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Wann endet die Vergangenheit? Düsseldorf, an einem Winterabend: Vor den Augen seiner spanischen Kollegin stürzt sich der Rechtsanwalt Thomas Siebenmorgen in den Tod und zerstört dabei ein wertvolles Kunstwerk. María, die Thomas mochte, ist entsetzt und ratlos. Was um alles in der Welt hat ihn zu dieser Wahnsinnstat getrieben? Auch der auf den Plan gerufene Mitarbeiter des Kriseninterventionsteams Viktor beginnt zu recherchieren: Gibt es Spuren aus der Vergangenheit, die helfen können, Thomasʼ Verzweiflung zu verstehen? Und welche Erkenntnisse kann Simon, der junge Staranwalt aus dem Münchner Büro, der noch in derselben Nacht mit einer kanzleiinternen Ermittlung beauftragt wird, zutage fördern? Bei ihrem Versuch, die Wahrheit herauszufinden, entdecken drei ungleiche Menschen die blinden Flecken auf Thomasʼ Seele – und werden gleichzeitig mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert, die viel weiter zurückreicht, als ihnen bewusst ist. Der unsichtbare Elefant legt nicht nur die Abgründe frei, die sich hinter der glänzenden Fassade einer typischen Star-Anwaltskanzlei mit internationalem Renommee verbergen, sondern führt auch in die Tiefen der europäischen Geschichte hinab, einer Geschichte, die bis in die Gegenwart fortwirkt. Nicht nur für Thomas Siebenmorgen …
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Seitenzahl: 359
Veröffentlichungsjahr: 2024
Der unsichtbare Elefant
Chronik eines Falls
Max A. Edelmann
Über den Autor
Der Autor wurde 1972 im Rheinland geboren. Schon als Kind liebte er es, unbequeme Fragen zu stellen und die Story hinter der Story aufzuspüren. Der promovierte Jurist war Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes und hat in Deutschland, Frankreich und den USA studiert. Heute arbeitet und lebt er mit seiner Familie in Belgien.
Der unsichtbare Elefant ist sein erster Roman.
Zeige deine Wunde,weil man die Krankheit offenbaren muss,die man heilen will.
Joseph Beuys, 1980
© 2024 Max A. Edelmann
Covergestaltung, Satz: Laura Newman
Literarisches Coaching: Sebastian Schoepp
Lektorat: Dr. Yvonne Caroline Schauch, Michael Lohmann,
Gerold Hens, Anja Stichnoth
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40–44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN
Paperback 978-3-384-25683-6
E-Book 978-3-384-25685-0
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, Halenreie 40–44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Thomas Siebenmorgen starrt auf den Bildschirm. Die Buchstaben haben wieder ihren Tanz begonnen. Ein apokalyptischer Reigen. Der Rechtsanwalt hört Stimmen. Stimmen, die rufen. Stimmen, die schreien. Stimmen, die klingen, als kämen sie aus den uralten Tiefen der Vergangenheit.
Er steht auf. Er knipst das Licht aus und tritt auf die ovale Galerie. Er betrachtet die gläserne Brüstung, die ihn von einem Abgrund trennt, in den er schon oft geblickt hat. Die Stimmen sind lauter geworden. Er kann den Sinn ihrer Worte nicht verstehen. Er kann nichts mehr fühlen. Keine Zeit. Nichts mehr empfinden. Keinen Raum. Nur den Wunsch, die Stimmen gäben Ruhe. Er klettert über die Brüstung.
Er blickt in die Tiefe. Von unten streift ihn ein leichter Luftzug, den er kaum spürt. Da ist erst ein dumpfes Rauschen. Trompeten. Einen Augenblick scheint es ihm, als hielte die Welt inne. Dann begreift er, dass er nicht stillsteht, sondern mitsamt der Erde in unvorstellbarer Geschwindigkeit durchs Universum rast. Er ist bereit, sich ihm wieder anzuvertrauen. Er schließt die Augen, holt tief Luft und hält den Atem an.
