teil des Flauchers gibt dem Kommissar Gerald van Loren Rätsel auf: Der Tote trägt die Kleidung eines Obdachlosen, doch seine körperliche Verfassung und der Obduktionsbericht sprechen eine andere Sprache. Als sich schließlich die Witwe des Unbekannten auf eine Vermisstenanzeige meldet, stellt sich heraus, dass dieser ein einflussreicher Anwalt war. Gemeinsam mit seinem Kollegen Batzko taucht Gerald ein in die Welt der Münchner Schickeria, in der ein Fehltritt ganze Existenzen ruinieren kann – etwas, das die Ermittler bald am eigenen Leib erfahren sollen …

eBook-Neuausgabe Juli 2025

Copyright © der Originalausgabe 2013 by btb Verlag

Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: HildenDesign unter Verwendung mehrerer Motive von Shutterstock.com

eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (mm)

 

ISBN 978-3-98952-862-8

 

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Frank Schmitter

Der Tote von der Isar

Kriminalroman

 

dotbooks

Kapitel 1

 

In wenigen Sekunden war die Polizistin nackt. Die blaue Uniform mit dem eng sitzenden Rock über den schlanken Beinen löste sich auf, Zentimeter für Zentimeter, von oben nach unten, und entblößte eine junge Frau mit Löwenmähne, schmaler Taille und ausgeprägten sekundären Geschlechtsmerkmalen. Die Arme verschränkte sie über dem Kopf, das linke Bein züchtig angehoben, um die Scham zu verdecken.

Gerald van Loren drehte den Scherz-Kugelschreiber um, verhalf der Dame damit wieder zu einem schicklichen Aussehen und übergab den Stift seinem Besitzer, Hauptkommissar Batzko.

»Gab es noch weitere kulturelle Höhepunkte auf der Tagung in Paris?«

Sein Kollege nahm den Kugelschreiber an sich.

»Soll ich dir ein paar weibliche französische Vornamen aufzählen?« Batzko lehnte sich zurück, verschränkte die Arme hinter seinem breiten Nacken und grinste, sein Bizeps drohte die Nähte des Kurzarmhemdes zu sprengen. Seine Nackenmuskulatur war so ausgebildet, dass man ein Hochhaus darauf hätte absetzen können.

»Verzichte, du Angeber.«

Batzko zwinkerte ihm zu. Er hatte sich erst vor zwei Tagen rasiert, aber sein intensiver, pechschwarzer Bartwuchs hatte bereits eine dichte Matte entstehen lassen, die einen imposanten Kontrast zum glattrasierten Schädel bildete.

»Dachte ich mir. Apropos Frauen und Verzicht: Hast du deinen Kleinen am Wochenende gesehen?«

Gerald schüttelte den Kopf und fühlte, wie sich sein Magen augenblicklich vor Wut und Enttäuschung zusammenkrampfte. Sein Blick wanderte zum Fenster.

»Nele hat zwei Stunden vor meiner Abfahrt angerufen und gesagt, dass er Fieber hat und absolute Ruhe braucht.«

»Das ist in den letzten zwei Monaten dreimal passiert. Oder täusche ich mich?«

»Du täuschst dich nicht.«

Batzko klopfte mit dem Kugelschreiber auf den Schreibtisch. »Du weißt, dass du dir nicht alles gefallen lassen musst von einer Frau, die sich auf einem idiotischen Ego-Trip befindet?«

»Und was soll ich deiner Meinung nach tun?« Gerald wurde wütend. »Wenn ich zum Jugendamt oder zum Rechtsanwalt gehe, wird unsere Beziehung nur noch komplizierter, und ich würde Severin am Ende gar nicht mehr sehen.«

Batzko schwieg. Er zog die Unterlagen der Tagung über internationale Kriminalität in Paris aus seiner Aktentasche und platzierte sie so, dass jeder Kollege, der das Zimmer betrat, sie unweigerlich sehen musste. Viele aus ihrem Dezernat hätten gerne daran teilgenommen, und Batzko war schließlich einer der wenigen gewesen, die den Polizeipräsidenten hatten begleiten dürfen.

»In meinen Augen ist Nachgiebigkeit eine Form der Dummheit«, sagte er, ohne Gerald anzusehen, und ließ die Tasche wieder hinter seinem Schreibtisch verschwinden.

Gerald antwortete nicht. Es ging ihm nicht darum, seine Rechte durchzusetzen, er wollte nach über vier Monaten der Trennung endlich wieder seine Frau und seinen Sohn zurückhaben, hier in München, in ihrer gemeinsamen Wohnung. Doch er spürte auch, wie sich langsam der Hass in ihm regte, Hass auf Nele, weil sie ihren gemeinsamen Sohn von ihm fernhielt.

Gerald stand unvermittelt auf und stellte sich an das breite Fenster in ihrem Büro. Es war ein heißer Tag Ende August. Nachdem sich gestern gegen Mitternacht ein heftiges Gewitter über München entladen hatte, zeigte der Himmel heute sein strahlendes Blau. Gerald dachte an die dreistellige Zahl an Überstunden, die sich an einem Tag wie diesem am besten in einem Biergarten reduzieren ließe. Er musste nur verhindern, dass Batzko mitkam; Gerald war nicht in der Stimmung für Geschichten aus dem Pariser Nachtleben.

