Der Träumer - Andrea Hirata - E-Book

Der Träumer E-Book

Andrea Hirata

4,6

Beschreibung

Ikal ist zwölf – alt genug, um arbeiten zu gehen und seine Familie zu unterstützen, die zu den ärmsten auf der Insel Belitung in Indonesien gehört. Doch er will mehr – das ist er den Lehrern der Regenbogentruppe schuldig, die ihm beigebracht haben, für seine Träume zu kämpfen. Zusammen mit seinen Freuden Arai und Jimbron jobbt er als Hafenarbeiter, um die Oberschule besuchen zu können. In seiner unmittelbaren, sinnlichen Sprache erzählt Andrea Hirata, mit wie viel Mut und Lebensfreude Ikal seinen Weg macht. Die Etappen dieses modernen Märchens von der Überfahrt nach Jakarta auf dem Viehtransporter über Elend und Obdachlosigkeit im Moloch der Millionenstadt bis zur Ankunft als Student in Paris lesen sich so lebendig wie berührend.

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Hanser Berlin E-Book

Andrea Hirata

Der Träumer

Roman

Aus dem Indonesischen vonPeter Sternagel

Hanser Berlin

Der Träumer basiert auf einer vom Autor selbst vorgenommenen Überarbeitung der Romane Sang Pemimpi und Edensor, erschienen 2006 und 2007 bei Bentang Pustaka in Yogyakarta, Indonesien.

Die Veröffentlichung dieses Buchs wurde ermöglicht mit freundlicher Unterstützung durch das Übersetzungsförderungsprogramm des Ministeriums für Bildung und Kultur der Republik Indonesien.

ISBN 978-3-446-24969-1

© Andrea Hirata 2006, 2007, 2014

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2015

Satz: Greiner & Reichel, Köln

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München,

Motiv © MILES FILMS & MIZAN PRODUCTIONS

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen

finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Der Träumer

1 Im Februar, nach einem letzten, heftigen Regenguss, erschien die Sonne wieder. Gotteslicht nennen die Malaien diese Lichtstrahlen, die wie Geschosse durch die Wolken brechen und auf die Wellenkämme treffen. Die Küstenlandschaft erstrahlte in wunderbarer Schönheit. Von leichter Brise getrieben, rollten die flachen Wellen an den Strand, langsam und harmlos wie eine Flotte, die nach verlorener Schlacht auf hoher See müde heimkehrt.

Auf den riesigen, jahrmillionenalten Granitfelsen, die hier an der Küste, nicht weit von unserer Siedlung, in den Himmel ragen, hatten sich Möwen niedergelassen, pickten nach Muscheln, stritten sich um die Futterreste, spielten unter lauten, langgezogenen Schreien mit den Plastiktüten, die die Einheimischen hier zurückgelassen hatten.

Die Budenbesitzer am Strand blickten enttäuscht aufs Meer, verwünschten stumm den Regen, der ihnen am Vormittag das Geschäft verdorben hatte. Gerade mal zwei Kunden für ihre Kokosmilch mit Eiswürfeln waren aufgetaucht. Keiner von ihnen erwartete an jenem Nachmittag noch etwas Außergewöhnliches.

Auf einmal aber wurde der Himmel tiefblau, und mit ihm verfärbte sich der ganze Strand, der Sand und die Felsen wurden blau, ebenso der Hafen, die Fischerboote, die Palmen und Verkaufsbuden, das Blau des Meeres wurde noch intensiver, auch Gras, Weiden und Hirten waren in Blau getaucht. Das Licht erfasste alles, die gesamte Küste war tiefblau, geheimnisvoll und unbeschreiblich schön.

Das war der »blaue Augenblick«. Nur an ganz, ganz wenigen Küstenstrichen in der Welt gibt es diese Naturerscheinung, und sie währt wirklich nur einen Augenblick, vielleicht eine halbe Minute lang, nicht länger, doch umso stärker ist ihr Zauber. Wissenschaftler führen die Erscheinung auf den Sonnenstand zurück, auf eine bestimmte Neigung der Erdachse, auf Wasserdampf in der Atmosphäre nach Regenfällen, auf die Lichtbrechung und andere Faktoren, die ich desto weniger verstehe, je länger ich mich damit beschäftige.

Manche glauben, der blaue Augenblick zeige an, dass ein gutes Jahr bevorsteht, dass Regenzeit oder Trockenzeit nicht zu lange dauern werden, dass man Kummer leichter überwindet – und dass jemand, der für die Dauer des Augenblicks die Luft anhält, einen guten Ehepartner findet.

Das war jedenfalls der Grund, warum Hasani, ein junger Malaie, in höchster Eile angeradelt kam, um noch rechtzeitig den Strand im Westen zu erreichen. Seine Mutter drangsalierte ihn schon lange Jahre mit der Frage, wann er denn endlich heiraten wolle, und er hatte sich darin trainiert, spontan die Luft anzuhalten. Nicht nur dreißig Sekunden, sondern eine ganze Minute. Er war das fünfte von acht Geschwistern. Alle seine Brüder und Schwestern hatten längst eine Familie gegründet, nur er war mit seinen vierunddreißig Jahren noch allein, ein ewiger Junggeselle. Bei jedem Fest war er dem Spott des gesamten Ortes ausgesetzt. Hasani konnte das nicht mehr ertragen. Deshalb kam er in der Hoffnung, bald eine Braut zu finden, im Februar jeden Nachmittag an den Strand, um den blauen Augenblick nicht zu verpassen.

Und jetzt hatte er den Moment ungenutzt verstreichen lassen. Wütend warf Hasani sein Fahrrad in den Sand. Seinen Ärger teilte er mit Hamsyiah, die sogar noch nach ihm eingetroffen war.

Die beiden, die in der Liebe bisher kein Glück gehabt hatten, waren maßlos enttäuscht. Als die Dämmerung hereinbrach, fuhren sie wieder nach Hause.

