Der unglaubliche Sommer des Tom Ditto - Danny Wallace - E-Book

Der unglaubliche Sommer des Tom Ditto E-Book

Danny Wallace

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Beschreibung

Der Frühmorgen-Radiomoderator Tom Adoyo kommt eines Tages von der Arbeit nach Hause und findet dort einen Zettel vor, auf dem ihm seine Freundin Hayley eröffnet, dass sie jetzt weg ist, ihn aber nicht verlässt. Sie bittet ihn einfach, so weiterzumachen wie bisher. Toms Welt bricht in Stücke. Zumal er keine Erklärung für ihr Verschwinden hat. Und so macht er sich auf die Suche nach seiner Freundin. Stück für Stück kommt er dem Geheimnis ihres Verschwindens auf die Spur und trifft dabei auf eine seltsame Selbstfindungsgruppe, die auch sein Leben gehörig auf den Kopf stellen wird.

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Das Buch

Der Radiomoderator Tom Adoyo kommt eines Tages von der Arbeit nach Hause und findet dort einen Zettel vor, auf dem ihm seine Freundin Hayley eröffnet, dass sie jetzt weg ist, ihn aber nicht verlässt. Sie bittet ihn einfach, so weiterzumachen wie bisher. Toms Welt bricht in Stücke. Zumal er keine Erklärung für Haleys Verschwinden hat. Und so macht er sich auf die Suche nach seiner Freundin. Schritt für Schritt kommt er dem Geheimnis ihres Verschwindens auf die Spur, und trifft dabei auf eine seltsame Selbstfindungsgruppe, die auch sein Leben gehörig auf den Kopf stellen wird. Tom muss sich fragen, wie gut er seine Freundin wirklich kannte. Und wie gut er sich selbst kennt.

Der Autor

Danny Wallace, geboren 1976, lebt in einer alten Streichholzfabrik im Londoner East End. Als Journalist schrieb er für den Independent und den Guardian, als Comedy-Produzent, Autor und Moderator ist er im Fernsehen, Radio und Theater präsent. Nach einigen humorvollen Sachbüchern (von denen Der Ja-Sager mit Jim Carrey in der Hauptrolle fürs Kino verfilmt wurde) war Auf den ersten Blick sein Romandebüt, dessen Kinoverfilmung in Vorbereitung ist.

DANNY WALLACE

ROMAN

Aus dem Englischenvon Jörn Ingwersen

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

WHO IS TOM DITTO?

bei Ebury Press, an imprint of Ebury PublishingA Random House Group Company

Copyright © 2014 by Danny Wallace

Copyright © 2014 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Redaktion: Thomas Brill

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München

Satz: Schaber Datentechnik, Wels

ISBN: 978-3-641-14288-9V003

www.heyne.de

Für Wag und Will

Die Jungs

»Mach’s gut.«

EZRA COCKROFT, 1982

EINS

Im Grunde war der Abend des 12. Juni natürlich aus vielerlei Gründen ungewöhnlich. Vor allem aber war er ungewöhnlich, weil der Abend des 12. Juni der Abend war, an dem mich meine Freundin nicht verließ.

Tom,

ich habe dich nicht verlassen. Aber ich bin weg.

Mach bitte weiter wie immer.

In Liebe,

Hayley

Ich starrte die Worte an und setzte mich auf meinen Stuhl.

ZWEI

Ich will nicht sagen, dass ich kein Vertrauen habe.

Ich will nicht sagen, dass man den meisten Menschen nicht vertrauen kann. Aber wenn man jemandem begegnet, dem man trauen kann, dann merkt man das normalerweise gleich. Bei Hayley war es so offensichtlich wie ihre großen blauen Augen, wie die Locke, die sie sich ständig hinters Ohr klemmte.

Sie also – Hayley –, das war ein Mädchen, dem man trauen konnte.

In dem Moment, als sie mir ihre Nummer gab, tat ich das, was ich immer tue, wenn mir jemand seine Nummer gibt.

Ich sah sie mir an, dann sagte ich: »Wow, gibt’s ja nicht! Das ist meine Lieblingsnummer!«

Der Spruch ist ziemlich gut.

Bei so einem Einstieg braucht man sich nur noch zurückzulehnen und abzuwarten, bis das Lachen verhallt. Das ist ein Selbstläufer. Damit ist man auf der sicheren Seite. Wenn einem das keinen Lacher einbringt, macht man irgendwas falsch und sollte vielleicht mal darüber nachdenken, wie man alles andere im Leben so angeht, denn möglicherweise ist man nicht mal in der Lage, ein Sandwich richtig zu belegen.

Und jetzt saß ich in meiner Wohnung, im Dunkeln, auf einem Stuhl in der Ecke, und wählte diese Nummer wieder und wieder und wieder und wieder und wieder.

Mittlerweile war sie schon nicht mehr meine Lieblingsnummer.

Merkwürdig, verlassen zu werden und dabei versichert zu bekommen, dass man nicht verlassen wurde.

Was soll man damit anfangen? Einfach auf Solobetrieb umschalten? Einfach »Na gut« denken und ab sofort für einen Singlehaushalt einkaufen?

Vier Stunden waren vergangen, und ich saß immer noch auf diesem Stuhl. Klimperte mit meinen Schlüsseln. Lauschte den Hunden draußen. Aus Dämmerung war Dunkelheit geworden. Aus Fassungslosigkeit war Wut geworden, und die lag mir wie ein dicker Klumpen im Magen.

Wo war Hayley hin?

Ich glaube, das war für mich die entscheidende Frage.

Aber natürlich fragte ich mich auch: Warum war sie weg? Wie lange würde sie wegbleiben? Warum wusste ich nicht, wo sie hin war? Warum hatte ich nichts davon gewusst, dass sie weggehen würde? Warum sagte sie, dass sie mich nicht verlassen hatte, obwohl es doch offensichtlich war?

Fast zwei Jahre waren wir zusammen. Wir hatten Verpflichtungen. Wir hatten Daueraufträge.

Selbstverständlich hatte ich ihr diverse Nachrichten auf der Mailbox hinterlassen. Bei der ersten klang ich eher verstört. Bei der zweiten wütend. Bei der dritten und vierten besorgt. Als ich zur fünften und sechsten kam, klang ich verzweifelt, und schließlich folgte die stumme siebte.

Ich hatte ihr eine SMS geschrieben.

Wo bist du?

Wo bist du hin?

Hayley, ruf mich an.

Ich hatte noch andere Leute angerufen. Mehrere.

Ihre beste Freundin Fran. Ihren Bruder, ihre Schwester …

»Annie, hier ist Tom«, hatte ich gesagt, mit gesenktem Kopf, hängenden Schultern und beginnendem Kopfschmerz, am Fenster stehend, eine Hand an der Wand, das Telefon zu fest ans Ohr gepresst, weil ich dermaßen unter Strom stand. Es war laut, da wo Annie war. Ein Restaurant? Vielleicht ein Pub?»Ist Hayley bei dir?«

Ein Augenblick verging.

»Nein, Tom …«

Sie wusste es. Sie wusste, dass sie weg war. Es steckte genau da zwischen dieser Pause und dem, wo ein »Wie meinst du das?« hätte sein sollen. Also ja, ihre Schwester wusste, dass sie weg war, aber schlimmer noch: Annie hatte gewusst, dass sie wegwollte.

»Warum hast du mir nichts gesagt?«

»Hayley meinte, es sollte eine Überraschung werden.«

»Eine … Überraschung?«

Sie klang kühl. Was hatte das zu bedeuten? War Annie drauf und dran, sich von mir zu verabschieden? Distanz zu schaffen? Mich langsam aus ihrem Leben zu löschen? Das war kein gutes Zeichen. Seinen Expartner kann man noch eine Weile vereinnahmen, das ist er einem schuldig. Solange man über alles reden muss, ist man noch Bestandteil seines Lebens. Aber seine Freunde, die Familie … die drehen im selben Moment ab, in dem sie die Spitze des Eisbergs sehen.

»Die Überraschung ist ihr gelungen«, sagte ich laut und aggressiv, um sie bei der Stange zu halten und zu verhindern, dass sie das sinkende Schiff verlassen. »Was bedeutet das, Annie? Wo ist sie?«

»Sie hat dich nicht verlassen, Tom, falls das deine Sorge sein sollte.«

Falls das deine Sorge sein sollte.

Aber ich musste vorsichtig sein. Annie klang gereizt. Als würde ich überreagieren. Als wäre es typisch von mir, dass ich überreagierte, wenn mein Ein und Alles weglief. Als ginge es hier um eine Wüstenrennmaus oder so was.

»Das sagt sie zwar, Annie, aber – verdammte Scheiße – die Tatsachen sprechen doch wohl dafür, dass sie mich verlassen hat!«

Mittlerweile bebte meine Stimme.