Ohne Zweifel wird es auch an diesem Winterabend eine ruhige Schicht werden, denkt der Wachmann. In seinen fünf Dienstjahren bei der Düsseldorf Security ist noch nie etwas passiert, abgesehen vielleicht von einem falschen Feueralarm vor zwei Jahren in der siebten Etage des Bürohochhauses, in dessen Foyer er jetzt sitzt.
Während das War-Game auf seinem Smartphone ein neues Level hochlädt, schweift sein Blick durch das hohe Atrium nach oben. Was er dort in etwa fünfzig Metern Entfernung sieht, lässt ihn erstarren.
Noch bevor er einen klaren Gedanken fassen kann, ist er schon zur Seite gehechtet. Als der Körper des Mannes Sekunden später knapp zwei Armlängen neben ihm in die Installation eines japanischen Künstlers kracht, ist es mit der nächtlichen Ruhe vorbei.
Drei Stunden später klingelt in Tokio ein Telefon. Das Hiroshima Museum of Modern Art ruft an. Haruki Yamatoshi muss erfahren, dass sein in Düsseldorf als Leihgabe ausgestelltes Werk Birth of an Artist – Geburt eines Künstlers unwiederbringlich zerstört wurde.
Für den japanischen Künstler war diese aus drei Teilen zusammengefügte Montage sein bisher wichtigstes Werk gewesen. Sie bestand aus einem Flugzeugwrack, einer Videoinstallation und einem Verbindungsstück. Bei dem aus Fett und Filz modellierten Wrack handelte es sich um einen Sturzkampfbomber vom Typ Junkers 87. Die Installation bestand aus einem alten Fernseher, in dem in Endlosschleife ein Film von der letzten Rede des niederrheinischen Künstlers Joseph Beuys lief. Haruki Yamatoshi hatte Wrack und Fernseher mit einem Maschinengewehr verbunden. Es war derselbe Waffentyp, den Joseph Beuys als Bordschütze bis zum Absturz seines Stukas im März 1944 auf der Krim bedient hatte.
Haruki Yamatoshi ist am Boden zerstört. Die Tatsache, dass sein Werk mit drei Millionen US-Dollar versichert ist, spendet keinen Trost.
María seufzte. Eigentlich wollte sie ihren Schriftsatz zu Ende bringen, aber sie konnte sich nicht konzentrieren und schaute von ihrem Bildschirm auf. Von ihrem Büro aus konnte sie gut die Hälfte aller Büros überblicken, die die Anwaltskanzlei, in der sie seit fünfzehn Jahren arbeitete, in den fünf obersten Stockwerken des Düsseldorfer Bürogebäudes angemietet hatte.
Ein paar Lichter brannten noch. Nur in der Etage von Peters war es dunkel. Erst vor wenigen Tagen hatte Doktor Jens Peters, der auf Gesellschaftsrecht spezialisierte Seniorpartner, mit nahezu seinem gesamten Team die Sozietät verlassen und eine eigene, auf den IT- und Technologiebereich spezialisierte Kanzlei eröffnet. Eine Boutique, wie es im Branchenjargon hieß, dazu noch auf der Königsallee. Ohne Vorwarnung. Knall auf Fall. María weinte diesem Mann keine Träne nach. Im Hintergrund war sofort der Kampf um die Mandate entbrannt; nächste Woche würde der leitende Partnerausschuss entscheiden müssen, ob man gerichtlich gegen Peters vorgehen würde. »Scheidung auf Italienisch«, hatte Seniorpartner Mueller-Reichenberg vom Münchner Büro, einer der beiden Kanzleigründer, die Angelegenheit mit seinem trockenen Humor kommentiert.