Batzkos Telefon klingelte. Offensichtlich der Anruf eines Kollegen, denn er lehnte sich während des Gesprächs entspannt zurück, ließ Andeutungen über seine Dienstreise fallen, wurde dann augenblicklich ernst, hörte aufmerksam zu und nahm einen Stift, ohne sich allerdings Notizen zu machen. Schließlich beendete er das Telefonat: »Beim nächsten Mal wieder eine schöne Leiche, abgemacht?«

Er ließ den Hörer auf das Telefon knallen und wendete sich seinem Kollegen zu. »Die Jungs vom Kriminaldauerdienst haben möglicherweise etwas für uns. Ist aber extrem unsympathisch, eine Montagsleiche eben. Männlich, ungefähr fünfzig Jahre alt, keine Ausweise oder sonst etwas, mit dem man ihn identifizieren könnte. Der Kleidung nach zu urteilen ein Obdachloser, aufgefunden im Grünstreifen zwischen der Isar und dem Oertlinweg, also am nördlichen Teil des Flauchers. Nach der ersten Einschätzung des Notarztes ist der Tod gestern Abend zwischen zweiundzwanzig und vierundzwanzig Uhr eingetreten, eine Wunde mit Blutspuren am Kopf könnte auf ein Gewaltdelikt hindeuten. Vielleicht ist der Mann aber auch nur gestürzt. Die Spurensicherung konnte ihre Köfferchen gleich geschlossen halten: Das nächtliche Gewitter wird mögliche Feinspuren definitiv ertränkt haben. Aber sie suchen natürlich nach Gegenständen und dergleichen mehr.«

»Das heißt konkret ...?«

»Dass wir auf den Anruf aus der Gerichtsmedizin warten werden. Wenn die Obduktion zeigt, dass es sich nicht um eine natürliche Todesursache handelt, haben wir die Arschkarte und dürfen ermitteln, ob ein Tippelbruder einem seiner Kollegen den Schädel eingeschlagen hat. Wegen eines Schlucks Alkohol, einer Zigarette oder einer Decke für die Nacht, was weiß ich. Was für ein Glück – ich hatte schon Angst, mit ein paar Kumpels eine entspannte Grillparty veranstalten zu müssen, Kollege.« Batzko versuchte sich an einem ironischen Lächeln, das ihm aber misslang. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Er wirkte plötzlich in sich gekehrt.

»Unter der Wittelsbacherbrücke und der Brudermühlbrücke haben einige ihren Schlafplatz«, sagte Gerald. »Kann sein, dass unser Freund losgezogen ist, um sich etwas Essbares zu schnorren und ein Bier. Am Flaucher werden gestern einige gegrillt und Party gemacht haben. Bis sie das Gewitter alle verjagt hat.«

Batzko gab keine Antwort.

»Kannst du dich an das Gespräch neulich in der Kantine erinnern? Jemand hatte erzählt, dass einige Anwohner eine Art Bürgerwehr gründen werden, weil sie die Verschmutzung an der Isar, den Lärm und die Ausschreitungen nicht länger hinnehmen wollen. Sie denken sogar daran, Streifen zu organisieren, weil die Polizei in ihren Augen natürlich nichts unternimmt. Wenn es nach ihnen ginge, sollten wir die Obdachlosen wahrscheinlich einsammeln, in Eisenbahnwaggons sperren und über die Landesgrenzen schaffen. Wenn ich mich richtig erinnere, wohnt einer der Wortführer in der Nähe des Tatorts. Ich kann mich aber nicht mehr an den Straßennamen erinnern.«

Batzko reagierte nicht und blätterte nur stumm und mit düsterer Miene in seinem Aktenordner.

Kapitel 2

 

Um siebzehn Uhr kam der Anruf der Gerichtsmedizin. Der Tote von der Isar war nicht aufgrund einer natürlichen Ursache gestorben. Die Arschkarte also, wie Batzko meinte.

Auf dem Weg in die Nußbaumstraße schaltete er das Radio ein, ganz gegen seine Gewohnheit. Gerald bemerkte, dass die Haut unter dem gepflegten Dreitagebart blasser war. Mehrmals zog sein Kollege, der wie immer am Steuer saß, die Unterlippe zwischen die Zähne, was er nur tat, wenn ihn der Computer ärgerte. Gerald überlegte, ob er bei Nele wegen des ausgefallenen Wochenendes einen Extrabesuch bei Severin einfordern sollte.

Der diensthabende Forensiker, ein junger Mann, den Gerald bisher noch nicht kennengelernt hatte, wartete im Flur auf sie. »Dr. S. Hornung« stand auf seinem Namensschild auf dem grünen Kittel. Er war sehr klein, mit dünnen Armen, einem schmalen, blassen Gesicht und nickte den beiden Polizeibeamten nur kurz zu, ohne ihnen die Hand zu geben. Gerald sah, dass der Arzt seine Gummihandschuhe nicht ausgezogen hatte.

»Hier ist etwas ziemlich merkwürdig«, sagte er und deutete auf die Kleidung, die auf einem Metallwägelchen im Flur lag. Verschlissene Schuhe ohne Schnürsenkel, eine alte, stark verdreckte Hose, ein ebensolches Hemd, dazu Unterhose, Unterhemd, ein Hut mit breiter Krempe. Was soll daran nicht stimmen?, dachte Gerald. Es handelte sich schließlich um einen Obdachlosen, nicht um einen Investmentbanker.

Er drehte sich kurz um, damit die anderen beiden nicht sahen, dass er sich zwei Pfefferminzbonbons in den Mund schob. Gerald hoffte, dass sie zumindest ein wenig gegen die Gerüche helfen, mit denen er in wenigen Sekunden konfrontiert werden würde.

»Folgen Sie mir!« Dr. Hornung öffnete die Tür zum Sezierraum. Es war niemand außer ihnen anwesend – wenn man von dem Leichnam unter der grauen Plastikdecke absah. Auf einem Beistelltisch lagen das schmale Aufnahmegerät des Mediziners und ein digitaler Fotoapparat. Alle Instrumente waren bereits gesäubert wieder an ihrem Platz, und dennoch war die Luft getränkt von dem süßlich-schweren Leichengeruch.

Batzko presste die Lippen aufeinander, als Dr. Hornung zunächst das Gesicht des Toten freigab. Nach wenigen Sekunden entspannten sich die Züge des Kommissars etwas, er schloss kurz die Augen und blies die Luft durch die Backen, aber sein Blick wirkte starr, er hörte nicht auf, den Leichnam zu fixieren.

»Kennen Sie den Mann etwa?«, fragte der Mediziner überrascht.