»Also dann bis nächstes Jahr, Hasani!«

»Also dann bis nächstes Jahr, Hamsyiah!«

Der Regenguss am Nachmittag hatte die Regenzeit beendet. Über unsere Siedlung senkte sich die Dunkelheit der Nacht. Punkt sieben erscholl aus den TOA-Lautsprechern, die am Turm der Moschee in allen vier Himmelsrichtungen angebracht waren, der letzte Gebetsruf des Tages.

Gegen zehn Uhr ging der Mond auf. Noch nicht ganz voll, brachte er den Himmel zum Leuchten. Jetzt bestiegen die Sawang ihre Boote und fuhren hinaus zu den Korallenbänken. Es war die beste Zeit, um kleine Tintenfische zu fangen. Sie kamen rasch voran, denn das Meer war ruhig und sie hatten den Wind im Rücken. Die Chinesen dagegen hatten schon um acht Uhr abends ihre Clogs auf die Seite gestellt, die Öllampen ausgeblasen und waren zu Bett gegangen. Sie betrieben Gemüsestände, und der nächste Tag würde für sie in aller Frühe beginnen.

Um Mitternacht versammelten sich die Frauen und Männer der Sarong-Leute auf ihrem Hof, zündeten ein Feuer an, setzten sich im Kreis zusammen, schlugen die Trommeln und murmelten Mantras. Das war ihr Ritual vor jedem Vollmond. Früher hatten sie den Mond angebetet und noch immer verehrten sie ihn als die Instanz, die über Ebbe und Flut wacht. Die leise gesprochenen Zauberformeln wurden zu Gesang, der Gesang wurde zum Gebet.

Ein paar Malaien, die im Mondlicht ihren letzten Kaffee getrunken hatten, knallten das leere Glas auf den Tisch in der Verkaufsbude, schwangen sich aufs Fahrrad, machten noch eine letzte böse Bemerkung über die Regierung und fuhren dann nach Hause.

Soweit ich zurückdenken kann, hat mein Vater, der ja auch Malaie ist, nie einen Fuß in eine Kaffeebude gesetzt. Er hatte auch keine Lust, sich das Orkes Melayu, das malaiische Orchester, anzuhören oder eine der Filmvorführungen zu besuchen, die die Bezirksregierung einmal im Monat auf dem Fußballplatz veranstaltete, um den kleinen Leuten eine Abwechslung zu bieten. Gewöhnlich verbrachte er den Abend damit, im trüben Schein der Ölfunzel sein Fischernetz zu flicken und dabei Radio zu hören. Alle möglichen fremden Sprachen und seltsame Klänge aus fernen Ländern drangen unter schrecklichem Pfeifen und Knistern aus dem Gerät, auf dessen Seite man noch den silbern glänzenden Schriftzug PHI erkennen konnte, daneben die vier Buchstaben LIPS, von denen allerdings die Farbe abgeplatzt war. Er hatte schon bessere Zeiten gesehen und einiges mitgemacht.

Dieses Radio war das erste und einzige elektrische Gerät in unserem Haus, batteriebetrieben, denn wir hatten noch keine Stromversorgung. Es war die einzige Quelle der Unterhaltung für meinen Vater und den Rest der Familie und abgesehen von einem klapprigen Fahrrad der chinesischen Marke Sim King, das noch von meinem Großvater stammte, auch das einzige Besitztum von Wert in unserem Haus. Oben auf einem kleinen Eckschränkchen im Wohnzimmer war sein Ehrenplatz – meine Mutter hatte eine Vase mit fünf Plastikrosen dazugestellt. Dieses Arrangement hätte Mister Philips sicher sehr gerührt.

Mein Vater war versessen darauf, besseren Empfang zu bekommen. Er hatte deshalb an einer Tahiti-Kastanie hinter dem Haus eine Eisenstange angebracht und diese mithilfe eines langen Kupferdrahtes an das Radio angeschlossen. Eines Abends fuhr der Blitz in die Antenne an dem Baum und ließ nur einen geschmolzenen Klumpen von ihr zurück. Mein Vater, der gerade mit Hingabe der legendären Stimme Louis Armstrongs mit »What a Wonderful World« gelauscht hatte, wurde von seinem Sitz geschleudert. Das Radio gab noch einen Klagelaut von sich, qualmte und verstummte.

2 Wie soll ich meinen Vater beschreiben? Wo fange ich an? Vielleicht am besten bei seinem ausgeprägten Aberglauben. Wie die meisten alten Leute bei uns glaubte mein Vater, dass ein Foto zu dritt Unglück bringen und einer der Beteiligten kurz darauf sterben würde. Dass bei einem Foto der Widerschein eines Blitzes das Leben um eine Minute verkürzte. Tatsächlich soll sich einmal ein lebensüberdrüssiger Malaie umgebracht haben, indem er eine Kamera kaufte und sich Tag für Tag einem Blitzlichtgewitter aussetzte.

Wenn ich versuche, in meiner Erinnerung bis zu dem Punkt zurückzugehen, vor dem alles im Dunkeln liegt, dann sehe ich meinen Vater. Damals muss ich wohl vier oder fünf Jahre alt gewesen sein. Ich saß mit zwei anderen Jungen aus der Nachbarschaft in einem Raum. Wir ärgerten einen kleinen Musang, den ein Jäger gerade gefangen hatte. Eine Reihe von Männern hockte ringsum im Schneidersitz auf Pandanusmatten. Ich erinnere mich noch, dass jemand die Sturmlampe über den Käfig aus Smilax hielt, in dem die kleine Schleichkatze vollgefressen und teilnahmslos saß. Unter den Fußbodenbrettern schnatterten Enten, und die Männer machten Scherze über uns.