María unterdrückte ein Gähnen. Sie band ihre schwarzen schulterlangen Haare zu einem Zopf und zwang sich, den Blick wieder auf den Bildschirm zu richten. Der Schriftsatz hatte noch nicht die gewünschte Form. Sie liebte ihren Beruf, trotz der langen Arbeitszeiten. Gründlich, überlegt und effizient arbeiten. Vorausplanen. Gegensätzliche Interessen ausloten und zu vertretbaren Kompromissen gelangen. Dem Mandanten Sicherheit vermitteln. Das lag ihr.
Ihre Blicke schweiften auf das Ranking internationaler Top-Anwälte, das gestern veröffentlicht wurde. Sie überflog einige der über sie gemachten Kommentare:
A passionate lawyer with the right feeling for detail. And always with a smile.
Among the top ten lawyers for commercial arbitration and dispute resolution worldwide.
Bei Frau Polonio Consejo weiß man sich gut aufgehoben. Stets souverän und verbindlich.
Sie wusste natürlich, dass diese Bewertungen mit Vorsicht zu genießen waren. Das Geschäft glich einer Schönheitskonkurrenz ohne klare Regeln. Wer beurteilte hier wen und nach welchen Kriterien? Wie dem auch sei, die wertschätzenden Kritiken, die sie in regelmäßigen Abständen erhielt, schmeichelten ihr.
Ihr war allerdings auch bewusst, dass solche schwärmerischen Kommentare viel zu viele junge Juristen in die internationalen Großkanzleien schwemmten. Der Nimbus des Glamourösen, der Knall der Sektkorken nach erfolgreichen Vertragsverhandlungen zog die Frischexaminierten wie Lemminge an. Doch María wusste, dass man all das nur dann wirklich genießen konnte, wenn man das Gefühl hatte, gute Arbeit geleistet zu haben. Für sie war nicht entscheidend, wie sie in den Augen der anderen dastand, sondern ob sie ihren eigenen Maßstäben gerecht geworden war.
Sie konnte sich nicht mehr auf den Schriftsatz konzentrieren. Höchste Zeit, nach Hause zu gehen, dachte sie und schaltete ihren Rechner aus. In dem Bildschirm spiegelten sich die Lichter des ovalen Rundgangs, der um den Innenhof des Gebäudes verlief. Sie stand auf und ging zu dem Kleiderhaken, an dem ihr dunkler Wintermantel hing. Sie zog den weinroten Seidenschal aus dem Ärmel, legte ihn um den Hals und schlüpfte in den Mantel. Draußen herrschten Temperaturen um den Gefrierpunkt, und auch in der Tiefgarage, in der ihr Auto stand, war es sehr kalt. Sie öffnete die gläserne Bürotür und trat auf den Flur hinaus. Die Gebäudeheizanlage war bereits auf Nachtbetrieb umgestellt. Sie fröstelte.
María wollte sich gerade in Richtung Aufzug wenden, als sie den Mann bemerkte. Er stand auf der gegenüberliegenden Seite des Atriums. Zuerst dachte sie, ihre Wahrnehmung spiele ihr einen Streich. Um diese Zeit war nur die Notbeleuchtung des Gebäudes aktiviert, und man konnte in diesem gläsernen Büroturm nie sicher sein, ob man die Wirklichkeit oder deren Abbild vor sich sah. Diffuse Schatten mischten sich mit vereinzelten Lichtreflexen, die die nächtliche Stadt auf das Gebäude warf.
María kniff die Augen zusammen und versuchte zu begreifen, was sich da vor ihren Augen abspielte. Der Mann musste die etwa einen Meter fünfzig hohe Plexiglasbrüstung überstiegen haben und stand nur noch mit einem Fuß auf einer Kabelbrücke aus perforiertem Metall. Es handelte sich um die Art von Trasse, die zwar die Verkabelung eines Bürogebäudes zu tragen vermochte, nicht jedoch das Gewicht eines erwachsenen Menschen. Sie bog sich bereits bedenklich durch.
