Der Trader - Drew Chapman - E-Book

Der Trader E-Book

Drew Chapman

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Beschreibung

Nur knapp konnte der geniale Mathematiker Garrett Reilly die USA vor einer Cyber-Attacke der Chinesen bewahren. Sein Einsatz lässt ihn ins Visier von Terroristen und sogar der eigenen Regierung geraten. Garrett bleibt keine andere Wahl als unterzutauchen. Doch dann entdeckt er bei Aktiengeschäften einen tödlichen Code, eine tickende Cyber-Bombe, die darauf abzielt, das gesamte amerikanische Wirtschaftssystem zu zerstören. Erneut stellt sich Garrett der Gefahr, nimmt gemeinsam mit Agentin Alexis Truffant den Kampf gegen übermächtige Feinde auf – und steht bald selbst in der Schusslinie ...

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Buch

Ein geschäftiger Morgen in Manhattan: Phillip Steinkamp, der Präsident der New Yorker Zentralbank, ist auf dem Weg ins Büro, als sich ihm eine Frau in den Weg stellt, eine Waffe auf ihn richtet – und abdrückt. Dann erschießt sie sich selbst, nicht ohne den entsetzten Passanten den Namen des Mannes zu nennen, der ihr den Mord befohlen habe: Garrett Reilly. Der geniale Mathematiker und Wertpapierhändler mit dem fotografischen Gedächtnis verfolgt nur wenige Blocks entfernt in seinem Büro – von den Geschehnissen nichts ahnend – die weltweiten Börsenaktivitäten, als ihn ein Anruf erreicht. Agentin Alexis Truffant vom militärischen Geheimdienst, mit der Garrett vor einiger Zeit eine Cyberattacke der Chinesen abwehren konnte und eine kurze, heftige Affäre hatte, warnt ihn vor seiner unmittelbar bevorstehenden Festnahme. In letzter Sekunde kann Garrett abtauchen und entdeckt schon bald ein gefährliches Muster: Der Mord an Steinkamp, seltsame Transaktionen, die plötzliche Pleite einer Bank in Malta – sie sind der Beginn eines Cyberwars, der darauf abzielt, das gesamte Wirtschaftssystem der USA zu zerstören. Gemeinsam mit Alexis nimmt Garrett den Kampf gegen die Drahtzieher auf, die ihnen immer einen Schritt voraus zu sein scheinen …

Weitere Informationen zu Drew Chapman sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

DREW CHAPMANN

Der Trader

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Jochen Stremmel

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »The King of Fear« als E-Book in drei Teilen und 2016 als vollständige Ausgabe bei Simon & Schuster, Inc., New York.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung September 2016

Copyright © der Originalausgabe 2015, 2016 by Andrew Chapman

All Rights Reserved. Published by arrangement

with the original publisher, Simon & Schuster, Inc.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Redaktion: Ilse Wagner

KS ∙ Herstellung: Str.

Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-641-48179-7V002

www.goldmann-verlag.de

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LISA GEWIDMET,

FÜR ALL IHRE LIEBE UND UNTERSTÜTZUNG.

TEIL 1

1

DAS WEISSE HAUS, 17. April, 21:52 Uhr

Alan Daniels klopfte zweimal an die Tür zum Büro seiner Chefin im Westflügel, wartete einen Augenblick auf eine Re­aktion – bekam aber keine – und schob dann die Tür auf. »Haben Sie zwei Minuten Zeit?«

Die Nationale Sicherheitsberaterin hatte sich die Handtasche schon über die Schulter gehängt. Sie stieß einen langen, überaus dramatischen Seufzer aus, lächelte dann strahlend und nickte. Julie Fiore mochte Daniels. Er war ihr Stellvertreter, und er war loyal und klug. Sie wollte nach Hause – ihr Mann machte gegrillten Lachs mit einer Honig-Senf-Sauce, ihr Lieblingsessen –, aber sie hatte zwei Minuten für Daniels. Sie winkte ihn zu sich.

Er legte einen dünnen Aktenordner auf ihren Schreibtisch. »Wahlen. In Belarus. Die ersten Hochrechnungen sind gerade reingekommen.«

»In Belarus gibt es Wahlen?« Sie grinste verschmitzt.

»Anscheinend schon. Und seit heute Morgen« – Daniels schaute nach der Weltzeituhr auf seinem Smartphone – »ein Uhr dreiundfünfzig UTC scheinen sie eine Rolle zu spielen.«

Fiore zog ihre Lesebrille aus der Handtasche, öffnete die Akte, überflog das einzelne Blatt Papier, das sie enthielt, und runzelte die Stirn. »Unmöglich.«

»Und trotzdem« – Daniels streckte seine zwei Hände in die Luft, als wolle er demonstrieren, dass dies etwas sei, das nur Gott ermessen könne –, »da liegt es vor Ihnen.«

»Er ist zum vierten Mal wiedergewählt worden. Sie glauben an die Demokratie, so wie ich an Einhörner glaube.« Sie nahm sich die Brille von der Nase und rieb sich mit der anderen Hand kurz über die Augen. Sie war derart müde. »Wie konnte es dazu kommen?«

»Feenschimmer?«

Fiore warf Daniels einen grimmigen Blick zu.

Er straffte sich und ließ das Lächeln aus seinem Gesicht verschwinden. »Ich habe mich vor fünf Minuten mit der CIA in Verbindung gesetzt. Sie sind ebenfalls völlig überrascht worden. Ihre Analytiker werden über Nacht daran arbeiten, verschiedene Szenarien entwickeln.«

»Gütiger Gott. Nach der Ukraine ist das hier … ist das hier eine Katastrophe …« Ihre Stimme erstarb. Sie wandte sich von ihrem Stellvertreter ab und schaute zu ihrem Fenster hinaus auf den im Dunkeln liegenden Rasen im Norden. Sie versuchte, sich einen weit entfernten Ort auf der anderen Seite der Welt vorzustellen, ein Gebäude, das größer als das Weiße Haus, aber genauso gut bewacht war, vom Licht der Morgensonne überflutet, voll von Ministern und Generälen und ihren Beratern, die vor Entsetzen alle gleichzeitig ihren Kaffee ausspuckten. »Dort drüben. Sie wissen schon, wo.« Sie zeigte hinaus in die Dunkelheit, als hätte sie sich einen Punkt auf einer unsichtbaren Landkarte ausgesucht, die nur sie und Daniels sehen konnten. »Dort werden sie in diesem Moment Herzanfälle bekommen. Versammlungen des Krisenstabs und kollektive Herzanfälle.«

»Ja, das werden sie. Und wenn sie sich von ihren Herzanfällen erholt haben …« Daniels machte eine Pause, um zu überlegen, was er sagen wollte. Er hätte seine Gedanken in einen diplomatischen Euphemismus kleiden können, irgendetwas Verschwommenes und weniger Bedrohliches, aber allein mit seiner Chefin am Ende des Tages, erschöpft und ein kleines bisschen nervös durch die Überwachung der anscheinend endlosen globalen Krisen, kam ihm das einfach nicht angemessen vor. »Werden sie anfangen, Menschen umzubringen. Eine Menge Menschen.«

2

LOWER MANHATTAN, 14. Juni, 2:17 Uhr

Garrett Reilly konnte bestens mit Zahlen umgehen. Er war gut darin, Scheitelpunkte in Zinssätzen zu erkennen, Abwärtstrends in Rohstoffpreisen und Konvergenzen in den Renditen kommunaler Anleihen. Aber er war genauso versiert darin, an einem Sommertag auf dem West Broadway den Prozentsatz von Männern mit Birkenstock-Schuhen gegenüber solchen, die Nikes trugen, zu bestimmen oder das Verhältnis von Werbespots für Autos zu solchen für Bier im Verlauf einer Stunde Hauptsendezeit im Fernsehen. Muster zu erkennen gehörte zu seinen natürlichen Begabungen; er spürte sie im gleichen Maß, wie er sie sah. Wenn man ihn danach fragte, würde er sagen, dass die Muster zuerst auf der obersten Schicht seiner Haut auftauchten, ein Kribbeln, das an seinen Fingerspitzen begann – so wie die abfallende Sinuskurve von Düsenjets bei ihrem Landeanflug auf LaGuardia sich allmählich mit der Schwingungszahl von Hubschrauberrotoren über dem Hudson River zu decken begann –, dann durch sein zentrales Nervensystem nach oben fuhr, um schließlich in seinem Kopf zu dem unglaublichen Bild einer Zahlenkaskade zu explodieren.

Muster waren die Luft, die Garrett atmete. Sie waren es, womit er seine Brötchen verdiente, wenn er in der Wall Street mit Anleihen handelte, und sie waren es, womit er sein Leben organisierte. Das Verarbeiten von Daten war ihm angeboren, und mit dieser Rolle war er ganz zufrieden.

Wenn er in letzter Zeit mit etwas weniger zufrieden war, dann war das seine Fähigkeit, das Wirkliche vom Unwirklichen zu unterscheiden.

Nehmen wir zum Beispiel den Mann mittleren Alters, der Garrett im Wohnzimmer seines Apartments im dritten Stock eines Hauses ohne Fahrstuhl in Manhattans Lower East Side gegenübersaß. Garrett kannte den Mann gut – er wurde allmählich kahl, ein freundlich gestimmter Onkel. Garrett liebte den Mann, und er wusste, dass der Mann ihn ebenfalls liebte; der Mann betrachtete Garrett als den Sohn, den er nie gehabt hatte, und er hatte sich während eines großen Teils von Garretts kurzem, turbulentem Leben um ihn gekümmert. Es machte Garrett große Freude, den Mann, der alles an Familie verkörperte, die er noch auf der Welt hatte, um zwei Uhr morgens bei sich im Zimmer sitzen zu sehen, Bier mit ihm zu trinken, mit ihm über dies und das zu plaudern, das Leben und die Liebe und überhaupt nichts. Garrett Reilly hätte nicht glücklicher sein können.