Ich berührte den Musang an der Nase. Das Tier fuhr mich an, sperrte wütend sein Maul auf und zischte. Wir schreckten zurück, purzelten rückwärts auf den Boden und krabbelten so schnell wir konnten in den Kreis der Herumhockenden. Jeder von uns suchte Schutz bei seinem Vater. Mein Vater stand auf und kam mir hinkend entgegen. Er nahm mich in seine Arme und legte lächelnd seine Hand auf meine Brust, um mich zu beruhigen. Ich kann mich genau erinnern und habe bis heute seine Worte nicht vergessen:

»Ach, es ist ja nichts passiert, mein Junge. Es ist doch nur ein Musang, du brauchst keine Angst zu haben, dein Vater ist ja da …«

Das ist eine meiner frühsten Erinnerungen. Ich habe oft darüber nachgedacht, warum sich diese Worte meines Vaters mir so eingebrannt haben. Die Antwort lautet wohl: nicht deshalb, weil er mir damit so liebevoll Trost und Geborgenheit vermittelte, sondern weil er sonst immer schwieg. Mein Vater war der bescheidenste, verschlossenste und schweigsamste Mensch, den ich jemals kennengelernt habe. Daher hatte jedes seiner Worte einen besonderen Wert, war fast wie ein Vermächtnis, das ich sorgsam aufbewahrte.

Wenn meine Eltern zusammen waren, hielt meine Mutter stets Monologe, die nur einen Zuhörer hatten, meinen Vater. Es gab Tage, da hörte man ihn gar nicht. Wenn er seine Netze flickte, träumte er vor sich hin. Oft habe ich mich gefragt, was wohl in ihm vorging. Warum war er so schweigsam? War das seine natürliche Veranlagung, oder lag es an verstörenden Erlebnissen in der Vergangenheit, über die er nicht sprechen konnte? Als mein Vater ein Kind war, hatte die holländische Kolonialmacht auf Belitong Zinnlagerstätten entdeckt. Weil die Einwohnerzahl auf der Insel damals äußerst gering war, fiel es den Holländern schwer, genügend Arbeitskräfte zum Abbau der Bodenschätze zu finden. So wurde kurzerhand fast die gesamte männliche Bevölkerung zur Minenarbeit zwangsverpflichtet. Auch mein Vater. Er war zu der Zeit erst zwölf Jahre alt. Von der harten Arbeit unter unmenschlichen Bedingungen hatte er ein verkrüppeltes linkes Bein zurückbehalten: Am Knie saß eine Geschwulst so groß wie ein Tennisball, und er konnte sich nur hinkend fortbewegen. Als später die Japaner kamen und das holländische Regime ersetzten, zogen sie die männliche Bevölkerung abermals zur Zwangsarbeit heran, um Häfen anzulegen, Bunker und Straßen zu bauen. Diese Jahre bescherten meinem Vater drei steife Finger, sie standen ab wie die Zinken einer Gabel.

Ich war noch zu klein, um das alles wirklich zu begreifen. Aber ich bedauerte meinen Vater. Insgeheim beobachtete ich ihn oft, vor allem wenn er gerade schlief. Dann sah er aus wie ein Stück Eisenholz von einem Meter sechzig Länge. Die eine Schulter hing schief nach unten, weil er als junger Mann die schweren Säcke mit Zinnerz hatte schleppen müssen, Säcke, schwerer als er selbst. Seine Haut war bleich vom Schweiß, gemischt mit Rauch, Staub und Petroleum. Wenn er so dalag, wie gefällt, konnte man deutlich sehen, dass das eine Bein kürzer war als das andere. Seine Hände glichen dem Griff am Hebel einer Wasserpumpe, die Finger wie Eisenstäbe. Durch meinen Vater erkannte ich, dass ein schweigsamer Mensch mehr ausdrücken kann als ein Schwätzer. Dass Worte in Gesten verborgen sein können, dass Gesichtsausdruck und Augen eine eigene, unmissverständliche Sprache sprechen. Denn was das Gesicht sagt, kann durch Worte nicht in Frage gestellt werden, und was die Augen mitteilen, kann der Mund nicht entwerten. Worte haben oft ein schlimmes Schicksal, sie sind schutzlose Wesen, jeder Form der Manipulation ausgeliefert.

Mein Vater beherrschte die Kunst des sprechenden Schweigens, und von Kindheit an habe ich die Fähigkeit, seine Bewegungen und Haltungen, seinen Gesichtsausdruck zu lesen, immer weiter verfeinert.

Es begann mit ganz einfachen Dingen. Wenn er die Stirn runzelte, seine Hände schlenkerte, bedeutete das: »Wohin gehst du denn, mein Junge?« Oder schon etwas schwieriger, wenn er die Lippen zusammenpresste, an sein linkes Ohr fasste und die rechte Hand auf die Stirn legte: »Hast du schon die Matheaufgaben gemacht?« Hielt er sich dagegen mit der rechten Hand das Kinn, hieß das: »Hast du schon deine Englischvokabeln gelernt, mein Junge?«

Komplex wurde es, wenn er seinen Mund spitzte, die Schulter hob, die Augenbrauen hochzog, wenn sein Gesichtsausdruck zwischen ernst und froh wechselte und er sich mit der Hand an die Stirn schlug. Damit wollte er sagen: »Junge, es ist schon spät, vergiss nicht, die Eier aus dem Entenstall zu holen, den Stall zu reinigen und zuzumachen. Wir müssen das Regierungsprogramm zur Entenzucht unterstützen. Enteneier sind gut für Geist und Seele. Viele sind Minister geworden, weil sie schon in der Kindheit Enteneier gegessen haben.«

Am schönsten war es, wenn mein Vater Glückwunsch und Hochachtung ausdrücken wollte. Dann lächelte er übers ganze Gesicht, die Augen strahlten, er legte beide Hände auf die Brust und wackelte mit dem Kopf wie ein Kind, das gerade singt. Diese Geste liebte ich ganz besonders, nur leider konnten mein Vetter Arai und ich ihn nur selten durch unsere Leistungen dazu animieren.

3 Arai sah aus wie das Frühwerk eines jungen Künstlers, der noch ohne größere Erfahrung im Umgang mit Ton ist, da etwas eingedrückt, dort etwas ausgebeult und mehrmals nachgebessert. Die Haare wild, die Nase flach, vorstehende Zähne. Dazu eine raue, durchdringende Stimme – vielleicht weil er als Kind ständig geheult hatte. Seine Bewegungen waren ungelenk, aber sein offener, lebhafter Blick nahm einen für ihn ein, sein Zauber lag in den Augen. Arai und ich waren verwandt. Seine Großmutter war die jüngere Schwester meines Großvaters mütterlicherseits. Er war arm dran, denn als er gerade in die Schule gekommen war, verlor er innerhalb eines Tages seine Mutter und den neugeborenen Bruder, keiner von beiden hatte die Geburt überlebt.