»Hör auf zu fluchen.«

»Wo ist sie?«

»Das weiß ich nicht.«

»Red keinen Scheiß!«

»Hör auf zu fluchen. Ich weiß es nicht, Tom, ehrlich. Hat sie dir denn überhaupt nichts davon erzählt?«

»Meinst du, ich würde dich anrufen, wenn …«

»Okay, Tom, tut mir leid.«

»Scheiße, das ist echt ein Schlag ins Gesicht, und …«

»Hör auf zu fluchen, und außerdem …«

»Annie, sie ist verschwunden, und du weißt, wo sie steckt, oder?«

»Pass auf dich auf, Tom.«

Mit diesen letzten Worten bestätigte sie meine Befürchtungen.

Pass auf dich auf, Tom.

Klick.

Das hatte sich erledigt, oder?

»Weißt du, was ein guter Name für eine Band wäre?«, fragte Pippy und drehte sich auf ihrem Stuhl um. »R.E.M.«

»Ich glaube, es gibt schon eine Band, die R.E.M. heißt«, sagte ich, ohne aufzublicken, mit trüben Augen, fahler Haut. »Die weltberühmte Band R.E.M.«

Es war vier Uhr morgens, und ich saß an meinem Schreibtisch.

»Ich sag ja nur, dass R.E.M. ein guter Name für eine Band wäre«, erwiderte sie. »Ich habe dich nicht gebeten, die komplette Musikgeschichte runterzubeten. Ich sage nur, wenn man eine Band gründen wollte, wäre R.E.M. ein guter Name.«

»Es wäre ein denkbar schlechter Name«, sagte ich. »Denn es gibt schon eine Band, die R.E.M. heißt, womit ich einmal mehr auf die weltberühmte Band R.E.M. hinweisen möchte.«

»Weil man einfach an Musik denken muss, wenn man R.E.M. sagt, nicht?«, sagte sie, weil sie mir nicht zuhörte.

»Man muss an die Musik von R.E.M. denken, ja.«

»Bingo«, sagte sie. »Wenn ich R.E.M. sage, denkst du an Musik.«

»Ja, ich denke an R.E.M.-Musik.«

»Na, sag ich doch. Die Firma dankt. Beehren Sie uns bald wieder.«

Verdammt, es wäre mir lieber gewesen, Pippy hätte woanders gesessen. In Belgien zum Beispiel. Sie war ja ganz nett – sehr klein, langer Pony, Pulli mit Hund drauf –, aber als Produzentin bei Londons drittbeliebtestem R&B-Sender eher unglücklich besetzt. Wenn sie mit Bark und Lyricis den Flur entlanglief, sah sie aus wie deren Pflegerin. Sie war etwas älter als ich, benahm sich aber jünger. Wollte »relevant« bleiben.

»Du siehst schlimm aus, mein Lieber, bist du krank?«, fragte sie. »Ich sag’s nur.«

Pippy sagte gern etwas Beleidigendes und hängte dann ein »Ich sag’s nur« hintendran, weil sie dachte, dass sie damit so beleidigend sein konnte, wie sie wollte, ohne dass andere sich daran störten, weil sie es ja schließlich »nur sagte«.

»Hab nicht geschlafen«, sagte ich und las immer wieder die erste Zeile meines Skripts …

Heute ist Mittwoch, der 13. Juni. Ich bin Tom Adoyo mit den taufrischen Meldungen für Aufgeweckte …

»Dabei musst dudoch schlafen«, sagte sie, als käme dieser Rat direkt vom Dalai Lama. »Frühaufsteher, mein Lieber.«

In dieser Woche sprang ich für Kate Mann ein, bei Talk Londons Sendung London Calling mit Leslie James. Das Frühstücksradio.

Zwei Fragen fallen den Leuten spontan ein, wenn sie erfahren, dass man einen Job wie meinen hat. Die erste ist: »Um wie viel Uhr musst du aufstehen?« Die zweite ist: »Um wie viel Uhr musst du ins Bett?« Die Antwort auf beide Fragen lautet: »Zu früh.« Aber wenn es denn sein muss:

Ich versuche, so um neun im Bett zu sein. Was ich im Fernsehen verpasse, nehme ich auf. Ich bin mir sehr wohl darüber im Klaren, dass ich dem allgemeinen kulturellen Diskurs immer etwas hinterherhänge. Ich stehe um 3:45 Uhr auf, sitze um 4:10 Uhr im Bus, bin um 4:50 Uhr im Büro. Mal abgesehen von diesem einen Tag, an dem ich um vier Uhr morgens lieber mit Pippy zusammen war, als im dunklen Zimmer zu liegen und den Füchsen beim Liebesspiel zu lauschen.

Ich sammle die News zusammen (womit ich meine, dass ich mir ansehe, was mein Vorgänger so getrieben hat), ich plane voraus (womit ich meine, dass ich mir überlege, wie ich die einzelnen Nachrichten etwas umformulieren kann, damit es so klingt, als würde ich arbeiten), ich sehe nach, ob ich O-Töne finde, klappere die Agenturen ab – PA, Sky, Reuters – und sehe nach, ob von der Polizei was reingekommen ist.

(Das sind übrigens die Pressemitteilungen, die am meisten Arbeit machen. Wieso benutzt die Polizei diese eigene, absonderliche Sprache?)»Der Verdächtige wurde dabei beobachtet, wie er sich in westlicher Richtung entfernte.« So redet doch niemand. Kein einziger funktionstüchtiger Mensch auf Gottes grüner Erde redet so. Vor Kurzem hatten sie auf der A6 einen Popstar geschnappt. »Um null Uhr zwoundzwanzig machte sich eine auffällige Person durch ihre verkehrsgefährdende Fahrweise verdächtig, und bei der ordnungsgemäßen Fahrzeugkontrolle konnte bei dem sechsundvierzigjährigen männlichen Fahrzeugführer unmittelbar ein starker Duft von Spirituosen wahrgenommen werden.« Alter, du hast einen betrunkenen Autofahrer angehalten! Du sollst doch keine Parfumwerbung schreiben!) Ich formuliere meinen Text, ich lese meinen Text, ich bin um sechs im Studio und um zwölf wieder draußen.

Ich weiß sehr wohl, dass unsere Nachrichten keine echten Neuigkeiten sind. Nur sehr wenige Leute decken wirklich Neues auf. Ich helfe lediglich, die frohe Botschaft zu verbreiten. Ich bin ein Teil dieser Massenillusion. Aber wenigstens schreibe ich mein eigenes Zeug. Oder zumindest schreibe ich das Zeug von anderen selbst um. Manche Sprecher lesen die Nachrichten nur vor. Die haben Autoren, kommen reingeschwebt und schweben wieder raus. Diese Typen sind nur Show. Aber so passieren dann die Fehler. Was man selbst geschrieben hat, weiß man. Man kennt seine Stimme, weiß, wie man Sachen sagen muss, wann man Pausen lassen muss, welchen Passagen man Nachdruck verleihen sollte.

Apropos Druck …

»Du wirst nie besser werden, wenn du hier unausgeschlafen auftauchst«, sagte Pippy. »Ich sag’s nur.«

Meine Güte, dachte ich, wenn du es nur sagst, dann sag es doch einfach. Sag es nicht, um dann zu sagen, dass du es nur gesagt hast. Damit sagst du es gar nicht. Du sagst es nur, wenn du es sagst.

»Na ja, im Moment ist einiges los«, murmelte ich und wollte am liebsten nach Hause. Ich bin keiner von denen, die ihren Job nicht leiden können. Ich mag ihn sehr. Obwohl ich manchmal fürchte, dass ich ihn nur mag, weil er mir leichtfällt. Apropos: Was zum Henker machte ich hier eigentlich? Um vier Uhr morgens in einem grell beleuchteten Studio mit hellblauen Stühlen und gräulich grauen Wänden, um darauf zu warten, dass meine Schicht begann, in einer Stadt, mit der ich nicht so recht warm werden wollte, und – trotz einer Frau namens Pippy – mutterseelenallein.

Natürlich hätte ich gern mit jemandem darüber geredet. Aber seit ich nach London gezogen war, hatte es nur Hayley und Hayleys Freunde gegeben. Alle in Bristol – mein alter Chef, mein Zahnarzt, mein bester Freund Calum – hatten gesagt, es sei ein Fehler. Es sei zu früh. Ich kannte diese Frau ja kaum. Nur Dad sagte nichts. Ich hatte ihn eines Abends angerufen – für ihn war es ungefähr Mittagszeit. Im Hintergrund konnte ich seine Frau und seine Kinder hören. Ich glaube, sie wollten gerade irgendwohin, und er meinte nur, ich solle tun, was ich für richtig halte. Es tat ihm leid, dass er sie noch gar nicht kennengelernt hatte.

Und schneller als erwartet hatte ich einen Job gefunden und mein Zeug nach Stoke Newington geschafft, und da war ich nun. Also nein: Ich hatte nicht geschlafen. Und nein: Mit meinen Freunden zu Hause wollte ich nicht darüber sprechen, denn vielleicht war es nur eine Phase, vielleicht machen Pärchen so was ständig durch, und ich wollte nicht wie ein Volltrottel dastehen, was im Stillen alle von mir erwarteten.