Der Mann hatte die Augen geschlossen. María sah, wie seine rechte Hand – die Hand, die ihn noch mit dem Leben verband – das Metallgeländer der Brüstung umklammert hielt. Seine linke Körperhälfte schwankte über dem fünfzig Meter tiefen Abgrund, so, als sei bereits das Leben aus ihr entwichen.
Der plötzlich einsetzende Adrenalinkick versetzte sie in höchste Alarmbereitschaft und ihr Puls begann zu rasen. Später würde sie sich an ihre Verwunderung darüber erinnern, dass seine grüne Krawatte durch den Luftzug, der wie in einem Kamin aus der Tiefe des Atriums emporgestiegen war, leicht geflattert hatte. Grün, die Farbe der Hoffnung, würde es ihr durch den Kopf schießen.
María nahm diffuse Geräusche wahr, auf die sie unter anderen Umständen nicht geachtet hätte. Das monotone Brummen der Belüftungsanlage. Das klackende Geräusch eines defekten Neonlichts. Das gedämpfte Kriegsgeschrei, das aus einem Smartphone im Foyer an ihr Ohr drang.
Jetzt erkannte sie auch, wer da auf der Kabelbrücke stand. Thomas. Thomas Siebenmorgen aus der Arbeitsrecht-Abteilung. María und er kannten sich gut.
»Hallo, Thomas, ist alles okay?«, rief sie.
Das gleichgültige Summen der Belüftungsanlage übertönte ihre Stimme. Er schien sie nicht gehört zu haben.
»Thomas, hörst du mich?«, rief sie lauter.
Sie musste an ihre letzte Begegnung am Tag zuvor denken. Sie waren sich im zwanzigsten Stock vor dem Imbissautomaten über den Weg gelaufen. Thomas hatte sich ein Paket Salzbrezeln gezogen. Das sollte erst gestern gewesen sein? Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit.
»Thomas, hörst du mich?«, schrie sie.
Endlich schien Thomas sie gehört zu haben. Er öffnete die Augen und schaute zu María herüber. Erst war sein Blick ausdruckslos. Dann schien es, als wachte er auf. Als fände er langsam in die Welt zurück. Mit einem Mal fing er an zu zittern. Am ganzen Leib. Seine linke Hand schnellte ans Metallgeländer und sein linker Fuß suchte die Kabeltrasse. Lächelte er verlegen? María konnte es nicht richtig erkennen.
Wie aus weiter Ferne war eine Frauenstimme an sein Ohr gedrungen. Hatte ihn aus seiner Trance gerissen, die Trompeten zum Verstummen gebracht. Das Rauschen hörte auf und Thomas öffnete die Augen. Panik durchflutete seinen Körper. Urplötzlich war er sich der Lebensgefahr bewusst, in der er schwebte. Wie lange hatte er hier oben gestanden? Sein Herz raste. Tausend Gedanken jagten durch seinen Kopf, bis einer die Oberhand gewann: Er musste wieder über die Brüstung zurück. Verdammt, was war eigentlich los mit ihm? Was machte er da für einen Mist? Zu allem Überfluss hatte ihn auch noch María gesehen. Bravo, morgen würde die ganze Kanzlei Bescheid wissen. Was war er doch nur für ein Trottel.
»Bleib ganz ruhig, ich hole Hilfe. Beweg dich nicht«, rief María ihm zu.
»Keine Sorge«, presste er hervor. »Ich schaff‘ das schon.«
Er hielt das Metallgeländer jetzt mit beiden Händen umklammert und stand mit beiden Füßen auf der Kabeltrasse. Als Nächstes musste er über die Brüstung klettern. Okay, das war machbar. Bisschen Gefühl erforderlich, aber machbar. Wichtig war vor allen Dingen, Ruhe zu bewahren. Erst den rechten Fuß zurück auf das Metallgeländer, das ihm bis zur Brust reichte, befördern und sich dann mit der Kraft seiner beiden Hände über die Brüstung hieven. Darum ging es jetzt. Das war zu schaffen. Er zog den rechten Fuß nach oben. Doch die Kabeltrasse gab gefährlich nach, noch bevor der Fuß das Metallgeländer berührte. Behutsam setzte er den Fuß wieder zurück.