So blieb Arai mit seinem Vater allein. Doch noch ein zweites Mal traf ihn das Schicksal schwer. Als er in die sechste Klasse der Grundschule kam, starb sein Vater. Arai war nun Vollwaise. Deswegen nahm ihn meine Familie zu sich. Ich werde nie vergessen, wie mein Vater und ich ihn damals abholten. Zu Fuß war seine Hütte für uns nicht zu erreichen, aber ein befreundeter Kopraarbeiter half uns mit seinem Transporter. Verlassen stand Arai an der Treppe zu seiner Hütte, mit ihren geflochtenen Wänden und dem Dach aus Blattwerk. Um ihn herum ein ausgedehntes, aber unbestelltes Zuckerrohrfeld. Er hatte eine Korbtasche unter dem Arm, in der sein ganzer Besitz lag: einige Kleidungsstücke, ein Gebetsteppich, ein Wasserschöpfer aus Kokos, ein paar selbstgemachte Spielsachen und ein einfacher Fotorahmen aus Plastik mit dem Hochzeitsfoto seiner Eltern in Schwarz-Weiß. Hinter das eine Ohr hatte er einen abgewetzten Bleistiftstummel geklemmt, in der Hose steckte ein abgebrochenes Holzlineal. In der linken Hand trug er ein paar Bücher ohne Deckel, Hose und Hemd aus rohem Baumwollstoff waren zerschlissen, überall fehlten Knöpfe. Mit diesen Habseligkeiten wollte er der Welt begegnen. Er hatte bereits stundenlang auf uns gewartet.

Sein Gesicht hellte sich auf, als er uns kommen sah. Ich nahm ihm die Bücher ab und wir ließen die Hütte mit offener Tür und offenen Fenstern zurück. Die Hütte war wie eine Korallenbank, eine Zuflucht für Fische im Meer, und würde bald von Musangs bewohnt werden, das Dach würde ein Nest für Ringeltauben abgeben und die Pfosten ein Paradies für Holzwürmer.

Wir folgten einem schmalen Pfad, mussten uns einen Weg durch Unkraut bahnen, das höher stand als wir selbst. Arai blickte traurig zurück, nahm ein letztes Mal Abschied von seiner alten Hütte, dann wandte er sich um und schritt entschlossen voran. Er hatte früh gelernt, Schwierigkeiten zu bewältigen. Meinem Vater traten Tränen in die Augen, er nahm Arai fest in den Arm.

Während der Rückfahrt auf der Ladefläche des Lasters schwieg ich, denn ich empfand tiefes Mitleid mit meinem Vetter, der vom Schicksal so schwer getroffen war. Mein Vater setzte sich auf einen Koprahaufen und verbarg sein Gesicht in den Händen, er hatte nicht das Herz, Arai anzusehen. Arai und ich saßen nebeneinander und wurden auf der steinigen Straße arg durchgeschüttelt. Wir sagten beide nichts. Arai war wie ein einzeln stehender Baum auf einem weiten Feld, denn er war der Letzte, der von seiner Familie übrig geblieben war. Sein Vater und seine Mutter waren jeweils Einzelkinder gewesen und seine Großeltern schon lange tot. Malaien nennen den Letzten in einer Linie, der von einem Klan übrig geblieben ist, Simpai Keramat.

Ich betrachtete Arai von der Seite. Man konnte ihm ansehen, dass er sein ganzes bisheriges Leben zu kämpfen gehabt hatte. Er war nicht älter als ich, aber viel erwachsener. Mir rollten die Tränen über die Backen, aber sein Blick war klar und voller Zuversicht. Ich konnte gar nicht begreifen, wie ein Junge, der nicht älter war als ich, mit einem solchen Verlust fertigwerden konnte. Arai nahm seinen linken Ärmel und trocknete damit meine Tränen. Diese Geste rührte mich so, dass mir die Tränen nur noch heftiger die Backen herunterrannen.

Ich befürchtete, Arai würde von unserer Traurigkeit angesteckt, aber er lächelte nur und griff in seine Korbtasche. Seinem Gesicht war anzusehen, dass darin etwas Geheimnisvolles steckte. Und tatsächlich holte er ein merkwürdiges Spielzeug aus der Tasche und rief:

»Ikal, schau dir das mal an!«

Es war ein interessantes Ding, eine Art Kreisel aus Rippen der Arenpalme, mit Kenari-Nüssen an den Enden. Die Rippen waren mithilfe einer mechanischen Konstruktion miteinander verbunden. Auf den ersten Blick hatte das Ding etwas von einem Helikopter. Meine Neugier stieg, als Arai jetzt anfing, es in kreisende Bewegung zu versetzen. Nach einigen Umdrehungen bog sich die eine große Rippe, die als Hebel diente, löste sich wieder, schoss dann in die entgegengesetzte Richtung und verursachte einen Rückstoß, der den Kreisel mehrmals um jeweils 360 Grad in die entgegengesetzte Richtung drehte. Noch toller, die Rückwärtsdrehung bewirkte, dass die Kenari-Nüsse gegeneinanderprallten und ein irres Geräusch von sich gaben. Ich musste furchtbar lachen. Arais Augen glänzten. Ich fand das großartig, denn wie der seltsame Kreisel die Gesetze der Drehkraft zu unterlaufen schien, so kehrte Arai die Regeln der Traurigkeit um. Er hatte ein ungewöhnlich positives Wesen, und so tröstete er uns in einem Moment, in dem wir ihn hätten trösten sollen.

»Versuch auch mal, Ikal!«

Ich brachte den Kreisel in Schwung und erschrak, denn er drehte sich so vehement, dass sich die Konstruktion löste, die Rippen auseinanderfuhren und mir die Nüsse ins Gesicht flogen. Ich hatte es übertrieben. Arai brach in ein großes Gelächter aus und schüttelte den Kopf. Mein Schreck hatte sich noch nicht gelegt, da griff Arai erneut in seine Tasche.