»Natürlich nicht«, fuhr Batzko ihn an. »Das würde auch nichts an Ihren Ergebnissen ändern, oder? Sagen Sie uns doch einfach, was Sie herausgefunden haben und was Ihrer Meinung nach so merkwürdig sein soll.«

»Verzeihung. Ich wollte nicht aufdringlich sein.« Dr. Hornung klang beleidigt. Er kontrollierte den Sitz seiner Brille und wandte sich der Leiche zu. »Todesursache ist ein heftiger Schlag mit einem festen Gegenstand auf den Kopf, oberhalb der rechten Schläfe, der zu einer Hirnblutung geführt hat. Einen Sturz schließe ich definitiv aus. Sie sehen ja die Wunde, die der Schlag oder auch ein Wurf aus kürzerer Distanz aufgerissen hat. Wenn er von einer Brücke oder dergleichen gefallen wäre, müsste der Körper weitere Verletzungen aufweisen. Es könnte sich um einen Stein vom Isarufer handeln. Ich weiß, dass man den Toten nicht direkt am Fluss gefunden hat. Aber es ist gut vorstellbar, dass er vom eigentlichen Tatort ein paar Meter flüchten konnte, bis er schließlich das Bewusstsein verloren hat. Meiner Einschätzung nach hätte er durchaus gerettet werden können, wenn man ihn nicht erst morgens gefunden hätte. Seine Konstitution war nämlich – damit komme ich zu dem, was ich eingangs erwähnte – bemerkenswert, insofern sie einem Mann in seinem Alter entspricht. Das heißt auch, dass seine körperliche Verfassung auf mich nicht so wirkt, als ob er seit unbestimmter Zeit auf der Straße gelebt hätte. Was konkret meint: keine schlecht verheilten Wunden an den Beinen, keine Hautinfektionen, keine Hämatome oder Kratzspuren von körperlichen Auseinandersetzungen, von Flöhen oder Ungeziefer gar nicht erst zu reden. Er hatte Alkohol im Blut, sogar beträchtlich, aber in keiner lebensbedrohlichen Konzentration. Auch seine Zähne sind äußerst gepflegt, er verfügt über diverse Goldinlays und zwei Implantate. In einem Satz: Das Outfit ...«, Dr. Hornung wies mit der rechten Hand auf die Tür zum Flur, wo sich die Kleidung des Toten befand, »... hat mit dem hier ...«, mit der linken deutete er auf den Leichnam, »... nichts zu tun. Es sei denn, er hätte seine Karriere als Clochard gerade erst begonnen. Möglicherweise hat ihm auch jemand einen mehrwöchigen Wellness-Aufenthalt mit fünf Sternen spendiert, der ihn wieder vollständig regeneriert hätte. Oder er spielt in einer Münchner Laientheatergruppe einen Bettler und hat sich nach der Probe an der Isar entspannt. Aber was rede ich – letztlich ist es Ihre Aufgabe, genau das herauszufinden.«

Gerald betrachtete den Kopf des Toten. Der Mann hatte kurze, überwiegend weißgraue Haare und einen breiten, gepflegten Oberlippenbart. Dieser wirkte umso dominanter, weil die Augenbrauen sehr schmal und durch die helle Farbe beinahe durchsichtig waren. Die Stoppeln am Kinn, an den Wangen und am Hals dürften nicht älter als zwei Tage sein. Es war ein maskulin geschnittenes, aber auch eher unauffälliges Gesicht, dem man jeden Tag in einer Verwaltung, einem Geschäft, einem Restaurant begegnen konnte, ohne es sich zu merken.

»Merkwürdig«, sagte Gerald. Mehr fiel ihm dazu einfach nicht ein.

Batzko schlug die Abdeckung zurück und warf einen Blick auf die Füße, die so gepflegt wirkten, als hätte sich der Tote gerade erst eine Pediküre gegönnt.

»Was mich angeht«, sagte Dr. Hornung mit Blick auf Gerald van Loren, »bin ich mit meinen Untersuchungen fertig, die erforderlichen Flüssigkeiten und Gewebeproben sind entnommen. Wir lassen den Toten also vorläufig in der Kühlung. Ich kann Ihnen mit nichts weiter dienen als den Fotos. Kein Schmuck, kein Ring, keine Tätowierungen, lediglich eine klassische Blinddarmnarbe. Keine besonderen physischen Merkmale. Ich würde aufgrund der unterdurchschnittlich entwickelten Muskulatur und der schmalen, gepflegten Hände vermuten, dass der Tote seinen Lebensunterhalt mit geistiger Arbeit verdient hatte.«

»Dann können wir Beamte und Verwaltungsangestellte der Landeshauptstadt also ausschließen«, kommentierte Batzko mit einem Augenzwinkern. Es war deutlich, dass ihm sein schroffes Verhalten leid tat und er versuchte, die Atmosphäre wieder etwas zu entspannen. Aber der Forensiker wich seinem Blick aus.

»Ich werde Ihnen die Bilder und meinen Bericht heute noch mailen, bevor ich mich in den Feierabend verabschiede. Der Biergarten ruft«, sagte Dr. Hornung und machte zwei Schritte in Richtung Tür. »Aber halt, fast hätte ich es vergessen. Der Tote hatte zwei Schlüssel in seiner Hosentasche.«

Er nahm ein kleines, durchsichtiges Plastiktütchen, das auf dem Tisch neben ihm lag, und übergab es Gerald. Es handelte sich um einen einfachen Ring, an dem zwei Schlüssel befestigt waren, ein größerer, aufwändig gearbeiteter, und ein kleinerer. Sie sahen aus wie zwei einfache Wohnungsschlüssel, ohne Anhänger, Namensschildchen oder andere Hinweise.

Sie verabschiedeten sich von dem Gerichtsmediziner und gingen zum Parkplatz. Als sie im Auto saßen und Batzko den Autoschlüssel in das Zündschloss stecken wollte, griff ihm Gerald in den Arm.

»He! Spinnst du?«

»Ich will wissen, was mit dir los ist.«

Batzko schaltete das Radio ein. »Geht dich das etwas an?«, brummte er.

»Mich geht es dann etwas an, wenn wir einen Fall zu lösen haben und du nicht bei der Sache bist«, sagte Gerald und schaltete das Radio wieder aus. »Seit dem Anruf vom Kriminaldauerdienst bist du mit deinen Gedanken irgendwo anders. Keine Ahnung, wo. Aber ich weiß, dass wir unter diesen Umständen nicht weit kommen werden.«

Batzko hob in gespielter Gleichgültigkeit die Schultern und richtete den Blick geradeaus auf die Parkplatzmauer. Ihr Wagen stand so, dass das Sonnenlicht direkt in das Innere schien. Batzko schwieg lange, so lange, bis erste Schweißperlen am unteren Rand des Dreitagebartes sichtbar wurden.