»Beweg dich nicht, um Gottes Willen, ich komme rüber«, schrie María und lief um den ovalen Rundgang in seine Richtung.
Hilfe anzunehmen war für Thomas keine Option. Schließlich hatte er sich den Mist selbst eingebrockt. Dass seine Lage heikel war, wusste er selbst. Aber er hatte die Situation unter Kontrolle. Er durfte die Kabeltrasse nicht zusätzlich belasten, sondern musste versuchen, sich allein mit der Kraft seiner Arme über das Metallgeländer zu stemmen. Er war kein Schwächling, das würde er hinbekommen. Er musste nur alle Kraft aus seinem Oberkörper holen und den Schwerpunkt schnell auf die andere Seite der Brüstung verlagern. Seine Hände hielten das Metallgeländer jetzt noch fester umklammert. Er spannte Arm- und Brustmuskulatur an und versuchte, sich mit aller Kraft hochzustemmen.
María war noch fünf Meter von ihm entfernt, als er sich seines Fehlers bewusst wurde: Er hatte nicht bedacht, wie verschwitzt seine Hände waren.
Als Thomas abrutschte, sah María noch die Todesangst in seinen Augen. Später schien es ihr, als wären ihrer beider Schreie im Inneren der Gebäuderöhre gegeneinandergeprallt, dann in kleinsten Teilen auseinandergestoben, um schließlich entlang der Wände aus Glas und Stahl zu verhallen.
Mit schreckgeweiteten Augen blickte María in die Tiefe. Sie sah Thomas’ zerschmetterten Körper, der im Foyer in Haruki Yamatoshis aufsehenerregende Installation Birth of an Artist gekracht war. Wie in Zeitlupe wandte sie sich ab. Dabei streifte ihr Blick den Schweißabdruck, den Thomas’ Hände auf dem Metall hinterlassen hatten.
Von unten drangen die entsetzten Schreie des Security-Mitarbeiters herauf. Ein plötzlich einsetzender Brechreiz zwang María auf die Toilette. Dann taumelte sie wie betäubt in ihr Büro zurück. Sie wollte die Polizei anrufen, konnte aber ihr iPhone nicht finden. Sie kauerte sich auf den Boden, zog die Knie an. Ihr war kalt, sie fühlte sich schutzlos. Es war wie ein böser Traum. Mein Gott, der arme Thomas …
Wir haben einen Suizid im Büroturm am Hafen«, sagte der Kollege aus der Leitstelle des Deutschen Roten Kreuzes, der die Einsätze des Kriseninterventionsteams koordinierte.
»Das wäre damit der erste in diesem Jahr«, erwiderte Viktor. Er blickte aus dem Wagenfenster in die Dunkelheit und strich sich durch sein dichtes, von Silberfäden durchzogenes dunkelbraunes Haar.
»Es gab zwei Zeugen. Einer von der Security und eine Kollegin. Der Mitarbeiter der Security hat die Polizei verständigt. Er hat die Szene mitbekommen, die Frau wollte noch helfen, kam aber zu spät.«
»Wie haben sie reagiert?«, fragte Viktor. Trotz seiner Ausbildung zum Notfallseelsorger, die ihn auf Ausnahmesituationen wie diese vorbereitet hatte, wusste er gerne im Vorfeld, was ihn erwartete.
»Die Frau hat wohl markerschütternd geschrien, meinte der Security-Mitarbeiter.«
»Und wie wirkte der Security-Mitarbeiter auf dich?«
»Aufgeregt, aber klar. Gegen Gesprächsende sehr gefasst.«
»Verstehe.«
»Wann kannst du da sein?«
Viktor gab die Koordinaten in das Navi des Einsatzwagens ein. »In zehn Minuten«, sagte er und drehte den Zündschlüssel.