Das Problem war nur: Der Mann war tot. Seit zwölf Monaten, und Garrett wusste es.

Garrett Reilly, siebenundzwanzig Jahre alt, ein halb mexikanischer, halb irischer Händler von festverzinslichen Wertpapieren aus Long Beach, Kalifornien, hatte in letzter Zeit eine Menge verschreibungspflichtiger Medikamente genommen. Tramadol, Vicodin, Meperidin, Percocet, um ein paar zu nennen. Falls er einen Arzt davon überzeugen konnte, sie ihm zu verschreiben, schluckte Garrett sie. Vor einem Jahr hatte er bei einer Kneipenschlägerei einen Schädelbruch erlitten, und obwohl der Riss in seinem Schädel verheilt war, schienen die blitzartigen Kopfschmerzen nie ganz zu verschwinden. Tatsächlich verlief der Trend der Schmerzen nach oben und nahm exponentiell zu. Wäre seine Gehirnverletzung eine Aktie gewesen, hätte Garrett eine Hausse-Position darauf abgeschlossen und zugesehen, wie die reichen Erträge hereingeströmt wären.

Er achtete normalerweise auf die Dosierungen, die er einnahm, aber die Schmerzen hatten sich in etwas dermaßen Hartnäckiges, dermaßen Tückisches verwandelt, dass er in letzter Zeit einfach alles schluckte, was in Reichweite war, und versuchte, nicht über die Konsequenzen nachzudenken. Natürlich war der verstorbene Mann mittleren Alters, der in einem bequemen Sessel in Garretts Wohnzimmer saß, eine der Konsequenzen.

»Du musst auf dich achtgeben, Garrett«, sagte Avery Bernstein, dessen schreiend grün-goldener Pullunder über einem gebügelten weißen Hemd offen stand. Avery war vor seinem Tod Garretts Boss gewesen, ein Mathematikprofessor, der zum Vorstandsvorsitzenden eines Maklerunternehmens aufgestiegen und einer der wenigen Menschen auf der Welt war, die das Leben fast genauso sahen wie Garrett – als eine Abfolge wunderschöner Gleichungen, die darauf warteten, gelöst zu werden. Avery veränderte seine Sitzhaltung ein wenig, und seine Blicke wanderten durch den Raum. »Du musst mehr nach draußen gehen. Dich ein bisschen bewegen. Leute treffen.«

Garrett wusste, dass das Ding auf der anderen Seite des Zimmers eine Halluzination war, die von einer Kombination aus zu vielen Tabletten, zu viel Alkohol und nicht genug Schlaf ausgelöst worden war. Und ihm war auch klar, dass das, was die Halluzination sagte, eine Projektion seines Unbewussten war. Eine Botschaft, die er sich selbst schickte. Er musste tatsächlich besser auf sich achtgeben, und er sollte mehr nach draußen gehen. Was die Bewegung anging …

»Ich hasse Bewegung«, sagte Garrett zu seinem leeren Wohnzimmer. »Ich werde mich nicht in einem blöden Fitness-Center anmelden und in beschissenen Yogahosen rumlaufen. Ich habe noch einen Rest Stolz.«

»So gefällst du mir.« Avery lächelte. »Ändere dich bloß nicht. Warum solltest du auch? Du bist perfekt, so, wie du bist.«

Garrett lachte, und ihm wurde klar, dass er über seinen eigenen Scherz lachte. Darauf würde er achten müssen. »Du bist nicht hier, Avery. Ich bilde dich mir ein.«

»Natürlich bin ich nicht hier. Ich bin vor mehr als einem Jahr bei einem Unfall mit Fahrerflucht gestorben. Ein Unfall, bei dem du übrigens der Frage nie richtig auf den Grund gegangen bist, ob es nun ein Unfall war oder nicht«, sagte Avery. »Aber du hast ein ernstes Problem, Garrett, und du musst dich darum kümmern.«

»Ich weiß, ich weiß, zu viele Medikamente. Kritisiere nicht an mir rum. Du bist nicht meine Mutter, abgesehen davon, dass es ihr scheißegal wäre. Ich werde weniger einnehmen. Es ist nur so …«

Er machte den Mund nicht mehr zu und sprach den Satz nicht zu Ende. In Wahrheit waren seine Halluzinationen im Großen und Ganzen harmlos: Ein Hund, der an eine Parkuhr angeleint war, hatte ihm Aktienkurse vorgetragen, als er auf der Broome Street an ihm vorbeiging; ein alter Song der Carpenters – »Close to You« – war letzte Woche bei der Arbeit ununterbrochen auf seinen Schnürschuhen gespielt worden; und jetzt besuchte ihn Avery Bernstein in seinem Apartment. Er vermisste Avery schrecklich. Ihn dort zu sehen, übergewichtig und freundlich, ließ Garretts Herz bereits schneller schlagen. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf: Vielleicht nahm er all die Medikamente nicht, um seine Kopfschmerzen in den Griff zu kriegen.

Vielleicht nahm er sie, um seine Trauer in den Griff zu kriegen.

»Nein«, sagte Avery mit dem Anflug einer gewissen Strenge in der Stimme, »du weißt, was das Problem ist, und du nimmst es nicht zur Kenntnis.«

Garrett hatte auf einmal das Gefühl, als steckte ihm ein Kloß im Hals. Er wusste, was das Problem war. Er hatte während der letzten paar Wochen das Muster wachsen gefühlt. Er hatte Hinweise darauf im Internet gesehen und angefangen, seine frühesten Verkörperungen auf den globalen Aktienmärkten zu erkennen. Es war ein Wirrwarr, kompliziert und dicht, der etwas Dunkles und Erschreckendes verbarg. Er hatte versucht, es nicht zur Kenntnis zu nehmen, weil er nicht darin verwickelt werden wollte. Er wollte mit der weiteren Welt und ihren endlosen, zahllosen Problemen nichts zu tun haben; er hatte kürzlich so viel von globalen Krisen mitbekommen, dass es für sein ganzes Leben reichte. Aber wenn Averys Geist eine Projektion von Garretts Unbewusstem war, dann sprudelten seine tiefsten Instinkte an die Oberfläche und versuchten, ihn zu warnen.

»Sie kommen näher«, sagte Garretts geliebter ehemaliger Mentor, dessen Mundwinkel sich plötzlich zu einer beklemmenden mürrischen Grimasse nach unten zogen. »Sie kommen dich holen.«

Garretts Herz klopfte beunruhigend schnell in seiner Brust.

»Sie kommen, um alles zu zerstören.«

3

NEW YORK CITY, 14. Juni, 8:17 Uhr

Das Juniwetter war perfekt: ein wolkenloser blauer Himmel, eine leichte Morgenbrise, die vom Hudson River herüberblies. Weil es draußen so schön war, beschloss Phillip Steinkamp, eine Haltestelle früher aus dem 4-Train auszusteigen, an der Station Brooklyn Bridge in Lower Manhattan, und die letzten acht Häuserblocks bis zu seinem Büro zu Fuß zu gehen. Das machte Steinkamp, sooft er konnte, um sich ein bisschen Bewegung zu verschaffen, bevor sein arbeitsreicher Tag begann, um einen klaren Kopf zu bekommen, aber vor allem, um eine Tasse Kaffee zu trinken und den Geschäftsbesitzern auf der Nassau Street guten Tag zu sagen.

Er wusste, dass er das nicht tun sollte. Er wusste, dass er stattdessen im 4-Train bis zur nächsten Haltestelle fahren sollte, zur Fulton Street, und die zwei Häuserblocks zu seinem Büro schnell zurücklegen sollte – zwei Häuserblocks, die mit Polizisten und Barrikaden, mit Detectives in Zivil und privaten Sicherheitswachmännern gesäumt waren –, aber manchmal hatte Steinkamp das Gefühl, als lebte er in einer Blase. Und an einem wunderschönen Junivormittag war eine Blase der letzte Ort, an dem er sein wollte. Schließlich war er immer noch Amerikaner, der tun und lassen konnte, was ihm gefiel, auch wenn er Präsident der Federal Reserve Bank von New York war, der größten und bedeutendsten von allen Federal Banks der zwölf Bezirke.

Ja, fast eine Billion Dollar in Gold, Einlagen und Schuldverschreibungen lagen unter seinem Büro in der Liberty Street 33, und ja, er war der Bankier mit dem zweitgrößten Einfluss auf dem Planeten. Aber wenn er Chanji in dem Elektrogeschäft zuwinken und sich einen Kaffee bei Sal in dem griechischen Lokal holen wollte, würde er das tun, verdammt noch mal. Jeffries, der Chef seines Sicherheitsdienstes, konnte so viel her­umschreien, wie er wollte, Steinkamp würde sich nicht von seinem Job definieren lassen. Er weigerte sich, die wirkliche Welt außen vor zu lassen.