Am Abend zuvor hatte ich nichts anderes zustande gebracht, als mich vom Stuhl zum Bett zu schleppen und dazuliegen. Fassungslos. Ich ging die letzten paar Wochen durch, versuchte rauszufinden, was passiert war, was der Auslöser gewesen sein mochte, was sie dazu veranlasst hatte zu gehen.

»Wie geht’s Hayley?«, fragte Pippy, die möglicherweise etwas ahnte. Sie gehörte zu den Menschen, die sich für hellseherisch begabt halten, und ich hatte es mir zur Aufgabe gemacht, ihr bei jeder sich bietenden Gelegenheit das Gegenteil zu beweisen.

»Hayley geht es großartig«, sagte ich, und dann stand ich auf, um mich irgendwohin zu verdrücken.

»Arbeitet sie noch bei Zara?«, fragte sie, als ich schon halb zur Tür raus war, und ich blieb stehen.

Denn da hatte sie was gesagt.

»Heute ist Mittwoch, der 13. Juni. Ich bin Tom Adoyo mit den taufrischen Meldungen für Aufgeweckte … Vier Verhaftungen nach Leichenfund … Lehrer äußert sich zu Klassenraumgeburt … und im Sport steht bei Chelsea ein großer Wechsel an …«

London Calling mit Leslie James. Von sechs bis zehn in der Hauptstadt und weit darüber hinaus. Manche Leute hörten uns online in den Staaten, in Singapur oder Australien, weil es ihnen ein Heimatgefühl gab und sie die Ansichten von Leslie James hören wollten. Sein Geschmack war – vorsichtig formuliert – gewöhnungsbedürftig. Taxifahrer liebten ihn – für sie war er einer von ihnen. Er redete Klartext.

Kate – seine reguläre Nachrichtensprecherin, sein »Desk Jockey«, wie er sie nannte, wobei er noch beim tausendsten Mal einen Lacher erwartete – war auf Mutterschaftsurlaub, und ich wurde vom News Team wieder dahin geschickt, wo Not am Mann war.

Wäre ich ein misstrauischer Mensch, würde ich sagen, ich kriege immer die miesesten Jobs. Frühmorgens normalerweise. Spätabends. Es lag an Maureen von der Personalabteilung, die mich vom ersten Moment an nicht leiden konnte, aufgrund meiner »Launen«. Manches davon ist meine eigene Schuld. Den Rest schiebe ich auf den Umstand, dass mein normaler, entspannter Gesichtsausdruck von drückender Sorge geprägt ist. Ich wirke tiefgründig, melancholisch, wie ein Dichter oder ein Serienkiller oder ein Jurymitglied bei irgendeiner überflüssigen Talentshow. Manchmal habe ich wohl Sorgen, aber es könnte ebenso gut sein, dass ich gerade an einen Hund denke, oder an Badminton. Also meinte sie, an meinen Launen müsse ich noch arbeiten. So lange verweigerte sie mir jede Hilfe. Es wäre unfein von mir – wirklich sehr unfein – zu sagen, dass sie eine Frau ist, die sich an ihrer kümmerlichen Macht aufgeilt.

Ich checkte meine E-Mails.

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Von: MAUREEN THOMAS

An: ALLE MITARBEITER

Wenn Sie es NICHT SCHAFFEN, Ihr Papier in die GRÜNE RECYCLING-TONNE zu werfen, werden wir sie Ihnen wegnehmen, weil Sie ofenbar NICHT IN DER LAGE sind, diese zu benutzen. Das ist mein ERNST.

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Löschen.

So war ich also am einen Tag bei Talk London, und am nächsten Abend redete ich mit Akzent, um mich Bark and Lyricis bei Vibe anzupassen.

SoundHaus belegt zwei Drittel eines bedrückend nichtssagenden Gebäudes abseits der High Holborn und ist das drittgrößte kommerzielle Radiounternehmen Großbritanniens, Heimat von Talk London, Vibe, Jazz Bar, Rocket!, Harmony und noch zwei weiteren Sendern. Aber eins steht fest: Keinen dieser Sender würde ich mir freiwillig anhören. Nie im Leben. Bin ich verrückt? Solche Sender hört man nur in illegalen Minicabs.

Und alle kämpften sie darum, mit den Sendern von Global und Bauer mitzuhalten … außer vielleicht Talk London mit seinem herausragenden Star, dem Hitachi Commercial Radio Talk Presenter of the Year Leslie James.

Leslie James war kein Mann, der sich für seine Ansichten schämte.

Hier ein paar Ansichten, für die sich Leslie James nicht schämte.

»Fuchsjagd. Ja, schlimm, aber ich kann beide Seiten verstehen. Und ich schäme mich nicht, es ehrlich zu sagen.«

»Frauen sollten denselben Lohn bekommen wie Männer, aber – und das meine ich so, ich schäme mich nicht dafür – sie sollten auch genauso hart arbeiten. Oder härter!«

Oder auch:

»Die muslimische Welt muss Verantwortung für die Taten einiger übernehmen, die zwar nicht alle Muslime repräsentieren, aber in deren Namen schlimme Dinge tun, und ich schäme mich nicht dafür, wenn ich klar und deutlich sage: Nicht alle Muslime.«

Darüber ließ sich trefflich streiten.

Auf Sendung konnte er ein kleines Arschloch sein, aber abseits des Mikrofons war er definitiv ein Arschloch.

»… und in der bunten Welt der Unterhaltung durfte sich Jay-Z gestern Abend freuen, als Beyoncé zu ihm auf die Bühne kam. Später in unserem Showbiz Update mit Jen Latham sprechen wir mit Popstar Aphra über ihren Umzug nach Frankreich und den neuen Mann in ihrem Leben …«

Lieber wollte ich über Syrien berichten.

»Es ist sechs Uhr zweiunddreißig, und schon sind Sie wieder auf dem neuesten Stand …«

Ich sammelte meinen Kram zusammen. Kurz vor sieben würde ich wiederkommen. Ich wollte während der restlichen Sendung nicht im Studio sein.

»Ich hab deinen Namen vergessen«, sagte Leslie, als die Werbung lief. Er deutete vage in meine Richtung.

»Oh, ich bin …«

»Es gefällt mir nicht, wenn du sagst: ›Schon sind Sie wieder auf dem neuesten Stand.‹ Es ist doch ziemlich offensichtlich, dass die Leute auf dem neuesten Stand sind, nachdem du sie gerade auf den neuesten Stand gebracht hast.«

»Oh. Das kommt vom News Team«, sagte ich. »Die wollen, dass alle im Sender es verwenden. Wegen der Einheitlichkeit.«

»Entschuldige mal, sind wir hier im Sender oder in meiner Show?«, sagte er, was knifflig war, weil die Antwort »beides« lautete. »Ich sage dir, du sollst es lassen. Also lass es. Womit du jetzt auf dem neuesten Stand wärst …«

Fünf nach zwölf, Schichtende.

Ich hatte eilig ein paar Notizen für die nächste Schicht vermerkt und danach nur noch gegoogelt, geklickt, gelesen.

Facebook. Keine neue Nachricht.

Twitter. Kein Tweet seit dem Restaurantbesuch vor ein paar Tagen.

Ich hatte sogar auf ihrer MySpace-Seite nachgeschaut, weil sie immer meinte, da würde sie hingehen, wenn sie mal allein sein wolle.

Keine Updates.

Sollte ich was posten? Aber ich wusste gar nicht, was ich posten sollte.

Ich versuchte es noch mal bei ihrer besten Freundin Fran. Wir hatten uns immer gut verstanden. Aber sie rief nicht zurück, und das machte mich stutzig. Wusste Fran Bescheid? War Fran eingeweiht?

Allerdings hatte Pippy mich auf eine gute Idee gebracht: Zara, an der Long Acre. Hayley war stellvertretende Filialleiterin. Ihre Kolleginnen wussten bestimmt, wo sie war. Die mussten es eigentlich wissen. Höchstwahrscheinlich hatte sie es ihnen erzählt.

Denn so was muss man seinem Arbeitgeber doch mitteilen, wenn man nicht mehr wiederkommen will, oder? Aber was ist, wenn man doch wiederkommen will?

Ich stellte mir die Frage, was es bedeutete, wenn sie nur vor mir weggelaufen war. Falls sie noch da war – auch gut, dann würde ich sie eben direkt fragen. Ihr eine Szene machen. Sie fragen, was das alles zu bedeuten hatte. Sie fragen, wo sie die letzte Nacht verbracht hatte.

Verdammt, wo hatte sie die letzte Nacht eigentlich verbracht?

In zehn Minuten war ich hingelaufen, und am Tresen: Volltreffer. Ich erkannte Sonal. Wir waren uns erst zweimal begegnet, aber ich wusste, wie sie hieß. Außerdem trug sie ein Namensschildchen.

»Sonal …«

»Hi …«, sagte sie mit halbem Lächeln.

»Ich bin’s. Tom. Hayleys Freund.«

»Tom! Wie geht es dir? Hat sie was vergessen?«

»Ach. Dann weißt du es also?«

»Was weiß ich?«

»Du weißt, dass Hayley weg ist?«

Erwischt. Jetzt hab ich dich. Du wusstest Bescheid, du Schlange.