»Ich habe einen Bruder«, sagte er schließlich mit einer ungewohnt leisen Stimme, den Blick weiter nach vorne gerichtet. »Vielleicht müsste ich sagen: Ich hatte einen Bruder. Ich weiß es eben nicht. Acht Jahre älter als ich. Mein Vater war Hilfsarbeiter auf dem Bau. Als ich kam – ungewollt, sozusagen ein betriebsbedingter Unfall, als mein Vater wie üblich betrunken aus der Kneipe nach Hause torkelte –, war meine Mutter mit den Nerven schon komplett am Ende. Nie Geld in der Tasche, ihr jähzorniger, primitiver Mann alkoholabhängig und dann noch ein zweites Kind, das durchgebracht werden musste. Dann ist sie, ich war dreieinhalb, bei einem Verkehrsunfall gestorben. Manche sagen auch, sie hat es einem Lastwagen sehr schwer gemacht, ihr auszuweichen. Wie auch immer – unbewusst gab mein Vater uns Kindern die Schuld. Er hat uns regelmäßig geschlagen; wenn er nach Hause kam, hatte er immer schon einige Maß intus, und weil er keine Frau mehr hatte, die er ins Schlafzimmer sperren konnte, hat er sich an uns gehalten, mit dem Rohrstock.«

Batzko zog ein Taschentuch aus der Hosentasche, wischte sich den Schweiß vom Hals und fuhr sich mit der Hand in einer schnellen, wie zufälligen Bewegung über die Augen.

»Mein älterer Bruder ist mit dreizehn zum ersten Mal abgehauen. Wurde aber wieder aufgegriffen, zurück nach Hause gebracht und musste noch mehr Prügel einstecken, bis zur nächsten Flucht. Er hat von Kleindiebstählen gelebt, hat Frauen auf der Straße die Geldbörse geklaut und was weiß ich nicht alles ... Jugendgefängnis, Besserungsanstalt, das volle Programm. Er hat sich nur noch rumgetrieben, im Sommer in München und Umgebung, im Winter irgendwo im Süden. Zum letzten Mal habe ich vor fünf, sechs Jahren etwas von ihm gehört. Da hat er sich mit einer offenen Bierflasche mit einem Kumpel duelliert. Es ging um eine Immobilienangelegenheit, also wer seinen Schlafsack wohin legen durfte. Da ging es meinem Bruder schon gesundheitlich mies, obwohl er natürlich den Kampf gewonnen hat. Die Familiengene eben.«

Er lächelte säuerlich, verschränkte die Finger ineinander und ließ die Knöchel knacken.

»Und du hast dich in den Kampfsport und anschließend in den Polizeidienst geflüchtet?«

Batzko hob die Augenbrauen und legte den Kopf schief. »Übertreib es nicht, Partner. Du bist der Einzige, dem ich jemals davon erzählt habe. Das heißt aber nicht, dass du eine Lizenz zum Küchenpsychologen bekommst.«

Gerald seufzte. »Es fällt dir offensichtlich schwer zu akzeptieren, dass mir deine Probleme nicht egal sind.«

»Ich habe keine Probleme«, sagte Batzko, und seine Stimme hatte wieder zu ihrer schneidenden Klarheit zurückgefunden. »Du hast Probleme mit einer extrem nervenden zukünftigen Ex. Das ist jedenfalls meine Meinung.«

Batzko lenkte den Wagen energisch aus der Parklücke und fuhr mit aufheulendem Motor davon. Aber das Radio ließ er ausgeschaltet.

 

Tatsächlich fanden die beiden Kriminalbeamten die Informationen des Forensikers bereits in ihrem Mailpostfach, als sie in die Ettstraße zurückgekehrt waren. Gerald legte ein Aktenzeichen an und speicherte die Daten ab, Batzko verschickte die Bilder an die Dienststellen, die regelmäßig mit Wohnungslosen zu tun hatten, und an die Abteilung für Vermisstenanzeigen.

»Ich packe es dann«, meinte er wenige Minuten später und schaltete den Computer aus. Gerald konnte sich denken, wohin er wollte. An Tagen wie diesem wurde München von einem ganz bestimmten Sog erfasst. Die Luft flirrte vor der Lust nach Entspannung. Quälend lange Besprechungen unter Abteilungsleitern fanden ein überraschend schnelles Ende, Richter und Beisitzer verständigten sich nach einem kurzen Blick aus dem Fenster auf ein Urteil, Angestellte waren dankbar für die Errungenschaft der Gleitzeit, und ungezählte Telefonate kannten nur ein Thema: den Biergarten, wo sich die Münchner trafen, wo man über Wochenendpläne redete und über die schimpfte, die nicht genug arbeiteten.

Doch Gerald zog es nicht in ein Lokal oder einen Biergarten. Und auch nicht in die leere Wohnung, in der wieder einmal niemand auf ihn wartete. Die Trennung von Nele und Severin steckte ihm immer noch in den Knochen, er wollte allein sein mit seinen Gedanken, und so entschied er sich für einen Spaziergang.

Ziellos schlenderte er über die Lindwurmstraße, betrachtete die Auslagen in den Schaufenstern, ohne sich für die Waren zu interessieren, blieb immer wieder stehen und sah Passanten hinterher. Dann beobachtete er, wie eine Frau in einem Mercedes älterer Bauart rückwärts einparken wollte. Der erste Versuch schlug fehl, sie hatte so weit eingeschlagen, als ob sie auf der Straße hätte wenden wollen. Auch der zweite Versuch scheiterte mit demselben Ergebnis. Also fuhr sie erneut aus der Lücke, setzte brav den Blinker, drehte den Kopf nach hinten – und musste hilflos mit ansehen, wie ein junger Mann in einem Golf-Cabriolet aus dem fließenden Verkehr heraus die Parklücke besetzte, in einem einzigen Versuch, von vorne. Gerald blieb auf dem Bürgersteig in Höhe des Golfs stehen. Er beobachtete, wie die Frau in dem Mercedes die Hände um das Lenkrad krampfte, wie sie tief Luft holte und sich ihre Lippen bewegten, als würde sie sich selbst Mut zusprechen – und schließlich ausstieg. Zwischenzeitlich hatte der Golf-Fahrer das Verdeck per Knopfdruck geschlossen und das Handy in die Hosentasche gesteckt.