Marías Zimmer wurde von pulsierendem Blaulicht durchflutet, das sich in dem verglasten Bürogebäude wie in einem Kaleidoskop aus tausend Spiegeln brach. Nur Blaulicht. Keine Sirene. Hätte sie nicht längst unten sein müssen, um der Polizei Auskunft zu geben?
Sie richtete sich auf und wankte zur Tür. Weiter kam sie nicht. Sie hätte den Aufzug ins Foyer nehmen müssen, wo Thomas’ Körper lag. Sie konnte nicht dorthin. Schlagartig überfiel sie Höhenangst. Sie musste sofort weg von hier. Nur wie? Sie ging in Richtung des Aufzugs. Vor dem Aufzug geriet sie in Panik, stellte sich vor, er würde mit ihr in die Tiefe krachen. Sie blickte sich um. Wo war nur das Treppenhaus? Sie musste die Treppen nehmen.
Die Aufzugtür öffnete sich.
Eine Polizistin, ein Polizist und ein Mann in dunkelblauer Funktionsjacke stiegen aus. Die Jacke war von neongelben Signalstreifen umrandet, auf der Brust prangte ein Abzeichen, auf dem KIT zu lesen war. Der Mann trug einen großen Rucksack. Er trat auf María zu.
»Mein Name ist Viktor Kemper, ich bin vom Kriseninterventionsteam, vom KIT.« Er sprach es aus wie Kitt, Fensterkitt, dachte María. Sie zitterte am ganzen Leib. Er legte ihr beruhigend die Hand auf den Unterarm.
»Ich habe ihn fallen sehen. Er wollte wieder zurückklettern. Mein Gott, er wollte nicht springen«, sprudelte es aus ihr heraus.
Der Mann hielt ihren Blick mit seinem fest. Dann beugte er sich hinunter, hob etwas auf und gab es ihr. »Das gehört bestimmt Ihnen.«
María schaute auf ihr iPhone, nickte und nahm es an sich.
Auch die Polizistin und ihr Kollege stellten sich mit Namen vor. María vergaß sie sofort.
»Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?«, fragte die Polizistin.
María nickte und führte die drei in ihr Büro, wo sie sich an den Besprechungstisch setzten.
»Bevor die Kollegen von der Polizei Sie befragen«, wandte sich der Mann vom Kriseninterventionsteam – wie hieß er noch? – erneut an sie, »darf ich mich erkundigen, wie es Ihnen geht? Sie haben gerade mitansehen müssen, wie ein Kollege in den Tod gestürzt ist. Haben Sie schon mit jemandem darüber sprechen können?«
María schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin aber okay.«
Mechanisch beantwortet María die polizeilichen Fragen nach ihren Personalien.
»Frau Polonio«, sagte der Polizist, »wir müssen Sie jetzt fragen, was Sie gesehen haben. Könnten Sie uns das bitte schildern, damit wir es zu Protokoll nehmen können?«
María machte ihre Aussage. Wie Thomas über dem Abgrund geschwankt hatte. Wie sie versucht hatte, mit ihm zu sprechen. Wie er reagiert hatte. Dass sie glaubte, ihn umgestimmt zu haben.
»Wieso glauben Sie, dass er es sich anders überlegt hatte?«, fragte die Polizistin.
»Na, weil er seine andere Hand zurück ans Geländer gezogen hat. Und weil er seinen anderen Fuß wieder auf die Trasse gestellt hat.« Sie schüttelte den Kopf und riss die Augen weit auf. »Aber er wollte sich nicht helfen lassen. ›Ich schaff‘ das schon‹, hat er gesagt. Mein Gott, wenn er einfach nur stehen geblieben wäre, hätte man ihm helfen können. Aber er wollte mit dem Fuß wieder auf die Brüstung, dann hat die Kabeltrasse nachgegeben, und daraufhin wollte er sich allein mit den Händen hochziehen. Und dabei ist er abgerutscht.« María brach in Tränen aus.