»Ja, ich weiß, dass sie weg ist«, sagte sie munter. »Selbstverständlich weiß ich, dass sie weg ist. Wieso sollte ich nicht wissen, dass sie weg ist?«

»Ich wusste nicht, dass sie weg ist.«

Ich klang panisch und wirr. Zwei Frauen mit schwarzen Kleidern überm Arm – bei Zara gibt es nur schwarze Kleider – drehten sich zu mir um. Sonal sprach leiser und hoffte offenbar, ich würde es auch tun.

»Du wusstest nicht, dass sie weg ist?«

»Wo ist sie hin?«

»Entschuldige – weißt du nicht, wo sie hin ist, oder wusstest du nicht, dass sie weg ist?«

»Beides. Sowohl als auch. Ich habe gestern Abend einen Zettel gefunden.«

Sie blinzelte mich an, ein- oder zweimal, ihre Augen wurden groß, dann wieder klein.

»Einen Zettel?«

»Wo ist sie?«

»Hayley?Verreist, glaube ich.«

Sie rief nach einer Kollegin.

»Jo? Sie hat doch gesagt, sie will wegfahren, oder? Hayley?«

Jo nickte. Große runde Ohrringe und streng zurückgekämmtes Haar.

»Sie hat gesagt, sie will wegfahren«, beteuerte Sonal.

»Wohin wegfahren?«

»Sie meinte, sie wüsste nicht, wohin.«

»Ach, also einfach so wegfahren? Spontanes, zielloses Wegfahren?«

»Na ja, nicht einfach so. Sie hat schon vor einem Monat gekündigt.«

»Vor einem Monat?« Das gibt’s doch nicht!»Ihr wisst es schon seit einem Monat?«

»Letzte Woche hatten wir ihre Abschiedsfeier«, sagte Jo.

Meine Knie wurden weich.

»Sie hatte eine Abschiedsfeier? Entschuldige, nur damit ich das richtig verstehe: Meine Freundin hatte letzte Woche ihre Abschiedsfeier, und jetzt ist sie auf Reisen?«

Sonal versuchte es mit einem Lächeln, dann mit einem Achselzucken, beides wenig überzeugend.

»An welchem Abend?«

»Bitte?«

»An welchem Abend hatte sie ihre Abschiedsfeier?«, fragte ich.

»Mmh, Donnerstag, glaube ich«, sagte Jo.

Donnerstag. Donnerstags hatte sie Pilates.

Mir wurde schwindelig.

Sie hatte es schon seit einem Monat gewusst. Mindestens. Sogar gefeiert hatte sie.

»Na, das ist aber ungewöhnlich«, sagte Sonal kopfschüttelnd, und dann war die ganze Welt nur noch Lärm, nur Kassenklingeln und Türenbimmeln, nur Verkehr und Wind. »Ja«, sagte ich. »Das ist scheiße noch mal echt ungewöhnlich.«

[1]

Kosinski, M. / Columbia Journalistenschule, 15. 03. 1984

Bewerbung für den Michael Berg Award

Ein Interview mit Ezra Cockroft

Es ist Weihnachten 1982, und Professor Ezra Cockroft sitzt an seinem Tisch im Keen’s an der 72 West 36th Street und stochert in seinem Salat. Wie ich hat er den vom Kellner empfohlenen Spezialsalat des Hauses genommen und die Rote Bete und die kandierten Walnüsse am Rand zu einem ordentlichen, kleinen Turm gestapelt.

Er ist ein hochgewachsener Mann von achtzig Jahren, mit schmalen Händen und langen Gliedern, noch gebräunt vom sonnigen Herbst in Florida, wenn auch jetzt in New Yorker Schwarz gekleidet.

Er nimmt einen Schluck von seinem Getränk – einem hellgrünen Daiquiri, den auch ich bestellt habe, weil mir zufällig aufgefallen ist, dass er hier auf genau dieselbe Weise zubereitet wird, wie ihn meine Großtante in dieser Jahreszeit so oft zu trinken pflegte.

Ich spreche ihn darauf an.

»Sie haben in vollem Vertrauen bestellt«, sagt er. »In dieses Vertrauen habe ich investiert. Investitionen, die mit Vertrauen getätigt werden, bergen von Natur aus ein geringeres Risiko – man unterstellt ein gewisses Vorwissen. Und im Zuge dessen werden diejenigen, die dem Beispiel folgen, mit einer größeren Chance auf Gewinn belohnt.«

Er nimmt seine Serviette und putzt die Ecke eines Bleiglasfensters. Hinter dem messingbeschlagenen Mahagonitresen mixt ein Barkeeper den nächsten Daiquiri.

Mein gedünsteter Finnan Haddie mit ausgelassener Butter wird serviert, wie gleich darauf auch der seine.

DREI

»Heute ist Donnerstag, der 14. Juni. Ich bin Tom Adoyo mit den taufrischen Meldungen für Aufgeweckte …«

Ich hatte nicht mehr als zwei bis drei Stunden unruhigen Schlaf gefunden, es irgendwie aus dem Bett geschafft und mich zum Nachtbus geschleppt. Ach ja, der Nachtbus … das ist meine Welt.

Für kurz nach vier ist es dort ziemlich voll. Man sollte meinen, der Bus wäre um diese Uhrzeit leer. Aber da sitzen immer welche. Vor allem Reinigungskräfte, die sich auf dem Weg zu ihren unsichtbaren Jobs in der Stadt bedeckt halten. Oben ein paar Obdachlose, die sich für die Nacht eingerichtet haben, die blassen Gesichter fest an die verschmierten Scheiben gepresst. Alles Menschen, die keiner so behandelt, als wären sie real.

»… Nach Sturm in Mexiko Tausende von Außenwelt abgeschnitten …«

Im Nachtbus schreibe ich immer das Wetter. Es geht ganz einfach. Natürlich vergewissere ich mich auf der BBC-Website. Aber man sollte auch die Met Office App checken – man darf sich nicht allein auf die BBC verlassen. Ich weiß gar nicht, wieso man denen das immer durchgehen lässt. Leute wie ich müssen darunter leiden. Den lieben langen Tag hat man mit Hörern zu tun, die sich beim Sender beschweren, die SMS schreiben wie: »Sie haben gesagt, es sollte heute regnen, aber es hat heute gar nicht geregnet!«

Also hatte ich alles eingetippt, die Nachrichten gecheckt und mir das Skript selbst gemailt. Manchmal frage ich mich, was die Leute denken, wenn sie mir im Bus über die Schulter blicken. »Wow. Der Typ schreibt aber wirklich sehr förmliche E-Mails über das aktuelle Weltgeschehen.«

Jedenfalls lagen die Tageshöchsttemperaturen bei neunzehn Grad.

»… Offiziellen amerikanischen Quellen zufolge könnte Nordkorea mehrere Raketenabschüsse planen …«

Meine Augenlider wurden schwer. Meine Achseln müffelten. Ich hatte nicht geduscht, nur Deo drübergesprüht. Adewale, der Security-Mann am Eingang, hatte einen Witz gemacht, als ich hereingetaumelt kam. Ich hatte nicht hingehört, war nur weiter durch die schweren Türen in den Korridor gewankt, wo auf jedem einzelnen der sechs LCD-Bildschirme geschrieben stand: HERZLICH WILLKOMMEN, LIEBE FREUNDE VON AIG-VERSICHERUNGEN!, mit zwei kleinen pinken, computeranimierten Luftballons daneben.

»… Wohlfahrtsbetrüger droht zehnjährige Haftstrafe …«

Ich musste die Augen fest zusammenkneifen, um den Text auf dem Papier zu erkennen. Am Abend zuvor hatte ich im Builder’s Arms auf dem Stuhl bei der Tür gesessen und nachgedacht, wollte nicht allein zu Hause sein, wollte nicht auf Schlüsselklappern oder eine SMS warten. Eigentlich trinke ich gar nicht. Ich wollte nur von Leuten umgeben sein, die es tun. Da wird aus vollem Herzen gelacht, man hört das bellende Gelächter geteilter Freude, das sich aufbaut, aufsteigt und explodiert wie ein Feuerwerk am trüben Kneipenhimmel.

»Und später, bei Showbiz: Welcher Popstar zog die Kritik des Vatikans auf sich, weil er nur wenige Meter von der päpstlichen Residenz das Video für den neuen Song ›Carry On‹ drehte …?«

Am liebsten hätte ich mir die Kugel gegeben.

»Es ist sechs Uhr und drei Minuten, momentan vier Grad in Soho, am Nachmittag Höchsttemperaturen bis zu neunzehn Grad – und schon sind Sie wieder auf dem neuesten Stand.«

Fingerzeig. Senderjingle. Werbung.

»Hey, Arschloch«, sagte Leslie, als ich aufstand, mit toten Augen. »Ich dachte, ich hätte gesagt, du sollst das lassen.«

»Entschuldige, Leslie«, sagte ich.

»Tu endlich, was man dir sagt.«

Ich sah nach meinem Handy. Keine Nachrichten.