»Ich hab noch was!«

Diesmal zog er eine flache runde Dose aus Medangholz, wie sie bei uns zum Aufbewahren von Tabak verwendet werden, aus seiner Tasche. Es waren kleine Löcher hineingebohrt. Arai öffnete die Dose behutsam.

»Ein Rüsselkäfer!«, rief ich.

Rüsselkäfer haben Flügel, die wie die Schilde der Spartaner funkeln, und lassen sich nur sehr schwer fangen, es war eine Art Sport unter den Jungen auf Belitong. Wenn man tatsächlich einen erwischte, wurde man allseits bewundert. Es war nicht schwierig, sie zu halten, am liebsten fraßen sie Kokosflocken, und wenn man sich geschickt anstellte, konnte man sie sogar dressieren. Aufmerksam verfolgte ich, wie Arai den Käfer auf seinen Arm krabbeln ließ. Er vollführte kleine Sprünge, als wollte er seine Freiheit nutzen, um abzuheben und fortzufliegen. Arai streichelte ihn, nahm ihn dann vorsichtig in die Hand und warf ihn in die Luft.

Der Käfer straffte seine Flügel, schwebte einen Moment lang in der Luft, flog dann in Kreisen auf und verschwand im dichten Laub am Straßenrand. Arai lief auf der Ladefläche nach vorn. Langsam breitete er die Arme aus und ließ sich den Wind ins Gesicht blasen. Er drehte sich nach mir um und lächelte voll strahlender Zuversicht. Man konnte ihm ansehen, dass er fest entschlossen war, das Elend, das ihn bisher umgeben hatte, hinter sich zu lassen und sein Schicksal neu herauszufordern. Seine Jacke hatte keinen einzigen Knopf mehr, so dass sie zu beiden Seiten aufflatterte wie die Flügel des Rüsselkäfers. Arai wiegte sich im Fahrtwind wie ein Adler in den Lüften und streckte sich der Welt entgegen.

Mein Vater lächelte und ballte die Faust, ich selbst wollte mich totlachen, und gleichzeitig stiegen Tränen in mir auf.

4 Selten erscheint meine Heimatinsel in Atlanten, doch stets auf geologischen Karten. Sie hat weniger als zwanzigtausend Einwohner, ist südlich von Sumatra gelegen, eine von knapp vierzehntausend Inseln Indonesiens: Belitong. Aus der Vogelperspektive betrachtet ist sie nahezu rund und hat einen Durchmesser von weniger als hundert Kilometern. Früher war Belitong, das gleichsam im Ozean treibt, wo die Javasee und das Südchinesische Meer aufeinandertreffen, so gut wie unbekannt. Das änderte sich erst, als in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ein holländischer Geologe Zinnvorkommen von unvorstellbaren Ausmaßen auf der Insel entdeckte. Von diesem kleinen, abgelegenen Flecken Erde kam zeitweilig fast die Hälfte des weltweit geförderten Zinns. Im Verhältnis zu ihrer Größe ist Belitong zweifellos eine der bodenschatzreichsten Inseln der Welt. Es war blanke Ironie des Schicksals: Unsere Siedlung gehörte zu den ärmsten auf Belitong, und nun stellte sich heraus, dass gerade hier, unter unseren baufälligen Stelzenhäusern, eine Schatztruhe voller Reichtümer verborgen war, nur der Schlüssel dazu fehlte.

Selbst Leute, die viel in der Welt herumgekommen sind, staunen, wenn die Westküste von Belitong vor ihnen auftaucht. Die haushohen Monolithe, die über Jahrmillionen hinweg von Wind, Meer und Regen zu Skulpturen geschliffen worden sind und hier wie vom Himmel gefallen herumliegen, sind ein fast erhabener Anblick. Dazu weißer weicher Sandstrand, so weit das Auge reicht, dazwischen kleine, geschützte Buchten, die Seen gleichen.

Unsere Siedlung liegt im östlichen Teil der Insel, am Linggang, der von alters her verehrt wird. Am Ufer dieses Flusses siedelten ursprünglich Nomaden, die sich noch in Baumrinde kleideten. Jeden Abend, wenn der Widerschein der Sonne die Flussmündung in ein märchenhaftes Licht tauchte, stimmten sie Lieder an, mit denen sie dem Linggang ihre Freude oder ihr Leid mitteilten. Diese Gewohnheit haben die Malaien bis heute beibehalten.

Die Malaien, zu denen auch meine Familie gehört, bilden auf Belitong die Mehrheit der Bevölkerung. Sie sind bekannt für ihren besonderen Humor, eine Mitgift der Natur, die ihre Stärke ausmacht und ihnen hilft, schlechte Zeiten zu ertragen und Schicksalsschläge hinzunehmen. Wir sind schwatzhaft – was man heute kommunikativ nennt – und erzählen gern alle möglichen Geschichten. Wir haben eine reiche mündliche Überlieferung von Geschichten und Märchen. Malaien sind anderen gegenüber sehr aufgeschlossen. Kinder und junge Leute reden wir mit »Boi« an, egal, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelt.

Malaien lieben alle Formen von Musik und neigen dazu, Künstler oder Prominente anzuhimmeln, geradezu kultisch zu verehren. Besonders beliebt war zum Beispiel Prinzessin Diana. Wenn gezeigt wurde, wie die britische Kronprinzessin irgendwo in der Welt Armenviertel besuchte, dann drängten sich die Leute in der offenen Gemeindehalle vor dem kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher und traten sich gegenseitig auf die Füße, nur um Lady Di zu sehen. Sie träumten davon, dass die Kronprinzessin auch sie eines schönen Tages besuchen käme. Wann immer der Name Lady Di im Radio fiel, ließ mein Vater sofort das Fischernetz liegen, das er gerade flickte, und hielt sein Ohr an den Lautsprecher.