Der KIT-Mann – Kemper war sein Name, sie erinnerte sich wieder – beugte sich über den Tisch zu ihr und sagte: »Es ist okay, dass Sie jetzt weinen, Frau Polonio.«
»Er wollte sich einfach nicht helfen lassen«, schluchzte María. »Ich bin noch zu ihm gelaufen, aber da war er schon weg.«
»So, wie Sie die Situation beschrieben haben, haben Sie alles getan, was in Ihrer Macht stand, um Ihrem Kollegen zu helfen. Sie haben wirklich alles versucht, Frau Polonio.«
Er reichte María ein Päckchen Papiertaschentücher.
»Danke.« María nahm eines heraus und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
»Das wäre es zunächst von unserer Seite, Frau Polonio«, sagte der Polizist und stand auf. »Haben Sie vielen Dank für Ihre Mithilfe. In den nächsten Tagen werden wir Ihnen eine schriftliche Zusammenfassung Ihrer Aussage zukommen lassen, die Sie uns dann noch kurz bestätigen müssten.«
Seine Kollegin verabschiedete sich ebenfalls und trat hinaus auf den Gang. María sah, dass sie ein Foto von der durchgebogenen Kabeltrasse machte.
»Frau Polonio«, sagte Viktor Kemper, »ich kann Ihnen anbieten, Sie nach Hause zu fahren. Sie haben jetzt alle möglichen anderen Sachen im Kopf, und da ist es manchmal besser, sich nicht zu schnell ans Steuer zu setzen. Aber bitte, das ist nur ein Angebot.«
Sie schaute zu, wie er sein Einsatzprotokoll in seinem Rucksack verstaute. Ihre Gedanken setzten wieder ein. Es wäre in der Tat besser, wenn sie das Auto über Nacht in der Tiefgarage stehen ließe. Sie könnte morgen ein Taxi ins Büro nehmen. »Ja, vielen Dank, das wäre sehr freundlich von Ihnen.«
Auf dem Flur stellte María fest, dass sie noch einmal auf die Toilette musste. Die beiden Polizisten und der Mitarbeiter des Kriseninterventionsteams warteten auf sie. Als María wieder herauskam, hörte sie, wie die drei darüber sprachen, auf welche Weise – und wem – die Todesnachricht zu überbringen sei. Anscheinend hatte der Verstorbene allein gelebt. Ob es nahe Angehörige gebe, werde derzeit ermittelt.
»Seine Eltern leben noch. Am Niederrhein«, sagte María, während sie zu viert zum Aufzug gingen. Ihr war eingefallen, dass sie Thomas vor nicht allzu langer Zeit in der Tiefgarage auf sein Elektrofahrrad angesprochen hatte. Sie spielte selbst schon seit einiger Zeit mit dem Gedanken, sich eines anzuschaffen. Welche Reichweite sein Rad habe, hatte sie wissen wollen. »Letztes Wochenende habe ich es bis zu meinen Eltern nach Goch geschafft, hin und zurück gut hundertsechzig Kilometer. Das hätten die mir gar nicht zugetraut, vor allem nicht mein Vater«, hatte er nicht ohne Stolz erzählt. Ein Sohn, der sich freute, seinen Eltern eine Überraschung zu bereiten, sie aufzuheitern, hatte María damals gedacht und sich gefragt, ob das die Aufgabe von Kindern sein sollte.
»Es hat keinen Sinn, heute Nacht noch auszurücken«, sagte der Polizist, als sie den Aufzug betraten.
»Lasst uns morgen mal telefonieren. Vielleicht könnte ich mit rausfahren«, bot Viktor Kemper an.