»Haben Sie nicht gesehen, dass ich einparken wollte? Ich hatte den Blinker gesetzt«, sagte die Frau mit mühsam beherrschter Stimme. Gerald schätzte sie auf etwa Mitte dreißig, sehr klein und sehr schmal. Die Sehnen an ihrem Hals traten hervor. Auf ihrer blassen Haut zeigten sich rote Flecken, sie war sichtlich nervös.

Der Mann hängte die Sonnenbrille lässig in den Ausschnitt seines T-Shirts. Er war deutlich jünger als die Frau, vielleicht Anfang zwanzig, und trug eine weiße Leinenhose, die mittellangen Haare hatte er mit viel Haargel aus dem Gesicht gestrichen.

»Tja, so kann’s gehen«, antwortete er lediglich und setzte ein schiefes Grinsen auf. »Erst hat man kein Glück, und dann kommt auch noch Pech dazu.«

Weit und breit war keine Parklücke mehr in Sicht, und der in zweiter Reihe haltende Mercedes blockierte den Verkehr.

»Sie haben kein Recht dazu, und das wissen Sie. Ich stand bereits auf genau diesem Platz und musste nur noch einmal raus, um besser einzuparken. Ich hatte den Blinker gesetzt, das haben Sie doch wohl gesehen.«

Der Golf-Fahrer zuckte erneut desinteressiert die Schultern. »Dann nimm noch ein paar Fahrstunden, dann passiert dir das nächstes Mal nicht mehr.« Er ließ die Frau stehen und ging auf den Bürgersteig, direkt auf Gerald zu.

»Das dürfen Sie nicht«, die Stimme der Frau hatte bereits eine schrille Tonlage erreicht. Den Oberkörper beugte sie nach vorne, doch so klein und zart, wie sie war, wirkte ihre drohende Haltung nur unfreiwillig komisch.

Der junge Mann drehte sich zu ihr, schüttelte langsam den Kopf, als hätte er es mit einer Begriffsstutzigen zu tun, und sagte von oben herab: »Und? Was willst du jetzt machen, du Schnalle? Die Polizei rufen?«

»Das ist gar nicht mehr nötig.« Gerald hielt seinen Dienstausweis direkt vor das Gesicht des Mannes. Der wich verdutzt zurück und sah mit hochgezogenen Brauen abwechselnd zu der Frau und Gerald, als vermutete er eine Absprache oder eine Art Fernsehfalle, in die er getappt war.

»Okay, junger Mann. Sie haben es in einem einzigen Versuch in die Parklücke geschafft. Wetten, dass Sie es auch in einem einzigen Versuch heraus schaffen werden?«, sagte Gerald trocken.

Der Fahrer zog eine Schnute, die ihn mit einem Mal noch ein paar Jahre jünger wirken ließ. Ohne zu antworten, setzte er die verspiegelte Sonnenbrille auf, stieg in den Wagen, wartete aber mit dem Starten des Motors so lange, bis das Verdeck komplett geöffnet war. Dann fuhr er, indem er das Lenkrad nur mit dem Handballen bewegte, aus der Parklücke. Als er sich in den Verkehr eingefädelt hatte, hupte er und hob den rechten Arm senkrecht in die Höhe, mit ausgestreckten Fingern, die er nacheinander einknickte. Als Letztes den Mittelfinger, den er lang genug ausgestreckt hielt für eine besondere Botschaft, aber wiederum nicht lang genug, um ihm eine Anzeige ins Haus flattern zu lassen.

»Und jetzt noch einmal mit aller Ruhe«, sagte Gerald zu der Frau. »Ich warte so lange und gebe Ihnen Zeichen.«

Sie nickte ihm dankbar zu. Doch in ihrem Gesicht spiegelten sich immer noch die Angespanntheit und Nervosität. Ihr rechtes Augenlid flatterte. Sie atmete tief ein und stieg in den Wagen.

Gerald wartete, eine halbe Minute, eine ganze Minute, aber der Motor des Mercedes blieb ausgeschaltet. Schließlich ging er zum Wagen, klopfte an die Scheibe der Beifahrertür und stieg ein.

»Ist Ihnen nicht gut?«

Die Frau antwortete nicht. Ihre Stirn fiel auf das Lenkrad, und sie begann bitterlich zu weinen.

Kapitel 3

 

Obwohl sie es nicht klar aussprachen, rechneten Gerald und Batzko in keiner Minute mit einer Erfolgsmeldung aus dem Obdachlosenmilieu. Die Kollegen von der Streife zeigten das Foto des Toten überall herum, unter den Isarbrücken, in den Unterkünften der Caritas, bei der Bahnhofsmission, beim Sozialamt, bei Anlaufstellen für psychisch Kranke.

Die Dienststelle für vermisste Personen überprüfte die aktuellen Fälle und recherchierte in den regionalen und überregionalen Datenbanken.

Doch der entscheidende, erlösende Hinweis kam nicht. Stattdessen erhielt Gerald einen Anruf, auf den er gerne verzichtet hätte. Seine Schwiegermutter teilte ihm mit, dass Severin an einem Darminfekt erkrankt war und absolute Ruhe brauchte. Gerald hätte am liebsten zwei Fragen gestellt: Warum Nele nicht selbst angerufen hatte und ob Väter grundsätzlich als Ruhestörer angesehen wurden? Doch er erkundigte sich lediglich, ob er das übernächste Wochenende einplanen könne. Seine Schwiegermutter antwortete in arktischer Kühle, dass sie sich in keiner Weise zu einer Auskunft ermächtigt sähe. Das würde Nele zu gegebener Zeit selbst entscheiden.

Nach dem Mittagessen informierte sich Gerald bei einem Kollegen über die vermeintliche Bürgerwehr an den Isarauen von Untergiesing. Er bekam einen Namen, Hans Minker, und eine Adresse in der Sterzingerstraße, gut hundert Meter nördlich des Oertlinwegs.