Außer den Malaien gibt es auf Belitong noch Chinesen, meistens Händler. Dann die Sawang mit ihrer schönen, seltsamen Sprache. Sie wohnen in Langhäusern, die in viele kleine Bereiche unterteilt sind. An die dreißig Familien leben dort zusammen. Man sagt den Sawang nach, dass sie hart arbeiten können, außerdem sind sie begeisterte Volleyballspieler. Eine weitere Bevölkerungsgruppe unserer Gemeinschaft sind die Orang Sarong, die eine ganz eigene Sprechweise haben, weil sie ständig zum Fischen auf See sind und gegen das tobende Meer anschreien müssen. Sie tragen stets einen Sarong, entweder um die Hüfte gewickelt, um die Schulter geschlungen oder als Kopfbedeckung, mit der sie aussehen wie Ninjas. Diese verschiedenen Gruppen leben auf Belitong seit Jahrhunderten friedlich miteinander.

5 Die Hebamme, die meiner Mutter bei meiner Geburt half, erzählte, ich hätte eigentlich am 23. Oktober geboren werden sollen. An jenem Tag hatten bei meiner Mutter bereits die Wehen eingesetzt, die Fruchtblase war um neun Uhr geplatzt. Trotzdem bestand sie darauf, dass sie jenen Tag erst noch hinter sich bringen wolle. Sie arbeitete regelrecht gegen die Geburt an und missachtete die Hilfe der Hebamme, die richtig böse wurde und meine Mutter für übergeschnappt hielt, denn ihr Benehmen war völlig unverständlich. Als Mitternacht vorüber war, lächelte meine Mutter glücklich und brachte mich zur Welt.

Meine Mutter war immer schon dickköpfig und äußerte stets frei heraus, was sie dachte. Was ihr in den Sinn kam, musste sie sogleich loswerden. Natürlich habe ich oft nicht auf sie gehört, aber eines habe ich von ihr gelernt: Niemals soll man über jemanden hinter seinem Rücken sprechen. Meiner Mutter war die Vorstellung, jemandem Unrecht zu tun, ein Gräuel. Diese Einstellung lehrte mich, stets die guten Seiten eines Menschen zu sehen, nicht die schlechten.

Die Geschichte meiner verzögerten Geburt war nur ein Beispiel von vielen für den Eigensinn meiner Mutter. Neugierig, wie ich war, versuchte ich herauszufinden, warum sie so starrsinnig war.

Von den Malaien, die die Kolonialzeit erlebt haben, hat jeder einzelne eine erstaunliche Geschichte zu erzählen. Als die Japaner Indonesien besetzt hielten und die Leute im Radio von den Vorgängen auf den Philippinen hörten, flohen sie in die Berge. Meine Mutter war die älteste von fünf Geschwistern. Sie muss eher schwach und kränklich gewesen sein als Kind, so erzählte es jedenfalls ihre Mutter, also meine Großmutter. Gemeinsam mit vielen anderen Dorfbewohnern machten sie sich auf, mussten in Schluchten hinabsteigen, Flüsse durchqueren und Berge erklimmen. Meine Mutter trug ihre jüngste Schwester, gerade zwei Jahre alt, vorn auf der Brust, die zweitjüngste in einem Tuch auf dem Rücken. So marschierten sie tagelang auf der Suche nach einer neuen Zuflucht. Meine Mutter konnte viel von den Gefahren erzählen, denen sie während des Krieges ausgesetzt waren, von der Wildnis der Urwälder und dem Hunger, den sie erdulden mussten und dem viele zum Opfer fielen.

Immer wieder bat ich meine Mutter, mir von ihrer Flucht zu erzählen, nicht nur weil ihre Erlebnisse etwas Besonderes waren, sondern weil ich sie so sehr bewunderte. Wenn sie davon sprach, zeigte sie keine besondere Rührung. Sie schilderte das alles ganz gelassen, wenn auch sehr drastisch. Sie war eine tapfere Frau, immer noch voller Stolz darauf, ihre Geschwister gerettet zu haben. Ihre Wortwahl und ihr Gesichtsausdruck ließen erkennen, dass sie sich glücklich schätzte, als Älteste auserwählt gewesen zu sein, große Verantwortung zu übernehmen. All das habe ihrem Leben einen Sinn gegeben. Das mag vielleicht etwas pathetisch klingen, aber so sind mir die Worte meiner Mutter im Gedächtnis geblieben.

Zu den Umständen meiner Geburt habe ich meine Tante befragt. Die berichtete, die Hebamme habe meine Mutter gefragt, warum sie sich so standhaft geweigert habe, mich vor Mitternacht zur Welt zu bringen. Da habe meine Mutter gelächelt:

»Weil ich wollte, dass mein Kind am 24. Oktober geboren wird, weißt du, was dieses Datum bedeutet?«

Kopfschütteln der Hebamme.

»Am 24. Oktober ist der Gründungstag der Vereinten Nationen. Ich möchte, dass mein Kind ein Friedensstifter wird, genau wie die Vereinten Nationen. Das Kind soll dafür sorgen, dass in unserer Familie Frieden herrscht.«

Salam Salamun Salam, so haben sie mich zuerst genannt. Ein großartiger Name. Salam bedeutet auf Arabisch Frieden. Und so steckte in meinem Namen dreimal der Frieden.

Die Namensfrage ist in unserer Kultur keine Kleinigkeit. Auf einem Namen liegt bei uns göttlicher Segen. Wenn ein Kind sich nicht gut entwickelt, wenn es zum Beispiel besonders frech, ungewöhnlich dumm ist oder kränkelt, dann ist das Erste, was die Eltern tun, den Namen zu ändern. Das hat bei uns eine lange Tradition. Wir glauben, dass manches Unheil in dieser Welt daher kommt, dass viele Menschen den falschen Namen haben.

Wenn jemand diese Tradition in Frage stellt, dann wird der Dorfälteste die Gegenfrage stellen:

»Was steht auf deinem Grabstein, wenn du mal tot bist? Etwa die Zahl deiner Rinder? Nein. Die Größe deines Besitzes? Nein. Die Zahl deiner Frauen? Nein. Nur der Name, das ist das Einzige, was von dir bleibt. Dein Körper vergeht, aber dein Name stirbt nicht, so wenig wie deine Seele.«

Wenn man es so betrachtet, dann hat der Alte durchaus recht.