Ich schickte noch eine SMS mit den Worten »Wo bist du?« und sah mir an, wie meine Nachricht ins Nirwana schoss.

Reisen. Sie hatte nie irgendwas davon gesagt, dass sie auf Reisen gehen wollte. Wir waren noch nicht mal zusammen im Urlaub gewesen. Seit Monaten bearbeitete ich sie schon, mit mir mal Ferien zu machen. Egal wo, hatte ich gesagt. Ägypten. Algarve. Didcot Parkway. Nur mal raus aus London. Wie es schien, hatte wenigstens einer von uns beiden meinen Rat beherzigt.

Ich hatte es noch bei anderen Leuten versucht, während ich da im Pub saß.

Bei Fran hinterließ ich eine weitere Nachricht.

Dann Hayleys Dad in King’s Lynn. Seine Nummer musste ich erst raussuchen, um ihm dann näher erläutern zu dürfen, wer ich war, woraufhin er barsch bestritt, irgendwas zu wissen.

Ich probierte es bei anderen Kollegen und Freunden, deren Nummern ich hatte. Ich versuchte es bei unserem Vermieter Mohammed, der vor allem wissen wollte, ob ich weiter die volle Miete zahlen würde oder vorhatte, ihn runterzuhandeln.

Niemand schien sich Sorgen zu machen.

»Ach, die wird schon wieder auftauchen«, sagte unsere Nachbarin Edith, vierundneunzig, und man kann sich vorstellen, wie beruhigend das war. »Haben Sie mal versucht, sie anzurufen?«

Hayleys Handy war natürlich aus. Aber die Mailbox sprang immer wieder an. Also zahlte sie ihre Rechnungen. Sie brauchte immer noch ein Telefon.

Wem hatte sie also davon erzählt? Wem erzählt man, dass man abtauchen will?

»Vielleicht hast du sie erdrückt«, sagte Pippy mit ihrem schweren Kilbride-Akzent, der in London schmerzhaft schneidend klang. Abwehrend hob sie beide Hände. »Ich bin nur ehrlich.«

Sie nahm einen großen Bissen von ihrem Knoblauchbrot. Wir saßen im Eatalian an der Ecke. Ich hatte mir nur ein Wasser bestellt. Pippy war nicht bei der Sache. Sie hatte sich wieder Herzchen und Sternschnuppen auf die Hand gemalt.

»Es ist einfach so was von durchgeknallt«, sagte sie, wobei sie immer noch nur ehrlich war.

Ich wusste, dass ich mit irgendwem darüber sprechen musste, und ich hatte vorerst niemand anderen als Pippy. Auch wenn mir langsam klar wurde, wie sehr es ihr an Feingefühl mangelte.

»Meinst du, sie hat einen anderen?«, fragte sie.

Ich starrte mein Glas Wasser an.

»Oder gibt es bei ihr eine Vorgeschichte von … irgendwas? Du weißt schon. Psychische Erkrankungen oder so?«

»Sie war eigentlich wie immer. Hat sogar bei Sainsbury’s eingekauft. Online. Obwohl sie da ja schon wusste, dass sie viel zu viel Lebensmittel kauft. Wer macht denn so was?«

»Geisteskranke.«

»Sie ist nicht geisteskrank.«

»Dann eben böse.«

»Das geht zu weit.«

Pippy war Single. Sie hatte es bei match.com versucht, sich aber die Finger verbrannt, nachdem sie ihr Profil mit den Worten »Ich bin siebenunddreißig und Schottin« begonnen hatte und sich darauf niemand meldete. Es dauerte drei Wochen, bis sie merkte, was sie tatsächlich geschrieben hatte: »Ich bin sieben und dreiste Schottin.«

»Dieser Einkauf …«, sagte sie. »Vielleicht meinte sie das mit ›Mach weiter wie immer‹. Vielleicht möchte sie einfach nur, dass du weitermachst wie immer.«

»Ach so?«, sagte ich. »Dann möchte sie, dass ich abends für zwei koche? Den Tisch für zwei Personen decke?«

»Ihr esst am Tisch? Nicht vorm Fernseher, wie alle anderen?«

Wir aßen nie am Tisch. Wir hatten ihn gemeinsam bei IKEA in Edmonton gekauft und uns vorgestellt, wir würden Freunde einladen und Salsa selber machen und rustikales Landbrot kaufen und dann mit interessanten Leuten zu Abend essen und bis spät in die Nacht über Wladimir Putin und die Welt der Hochfinanz diskutieren. In Wahrheit legten wir da unsere Schlüssel hin.

»Manchmal essen wir auch am Tisch. Wir sind doch keine Tiere.«

»Ist schon irgendwie schräg«, sagte sie und seufzte, und ich war einfach nur dankbar, jemanden zu haben, der mir zustimmte.

Zu Hause, am Abend, saß ich auf dem Fußboden zwischen ihren Kleidern, mit meinem Kopf in den Händen.

Über mir hing ihr Wandkalender. Voller Termine, die wir nun nicht mehr wahrnehmen würden. Am 23. – Janeys Hochzeit. Am 10. – Fraser & Iona/Essen bei uns. Am 12. – Kino?

Ich hatte den Kleiderschrank verwüstet. Ich war ausgeflippt. Ein fünfundvierzigsekündiger Wutanfall, weil sie einfach abgehauen war und mich so im Ungewissen ließ.

Ein Koffer fehlte – der mittelgroße aus dem Dreierset. Worauf deutete das hin? Eine Woche? Einen Monat? Vielleicht darauf, dass sie wiederkam. Wenn man weiß, dass man für immer weggeht, nimmt man doch den großen Koffer, oder?

Es sei denn, man merkt, dass man das meiste sowieso nicht mehr haben will.

Ich sah mich in der verspiegelten Schranktür.

Was stimmte denn nicht mit mir?

Ich sehe ganz gut aus. Bin groß, wie mein Dad. Das kommt von seinen kenianischen Genen, obwohl er schlanker geblieben ist als ich. Mum war Französin, und angeblich habe ich ihre traurigen Augen geerbt. Sie sagte immer, damit würde ich eines Tages viele Herzen brechen, aber bisher steht es mehr oder weniger unentschieden. Ansonsten bleibe ich eher unauffällig. Ordentliche Frisur, meist schwarze Kleidung. Ich glaube nicht, dass es da etwas gibt, was irgendwen dazu veranlassen könnte, bei meinem Anblick wegzulaufen.

Es liegt also hoffentlich an meiner Persönlichkeit.

Ich werde schnell wütend, sage jedoch nur selten was. Aber wenn ich was sage, dann sage ich es klar und deutlich.

Dumme Menschen kann ich nicht leiden, und doch muss ich sie erleiden.

Dann gärt und brodelt es in mir. Macht mich mürrisch und schweigsam, sodass ich lieber allein sein möchte, wenn auch nicht ganz allein.

Und dann klingelte es an der Tür.

Es war acht Uhr abends. Ungewöhnliche Zeit für Besuch.

Sie ist wieder da. Es ist vorbei!

Ich rappelte mich auf, rempelte mit der Schulter gegen den Türrahmen und humpelte eilig in den Flur, mit rasendem Herzen und pochendem Schädel, und packte den Türgriff …

»Schönen guten Abend, Sainsbury’s«, sagte der Mann, umzingelt von blauen Kisten und orangefarbenen Tüten.

Ich fragte mich, warum sie so viel bestellt hatte. Sie sorgte sich wohl um mich. Achtete darauf, dass ich nicht verhungerte. Dass ich meine fünf Mahlzeiten am Tag bekam.

Die scheinheilige Schlange.

Ich aß an diesem Abend am Tisch, räumte mir eine kleine Ecke frei zwischen den Schlüsseln und dem Papierkram, den Zeitschriften und den Flyern vom Lieferservice.

Mit der Zeit entwickelte ich direkt einen Widerwillen gegen diese Wohnung. Dieses Zweizimmerapartment, das mehr darstellen wollte, als es war, fünf Minuten vom Fish-&-Chips-Laden und gleich um die Ecke vom Clissold Park, wo man im Sommer entspannte Sonntage am Teich verbringen konnte. Mohammed hatte gesagt, wir könnten die Wohnung streichen, aber inzwischen konnte ich mich darin immer weniger wiederfinden. Diese knallpinke Wand in einem ansonsten in Magnolia gestrichenen Wohnzimmer. Die »schrulligen« Knäufe an den Küchenschränken wie in diesem Laden … wie hieß er noch … Apostroph? Semikolon?