Steinkamp atmete die Morgenluft tief ein. Er war ein schlanker Mann, knapp unter eins siebzig, mit der permanent gebeugten Haltung des früheren Buchhalters und einem Kranz sich lichtenden braunen Haars um einen weitgehend kahlen Kopf. Er konnte einen Hauch Salzwasser in der Luft riechen, einen Geschmack des New Yorker Hafens, als er nach links in die Nassau Street einbog. Er ging schnell, aber nicht zu schnell, winkte Chanji zu, der vor Value Village Electronics in sein Handy plauderte – oder war es Ranjee, Steinkamp konnte sie nicht auseinanderhalten –, und lächelte den anderen Bankern und Maklern zu, die auf dem Weg zu ihren unzähligen Büros in Lower Manhattan waren. Sie machten alle einen ernsten und geistesabwesenden Eindruck. Sie hatten Geld im Kopf, nichts anderes als Geld.

Na ja, das hatte auch er dauernd im Kopf. Geld und Zinssätze und Politik ebenfalls. Sein Job produzierte einen nicht enden wollenden Katalog von Sorgen. Der Leiter der New York Fed war Stellvertreter der Vorstandsvorsitzenden der Federal Reserve, und wenn die Vorstandsvorsitzende ihren derzeitigen Job schon etwas länger innegehabt hätte – und nicht erst vor knapp drei Monaten ernannt worden wäre –, dann hätte Steinkamp freier atmen können. Aber in Wahrheit hatte die derzeitige Fed-Vorsitzende etwas von einer unbekannten Größe, eine ehemalige Professorin der Cal-Berkeley, zurückgezogen lebend und dem Vernehmen nach eine Intelligenzbestie. Steinkamp hatte einen Moment lang gedacht, er bekäme vielleicht die Stelle, aber der Präsident hatte sich für Hummels entschieden, möglicherweise deshalb, um bei der bevorstehenden Wahl die Wählerinnen zu gewinnen, und vielleicht auch, weil Steinkamp manchmal so dumme Sachen machte, wie zu Fuß zu seinem Büro zu gehen, anstatt den Fahrdienst in Anspruch zu nehmen, der jeden Morgen um Punkt acht Uhr vor seinem Foyer in der Park Avenue erschien.

Steinkamp war impulsiv und für diese Eigenschaft in der gesamten Wall Street bekannt. Er seufzte. Er konnte nur er selbst sein; das war in seinen Augen der Schlüssel zum Leben. Sei du selbst. Bereue nichts.

Er blieb vor Sals Lokal stehen und beugte sich in das offene Fenster für die Straßenkundschaft. Der alte Sal, ein griechischer Immigrant mit einem Bauch, der sich unter seiner schmutzigen weißen Schürze blähte, strahlte, als er Steinkamp erkannte. »Einen Kaffee, hell und süß, für den Zampano unter den Zampanos«, sagte Sal, füllte einen Becher zum Mitnehmen und warf zwei Päckchen Zucker auf die Theke vor dem Fenster.

»Guten Morgen, Sal«, sagte Steinkamp, goss ein wenig Sahne aus einem Kännchen in seinen Kaffee und winkte Sal jun. zu, der drinnen Speck auf dem Backblech des Imbisslokals anbriet. Steinkamp mochte Sal, Sals Sohn und die gesamte Familie Panagakos. Er mochte es, dass sie hart arbeiteten. Er mochte auch ihr Temperament. »Und Sal junior ebenfalls einen guten Morgen.«

»Hey, Boss.« Sals Sohn winkte zurück. »Was macht mein Geld?«

»Ich habe keinen Schimmer«, sagte Steinkamp, und die Männer im Imbiss lachten alle. Sie hatten an jedem Morgen, wenn er vorbeischaute – und das machte er inzwischen seit zehn Jahren –, irgendwas in dieser Art zu ihm gesagt, und er hatte immer mehr oder weniger auf die gleiche Weise geantwortet. Aber sie lachten trotzdem, Gott segne sie.

Sal wischte die Theke mit einem weißen Tuch sauber. »Hey. Was ich Ihnen sagen wollte, Boss. Eine Lady hat nach Ihnen gefragt. Wollte wissen, wann Sie das nächste Mal vorbeikommen.«

»Ach ja?« Steinkamp lächelte. »War sie hübsch?«

Sal zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ein bisschen. Vielleicht erfüllt sie nicht Ihre Ansprüche.« Sal hatte immer noch einen griechischen Akzent, die erfinderische Grammatik eines Einwanderers und einen singenden Tonfall. »Sie können jede Frau auf der Welt haben, Mr Zampano. Warum sollten Sie sich mit einer Lady von der Nassau Street abgeben?«

Steinkamp lächelte. Die ganze Zeit fragten Leute in Lower Manhattan nach ihm. Makler, Banker, Börsenhändler. Sie kannten ihn vom Sehen oder aus gelegentlichen Zeitungsartikeln. Die Vorsitzenden der Fed-Banken in den einzelnen Bezirken waren meistens gesichtslose Bürokraten, aber Steinkamp war schon so lange dabei, dass er eine gewisse Prominenz erlangt hatte. Man sprach ihn auf der Straße oder bei dem Deli auf der Chambers an, wo er sich gern ein Reuben-Sandwich holte, und fragte ihn, in welche Richtung sich die Zinsen entwickelten oder ob die Fed ihre Ankäufe von Obligationen reduzieren würde. Manchmal auch nur, um ihm die Hand zu schütteln.

In letzter Zeit hatten sie ihn allerdings nach dem Vorstandsvorsitzenden der Fed in St. Louis gefragt, Larry »Lass sie fallen« Franklin. Franklin und Steinkamp waren untereinander zerstritten gewesen – ziemlich übel zerstritten. Franklin war ein Moralist, und er war durch das ganze Land gereist, hatte an Universitäten und Wirtschaftshochschulen Reden gehalten und klargemacht, dass er gegen jede Art von Rettungsplan sei, wenn wieder einmal eine Bank in den Vereinigten Staaten, die »zu groß zum Scheitern« wäre, ins Wanken geriete. »Wenn Banken in Schwierigkeiten kommen«, hatte Franklin der Chicago Tribune mitgeteilt, »dann müssen sie aus eigener Kraft wieder herauskommen. Banker müssen für das, was sie tun, verantwortlich gemacht werden.«

Steinkamp hielt das für lächerlich. Nun gut, Banker mussten wirklich für ihre Entscheidungen verantwortlich gemacht werden, aber im Jahr 2008 war die Federal Reserve das Einzige, was zwischen einer zusammengebrochenen Weltwirtschaft und einer globalen Finanzkatastrophe stand. Die Fed hatte heroisch dafür gesorgt, dass die Kreditmärkte weiter funktionierten, und ein angeschlagenes Maklerunternehmen nach dem anderen finanziell gestützt. Falls weitere Banken zusammengebrochen wären, hätte es Aufstände auf den Straßen gegeben. In Steinkamps Augen war »Lass sie fallen«-Franklin eine Gefahr. Eine Gefahr für die Vereinigten Staaten – zum Teufel, für die ganze Welt. Und er, Steinkamp, war der letzte Mann, der zwischen Franklin und dem zukünftigen Finanzchaos stand.

»Hey, wenn man vom Teufel spricht.« Sal zeigte auf die andere Straßenseite. »Da ist sie.«

Steinkamp ließ einen Fünfdollarschein auf die Theke fallen, klemmte einen Deckel auf seinen Kaffeebecher und drehte sich um, weil er sehen wollte, wer ihn zu treffen wünschte. Er hatte nichts dagegen. Ein kleines bisschen Berühmtheit war der angemessene Ausgleich für all diese Stunden in Ausschusssitzungen. Er verzog seine Lippen zu einem breiten Lächeln.

Aber nach einem Blick in ihr Gesicht war Steinkamp sich auf einmal nicht mehr so sicher, ob es eine gute Idee gewesen war, eine Haltestelle früher aus dem Zug zu steigen. Sie war jung, sah aber alt aus, hatte ein blasses Gesicht und schwarzes Haar. Sie trug einen grünen Trenchcoat, was merkwürdig war, weil es Juni war und warm und im Lauf des Tages nur noch wärmer werden würde. Aber das war es nicht, was Steinkamp einen Schauer über den Rücken jagte. Da war irgendwas an ihrem Gesichtsausdruck: nicht direkt gekränkt wie bei einigen der Leute, die ihn behelligten, aber auch nicht glücklich. Entschlossen. Das war es, was sie war. Entschlossen, etwas zu tun.

Etwas Schlimmes.

»Phillip Steinkamp?«, fragte sie, als sie die Nassau Street überquerte und auf den Bürgersteig trat. Er hörte die Spur eines Akzents aus irgendeinem Land, das Steinkamp nicht genau bestimmen konnte. Spanisch? Portugiesisch? Nein, das war es nicht …

»Das ist er.« Sal grinste und zeigte auf Steinkamp. »Der große Boss.«

»Ich bin leider schon etwas spät dran.« Steinkamps Worte überschlugen sich fast. »Falls Sie einen Termin mit mir machen möchten, sollten Sie mein Büro anrufen. Sie können die Nummer online finden. Wir werden gern einen Termin vereinbaren.« Er hatte plötzlich Angst, große Angst, und er war verärgert über Sal, weil er seine Identität bestätigt hatte. Er machte einen großen Schritt nach Süden, die Nassau hinunter, als die Frau ihm in den Weg trat und etwas aus der Tasche ihres Trenchcoats zog.

Steinkamp wusste sofort, dass es sich um eine Schusswaffe handelte.

»Heilige Muttergottes«, sagte Sal hinter ihm durch das Thekenfenster, »sie hat eine Pistole!«

Steinkamp erstarrte und schaute wie gebannt auf die Waffe, ein gemeines, stromlinienförmiges Stück grauen Metalls. Er konnte den Blick nicht davon abwenden. Die Frau hob die Schusswaffe mit einer Hand und zielte damit auf Steinkamps Brust.