Jedenfalls war die Frage der Namensgebung bei uns ein ständiges Problem. Darum gab es auch einen entsprechenden Ratgeber. Er war inoffiziell zum Consultant in Namensfragen erhoben worden, weil er einen ungeheuren Erfahrungsschatz besaß. Es war ein alter Fischer, der mit seinem Boot allein aufs Meer fuhr. Er war oft zwischen den Inseln unterwegs, fuhr bis nach Kalimantan, Karimun, sogar nach Aceh und Malaysia. Von diesen Fahrten brachte er eine Menge Geschichten mit. Er stand allgemein im Ruf, magische Kräfte zu besitzen und die Zukunft vorhersagen zu können. Ratgeber Weh, so wurde er überall genannt.

Es war noch nicht viel Zeit vergangen, da waren die hochfliegenden Hoffnungen, die meine großartigen Namen genährt hatten, dahin. »Er kann nicht einen Augenblick lang Ruhe geben, streitet beständig und ist aufsässig!«, beklagte sich der Koran-Lehrer bei meiner Mutter. »Sobald Salam die Moschee betritt, gibt es Ärger.«

Mehrmals beschwerte sich der Lehrer bei meinem Vater, dass ich seine Sandalen versteckt und alle möglichen Lieder in das Mikrofon gesungen hätte, das eigentlich dem Gebetsruf diente. Meine Mutter schimpfte mich fürchterlich aus.

»Schau dich nur an! Das soll ein Friedensstifter sein? Du machst uns bloß Schande!«

Meine Eltern beschlossen, dass ein neuer Name für mich gefunden werden müsse und dass es an der Zeit wäre, den Ratgeber Weh einzuschalten. Der musterte mich lange vom Kopf bis zu den Füßen und sagte dann feierlich, jede Silbe einzeln betonend:

»Aqil Barraq Badruddin, das passt vermutlich zu dir, Boi. Wir versuchen es einmal.«

»Wie war das noch mal?«, fragte meine Mutter

»Aqil Barraq Badruddin, ein wunderbarer Name.«

»Darf man auch erfahren, was der Name bedeutet?«, wollte meine Mutter wissen.

»Aqil ist Arabisch und bedeutet Vernunft, Barraq kommt aus der Hochsprache des Jemen und heißt Glanz, Pracht, Badruddin bedeutet der Religion ergeben.« Weh sah mich noch einmal lange an.

»In freier Übersetzung heißt der Name etwa ein guter, gescheiter Junge, der sich von der Vernunft leiten lässt.«

Nachdem ich zum dritten Mal dabei ertappt worden war, wie ich dem Religionslehrer die Luft aus dem Fahrrad ließ, meinte Weh, der Name sei wohl doch zu anspruchsvoll für mich. Ein Träger dieses Namens müsste einen ausgeglichenen Charakter besitzen. Das tat ich jedenfalls nicht. Nun wurde ich immer wieder umbenannt, wenn ich mich nicht verzählt habe, insgesamt neun Mal. Keiner der neun Namen hatte die positive Auswirkung auf meinen Charakter, die meine Eltern sich davon versprachen, im Gegenteil, ich wurde immer unausstehlicher. Meine Mutter suchte jedoch nicht nach Gründen, die außerhalb lagen, sondern machte die Namen selbst dafür verantwortlich. Sie bat meinen Vater, nochmals Weh aufzusuchen. Aber er kam mit leeren Händen zurück.

»Ratgeber Weh hat keine Namen mehr«, berichtete mein Vater mit trauriger Miene. Meine Mutter fasste sich an die Stirn.

Ich selbst ließ den Mut nicht sinken, denn ich wusste, dass ich nicht der Einzige war, der mit seinem Namen so irritierende Erfahrungen gemacht hatte. Mein Freund Jimbron zum Beispiel musste seinen Namen sechs Mal ändern, bis er einen gefunden hatte, der ihn zu einem fleißigen Schüler und einem folgsamen Sohn machte. Jimbrons Vater hatte seinen Namen nach James Brown ausgesucht, dem amerikanischen Sänger, der so oft das Lied »Ai Kill Gud« sang.

Meine Mutter sah mich verzweifelt an.

»Also gut, wenn er keine Namen mehr weiß, dann such dir selbst einen.« Sie hatte genug von dem vielen Hin und Her und wollte mit dieser Sache nichts mehr zu tun haben.

»Such dir einen, der dir gefällt.«

Als meine Mutter das sagte, las ich gerade in einer alten Zeitung, die ich vom Markt mitgebracht hatte. Diese Zeitungen, in die die Händler ihre Waren einwickelten, waren für mich die einzige Lektüre, deren ich habhaft werden konnte. Plötzlich lächelte mir das Foto eines Mannes entgegen, der mich ansah, als wollte er mit mir befreundet sein. Der Mann, über den hier berichtet wurde, hieß Matteo Galliano und war ein Maler aus Italien, aus Mailand. Auch eines seiner Bilder war abgedruckt und gefiel mir, ein Garten mit wunderschönen Blumen.

»Was hältst du davon, Mutter, wenn ich Matteo hieße?«

Sie war perplex. »Also, was soll das denn für ein Name sein! Das ist doch ein Name aus dem Westen!«

Mein Vater hatte zugehört. »Er hört sich aber gut an, Matteo. Es ist bestimmt kein Fehler, ihn mal zu probieren«, meinte er.

Den Namen konnte ich aber auch nicht lange behalten, denn die Leute sagten, ich sei mit einem Mal sehr geckenhaft und angeberisch. Ich hatte mich auch schon über mich selbst gewundert, denn sobald ich ein hübsches Mädchen sah, konnte ich mich nicht zurückhalten, ich musste ihr nachpfeifen.

Nachdem sich auch mein selbstgefundener Name Matteo als ungeeignet erwiesen hatte, waren meine Eltern ratlos, Ratgeber Weh hatte resigniert, und auch der Gemeindeschreiber zeigte die weiße Flagge. Einige Monate lang blieb es beim Status quo. Das führte allerdings zu einem schrecklichen Durcheinander. Auf dem Markt redeten mich die Leute mit Salamun an, auf der Gemeinde mit Badrudin, in dem Viertel nebenan hieß ich Mukhsin, im Hafen Razak. Die Straßenhändler riefen mich Ilham, in der Moschee war ich Mahmudin, in der Metzgerei Margoat. Und dann waren da noch Freunde, die mir auf die Schultern klopften und baten, ich möge ihnen doch mitteilen, wenn ich einen neuen Namen gefunden hätte.