Alles war ein Ausdruck von Hayleys Persönlichkeit. Oder zumindest von dem, was sie lautstark zu ihrer Persönlichkeit erklärt hatte. Als wir neu eingezogen waren, hatte sie endlose Stunden damit verbracht, die Seiten alter Ausgaben von Living Etc durchzublättern, hatte Tapeten von Cole & Son oder Farben von Farrow & Ball umkringelt und komische Worte wie »Rockett St. George« auf bunte Post-its geschrieben. Ich hatte versucht, sie daran zu erinnern, dass es eine Zweizimmerwohnung in Stoke Newington war, nicht Babington House, aber sie kaufte und umkringelte immer weiter. Hayley mochte Zeitschriften. Heat, Grazia, Stylist, Elle, Cosmo. Ein Riesenstapel, eselsohrig, zerknittert, vom Badewasser aufgeweicht. Der Feind in den eigenen Reihen. Hatten diese Blätter sie irgendwie gegen mich aufgebracht? Tuschelten sie hinter ihrem Rücken über mich? Führten sie ihr vor, wie unausgefüllt sie war? In dieser Mietwohnung im Londoner Norden, mit einem mittelmäßigen Mann in mittelmäßigen Klamotten, in ihrem mittelmäßigen Leben zu zweit? Ich nahm die oberste Zeitschrift vom Stapel und sah mir das Cover an.

FASHION. STYLE. FOOD. GLAMOUR. TRAVEL.

Für die Frau, die alles will –

und es für gewöhnlich auch bekommt!

Diese Zeitschriften fanden, dass ich nicht gut genug war, dass ich ein fauler Sack war, ein Neandertaler.

Ich warf sie auf den Boden und schob meinen Teller weg. Mein Kebab war sowieso inzwischen kalt.

Und dann, im Augenwinkel.

Ein kleines rotes Licht blinkte am Boden beim Sofa, im kläglichen Bemühen um Aufmerksamkeit.

Der Anrufbeantworter.

Ich drückte auf PLAY.

»Hallo, Miss Anderson, hier ist Mark, der Sainsbury’s-Bote. Ich melde mich nur, um das Zeitfenster für unsere Auslieferung zwischen 19:00 und 20:00 Uhr zu bestätigen.«

Mich verließ der Mut.

Verlassen ging ich zu Boden.

Doch der Anrufbeantworter lief weiter.

»Mittwoch. Elf … Uhr … neunzehn.«

Eine alte Nachricht. Schon abgehört.

Ich wollte sie gerade löschen.

»Hayley …«

Eine Männerstimme.

VIER

Es war halb sechs, und ich saß da und starrte auf den Bildschirm. Der Cursor blinkte mich an.

Dieses dämliche Zwinkern.

»Mach schon!«, sagte es putzmunter, unermüdlich. »Schreib was!«

Ach ja, Cursor? Wieso schreibst du nicht selbst was?

»Guten Morgen!«, sagte Pippy, während ich meine leere Seite anstarrte. »Hast du diesen O-Ton bekommen?«

Irgend so ein Bericht. Wir schicken frühmorgens einen Reporter raus, ein zweiter wechselt ihn mittags ab. Die beiden nehmen irgendwelches Zeug mit ihren Handys auf und schicken es uns. Im Grunde ziehen sie los, um Volkes Stimme einzufangen. Wenn in East London einer erstochen wird, suchen sie sich jemanden, der sagt: »Ich hätte nie gedacht, dass in dieser Gegend so was passiert.« Das ist der Job. Leute dazu zu bringen, dass sie sagen: »Ich hätte nie gedacht, dass in dieser Gegend so was passiert.« Es ist jeden Tag dasselbe. Im Grunde könnte man bei jedem Bericht, egal zu welchem Thema, denselben O-Ton nehmen. Raubüberfall in Kilburn? Ich hätte nie gedacht, dass in dieser Gegend so was passiert. Lotteriegewinner in Kennington? Ich hätte nie gedacht, dass in dieser Gegend so was passiert. Es kommt einem vor, als könnte sich niemand mehr vorstellen, dass irgendwo mal irgendwas passiert.

Ich klickte den O-Ton an und nahm meine Kopfhörer.

Irgendjemand hätte nicht gedacht, dass ihm etwas zustoßen würde, und zum ersten Mal wusste ich genau, wie ihm zumute war.

Denn wer zum Teufel war dieser Andy, und was war »der Laden«?

Ich hatte mir die Nachricht immer wieder angehört.

»Hayley … hier ist Andy vom Laden.«

Einmal noch.

»… Andy vom Laden.«

Es ging noch weiter.

»Hab mich nur gefragt, ob du deine Vorbereitungen tatsächlich getroffen hast. Ich versuch’s auf deinem Handy.«

Die Stimme – ausdruckslos, emotionslos. Keiner bestimmten Schicht zuzuordnen. Eindeutig britischer Akzent.

»Hab mich nur gefragt, ob du deine Vorbereitungen tatsächlich getroffen hast.«

Tatsächlich? Es hatte also Zweifel an diesen unbestimmten Vorbereitungen gegeben? Hatte sie mit Andy darüber gesprochen, dass sie wegwollte? Hatte sie sich ihm anvertraut? Er klang nicht wie ein Mann, der seine Geliebte anruft. Er klang wie ein Mann, der nachfragt, ob jemand seine Tabellenkalkulation fertig oder eine E-Mail weitergeleitet hat.

»Andy vom Laden.«

Keine Pause, bevor er »vom Laden« sagte. Kein Zögern, kein Nachdenken nötig. Er nannte ihn immer so. Auch keine Betonung der Worte – er ließ nichts aus, versah sie nicht mit imaginären Gänsefüßchen. Er musste nichts erklären. Sie wusste Bescheid. Hayley wusste genau, welchen Laden er meinte.

Und es war keine Bar, kein Restaurant und auch kein Laden, der »Der Laden« hieß. Es klang beiläufig, alltäglich, wohlbekannt, irgendwie vertraulich.

Vertraulich.

Vermutlich halten Sie mich wegen meiner Gedanken für verrückt, aber ich kenne mich mit Worten aus. Ich weiß, wie sie klingen. Lesen ist mein Beruf. Laut lesen. Vor Fremden. Ich habe diese Worte vor Augen, wenn ich sie höre, wie Untertitel eines Films, den nur ich sehe. Ich kann Worte fühlen.

Und diese Worte fühlten sich schräg an.

Viertel vor acht, und Leslie legte sich mächtig ins Zeug für eine eingestreute Werbebotschaft.

So was ist gar nicht einfach. Die Leute vom Verkauf lieben diese bezahlten Meldungen, aber die sind ja auch nicht beim Verkauf, weil sie so gut schreiben können. Man sah Leslie an, wie er sich bemühte, den Worten einen Sinn zu geben, wie er die falsche Rechtschreibung verbesserte, Wörter umstellte und ehrlich versuchte, sie nicht mit Verachtung auszuspucken, sondern so zu tun, als wäre es das Natürlichste auf der Welt, den Hörern zu empfehlen …

»… falls Sie heute irgendwo in der Nähe von Lakeside in Thurrock sein sollten, versäumen Sie es nicht, nach Tony Ram und seinem Talk-London-Team Ausschau zu halten, die Gutscheine über hammermäßige zwanzig Prozent Nachlass bei jedem Einkauf über fünfzehn Pfund im Body Shop verteilen!«

Die Adern an seinen Schläfen pulsierten … das Problem mit dem Verkauf war, wie Leslie einem immer wieder erklärte, dass diese Leute in ihm nur ein Sprachrohr für ihre Worte sahen, nicht den Künstler, der damit zu ringen hatte … er ballte schon die Fäuste …

»Aber nicht vergessen! Es sind Teilnahmebedingungen zu erfüllen. Sämtliche Infos dazu finden Sie auf unserer Website.«

Er setzte ein gequältes Lächeln auf. Das Schlimmste hatte er hinter sich …

»Besuchen Sie die Crazy Gang beim Body Shop, zweite Verkaufsetage, gleich gegenüber von Foot Locker! Und sagen Sie Tony, er soll mir ein Fußpeeling für meine rissigen Hacken mitbringen! Happy Shopping!«

Jingle. Werbung. Fertig.

»Ich hasse diesen Mist!«, sagte er. »Ich bin kein Kaufmann. Ich bin ein Ideenmensch. Wieso rede ich hier von zwanzig Prozent Rabatt beim Bodyscheiß in Lakeside? Ich sollte über den Iran reden!«

Er würde nicht über den Iran reden. Er würde über eine neue Studie in der Daily Mail reden, nach der neun von zehn Hundebesitzern wünschten, ihre Hunde könnten sprechen.

»Happy Shopping? Wieso haben die das drin? Warum muss ich ›hammermäßig‹ sagen? Gebt mir einfach die Fakten und lasst mich mein Ding machen! Das mit dem Fußpeeling und den rissigen Hacken war meine Idee.«

»Das hatte Power«, sagte ich.

Er musterte mich kalt, suchte nach Anzeichen für Spott, dann entschied er zugunsten des Angeklagten.

»Genau. So bringt man Leben in die Sache. So bringst du Mrs. Bingo in Stroud Green dazu, die Ohren zu spitzen und hinzuhören! Nicht mit ›Es sind Teilnahmebedingungen zu erfüllen‹.«

Janice, die Produzentin, verdrückte sich lieber aus dem Studio. Sie spürte das aufkommende Unwetter.

»Was kriegt Tony Ram dafür, dass er das macht?«

Das rote »Telefon« leuchtete auf.