 

Noch am selben Abend standen sie vor einem Backsteinreihenhaus direkt an den Isarauen. Der Fluss war nicht zu sehen, die Bewaldung war zu dicht. Und man hörte auch keine Geräusche, die die abendliche Idylle störten, wenn man von wenigen Fahrradfahrern oder Fußgängern absah, deren mitgeführte Radios Lieder in die Luft streuten, die so flüchtig waren wie Pollen. Die einzige akustische Störung kam aus dem Garten eines der angrenzenden Häuser, wo eine Motorsäge ihre Zähne immer wieder in einen Holzblock grub.

Gerald wollte gerade zum dritten Mal auf die Klingel drücken, als die Tür geöffnet wurde. Vor ihnen stand ein mittelgroßer, untersetzter Mann in einem hellen T-Shirt und einer blauen Trainingshose. Das dünne, dunkle Haupthaar war streng nach hinten gekämmt und fiel bis tief in den Nacken, was seinem Gesicht etwas zugleich Unzeitgemäßes und Aggressives verlieh. Obwohl der Mann nicht größer war als Gerald, schien er auf ihn herabzublicken.

»Sie sind die Herren von der Polizei?« Hans Minker trat zur Seite und hob entschuldigend die Arme. In seinen Händen hatte er mehrere Lagen Toilettenpapier, die mit Blut verschmiert waren.

»Gehen Sie voraus«, sagte er und deutete mit einer knappen Kopfbewegung, die eher einem Unteroffiziersbefehl als einer Einladung glich, auf das Wohnzimmer am anderen Ende der Diele. »Nehmen Sie Platz, ich muss mich noch schnell um meinen Jungen kümmern.«

Die Kommissare betraten das Wohnzimmer, das von einer mächtigen Schrankwand, einer Couchgarnitur aus schwarzem Kunstleder und einem ovalen Tisch mit Glaseinsatz dominiert wurde. An der gegenüberliegenden Wand thronte ein großer Fernseher, davor lag eine Landschaft aus bunten Kassetten mit Spielen und Videofilmen, einer Spiele-Konsole und die mit ihr verkabelten Bedienungsgeräten. Dort, wo ein Garten hätte sein können, befand sich lediglich eine quadratische Fläche gepflastert mit Steinen, auf dem ein rechteckiger Tisch mit vier Stühlen in Kippstellung stand. Ein mannshoher Gitterzaun umrahmte diese Sitzgruppe. Der Abstand zum Fußweg entlang den Isarauen war so gering, dass man einem Spaziergänger ein Glas Wasser hätte reichen können.

»Sie dürfen sich setzen«, sagte Hans Minker, als er das Wohnzimmer betrat. »Kostet bei mir alles dasselbe.«

Er sächselte, und zwar so deutlich, dass nicht zu erkennen war, ob er es bewusst tat oder es auch mit größtem Bemühen nicht verbergen konnte.

Die beiden Kommissare setzten sich auf die Couch, Minker nahm den Sessel ihnen gegenüber. Seine Schultern waren so breit, dass der Fernseher hinter ihm fast verschwand.

»Ich habe bei meinem Sohn den Verband gewechselt. Es gibt so ein paar ... drücken wir es einmal ganz, ganz vorsichtig aus: Verbrecher, die Bierflaschen zerschmettern und die Scherben so geschickt zwischen den Kieseln verstecken, dass man sie erst dann findet, wenn man mit den nackten Füßen draufgetreten ist. Vor drei Wochen hat es meinen Ältesten erwischt, am Sonntagnachmittag den Jüngeren. Sind halt Brüder, könnte man sagen. Ist aber keine Freude, die schreienden Bälger ins Krankenhaus zu fahren.«

»Hat man die Verantwortlichen gefasst?«

»Verantwortliche nennen Sie die?« Minker beugte sich nach vorne und hob in einer schnellen Bewegung den Kopf, als wollte er Gerald provozieren. »Wo übernehmen die denn Verantwortung? Natürlich hat man niemanden gefasst. Wie sollte man auch, wenn Ihre Kollegen sich hier nie blicken lassen. Und selbst wenn: Dann hätte man sie in vielleicht zwei, drei Jahren mal zur Anhörung bei einem Richter gebeten, und anschließend hätten sich meine Söhne bei ihnen entschuldigen müssen, weil ihre Eltern einer geregelten Arbeit nachgehen und brav ihre Steuern zahlen. So läuft das doch mittlerweile bei uns. Der normale Bürger darf nur die Klappe halten und zahlen. Für die Täter stehen sie alle Schlange, die Psychologen, die Sozialpädagogen, die Betreuer, die Resozialisierer und wie sie alle heißen. Dann bringt man dem Pack bei, dass das kaputte Elternhaus und die böse Gesellschaft an allem schuld sind, und dann spendiert man ihnen auf Kosten der Steuerzahler einen Segeltörn, damit sie in Zukunft die Fäuste in der Tasche lassen. Dass ich nicht lache. Fragen Sie mich mal, ob einer von diesen Berufsverstehern, von diesen Sozialpädagogen und Psychologen bei meinen Söhnen war? Kommt jemand von denen, um ihnen den Verband zu wechseln, wenn er durchgeblutet ist? Und mit ihnen zu reden, sie zu trösten? Nein, keiner. Keine Menschenseele. Wozu auch, sie sind ja nur das Opfer.«

Von seinem Platz konnte Gerald einen Teil des Nachbargrundstücks einsehen. Während Minkers Monolog hatte sich ein älteres Ehepaar am Zaun gezeigt. Sie taten so, als würden sie die Blumen betrachten, bückten sich hin und wieder, um etwas Unkraut aus der Erde zu zupfen, aber es war offensichtlich, dass sie wissen wollten, wer da im Wohnzimmer ihres Nachbarn saß. Als Gerald die Hand zum Gruß hob, schauten sie irritiert weg und räumten schließlich ihren Beobachtungsposten.