»Nein, Lady, tun Sie das nicht. Ich kenne Sie nicht. Das ist ein Irrtum.«

Irgendjemand schrie von der anderen Straßenseite. Eine Taxihupe ertönte. Die Frau im Trenchcoat drückte den Abzug drei Mal schnell hintereinander.

Das erste Geschoss streifte Steinkamp an der Schulter. Das nächste traf ihn einen Sekundenbruchteil später im rechten Arm. Aber das dritte Geschoss riss ein Loch in sein blaues Brooks-Brothers-Hemd und bohrte sich in Steinkamps Herz, das sofort zu schlagen aufhörte. Der Vorstandsvorsitzende der Federal Reserve Bank von New York stieß ein schwaches Röcheln aus und sackte dann auf dem Boden zusammen, während Fußgänger vor Entsetzen schreiend in Deckung gingen. Nur Sal an dem offenen Thekenfenster seines Imbisslokals duckte sich nicht und zuckte auch nicht zusammen. Er starrte die Frau fassungslos an, während sie den leblosen Körper auf dem Bürgersteig mit ihrem abgewetzten hochhackigen Schuh anstieß.

»Ist er tot?« Ihre Stimme klang ausdruckslos.

»Ich – ich glaube schon«, sagte Sal, ohne wirklich zu wissen, warum er es sagte. »Sie haben ihn umgebracht.«

Sie drehte sich zu Sal um. Sie sprach ruhig und deutlich, als wolle sie dafür sorgen, dass jeder, der zuhörte, jedes Wort verstand. »Garrett Reilly hat mich dazu gebracht, das hier zu tun.«

Dann steckte sich die Frau in dem grünen Trenchcoat die Pistole in den Mund und drückte ein letztes Mal ab.

4

JENKINS & ALTSHULER, NEW YORK CITY, 14. Juni, 8:52 Uhr

Das klingelnde Telefon raubte Garrett Reilly den letzten Nerv.

Er überprüfte die Nummer des Anrufers auf dem Display seines Schreibtischtelefons, aber er kannte sie nicht. Irgendjemand rief seinen Direktanschluss an, nicht die Zentrale, und die Anrufererkennung besagte, dass derjenige ein Münztelefon benutzte, dem keine Ortsnetzkennzahl zugeordnet war. Niemand rief ihn von einem Münztelefon aus an, und mit Sicherheit kein Kunde. Garrett erinnerte sich so ziemlich an jede Telefonnummer, die er je gewählt hatte, und die Nummer, die er auf dem Display sah, gehörte nicht dazu.

Deshalb ignorierte er sie.

Er hatte ohnehin genug zu tun. Er hatte die Sache gefunden, die er gesucht hatte – dieses dunkle, verschlungene Muster –, und dass er sich diese Gelegenheit entgehen lassen würde, war ausgeschlossen.

Dieses spezielle Muster war nicht leicht auszumachen –tatsächlich war es unglaublich schwierig gewesen. Garrett verglich die Methode, mit der er es aufgespürt hatte, damit, wie Astronomen die ersten Planeten außerhalb unseres Sonnensystems entdeckt hatten. Die Exoplaneten, wie sie genannt wurden – er hatte etwas darüber in einem Heft der Zeitschrift Discover im Wartezimmer eines Arztes gelesen, der mit Rezepten für Roxicodone falsches Spiel trieb, wie Garrett gehört hatte –, waren zu weit weg und zu klein, um mit normalen Teleskopen gesehen zu werden, aber die Astronomen waren ziemlich sicher gewesen, dass sie existierten. Sie mussten nur eine andere Methode finden, sie zu sehen. Deshalb hielten die Astronomen Ausschau nach der Wirkung, die diese Planeten auf Dinge hatten, die sie sehen konnten, was in diesem Fall größere, hellere Sterne waren. Jeder Planet, der sich um seine eigene Sonne dreht, sorgt dafür, dass sich dieser Fixstern bewegt oder wackelt; die Anziehungskraft des Planeten zupft an dem Fixstern, verzerrt seinen Orbit auf spezifische, erkennbare Weise. Also studierten Astronomen Fixsterne – das Sichtbare –, um Beweise für das Unsichtbare zu finden.

Und das tat Garrett ebenfalls, nur dass er an der Stelle von Sternen Geld beobachtete. Irgendwo dort draußen in dem riesigen Wirbel der internationalen Finanzwelt glaubte Garrett, Anzeichen für eine ungeheure Anhäufung von Geld gefunden zu haben – in einem dunklen Sammelbecken –, das irgendjemand irgendwo versteckt halten wollte. Dunkle Sammelbecken waren keine Seltenheit: private Börsen, die von Staaten oder Investoren genutzt wurden, um außerhalb des Blickfelds von Journalisten, Aufsichtsbehörden oder Regierungen mit Wertpapieren zu handeln. Dieses besondere Geldsammelbecken kaufte und verkaufte Aktien in Abstimmung mit Ereignissen in der echten Welt, und Garrett konnte die kleinen Wellen dieser Käufe und Verkäufe erkennen, während sie sich durch die globale Ökonomie verbreiteten.

Wenn du genug Geld an einem Ort zusammenträgst, hatte Avery Bernstein mal zu Garrett gesagt, dann entwickelt es allmählich seine eigene Schwerkraft. Worte, nach denen man leben konnte, dachte Garrett.

Garrett schob sich von seinem Schreibtisch zurück und schaute quer durch das moderne Großraumbüro der Trader bei Jenkins & Altshuler. Junge Männer und Frauen waren damit beschäftigt, in ihre Tastaturen zu tippen, Bundesanleihen und Schuldverschreibungen, Derivate und Kreditausfallversicherungen zu kaufen und zu verkaufen, und keiner von ihnen schenkte Garrett einen Hauch von Beachtung. Garrett fühlte sich keinem von ihnen besonders verbunden; im Lauf des vergangenen Jahres hatte sich der Abstand zu seinen Wall-Street-Freunden langsam vergrößert. Der Abstand zu all seinen Freunden hatte sich langsam vergrößert. Er hatte auch nicht mehr das brennende Verlangen, so viel Geld wie möglich zu machen, die Welt zu erobern. Wohin war es verschwunden? Er war sich nicht sicher. Er war sich keiner Sache mehr sicher.

Ein paar Trader hatten ihr Gesicht an die Fenster gepresst, durch die man auf Lower Manhattan und den Hudson River dahinter hinausschauen konnte. Vor ungefähr zehn Minuten hatten Polizeisirenen zu heulen begonnen, und Garretts Kollegen stellten Vermutungen an, was wohl passiert sei. Ein Feuer? Ein Terrorangriff? Was es auch war, das NYPD nahm es ernst. Garrett war es egal. Er war dabei, eine Ordnung aus dem Chaos des globalen Informationsflusses herauszulesen, nach dem Narrativ im Zufallsrauschen der modernen, vernetzten Welt zu fahnden. Was konnte wichtiger sein als das?

Sein Telefon klingelte. Die gleiche Nummer, ein Münztelefon ohne zugeordnete Ortsnetzkennzahl. Garrett überlegte dranzugehen, bevor er beschloss, den Anruf noch mal zu ignorieren. Er wandte sich wieder seinen Bildschirmen und dem Muster zu, das sich dort entwickelte.

Am 4. Juni um 7:30 Uhr Greenwich-Zeit war Sedman Logistics an der Nordic Exchange, einer kleineren europäischen Aktienbörse mit Sitz in Stockholm, um fünf Prozent gefallen. Innerhalb von fünf Minuten kam es zu einem Hackerangriff auf ein Unternehmensnetzwerk in München. Am 6. Juni fiel Hunca Cosmetics an der Istanbul Bursa um sieben Prozent. Zwei Minuten später brach ein IT-System in Lyon zusammen. Vor zwei Tagen fiel Navibulgar, eine bulgarische Schifffahrtsgesellschaft, im nachbörslichen Handel an der Bulgarian Stock Exchange um zehn Prozent, und innerhalb von dreißig Sekunden verschwanden zwanzigtausend Kundenpasswörter vom Server eines Kaufhauses in Liverpool. Dann wurden heute Morgen, ungefähr vor einer halben Stunde, zwei Autoteilehersteller an der Borsa Italiana, Italiens kleiner Aktienbörse, hart getroffen, da beide in wenigen Minuten einen Kursverlust von mehr als zwanzig Prozent erlitten.

Garrett überflog den internationalen Nachrichtenticker auf seinem Bloomberg-Terminal, wo er nach einem Ereignis in der realen Welt Ausschau hielt, das damit in Zusammenhang stand. Aber es tauchte nichts auf. Noch nicht. Doch er war sicher, dass es noch eines geben würde. Das Zerren und Ziehen unsichtbaren Geldes ließ gravitationsbedingte Wellen entstehen, und als Nächstes käme der sichtbare kriminelle Angriff. Das war ein todsicheres Muster. Garrett konnte es in den Knochen spüren. Kompliziert. Dicht. Dunkel. Und auf dem Weg in diese Richtung.

Wer auch immer das getan hatte – und er war ziemlich überzeugt davon, dass eine Person oder eine Gruppe dahintersteckte –, machte seine Sache gut. Es waren begabte Kriminelle, in der Lage, in eine Reihe von Betriebssystemen einzudringen und Daten zu stehlen, in einer Reihe von Ländern und ohne Mühen. Die Angriffe hatten klein angefangen, aber sie nahmen an Größe zu.