Meine Identität war in Frage gestellt. Ich war selbst verwirrt und reagierte oftmals überhaupt nicht, wenn jemand nach mir rief. Schließlich bat ich alle, die mit mir zu tun hatten, mich einfach Ikal zu nennen, Kraushaar. Das war der Spitzname, den mir meine Freunde in der Schule gegeben hatten.

Merkwürdig, von dem Moment an brauchte mein Name nicht mehr geändert zu werden.

Durch die Namensfrage war ich Weh etwas nähergekommen. Arai und ich besuchten ihn fast täglich in seinem Boot. Wir halfen ihm, sein Boot abzudichten, flickten das Netz oder besserten ein Segel aus. Weh erzählte von seinen Erfahrungen auf See, etwa wie er die Bewohner der Mentawai-Inseln getroffen hatte, die sich mit einer Tinte aus Pflanzensaft bemalen. Seine Geschichten von den Dayak und den Bajo, den Seenomaden, versetzten uns in Erstaunen. In meiner Familie waren viele Fischer, Arai und ich setzten uns oft ins Boot, um zu angeln oder zu den Inseln rings um Belitong zu fahren. Aber eine Fahrt mit Weh war etwas völlig anderes, die war voller Abenteuer.

Arai und ich ließen uns von seiner freien Art anregen. Wenn er am Bug stand, blies der Wind in sein langes Haar, dass es herumwirbelte. Er war groß und schlank, gleichzeitig sehr kräftig und uns trotz seines Alters an Stärke weit überlegen. Seine Haut war sonnengegerbt, sein fester Blick vermittelte Zuversicht und ließ zugleich erkennen, dass er über geheimes Wissen verfügte. Weh konnte seine Fahrtrichtung nach den Sternen bestimmen. Er zeigte uns, wie man taucht und Fische harpuniert.

An einem Wochenende brachen wir noch vor Sonnenaufgang nach Südwesten auf. Weh nahm den direkten Kurs, der voller Gefahren war. Er steuerte das Boot an der gefährlichen Nordseite der Selat Karimata vorbei. In der schmalen Meerenge treffen Javasee und das Südchinesische Meer aufeinander. Unser Boot wurde von einem furchtbaren Strudel erfasst. Es zitterte wie die Saite einer Zither, alles, was im Boot war, klapperte furchtbar, die Nägel in den Bohlen knarrten, das Boot glitt ganz langsam am Auge des Todes vorbei.

Nachdem die Strudel überwunden waren, trieb das Boot in die Gewässer von Tanjung Sambar. Es war mitten in der Nacht. Weh zündete eine Fackel an und murmelte Mantras. Mir wurde erst ganz anders, als ich im Wasser undeutliche Bewegungen wahrnahm. Aber es waren Tausende von kleinen Barschen, die unser Boot umschwärmten. Sie waren durch das Licht der Fackel angelockt worden. Ich fing sie mit der Hand, bis mir die Kraft ausging.

Am ersten September fuhr Weh mit uns beiden zur Straße von Gaspar. Gemeinsam mit einer Gruppe von malaiischen Fischern beobachteten wir einen Schwarm von Walen, die von den kalten Belonna-Untiefen in Tasmanien nach Kuala Trenggano zu den wärmeren Strömungen wanderten. Wir näherten uns behutsam. Die Wale waren in Wirklichkeit noch viel größer, als wir sie uns vorgestellt hatten. Jedes Mal, wenn sie mit der Brust aufs Wasser schlugen, schwappte und schäumte das Wasser hoch auf. Arai und ich waren überwältigt, aber nun galt es, den Moment zu nutzen. In der Nähe der Wale, hatte Weh uns erklärt, tummelten sich stets Schwärme von Makrelen. Auf die waren wir aus.

Ich trat auf die Feder der Abschussvorrichtung, und die Harpune, an der ein langer Faden befestigt war, schoss aus dem Lauf und bohrte sich in den Rücken einer Riesenmakrele. Der Fisch bäumte sich auf und warf sich hin und her wie ein Krokodil, wenn es einer Ziege das Genick bricht.

Wir fuhren noch die ganze Nacht weiter. Mit Bewunderung beobachtete ich den Orion, der unendlich langsam über den Nachthimmel zu gleiten schien.

»Der Orion ist das Wahrzeichen des Ostens«, erklärte Weh. Langsam wendete er das Boot, wir mussten heimkehren.

»Weißt du, Ikal, der Nachthimmel ist eine Heilige Schrift, über den Horizont ausgebreitet.«

Weh wies auf die Sterne, nahm einen glühenden Ast und zeichnete damit einen Kreis in das nächtliche Dunkel. Mit raschen Bewegungen teilte er den Kreis in zwölf Segmente. Es kam mir vor wie ein Wunder. In jedem Abschnitt leuchtete einer der Sterne heller als die anderen in seiner Umgebung. Dann fügte Weh noch die typischen Symbole hinzu. Er wiederholte seine flüchtige Malerei so oft, bis ich mir alles eingeprägt hatte. »Waage, Jungfrau, Leo der Löwe, die erste Sonne im Sommer, die Zwillinge, die Zeit der Aussaat. Da ist der Westen, Europa, dort Afrika. Reise durch Europa, bis du nach Afrika kommst, such die Mosaiksteine zusammen, die dein Leben darstellen, und du findest dich selbst.«

6 Wir hatten ein Jahr, in dem sich die Trockenzeit bereits Mitte Juni ihrem Ende zuneigte, obwohl sie erst im April eingesetzt hatte. Es regnete schon gelegentlich, wenn auch bislang immer nur zwei oder drei Tage hintereinander. Die Leute nahmen das als Anzeichen dafür, dass die Regenzeit diesmal außergewöhnlich lange dauern würde.