»Ist das ein Grund, warum Sie und weitere Anwohner abends gelegentlich selbst nach dem Rechten sehen?«

»Wer sagt das?«

»Wir können zwar keine Hundertschaften abstellen, die das Isarufer nach Scherben absuchen«, sagte Batzko, »aber alles entgeht uns trotzdem nicht. Außerdem liegt derzeit eine Anzeige gegen Sie vor, wegen Körperverletzung.«

Gerald war von seinem Kollegen überrascht. Normalerweise war er es, der die Datenbanken abgraste, um sich auf ein Gespräch vorzubereiten. In diesem Fall hatte wenigstens Batzko daran gedacht.

Minker machte eine abfällige Handbewegung. »Ich war alleine unterwegs, habe meine Runde gedreht, wie jeden Abend. Da standen zwei Kroaten oder Jugoslawen oder Albaner – ist ja auch egal –, die gegrillt hatten und ihre Überreste der Allgemeinheit überlassen wollten. Haben wohl gedacht, weil es dunkel ist, sieht sie niemand. Und dann ... wie es eben so läuft ... ein Wort ergibt das andere, und dann hatte einer von denen ein Grilleisen in der Faust. So schnell konnte er es gar nicht heben, wie der am Boden lag. Ich nenne so etwas Selbstverteidigung. Zwölf Jahre bei der NVA hinterlassen einem eben etwas, auch wenn man das nicht laut sagen darf. Aber die beiden waren halt zu zweit, und da, wo die herkommen, hat immer nur der eigene Clan Recht. So wachsen die auf, anders kennen die es ja nicht. Also haben sie bei Ihren Kollegen auf dem Revier eine Märchenstunde abgehalten, und mir flattert eine Anzeige in den Briefkasten. Ich habe eben den Fehler gemacht, alleine zu gehen. Aber ich hoffe, das ändert sich in der nächsten Zeit. Viele Nachbarn sind bereit, sich zu organisieren.«

»Sind Sie auch vorgestern Abend, am Sonntag also, draußen gewesen, um nach dem Rechten zu sehen?«, fragte Batzko.

»Ich gehe jeden Sonntagabend spazieren. So tanke ich Energie für die kommende Woche.«

»Welche Uhrzeit?«

»Gegen zehn Uhr normalerweise. Nach dem ›Tatort‹, bevor die Seuche der Quatschsendungen wieder beginnt, gehe ich zu meinen Söhnen ins Schlafzimmer und dann noch einmal raus. Bei Wind und Wetter übrigens, zu jeder Jahreszeit. Ich habe das alles mit eigenen Augen gesehen, was sie an der Isar gemacht haben, diese Denatu ..., nein, Renovie ... auch nicht.« Er errötete.

»Renaturierung der Isar meinen Sie sicher«, half Gerald aus.

Minker überhörte das. »Deshalb hänge ich so an dem Fluss, wie alle Anwohner hier. Das ist nicht einfach Wasser, das vorbeifließt. Das ist unser Flussabschnitt, nicht eine Müllkippe oder ein Asozialen-Reservat.«

»Haben Sie vorgestern jemanden gesehen, der wie ein Obdachloser aussah, im Bereich zwischen Ihrer Straße und dem Oertlinweg?«

Hans Minker stand auf, ging zur Schrankwand, öffnete eines der zahllosen Fächer und holte eine Tüte mit Erdnüssen und eine Schale heraus. Die stellte er in die Mitte des Tisches, reichte die Tüte den Kommissaren, die dankend ablehnten, und setzte sich wieder auf seinen Platz.

»Nein. Ich erinnere mich jedenfalls nicht. Es ist aber auch nicht so, als ob ich deren Gesellschaft suchen würde.« Er nahm eine Erdnuss, schälte sie sorgsam und legte die Schalen in das Gefäß. »Mal unter uns: Wie läuft das hier in diesem Staat? Der normale Bürger, der arbeitet, der seine Pflicht erfüllt, der für seine Frau und seine Kinder sorgt, ist der Idiot, der Volltrottel. Er ist nur noch eine Steuerkuh, die gemolken wird, damit genügend Geld für die Banken, für die arroganten Bürokraten in Brüssel und für die Sozialschmarotzer da ist. Aber die Zeiten sind vorbei...«

»Darüber wollen wir uns jetzt nicht unterhalten«, unterbrach ihn Batzko mit eindeutiger Schärfe, »für uns ist Ihre Aussage wichtig, ob Sie vorgestern Abend einen Obdachlosen zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht hier in der Nähe gesehen haben.«

Minker steckte mit demonstrativem Wohlgefallen die geschälte Erdnuss in den Mund und schüttelte dann mit gesenktem Blick den Kopf.

»Was machen Sie beruflich?«, fragte Gerald nach einer kurzen Pause.

»Ich bin Abteilungsleiter in einem Baumarkt«, antwortete Minker und presste die Kiefer zusammen, als wollte er verdeutlichen, wie viel Disziplin, Anstrengung und Energie ihn dieser Aufstieg gekostet hatte. Er hatte eine rötliche, bartlose Gesichtshaut, die speckig glänzte, wenn er sich aufregte.

»Gab es in letzter Zeit Auseinandersetzungen mit Obdachlosen? Ich glaube kaum, dass Ihnen das entgangen wäre.«

Minker schien nachzudenken, wie er antworten sollte. Er legte die Stirn in Falten, die kaum sichtbaren Augenbrauen bewegten sich aufeinander zu. »Ist halt die Frage, was Sie mit Auseinandersetzungen meinen. Ich bin wie die Mehrheit der Anwohner hier nicht wild darauf, mich anbetteln zu lassen, und lege auch auf den Anblick keinen Wert, wie sie ihre Notdurft entrichten wie Hunde oder die Grillplätze nach Trinkbarem absuchen. Natürlich zerschlagen die auch mal Schnaps- und Bierflaschen auf den Steinen, aber die, die dem Sandro die Sehne zerfetzt hat, war gut versteckt.«

»Kam es gelegentlich auch zu Tätlichkeiten?«

Minker nahm die nächste Erdnuss aus der Tüte, machte mit dem Nagel seines Daumens einen Schnitt genau in der Mitte und trennte die Schale ab. »Bei mir nicht. Weiter will ich mich dazu nicht äußern, obwohl es mich juckt.« Er hielt die Schale demonstrativ in die Höhe, bevor er sie fallen ließ.