Sie hatten eindeutig finanzielle Unterstützung. Man brauchte eine Menge Bargeld, um Aktien leerzuverkaufen und Märkte zu bewegen, und man musste bereit sein, dieses Geld zu verlieren, wenn die Sache nicht nach Plan verlief. Ein Staatsfonds war vermutlich die Quelle oder vielleicht ein sagenhaft reicher Investor. Aber mit Geld in dieser Größenordnung ein kriminelles Unternehmen zu finanzieren, das kam Garrett außergewöhnlich vor. Warum sollte man so viel Geld für ein paar tausend Passwörter ausgeben, wenn man sie im Darknet für einen Bruchteil dieses Preises kaufen konnte?

Außerdem hatten sie Leute auf der Lohnliste. Eine große Zahl von Leuten, die in der Lage waren, die Sicherheitsmaßnahmen von Kaufhäusern und IT-Unternehmen in beiden Richtungen zu überwinden, ohne entdeckt zu werden. In der Welt der Hacker wurden diese Leute Sozialtechniker genannt. Sie waren Illusionisten, Künstler, Zauberer; Leute, die die Unschuldigen oder nicht so Unschuldigen dazu verlockten, Dinge zu tun, die sie normalerweise nicht in Erwägung ziehen würden. Sie köderten die Leute mit Geld oder mit Sex, und manchmal führten sie sie auch nur hinters Licht. Außerhalb der Hackerwelt nannte man Sozialtechniker einfach Betrüger. Und diese Typen waren außergewöhnlich gute Betrüger.

Garrett streckte seine Beine aus und massierte sich die Ränder der Stirn. Sein Kopf begann wieder wehzutun. Er hatte es nach seinem langen Abend mit dem hartnäckigen Geist Avery Bernsteins auf ein paar Stunden Schlaf gebracht, aber jetzt wünschte er sich, er hätte noch ein paar mehr geschafft. Er fischte zwei Tramadol aus seiner Tasche und schluckte sie ohne Wasser hinunter. Je mehr Medikamente er nahm, desto schwieriger wurde es für ihn, Muster zu erkennen; die Narkotika stumpften seine Sinne ab. Aber den Hauptteil seines Tagwerks hatte er bereits erledigt. Er hatte das Gefühl, durch den Nachmittag gleiten zu können.

Er überprüfte den Tablettenvorrat, den er in seinem Büroschreibtisch aufbewahrte. Damit kam er noch ungefähr eine Woche aus. Seine Besorgnis ließ spürbar nach. Er wusste, das war ein schlechtes Zeichen: Nur Suchtkranke machten sich Gedanken darüber, wie viel Stoff sie noch in Reichweite hatten. Aber er musste einfach den Tag überstehen.

Sein Telefon klingelte wieder. Die gleiche Nummer. Draußen hörten die Sirenen nicht auf zu heulen. Das war für seinen Kopf nicht ideal. Frustriert schnappte er sich das Mobiltelefon.

»Garrett Reilly, Anleihen. Wer ist da, und was, zum Teufel, wollen Sie?«

Am anderen Ende der Leitung herrschte einen Augenblick lang Stille. Garrett glaubte, Verkehrsgeräusche zu hören, einen rumpelnden Motor, eine Autohupe. Mit Sicherheit ein Münztelefon.

Dann brach eine Stimme das Schweigen – eine gedämpfte Stimme, als ob der Anrufer versuche, seine Identität zu verbergen, indem er durch ein dickes Stück Stoff sprach. »Der Vorstandssprecher der New York Fed ist erschossen worden. Vor dreißig Minuten, ermordet auf der Nassau Street. Die Sondermeldung kommt jetzt jeden Moment.« Die Stimme war eindeutig die einer Frau. Sie klang angespannt, nervös. Am Rand echter Angst. »Es wird überall gebracht werden.«

»Was?«, fragte Garrett, der nur mit einem Ohr zugehört hatte. Die Worte drangen nicht richtig zu ihm durch. »Wer spricht da?« Er blinzelte schnell, um sich besser konzentrieren zu können. Der Vorstandssprecher der Federal Reserve Bank von New York? Umgebracht? Wer, zum Teufel, hätte ein Interesse daran …?

Plötzlich schoss ihm der Gedanke in den Kopf. Das dunkle Becken. Ein Aktienausverkauf. Ein damit in Verbindung stehendes Ereignis in der wirklichen Welt. Könnte das sein? Ein Pulsschlag der Erregung – und Angst – lief von seinem Herzen bis in seine Fingerspitzen und dann zurück in sein Gehirn.

»Heilige Scheiße.« Seine Stimme war ein Flüstern.

»Aber, Garrett, du musst gut zuhören. Die Frau, die es getan hat, sie hat dich erwähnt. Namentlich. Sie hat gesagt, du hättest ihr befohlen, ihn zu erschießen.«

Garrett bekam einen trockenen Mund. Aus dem Pulsschlag der Angst wurde eine Welle des Schreckens. Er wusste sofort, wer ihn angerufen hatte und mit ihm sprach, warum sie ein Münztelefon benutzte und warum sie versuchte, ihre Stimme zu verbergen. Garrett versuchte, eine Antwort zu formulieren, aber er brachte kaum die Worte »Ich hatte nichts damit …« heraus. »Wie könnte …« Es war eine Art stranguliertes Grunzen. In seinen Gedanken erschien auf einmal Averys Geist, die Warnung seines Unbewussten. Wie hatte er es so deutlich wissen können, und trotzdem … »Ich habe nie in meinem Leben irgendjemandem befohlen, jemanden zu erschießen.«

»Das spielt jetzt keine Rolle. Sie hat sich umgebracht. Am Tatort. Sie ist tot.«

»Warum sollte ich den Vorstandssprecher der New York Fed umbringen lassen? Das ergibt doch keinen Sinn.«

»Es wird noch schlimmer. Das FBI. Sie sind unterwegs zu deinem Büro. Sie wollen dich verhaften. Sie werden in wenigen Minuten eintreffen.«

»Ale…« Garrett hatte die Anruferin gerade beim Namen nennen wollen, fing sich aber gerade noch. Was wäre, wenn der Anruf aufgezeichnet wurde? Was, wenn die NSA – oder die Polizei – mithörte? Ihm war ganz schwindelig. Die Leitung war einen Moment still. Draußen hörten die Sirenen abrupt auf zu heulen. Garrett schloss die Augen, um Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Um sich zu konzentrieren. Um nachzudenken. Scharf nachzudenken und die Schmerzen und Drogen aus dem Kopf zu verbannen.

Das FBI kam. Sie kamen, um ihn zu verhaften.

»Garrett«, sagte die Stimme am Telefon, »lauf.«

5

WASHINGTON, D.C., 14. Juni, 10:05 Uhr

Als sie wieder in ihr Büro zurückkam, war das Erste, was Captain Alexis Truffant sah, eine auf eine Haftnotiz gekritzelte Botschaft, die mitten auf ihren Computerbildschirm geklebt worden war: Kommen Sie zu mir. Jetzt. Kline.

Alexis versuchte, ein wenig ruhiger zu werden, bevor sie die zwei Treppenfluchten zum Büro ihres Chefs im dritten Stock des Hauses der Defense Intelligence Agency hochlief. Sie blieb vor einer Reihe Fenster stehen, die einen Blick auf den schimmernden Potomac und das vorstädtische Virginia jenseits des Flusses boten. Die DIA lag auf dem Gelände der Joint Base Anacostia-Bolling, unmittelbar südlich von Downtown Washington D.C., und der Potomac bildete die westliche Grenze des Stützpunkts. Sie nahm den strahlenden Junimorgen in sich auf, klopfte ihre grünbraune Kampfanzugsjacke der US Army ab und marschierte in General Klines Büro.

Er begann zu reden, bevor sie eine Chance hatte, ihn zu grüßen. »Reilly ist aus seinem Büro abgehauen, bevor die FBI-Männer dort eintrafen. Sie behaupten, jemand hätte ihm einen Tipp gegeben.« General Kline stand hinter seinem Schreibtisch, sein Gesicht war erhitzt und gerötet. »Wissen Sie irgendwas darüber?«

»Sir.« Alexis stand in Habtachtstellung. »Wir sind in Washington. Informationen verbreiten sich schnell. Gerüchte schneller.«

»Das ist keine Antwort auf das, was ich Sie gefragt habe, Captain.« Kline kam hinter seinem Schreibtisch hervor. Er hatte breite Schultern, einen dichten Schopf grauer Haare und eine dröhnende Stimme. Er war Leiter der Analyseabteilung der DIA gewesen und damit verantwortlich dafür, alle Informationsfäden zu verstehen und zu bündeln, die dem Militär täglich zur Kenntnis gelangten. Allerdings war er vor sechs Monaten in einen bürokratischen Verwaltungsjob versetzt worden. Inzwischen organisierte er das Verfahren, wie Analysten ihre Berichte an jüngere Offiziere im Außendienst weitergaben, neu – und er hasste es. Er machte seinem Ärger jedem gegenüber Luft, der sein Geschrei hören konnte.