Irgendjemand hatte nichts gegen die Sache mit den rissigen Hacken, weil das zum Senderprofil passte, fand aber, Leslie sollte das Reporterteam nicht als »Crazy Gang« bezeichnen, damit die Leute keine Angst vor ihnen bekamen.

Leslie sagte ihnen, wohin sie sich seine Hacken stecken konnten. Es war ein beängstigendes Bild, das sich einem nicht sofort erschloss.

Die Nachricht blieb nicht unbemerkt.

Pling, pling.

Eine SMS.

Hayley?

Inzwischen war ich zu Hause, an diesem vergeudeten Tag, schreckte benommen auf dem Sofa hoch. Ich rieb mir die Augen, um die Worte zu entziffern.

Tom. Hier ist Fran. Tut mir leid, dass ich jetzt erst antworte. Können wir über Hayley reden?

Ich hatte Fran seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gesehen.

Das macht diese Stadt mit einem. Lautere Absichten verblassen mit der Zeit und der Entfernung und den Abgasen, bis sie fast gar nicht mehr zu erkennen sind, wie ein U-Bahn-Plan, den man auf der Fensterbank liegen gelassen hat.

Bei unserer letzten Begegnung hatten wir viel Spaß gehabt, wir drei. Die Rede war von »Das sollten wir öfter machen!« und »Nächstes Mal kommst du zu uns!«, von Picknick und Grillpartys.

Eine Weile klebten Hayley und Fran förmlich aneinander und verstanden sich fast ohne Worte. Sie hatten sich vor Jahren zufällig in der City kennengelernt, beim Shoppen, waren spontan was trinken gegangen und sofort auf einer Wellenlänge gewesen. Es war eine unkomplizierte Freundschaft. Ich mochte Fran, also wartete ich im Daily Grind an der Clerkenwell Road, einem dieser Läden, die gestern noch nicht da waren und vermutlich morgen nicht mehr da sein werden. Viel geschmiedetes Eisen und gebeiztes Holz und raffinierte Eggs Benedict, mit einem Tresen aus gebürstetem Stahl, hinter dem ein Barista steht und lettische Schönheiten anweist, fünf Pfund teure Croissants aus der Küche zu holen.

Ich rührte meinen Kaffee und starrte die Wand an, fühlte mich schwer. Dunkle Schatten über meinem Kopf und unter meinen Augen. Ich kannte dieses Gefühl.

Ich kam zu dem Schluss, dass ich sie möglicherweise falsch verstanden hatte. Vielleicht kam Fran, um mir von Andy zu erzählen. Das war doch möglich. Fran und ich hatten uns immer gut verstanden, und vielleicht hielt Hayley es für das Beste, einen Unbeteiligten zu schicken, jemanden, der den Schlag abmildern und ein besorgtes Gesicht machen und Sachen sagen konnte wie: »Sie liebt dich immer noch, Tom, aber sie ist nicht mehr verliebt in dich.« Und: »Andy ist wirklich ein netter Kerl, ich glaube, ihr beide würdet euch echt gut verstehen.«

Und dann war sie da. Vintage Look. Roter Lippenstift. Handtasche auf dem Tisch. Stirn gerunzelt.

»Tom …«

»Hey, Fran …«

»Du siehst …«, sie suchte nach dem passenden Wort, während sie sich setzte und eine rote Locke hinters blasse Ohr strich, »… okay aus.«

Ich nahm einen Löffel, um mich darin zu betrachten. Eigentlich gefiel ich mir so ganz gut.

»Es tut mir leid … was du durchmachst«, sagte sie. »Es ist so …«

Sie zuckte mit den Schultern, schüttelte den Kopf, sah zum Kellner hinüber und bestellte einen Kaffee.

Fran malte kleine Bäume auf Teller und verkaufte sie auf Märkten an irgendwelche Hipster, für ein kleines Vermögen. Ich fragte mich oft, wie sie das anstellte. Es waren nur kleine Bäume auf Tellern.

»Eigentlich weiß ich gar nicht, was ich durchmache«, sagte ich, und mir fiel ihre Brosche auf. Darauf war ein kleiner Baum abgebildet. »Hayley blieb in ihren Aussagen doch eher vage.«

»Dann war das alles? Du hast diesen Zettel bekommen und sonst nichts?«

»Hat sie dir irgendwas davon erzählt?«

Mit gespielter Überraschung zog Fran die schmalen Augenbrauen hoch.

»Tom, ich habe sie doch kaum noch gesehen.«

Ich kniff die Augen zusammen.

»Ihr habt euch ständig gesehen.«

»Wann war denn das letzte Mal?«

»Keine Ahnung. Vor zwei Wochen?«

»Januar.«

Ich runzelte die Stirn. Ihr Kaffee kam.

»Wir hatten Streit«, sagte sie, als die Kellnerin ging und wir wieder sprechen konnten. »Hat sie dir nichts erzählt?«

»Nein, gar nichts«, sagte ich. »Moment, worüber? Worüber habt ihr gestritten?«

»Ich habe Sachen gesagt, die ich damals so meinte, die aber wahrscheinlich etwas schroff klangen.«

»Was für Sachen?«

Sie brauchte einen Moment.

»Wir waren abends unterwegs«, sagte sie. »Mayfair. Sie wirkte so abwesend, als würde sie sich mehr für das interessieren, was am Nachbartisch los war. Ich bin gar nicht mehr zu ihr durchgedrungen. Sie kam mir vor, als wäre sie immer auf der Suche nach was Besserem oder jemand Interessanterem.«

»Sie war unzufrieden in ihrem Job«, sagte ich. »Vielleicht war sie nur abgelenkt.«

»Sie war immer abgelenkt«, sagte sie. »Und das habe ich ihr auch so gesagt. Ich habe die seltsamen Tapas vorgeschoben und gesagt, ich müsste los, aber sie hat kaum was mitbekommen, hing nur diesen Typen an den Lippen, die mit ihren Weihnachtsboni oder irgendwas prahlten, und da habe ich ihr dann gesagt, dass sie sich zu ihrem Nachteil verändert hat und …«

Die Worte gingen wie eine Flut über mich hinweg. Das ergab doch alles keinen Sinn. Ich drohte zu ertrinken. Ich winkte sie zurück.

»Halt, stop! Inwiefern verändert?«

Nun war Fran wieder an der Reihe, die Stirn zu runzeln.

»Findest du denn nicht, dass sie anders war?«

»Nein. Sie war halt … Hayley. Vielleicht hast du dich ja verändert, nicht sie.«

Fran lächelte milde und sagte dann ganz sanft: »Mit wem sitzt du denn hier und trinkst Kaffee? Wer ist faktisch anwesend?«

Ich warf noch einen Blick auf mein Spiegelbild im Löffel.

»Ich hatte irgendwie das Gefühl, sie wollte jemand anders sein. Zuerst waren es nur kleine Dinge. Die Haare.«

Die Haare. Na und? Sie hatte ihre Frisur verändert. Frauen verändern ihre Frisuren. Es war mir aufgefallen, dass sie irgendwie anders aussah, und ich hatte gesagt: »Hübsche Haare.« Wir hatten darüber gesprochen. Sie und ich, wir hatten darüber gesprochen.

»Die Klamotten.«

Und? Frauen kaufen sich ständig neue Klamotten. Manchmal ganze Schränke voll.

»Das Make-up.«

Meine Güte.

»Und dann waren da noch diese anderen Sachen …«

Oha, was kam jetzt? Sie hatte angefangen, Blend-a-med zu kaufen, nicht mehr Colgate?

»Ständig wollte sie irgendwo anders hin.«

Auf Reisen gehen. Mir wurde etwas übel.

»In Läden, die irgendwie nicht zu uns passten. Und ich fand auch nicht, dass sie zu ihr passten. Anfangs war das ja ganz spannend, aber mit der Zeit wurde es echt … großspurig.«

Großspurig?

»Ich meine, ich liebe gute Restaurants. Aber sie sagte: ›Gehen wir ins Nobu!‹ Echter Luxus, weißt du? Aber es macht Spaß, und da zieht man eben mit. Doch dann schrieb sie am nächsten Tag eine SMS: ›Gehen wir ins Roka!‹ Oder Hakkasan. Oder in Clubs. Ich bin zu alt für Clubs! Ich habe einen Job, ich muss um acht auf der Matte stehen, ich kann nicht …«

»Moment mal«, sagte ich erleichtert, dass ich mich daran beteiligen konnte, erleichtert, dass ich nicht völlig im Dunkeln tappte. »Von einem Club hat sie gesprochen. Sie meinte, es gebe da eine Indie Night in der Islington Academy und dass wir da mal hingehen sollten. Britpop, die alten Suede, solche Sachen.«

»Nein«, sagte Fran, beugte sich vor und zeigte mit dem Finger auf mich. An diesem Finger steckte ein überdimensionaler Ring mit einem kleinen Baum darauf. Hayley hatte auch so einen. »Ich meine so was wie das Chinawhite. Das Boujis. Weißt du?« Sie lachte. »Solche Läden. Läden, in die russische Oligarchen gehen, um sich an marokkanischen Popstars aufzugeilen. Und wenn ich Nein gesagt habe, wurde sie ganz seltsam und hat sich aufgeführt, als wäre ich ein Loser – das Wort hat sie allen Ernstes benutzt –, und dann hat sie noch gesagt, ich sei langweilig. Und das war dann sozusagen der Moment, in dem ich ihr gesagt habe, dass sie mich mal gepflegt am Arsch lecken kann.«

Fran lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und spielte trotzig mit ihrer Brosche herum.