In diesem Moment wurde die Haustür geöffnet, ein Schlüsselbund auf eine Ablage gelegt, und eine helle Frauenstimme ertönte: »Schatz? Bist du im Wohnzimmer?«

Minker antwortete, stand auf, begrüßte seine Frau mit einem Kuss auf den Mund und strich ihr flüchtig über die Wangen. Frau Minker war um wenige Zentimeter größer als ihr Mann. Sie trug eine karierte Bluse und trotz der hochsommerlichen Temperaturen eine offene, hellbraune Strickjacke, die ihr bis über die etwas fülligen Hüften reichte. Ihr Gesicht war unscheinbar, doch sie besaß eine warmherzige Ausstrahlung und blickte den Kommissaren bei der Begrüßung direkt in die Augen.

»Kommen Sie wegen Sandros Verletzung?«, fragte sie und legte ihre Hand in die ihres Mannes, der noch immer etwas unbeholfen neben ihr stand.

»Das fällt nicht in unseren Bereich«, antwortete Batzko. »Gestern Morgen wurde nicht weit von hier ein Obdachloser tot aufgefunden. Wir gehen von einer Gewalttat aus, die sich am späten Sonntagabend ereignet hat.«

»Da haben sie dich gefragt, Schatz, weil dir doch hier nichts entgeht, nicht wahr?«

Minker antwortete nicht, er wich ihrem Blick aus und bewegte den Unterkiefer, als würde seine Zunge einen Erdnussrest aus einer Zahnspalte puhlen.

»Alles kann ich ja auch nicht sehen«, sagte er etwas kleinlaut, als wäre es eine, wenn auch minimale Verletzung seiner Dienstvorschriften. Er setzte sich wieder.

»Du bist doch so vernarrt in deine Spaziergänge, dass dich auch das Gewitter am Sonntagabend nicht gestört hat. Nass wie ein Pudel warst du. Alle Welt ist geflüchtet, als hätte es Fliegeralarm gegeben, nur du bist draußen geblieben.« Sie sprach mit derselben Dialektfärbung wie ihr Mann und war im gleichen Alter. Eine Sandkastenliebe, stellte sich Gerald vor, aus einem kleinen Dorf irgendwo in Sachsen. Nach dem Mauerfall sind sie sicher hierhergekommen, um ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen, aber der Kopf von Hans Minker ist noch in der Nationalen Volksarmee steckengeblieben.

Aus dem ersten Stock war undeutlich eine flehende Kinderstimme zu hören.

»Sandro, Liebling?« Frau Minker war wie elektrisiert. »Ich bin schon unterwegs.« Und ohne sich weiter zu erklären, verließ Frau Minker den Raum.

Die beiden Kommissare erhoben sich. Batzko zog eine Visitenkarte aus seiner Geldbörse. »Wir möchten Sie nicht weiter stören. Falls Ihnen in den nächsten Tagen doch noch etwas einfällt oder Sie etwas hören sollten, melden Sie sich bitte umgehend bei uns.«

Hans Minker nickte knapp, mit aufeinandergepressten Kiefern, und folgte den Kommissaren in die Diele. Geralds Blick fiel auf einen Stapel Flugblätter, die auf einem Ablagefach unter dem Spiegel lagen. »Schützt eure Kinder! Schützt die Isar!« lautete die fettgedruckte Überschrift. Der weitere Text wurde von einem Schlüssel, der darauf abgelegt worden war, verdeckt. Gerald las einzelne Worte wie »Gefahr«, »Verschmutzung«, »Selbsthilfe« und weiter unten die Adresse und Telefonnummer von Familie Hans und Gerda Minker.

»Meine Frau arbeitet für ein großes Versandhaus«, erklärte der Hausherr, dem Geralds Blick offenbar nicht entgangen war. »Sie nimmt Bestellungen entgegen und solche Sachen. Da kommt sie natürlich mit den Leuten in Kontakt und hört ihre Sorgen.«

»Gemeinsame Sorgen, gemeinsames Handeln, nicht wahr?«, fragte Batzko mit einem warnenden Unterton in der Stimme. »Der Grat ist schmal. Man sollte nie vergessen, wofür alleine die Polizei und die Justiz zuständig sind.«

»Die Polizei, dein Freund und Helfer, ich weiß«, antwortete Minker, legte die flache Hand im rechten Winkel vor die Stirn und drehte den Kopf nach links und rechts wie jemand, der Ausschau hält. »Irgendwo wird sie schon sein, die Polizei.«

 

Um die Stelle zu finden, an der man den Toten entdeckt hatte, kehrten sie zu ihrem Auto zurück und begutachteten die Fotos des Kriminaldauerdienstes. Sie gingen in nördlicher Richtung an einem umzäunten Kinderspielplatz vorbei, passierten einen kleinen Hügel, der durch zwei Parkbänke zu einem Aussichtsplatz befördert worden war, und stießen auf den schmalen Fußweg, der zur Isar führte. Ein Paar ging vor ihnen, Hand in Hand, und in den freien Händen jeweils einen Hund an der Leine, die in entgegengesetzte Richtungen drängten, als wollten sie die beiden auseinandertreiben. Aber sie hielten stand.

Ungefähr auf der Mitte der Strecke, wo links und rechts das Gebüsch am dichtesten wuchs, war die Leiche des Unbekannten gefunden worden, keine zwei Schritte vom Fußgängerweg entfernt. Entweder hatte hier die tödliche Auseinandersetzung stattgefunden, oder das Opfer hatte sich Hilfe suchend zu den Anwohnern schleppen wollen und war an dieser Stelle zusammengebrochen.

Gerald und Batzko hielten die Fotografien in den Händen. Von diesem Punkt aus konnte man durch die Bäume die Isar mehr erahnen als sehen. Die Kommissare hörten Stimmen und Geräusche, die darauf hindeuteten, dass Leute ihre Fahrräder abstellten und Sachen von Gepäckträgern nahmen. Es war wieder ein Wetter unter weißblauem Himmel, das zum Grillen einlud, zum Musikhören und Entspannen.