Kline stand unmittelbar vor Alexis. »Beantworten Sie die Frage.«

»Sir. Warum sollte Garrett Reilly irgendwas mit der Erschießung eines Vorstandsvorsitzenden der Federal Reserve zu tun haben? Er ist ein Wertpapier-Trader. Er arbeitet für uns …«

»Er hat für uns gearbeitet. Er ist aus Aszendent ausgestiegen. Oder haben Sie den Teil aus seinem Lebenslauf vergessen?«

»Ich hab nichts vergessen.« Alexis wusste, dass kein Ereignis in Klines Laufbahn schmerzlicher für ihn war als der Zusammenbruch des Projekts Aszendent. Aszendent war seine Idee gewesen, ein Versuch, ein Team von originellen Querdenkern zusammenzustellen, das den Vereinigten Staaten dabei helfen sollte, die Kriege der nächsten Generation zu führen. Cyberkriege, ökonomische Kriege, psychologische Kriege – unkonventionelle Kriege. Garrett Reilly war der Dreh- und Angelpunkt dieses Teams gewesen, ein Meister der Erkennung von Mustern, ein aggressiver, kompromissloser Straßenrabauke, der den Krieg auf eine Weise in die Reihen des Feindes trug, die dieser nie kommen sah. Und genau das hatte Garrett mit China gemacht: das Land kurzfristig ins Chaos gestürzt – und so vielleicht sogar den Dritten Weltkrieg abgewendet.

Aber dann hatte Garrett aufgegeben, als gebrochener Mann, der sowohl emotional wie physisch beschädigt war. Aszendent war gescheitert. Klines Karriere war genauso wie die von Alexis zum Stillstand gekommen; der flüchtige Hinweis auf ihre Beförderung war verschwunden. Sie hatten beide neue Aufgaben zugewiesen bekommen, waren versetzt und dann nicht weiter beachtet worden. Die enge Verbindung zwischen ihnen beiden war ausgefranst. Und Kline hatte Garrett Reilly immer noch nicht verziehen. Nicht mal annähernd.

»Sie haben keine Ahnung, ob Reilly irgendwas mit dem Attentat von heute Morgen zu tun hatte. Er ist ein subversiver, mutwilliger, unerträglicher Hurensohn, und ich würde es ihm durchaus zutrauen, dass er absolut alles tut, was ihm in den Kram passt – auch jemanden erschießen lassen«, sagte Kline.

»Aber warum sollte er das tun, Sir? Aus finanziellen Gründen? Er hat genug Geld. Um Berühmtheit zu erlangen? Es gibt Hunderte – vielleicht Tausende – von Menschen, die jeden Tag versuchen, ihn ausfindig zu machen. Er bemüht sich krampfhaft darum zu vermeiden, dass man ihn erkennt.«

»Es ist nicht unsere Sache, uns über Garrett Reillys Motive Gedanken zu machen.«

»Ich kann Ihnen garantieren, dass er nichts mit …«

»Sie können mir gar nichts garantieren!« Kline explodierte.

Die beiden verstummten, während seine Worte in dem Zimmer widerhallten. Kline stolzierte hinter seinen Schreibtisch zurück und ließ sich in seinen Sessel fallen. Alexis stand bewegungslos in der Mitte des Raums, den Blick auf die Wand gerichtet. Sie war hochgewachsen und besaß die schlanke Figur einer Sportlerin. Sie hatte einen dunklen Teint und blaue Augen, und ihr feines schwarzes Haar trug sie zu einem Knoten hochgesteckt. Sie wurde allgemein für schön gehalten, und diese Vorstellung wurde oft von Männern dadurch bekräftigt, dass sie ihr das Blaue vom Himmel versprachen, etwas, das sie ihnen bereits ihr gesamtes Leben lang auszureden versuchte. Sie war ernsthaft, fleißig und vor allem ehrgeizig – aber in den letzten acht Monaten waren all diese Eigenschaften arg in Mitleidenschaft gezogen worden.

Trotzdem verschloss Kline vorsätzlich die Augen vor der Wahrheit, und Alexis wusste es. Nie im Leben hätte Garrett Reilly jemanden erschießen lassen.

Kline schaute zu Alexis, seine Stimme war leiser geworden. »Alles, was wir wirklich über Reilly wissen, ist, dass er Aszendent verlassen, an seinem Arbeitsplatz ein erratisches Benehmen an den Tag gelegt und viel zu viele Schmerzmittel genommen hat. Haben Sie immer noch seine Krankenunterlagen im Auge?«

Alexis warf einen flüchtigen Blick auf die offene Tür des Büros.

»Niemand kann Sie hören. Niemand lauscht.«

»Das habe ich.« Mittlerweile überprüfte sie seit Monaten Garretts Onlinerezepte – obwohl das natürlich illegal war – und machte sich allmählich große Sorgen angesichts der Mengen von Medikamenten, die er sich von Ärzten bestellen ließ. Sie hatte Kline von ihren Bedenken unterrichtet. Jetzt bedauerte sie, das getan zu haben.

»Und er nimmt sie immer noch?«

»Er bekommt immer noch die Rezepte, also kann ich nur davon ausgehen, dass er sie nimmt.«

»Dann ist er drogensüchtig, und wir beide wissen es. Also, wenn Sie irgendwelche eindeutigen Beweise dafür haben, dass Garrett mit dem, was heute Morgen passiert ist, nichts zu tun hatte, nennen Sie sie mir.«

Alexis zögerte. »Ich habe keine.«

»Wissen Sie, wo er sich jetzt aufhält?«

»Nein, Sir.«

Kline sog hörbar Luft durch die Zähne. »Empfinden Sie immer noch etwas für ihn?« Kline zögerte einen Moment, als suche er nach der angemessenen Formulierung. »Lieben Sie ihn?«

Alexis warf Kline einen schnellen Blick zu. Vor einem Jahr hatte sie eine kurze Affäre mit Garrett gehabt. Die Affäre war fast so schnell beendet, wie sie begonnen hatte, aber die Gefühle waren heftig gewesen. In einem gewissen Sinn hatten Garrett und sie zusammen einen Krieg geführt. Sie hatten die Welt gerettet, und das war ein Band, das man nicht leicht zerriss. Aber – Liebe?

»Nein, Sir. Ich liebe Garrett Reilly nicht.« Sie war sich nicht völlig sicher, ob ihre Antwort zutraf und ob Kline überhaupt ein Recht hatte, danach zu fragen, aber zu diesem Zeitpunkt schien das nicht von Bedeutung zu sein.

Kline starrte in Alexis’ schimmernde blaue Augen. »Dann verstehe ich es einfach nicht. Da haben wir einen Typ, der uns nach Strich und Faden verarscht hat. Nach einem großen Triumph aus dem Programm ausgeschieden ist. Uns im Stich gelassen hat, als wir ihn brauchten, um Aszendent aufzubauen und damit fortzufahren, dieses Land zu schützen. Uns verlassen hat, ohne dass wir jemanden hatten, auf den wir zurückgreifen konnten. Finanzierung gestrichen. Wie Narren haben wir dagestanden. Wenn er all dies getan oder bewirkt hat – und Sie wissen, dass es so ist –, dann verstehe ich weiß Gott nicht, warum Sie ihm helfen sollten. Er ist nicht loyal. Sie können Garrett Reilly nicht trauen.«

Alexis wartete kurz, bevor sie antwortete, damit die Gefühle ihres Vorgesetzten ein wenig abkühlen konnten. Dann sprach sie ruhig und versuchte, so vernünftig zu klingen, wie der Moment es zuließ. »Irgendjemand hat heute Morgen den Präsidenten der Federal Reserve Bank von New York erschossen. Und sie haben sich die Mühe gemacht, die Schuld daran einem Mitglied von Aszendent in die Schuhe zu …«

»Einem ehemaligen Mitglied von Aszendent.«

»Sie wussten, wer er war, und sie müssen gewusst haben, was er getan hat. In China. Und hier. Sie haben ihn ausfindig gemacht. Und ich vermute, sie versuchen, ihn – und uns – aus dem Weg zu schaffen. Ich glaube nicht, dass das ein Zufall ist. Irgendwas braut sich zusammen, Sir. Irgendwas Großes, genau jetzt, und das scheint mir exakt der Moment zu sein, in dem wir Garrett Reilly am meisten brauchen.«

Als Alexis zu Ende gesprochen hatte, wurde es wieder still in dem Zimmer. Kline nickte fast unmerklich, als wollte er die Wahrheit dessen, was sie gesagt hatte, anerkennen, ohne dieser Wahrheit allzu viel Gewicht beizumessen. Dann streckte er seine Hand über seinen Schreibtisch und schob Alexis ein Blatt Papier zu. Sie schaute darauf.

»Eine Transkription von der NSA-Aufzeichnung eines Anrufs, der vor fünfundvierzig Minuten von einem Münztelefon an der Ecke Alabama und Fünfzehnte geführt wurde. Zehn Häuserblocks von hier. Mein Gewährsmann in der NSA hat sie mir gerade geschickt.«

Alexis atmete hörbar ein.

»Behinderung einer FBI-Ermittlung ist ein Bundesvergehen und wird mit langen Gefängnisstrafen geahndet. Falls die Stimme in dem Telefonat Ihre ist« – Klines Tonfall war leise, fast ein Flüstern –, »gibt es nichts, womit ich Ihnen helfen kann.«

6

VALLETTA, 14. Juni, 16:43 Uhr (UTC +1)

Die Gerüchte kursierten seit einer Woche in der First European Bank of Malta.

Matthew Leone kannte sie gut genug, auch wenn er mit der Bank- und der Wertpapierseite des Geschäfts nichts zu tun hatte, sondern nur ein Assistent des stellvertretenden Leiters der Personalabteilung war. Die Gerüchte kursierten überall, wurden an der Kaffeemaschine und auf der Herrentoilette, später dann in Kneipen im Hafenviertel diskutiert, die von den Bankangestellten nach Dienstschluss besucht wurden, und sie lauteten mehr oder weniger folgendermaßen: Unter den auf ganz Europa verteilten Außenständen der Bank befanden sich zu viele faule Kredite. Außerdem hatte die Bank zu viel Geld in Risikoinvestments gesteckt, und Bankeninsider wussten das. Einige dieser Insider hatten es russischen Gangstern erzählt, die angefangen hatten, ihr Geld abzuziehen, bevor die Nachricht bekannt wurde und alle normalen maltesischen Kontoinhaber ihr Geld ebenfalls abheben wollten. Wenn der nächste Knall ertönte – wenn ein neuer Schock die Bilanz der Bank traf –, würde sie zusammenbrechen.