»Das Chinawhite?«, sagte ich.

Mir gegenüber hatte sie das Chinawhite nie erwähnt. Wir gingen höchstens mal in den Pub. Manchmal holten wir uns auf dem Nachhauseweg noch eine Flasche Wein. Wozu um alles in der Welt sollte sie ins Chinawhite gehen wollen? Ich wusste nicht mal, wo das war. Natürlich kannte ich es aus der Zeitung, und Fran hatte recht. Da waren nur Leute aus Reality Shows und David Hasselhoff und Mädchen in kurzen Röcken, die nach Prince Harry Ausschau hielten.

Es war alles etwas … abgeschmackt.

»Wann hatte sie Zeit, um …«

Ich stutzte. Abends um halb neun putze ich mir die Zähne. Um diese Zeit machte sie sich oft gerade fertig. Aber nicht, um in Clubs zu gehen. Doch wohl, um … na ja … Leute wie Fran zu treffen.

»Als ich sie kennengelernt habe, an diesem Tag bei Topshop, war sie ein solcher Sonnenschein. Ich hab mich umgedreht, und plötzlich stand sie da, aus heiterem Himmel, und bewunderte meine Halskette und wollte wissen, wo ich die herhatte. In letzter Zeit habe ich mich nicht mehr getraut, sie darauf anzusprechen, und gehofft, die alte Hayley würde schon wieder zum Vorschein kommen«, sagte Fran. »Und es kam mir illoyal vor, zu dir zu gehen. Außerdem dachte ich, du würdest mich vielleicht für langweilig halten, weil ich nicht ins Nobu oder so was will, denn langsam habe ich es selbst geglaubt.«

»Ich … ich weiß nicht, was ich mit dieser Information anfangen soll«, sagte ich. »Ich dachte, sie wäre beim Pilates oder mit dir zusammen oder …«

»Aber ist dir denn gar nichts aufgefallen? Die Veränderungen? Komm schon, dir muss doch irgendwas aufgefallen sein.«

»Sie hatte andere Haare, ja, das ist mir aufgefallen«, sagte ich.

»Sei nicht so ein Klischee. Mach dir doch nichts vor. Wie kannst du mit ihr zusammenleben und nichts gemerkt haben?«

»Ehrlich, Fran. Sie hat kein einziges Mal erwähnt, dass sie in eine Disco wollte oder essen im … was weiß ich, wo. Kein einziges Mal. Daran würde ich mich erinnern. Ich hätte mich bepisst vor Lachen. Das ist doch nichts für uns!«

Fran lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Die Worte hingen in der Luft. Da merkte ich, dass möglicherweise ich das Problem war.

»Darf ich dich was fragen?«, sagte ich, und Fran nickte. »Wer ist Andy?«

»Andy?«

»Andy.«

Sie wirkte ratlos, während sie überlegte. Ich rutschte herum, machte mich bereit. Wenn Hayley einen anderen hatte, wusste Fran davon. Und Fran als guter, moralischer Mensch hätte ihr geraten, die Sache zu beenden. Vielleicht hatten die beiden sich ja deshalb gestritten. Vielleicht war es das.

Doch dann: »Ich weiß nicht, wer Andy ist«, sagte sie.

»Was ist mit dem ›Laden‹?«, sagte ich verzweifelt. »Hat sie jemals einen Laden erwähnt, den sie ›den Laden‹ nannte? Oder weißt du, was ›der Laden‹ sein könnte?«

»Ich weiß nicht«, sagte Fran. »O Gott, meinst du, dieser Andy ist …«

»Ich weiß es ja selbst nicht«, sagte ich. »Hat sie jemals einen anderen Mann erwähnt?«

»Ich wünschte, ich könnte dir helfen.«

»Ich bin so wütend«, sagte ich.

Fran langte über den Tisch und drückte meine Hand, und da erst merkte ich, dass ich weinte.

Als ich nach Hause kam, fühlte ich mich bedrückt wie nie zuvor. Hayley war wie eine tonnenschwere Last auf meinen Schultern.

Als ich durch die Tür trat, ging ich in die Knie.

Griff hinter mich und knallte sie zu.

Dunkelheit.

Ungewissheit.

Ich war machtlos. Ich konnte nichts tun.

Was blieb mir? Sie verlassen? Aber wie sollte ich sie verlassen, wenn ich es ihr nicht mal sagen konnte? Ich konnte tun, was sie wollte, und weitermachen wie immer. Aber es gab kein »wie immer« mehr, denn das hatte sie mitgenommen, und wie sich herausstellte, fast alles andere auch.

Ich konnte nur … hier sein.

Was hatte ich noch? Einen Job, den ich mochte, der mich aber nicht glücklich machte, eine Wohnung, die ich mir mit jemandem teilte, der weg war, ohne echte Freunde in der Stadt, ohne eine Ahnung, wohin ich mich wenden sollte.

Ich schloss die Augen und legte mich auf den Boden, die raue Fußmatte kratzte an meiner Wange, der Gestank von Staub und Mist und Dreck umtanzte mich, meine Kraft sickerte aus allen Poren, und ich dachte nach, über alles Mögliche, eine Minute, eine Stunde, vielleicht viel länger.

Und als ich ganz unten war, drehte ich meinen Kopf und starrte das Telefonkabel an, das straffe weiße Telefonkabel, dick und massiv, mit stahlgrauen Krampen an der Wand befestigt. Ich griff danach und berührte es, und da kam mir ein Gedanke, den ich bisher noch nicht gehabt hatte.

FÜNF

»Es ist sechs Uhr und eine Minute, Samstag, der 16. Juni. Ich bin Tom Adoyo mit den taufrischen Meldungen für Aufgeweckte …«

Die letzte SMS, die ich von Hayley bekommen hatte, kannte ich auswendig.

Sie lautete: »Bin in fünf Minuten da. Komm am Weinladen vorbei. Fläschchen Weißwein vielleicht?«

Ich antwortete: »Logo.«

Nur das. Die letzte SMS, von der ich wusste, dass sie sie bekommen hatte.

»… und in der bunten Welt des Showbiz erinnert sich Jay-Z an Glastonbury, und wer hat bei den MTV Europe Awards in Paris doppelt abgesahnt …?«

Samstagmorgen, was Gott sei Dank bedeutete: ohne Leslie. Der weilte bestimmt in Yewtree – seinem protzigen Nachbau eines alten Fachwerkhauses in Surrey –, wo er vermutlich in seinem Indoor-Pool herumschwabbelte oder Golfbälle ins Grün ballerte, mit seinen Nachbarn, allesamt alternde Radiostars, die schon bessere Zeiten gesehen hatten, große Nummern in den 80ern, heute verbittert.

Leslie hasste seine Arbeit beim Sender. Er sagte, man würde ihm nicht den Respekt entgegenbringen, den er verdiente. Ständig sprach er vom »Management« und dessen »Ideen« und befleißigte sich dabei eines freizügigen Umgangs mit Gänsefüßchen. Er war schon zweimal verwarnt worden. Einmal, weil er während der Sendung einen Vegetarier beschimpft hatte, und dann wegen des vagen Gerüchts, er habe eine Praktikantin bedrängt, die daraufhin von einem Tag auf den anderen nicht mehr kam. Aber das war alles nur Klatsch und Tratsch, damit habe ich nichts am Hut. Das Gute daran war, dass er seine Hasstiraden inzwischen nicht mehr in alle Welt hinausposaunte.

»Es hat seinen Grund, dass es in der Kantine nur freitags Eier gibt«, brüllte er einmal, während die Werbung lief. »Sie wollen ihre Arbeiter gefügig machen. Sie wollen uns unterwerfen, also rationieren sie unseren Kraftstoff. Füttern uns mit lausigem Porridge wie Dickens’sche Waisenkinder. Rauben uns allen Mut, damit die Werbekunden von Tango sicher sein können, dass wir nicht ausrasten. Das ist ihre größte Angst, beim ›Management‹ …«, da waren seine Finger wieder in der Luft, »… die freie Meinungsäußerung! Wie lässt sich die am besten ersticken? Tu so, als könntest du im London des 21. Jahrhunderts keine beschissenen Eier kriegen, höchstens mal freitags, als besonderen Leckerbissen!«

Immerhin. Samstags waren wir ihn los.

»… mit Höchsttemperaturen bis zu neunzehn Grad in der Hauptstadt …«, endete ich, und dann aus reiner Gewohnheit: »Und schon sind Sie wieder auf dem neuesten Stand.«

Uups.

Mikro runter. Rotes Lämpchen aus. Werbung.

»Entschuldige, du heißt Tom, ja?«, sagte das Mädchen am Mikro. »Ich bin Cass?«