Leone glaubte den Gerüchten nicht, auch wenn er einen gewissen Grund für die Vermutung hatte, es könnte was dran sein. Der Geschäftsführer der Bank, ein Schweizer namens Clement, hatte gestern Morgen alle Angestellten im Empfangsbereich der Hauptgeschäftsstelle versammelt, um sie zu beruhigen. »Wir sind zahlungsfähig«, hatte Clement gesagt. »Es besteht kein Grund zur Sorge. Die Gerüchte treffen nicht zu. Sie werden von Spekulanten in die Welt gesetzt, die unsere Aktie leerverkaufen wollen. Wenn Sie mit der Öffentlichkeit zu tun haben, beruhigen Sie die Leute. Sagen Sie ihnen, es sei alles in Ordnung. Und machen Sie Ihre Arbeit.«

Ein ziemlich kurzes Meeting, hatte Leone gedacht, für ein derart wichtiges Thema. Er und Abela, sein italienischer Freund von der Rechtsabteilung, hatten hinten gestanden. Beide wollten nach dem finstersten Gerücht fragen, dass irgendein ökonomischer Auftragskiller, ein Zerstörer von Firmen, die Bank ins Visier genommen hätte und darauf aus wäre, sie in den Ruin zu treiben. Aber sowohl Leone als auch Abela waren untergeordnete Mitarbeiter, und es gab in beruflicher Hinsicht nichts, was selbstmörderischer war, als dem Boss bei einer Belegschaftsversammlung Fragen zu stellen, die alles andere als optimistisch waren.

Es war ohnehin ein bescheuertes Gerücht. So etwas wie einen ökonomischen Attentäter gab es nicht, und das wusste Leone genauso gut wie Abela. Und selbst wenn es einen gäbe, warum sollte so jemand eine kleine, unbedeutende Bank in Malta aufs Korn nehmen? Aber in außergewöhnlichen Zeiten kam es zu haarsträubenden Gerüchten, und das ganze Unternehmen war nervös. Vor zehn Minuten war der letzte Klatsch von der Buchhaltung hereingesickert: Leute von der Bankenaufsicht wären an diesem Vormittag auf der Insel gelandet, um die Bank einem finanziellen Belastungstest zu unterziehen.

»Wenn wir den Belastungstest nicht bestehen, sind wir echt am Arsch«, sagte Leone in seinem starken Liverpooler Akzent, als er sich den vierten Kaffee des Vormittags eingoss. »Sie werden uns den Laden dichtmachen.«

Juliette von der Rechnungsprüfung schüttelte den Kopf. »Mach dich nicht lächerlich. Der Bank geht’s prima. Das sind bloß Gerüchte. Wegen des Zusammenbruchs von 2008. Wegen Griechenland. Die Menschen werden nervös. Aber es wird schon nichts passieren.«

Juliette war hübsch und Französin, und sowohl Leone als auch Abela hatten sich mit ihr verabreden wollen. Beide hatten einen Korb bekommen. Leone machte das nicht so viel aus, weil sie braunes Haar hatte, denn Leone fuhr auf Rothaarige ab. Gestern Abend hatte er eine in einer Kneipe im Hafen kennengelernt, eine erstaunlich attraktive junge Frau, und der Abend war ganz gut gelaufen. Er war nicht mit ihr ins Bett gegangen, aber sie hatten bis zwei Uhr früh miteinander geflirtet und Telefonnummern und E-Mail-Adressen ausgetauscht, und Leone hatte ein Treffen für heute Abend klargemacht. Deshalb hatte Leone, auch wenn die Bank bankrottginge, eine Chance auf Sex, was zwar zweitrangig war, aber auch nicht so furchtbar. Er war unter anderem deswegen von England nach Malta gegangen, weil die Frauen hier hübscher waren. Und wegen dem Wetter.

Leone sah zu, wie Juliette auf diese spezielle französische Art, die sie hatte, davonstolzierte – ein durchgedrückter Rücken, leicht schwingende Hüften. »Die Französinnen.« Er seufzte.

Abela lachte. »Triffst du dich heute Abend mit der Rothaarigen?« Er war mit Leone in der Kneipe gewesen und hatte die katzenhafte, fast raubtierartige Schönheit dieser Frau zu würdigen gewusst.

»Ich glaube schon.« Leone und Abela sprachen Englisch. Jeder in Malta, besonders in der Bank, sprach Englisch, was der Grund dafür war, dass Leone sich nie die Mühe gemacht hatte, Maltesisch zu lernen. »Sie wollte mir einen Treffpunkt per SMS vorschlagen. Sie meinte, sie käme vielleicht sogar im Büro vorbei.«

»Okay, sie gefällt uns gut«, sagte Abela mit anzüglichem Lächeln.

Leone schaute immer wieder auf seinem Handy nach, aber die Rothaarige, Dorina, hatte sich noch nicht gemeldet. In der Kneipe hatte sie Leone erzählt, wo sie herkam – Ungarn oder Rumänien oder irgend so ein Land in Osteuropa –, aber Leone konnte sich wegen der Nebelwand aus Gin und Bier, die ihn umgeben hatte, nicht so recht erinnern. Er hatte immer noch einen Kater.

»Wir reden später darüber«, sagte Abela. »Falls es ein Später gibt.«

Leone stieß ein grunzendes Lachen aus, bevor er zu seinem Schreibtisch in der Ecke des Großraumbüros zurückschlurfte. Er kam an einem breiten Fensterband vorbei, das einen Blick auf das funkelnde blaue Wasser des Hafens von Valletta und das Mittelmeer bot. Leone winkte einigen Kollegen zu, und ein paar von ihnen winkten zurück. Fast alle anderen klebten an ihren Telefonen oder Computerterminals. Leone vermutete, dass sie den Aktienkurs der Bank überprüften oder die jüngsten Meldungen der Nachrichtenagenturen durchkämmten. Er meinte, von jemandem gehört zu haben, dass vor ein paar Stunden ein Bankier in New York City niedergeschossen worden war. Ein wichtiger Bankier – ein Vorstandsvorsitzender der Federal Reserve. Was, zum Teufel, ging in der Welt bloß vor sich?

Merkwürdige Zeiten. Wirklich sehr merkwürdig.

Leone setzte sich an seinen Schreibtisch und wartete. Es gab nicht viel zu tun – es hatte keinen Sinn, sich die Lebensläufe von Stellenbewerbern anzuschauen, falls die Bank pleiteging. Er überprüfte sein Facebook-Konto und machte dann das Gleiche bei Tumblr und Instagram. Er blieb auf der Tumblr-Seite hängen. Er hatte eine Reihe von Bildern anderer Rothaariger dort gepostet, die er sich immer wieder gern anschaute. Er war sich nicht sicher, warum er von Frauen mit roten Haaren so besessen war, aber es war nun mal so. Es hatte etwas mit ihren Augen zu tun, blauen normalerweise, manchmal auch grünen Augen, und mit ihrer hellen Haut, die so oft mit bezaubernden hellen Sommersprossen bedeckt war. Das komplette Paket trieb ihn anfallartig zur Ekstase, und es war ihm egal, ob irgendjemand etwas davon mitbekam. Seine Tumblr-Seite hatte fünfhundert Follower, und fast alle von ihnen ergingen sich gern in Lobgesängen auf die Tugenden von Rotschöpfen weltweit.

Und da er gerade dabei war, wo blieb Dorina aus Rumänien? Oder aus Ungarn oder wo, zum Teufel, sie auch herkam. Er schaute zum nächsten Arbeitsplatz hinüber. Edgar vom Geschäftsbetrieb stocherte in seinem Salat herum und wartete darauf, dass eines seiner Telefone klingelte. Edgar war für die zweihundert Geldautomaten zuständig, die auf Malta und dem benachbarten Sizilien verstreut waren. Jeder in der Bank betrachtete seine Abteilung – und vor allem seine Telefone – als den Kanarienvogel in einem Steinkohlebergwerk: Wenn die Öffentlichkeit Wind von den Gerüchten bekam, würden sie anfangen, Geld von den Automaten der Bank abzuheben. Wenn sie genug Geld abhöben, würde den Automaten das Bargeld ausgehen. Wenn den Automaten das Bargeld ausging, würden Edgars Telefone klingeln. Das wäre die Startglocke für einen Ansturm auf die Kasse, und jeder hatte Angst vor einem Sturm auf die Bank. Das wäre das erschreckendste aller Ergebnisse – wenn Banken Pleite machten, gingen Volkswirtschaften zugrunde. Das war der Zeitpunkt, zu dem Aufstände begannen. Dann würden Steine durch die Fenster fliegen.

Edgar winkte Leone zu, als wolle er sagen: So weit, so gut, und knabberte dann weiter an seinem Salat, als auf Leones Handy eine SMS eintraf. Bevor er Gelegenheit hatte, sie zu lesen, kam Maria von der Rezeption zu seinem Schreibtisch und gab ihm ein Päckchen. Er quittierte den Empfang und schaute dann auf sein Handy. Die Nummer, die auftauchte, war die von Dorina, und Leones Herz schlug schneller.

Hast du’s bekommen?, lautete die Botschaft.

Was bekommen?, schrieb er fast im gleichen Moment zurück.

Päckchen.

Leone warf einen Blick auf den Umschlag von der Rezeption: ein DHL-Päckchen, an ihn adressiert. Er hatte angenommen, es wäre ein weiterer Lebenslauf; er bekam locker ein Dutzend pro Tag aus ganz Europa, manchmal doppelt so viele. Die Absenderadresse war die eines Hotels auf der Insel, und der Name lautete D. Gabris.

War das Dorinas Nachname? Gabris?

Er riss den Umschlag auf, in dem ein kleinerer weißer Umschlag in Briefgröße steckte, den er schnell öffnete. Es war aber kein Brief darin, sondern nur ein kleiner grüner Speicherstick. Leone hielt ihn ins Licht: ein externer USB-Speicherstick von vier Gig mit einem auf das grüne Plastik gezeichneten Smiley.

Er simste Dorina: 1 USB-Stick? Von dir?

Rat was drauf ist! Die Antwort kam sofort.

Leone hielt den Atem an. Er tippte langsam, mit zitternden Fingern: Bilder?

Sieh nach dann weißt du’s.

Leone leckte sich die Lippen und steckte den Stick zur Hälfte in den USB-Anschluss an seinem Bürocomputer. Dann hielt er inne. Es gab eine Vorschrift in der Bank: Kein externes Speichergerät durfte jemals – jemals – mit dem internen Netzwerk der Bank in Verbindung gebracht werden. Die IT-Leute hatten endlose Memoranden zum Thema herumgeschickt und am Anfang des Monats alle Abteilungen in der Kantine versammelt, um die Angestellten über die Gefahren einer Infiltration des Netzwerks zu unterrichten. »Stellen Sie sich die Bank als Festung vor«, hatte der bärtige Kobold aus der IT-Abteilung gesagt. »In die Festung darf keine Bresche geschlagen werden. Wenn das Bollwerk durchbrochen ist, wird es zerfallen.« Die IT-Leute nahmen die Sache so ernst, dass sie eine Software programmiert hatten, die alle fremden Geräte blockierte, die Programme auf die Computer der Bank herunterladen könnten. Aber Leone hatte eine zweitägige Ausnahmegenehmigung des Administrators erhalten, um eine Personal-Software im Netzwerk zu installieren, und er hatte immer noch ein paar Stunden Zugriffszeit übrig.

Die IT-Leute hatten auch vor den Übeln gewarnt, die mit dem Surfen im Internet und dem Herunterladen von Bildern und dem Spielen von Computerspielen und Besuchen bei Facebook verbunden waren. Aber alle anderen machten all diese Dinge – warum konnte dann Leone sich nicht einen harmlosen Speicherstick ansehen? Abela hatte eine ganze Datei voller Pornos mit schwangeren Frauen unter seine juristischen Zusammenfassungen gemischt. Er hatte sie erst letzte Woche Leone gezeigt, obwohl Leone ihn gebeten hatte, darauf zu verzichten. Leone wusste, dass er sich nicht in der Position befand, Steine auf die Fetische anderer Leute zu werfen, aber sich Bilder nackter schwangerer Frauen anzusehen, das war einfach ein bisschen zu pervers, selbst für ihn.

Sein Handy summte. Wieder Dorina. Und?

Vorschrift gegen Geräte von draußen, schrieb er schnell. Geht nicht.

Zu dumm sie sind gut.

Leone zog eine Grimasse. Er rieb mit dem Daumen gegen das geriffelte Plastik des Sticks und atmete tief durch. Er simste ihr: Klamotten?

Wen interessieren Bilder mit Klamotten?

Er zögerte.

Sie schickte noch eine SMS: Vlt sehen wir uns heute Abend nicht.

Seine Daumen klickten als sofortige Antwort: Warum?

Enttäuscht.

»Verdammt, verdammt, verdammt«, murmelte Leone. Sie hatte sich die Mühe gemacht, ihm Nackt-Selfies zu schicken, und er konnte ihr nicht mal die Ehre erweisen, sie anzuschauen. Jetzt war sie sauer, und er hatte jede Chance vergeigt zu sehen, ob sie ein echter Rotschopf war oder nur so tat.

»Schwachsinn.« Entschlossen schob er den Speicherstick ganz in die USB-Schnittstelle seines Bürocomputers. In atemloser Eile klickte er auf den Tab des Sticks. Ein Verzeichnis öffnete sich, aber es war leer. Er klickte erstaunt erneut darauf, dann schloss er es und suchte nach anderen Verzeichnissen auf dem Speicherstick.

Es gab keine.

Er simste wieder an Dorina: Speicherstick ist leer. Keine Bilder.

Er wartete auf eine Antwort.

Hallo? Dorina? Ein Fehler? Hab ich den falschen Stick bekommen?

Noch immer keine Antwort.

Dorina? Hallo?

Er wartete weitere fünf Minuten in der Hoffnung, dass Dorina auf ihrem Handy nachsehen und antworten würde, dass sie ihren Fehler einsehen und einen neuen Speicherstick schicken würde. Ihr Haar war so herrlich rot und ihr Gesicht so blass und wunderschön.

Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass zu keinem Zeitpunkt Bilder auf dem Stick waren.

Er zog den Speicherstick aus der USB-Schnittstelle und schob das Teil in die Hosentasche. Es hatte mittlerweile zehn Minuten in seinem Computer gesteckt. Leone hatte keine große Ahnung von Technologie, aber er vermutete, zehn Minuten waren mehr als genug Zeit dafür, dass etwas Schreckliches in das Netzwerk heruntergeladen werden konnte. Er nahm an, eine halbe Sekunde wäre wahrscheinlich mehr als genug Zeit gewesen, aber was, zum Teufel, wusste er schon?

Dann fingen Edgars Telefone an zu klingeln.

Erst eines. Dann noch eines. Und noch eines. Leone stand da und schaute zu, während Edgar sich beeilte, an jedes dranzugehen, wobei er einen Kunden nach dem anderen in die Warteschleife legte, während er nach dem nächsten Hörer griff. »First European Bank of Malta, warten Sie bitte einen Moment?«, sagte Edgar immer wieder.

O Gott, dachte Leone entsetzt. Ich habe etwas unglaublich Blödes gemacht.

Er eilte quer durch das Großraumbüro zur Eingangstür. Er musste den Speicherstick so schnell wie möglich in einen Mülleimer werfen, weg von seinem Arbeitsplatz und weg von irgendeiner Spur seiner Beteiligung. Das Netzwerk zu verletzen war ein Kündigungsgrund. Warum hatte er nicht früher daran gedacht? Weil er verkatert und einsam war und nur einspurig dachte. Gott, manchmal hasste er sich.

Abela rief ihm etwas aus seinem Büro zu, als Leone vorbeilief, aber er tat so, als hätte er seinen Freund nicht gehört. War es seine Einbildung, oder klingelten alle Telefone im Zentralbüro der Bank auf einmal in einem anschwellenden Crescendo – im operativen Geschäft, bei den Tradern, im Kundendienst. Angestellte antworteten in einer Kakophonie von Sprachen: Maltesisch, Englisch, Italienisch. Aus dem Augenwinkel sah Leone den älteren Direktor vom Kreditwesen aus seinem Büro sprinten. Er rannte in Richtung der IT-Büros, als hätte er gerade gehört, dass das Gebäude in Flammen stünde.

Ach, du Scheiße, dachte Leone. Das Haus steht in Flammen. Ich habe das Feuer gelegt.

Als er sich nach links zur Rezeption wandte, blieb er wie angewurzelt stehen. Vier Malteser Polizisten, die von Kopf bis Fuß in ihre makellose königsblaue Uniform gekleidet waren, marschierten zur Tür herein, gefolgt von einem halben Dutzend phlegmatisch aussehenden Männern in dunklen Anzügen. Ihre Gesichter waren grimmig und entschlossen, und sie funkelten Leone an, als er versuchte, zum Ausgang zu eilen.

»Ich muss nur zur Toilette.« Er zeigte verzweifelt auf den Gang.

»Sie können nicht weggehen«, sagte der erste Malteser Polizist und streckte ihm eine fleischige Hand entgegen.

»Aber ich muss.« Leone schloss die Faust um den Speicherstick.

»Dieses Büro ist geschlossen und unter Quarantäne gestellt«, sagte einer der finster dreinschauenden Männer im Anzug.

»Aber warum?«, fragte Leone, obwohl er die Antwort sehr wohl wusste.

»Jemand ist in Ihr System eingedrungen.«

»Ich habe nichts damit zu tun«, jammerte Leone mit kläglichem Blick.

Der Bankprüfer starrte Leone an, in seinen Augen stand unwillige Verachtung. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber von diesem Moment an hat Ihre Bank keine Aktiva mehr. Sie ist offiziell zusammengebrochen.«

7

QUEENS, NEW YORK, 14. Juni, 13:52 Uhr

Garrett ging durch Lower Manhattan in nordöstlicher Richtung, wobei er sich hauptsächlich an die Seitenstraßen hielt und die Avenues mied. Er ging schnell, mit gesenktem Kopf, und schaute nur hoch, wenn er Sirenen hörte. Streifenwagen und Feuerwehrautos schienen über jede Kreuzung zu rasen, und an der Ecke Houston und Avenue A musterte ihn ein Cop vom Fahrersitz seines Streifenwagens aus von Kopf bis Fuß. Garrett versuchte, ihn zu ignorieren, und ging weiter, aber er hatte das Gefühl, als stünden ihm die Haare zu Berge und als hätte sein Gesicht die Farbe einer überreifen Erdbeere angenommen.