Der Aufzug war im Erdgeschoss angekommen. Die Türen öffneten sich, unversehens standen sie mitten im Foyer. Thomas’ Körper war mit einem großen weißen Tuch bedeckt. María überlief eine Gänsehaut. Viktor berührte leicht ihren Arm und zeigte auf den roten Einsatzwagen, der jenseits des Gebäudevorplatzes stand.
Draußen vor dem Gebäude wartete die eiskalte Nacht auf sie.
Sie traten hinaus in den kalten Winterwind, der vom Niederrhein herüberwehte, und überquerten den asphaltierten Gebäudevorplatz, in dessen Mitte eine hochgewachsene Scheinzypresse in den Sternenhimmel ragte. Maria und Viktor gingen vorbei an dem Polizeiwagen, dessen Blaulicht mittlerweile ausgeschaltet worden war, und traten an Viktors Wagen. Die Polizisten nickten ihnen zum Abschied noch einmal zu.
Viktor öffnete die Beifahrertür seines Wagens und ließ María einsteigen, dann setzte er sich auf den Fahrersitz und verstaute den großen Rucksack auf der Rückbank.
»Das ist wirklich sehr nett von Ihnen. Ich wohne auch nicht weit von hier«, sagte María und nannte Viktor ihre Adresse. Sie drehte ihren Kopf zu dem großen Rucksack. »Da ist bestimmt Ihr Erste-Hilfe-Set drin«, fuhr sie fort, mehr, um höfliche Konversation zu betreiben. Eigentlich hätte sie lieber geschwiegen.
»Kann man so sagen«, antwortete Viktor, drehte sich um und hievte den Rucksack auf seinen Schoß. Dann holte er nach und nach den Inhalt heraus. Papiertaschentücher, ein Teddybär, ein Bilderbuch, Buntstifte, Kerzen mit Streichhölzern, Traubenzucker und Schokolade kamen zum Vorschein. Viktor steckte seine rechte Hand in eine Clownspuppe und winkte María zu. Sie musste lächeln.
»Ein Erste-Hilfe-Set für die Seele«, sagte sie.
Viktor nickte. »Unscheinbare Dinge, die Menschen dabei helfen, sich wieder mit dem Leben in Berührung zu bringen.« Er verpackte die Utensilien im Rucksack und legte ihn auf die Rückbank. Dann ließ er den Wagen an.
Schweigend fuhren sie durch die Sternennacht. María schaute auf die Lichtkegel der Straßenlaternen, an denen sie vorbeifuhren. Sie dachte daran, dass Thomas als ihr Mentor fungiert hatte, nachdem sie vom Brüsseler Büro nach Düsseldorf versetzt worden war. Damals war ihr Deutsch noch holprig gewesen, und er hatte sich äußerst hilfsbereit gezeigt, auch bei den Behördengängen, die ihr Umzug erfordert hatte.
Zu jener Zeit hatte es eine kleine Affäre gegeben, in die der gerade aus der Kanzlei ausgeschiedene Jens Peters verwickelt gewesen zu sein schien. Einer jungen Anwältin war nur einige Monate nach Antritt ihrer Stelle wieder gekündigt worden, es war damals viel gemunkelt worden. María hatte Näheres erfahren wollen, doch Thomas hatte sich sehr reserviert gezeigt. »Es wird immer viel getratscht«, war sein einziger Kommentar gewesen. Thomas hatte sich eigentlich fast nie an Gesprächen über Kanzleiinterna beteiligt, fiel María jetzt auf, aber bei der Sache mit der jungen Anwältin hatte er besonders zugeknöpft gewirkt. Wie war noch der Name dieser Kollegin gewesen? Irgendwas mit Rose, glaubte sie sich zu erinnern. Nein, Dorn, genau, Magda Dorn. Seltsam, auf einmal beschlich María der Gedanke, dass da etwas zwischen Thomas und Magda Dorn gewesen sein könnte. Aber das war nun wirklich schon sehr lange her, da gab es bestimmt keinen Zusammenhang mehr mit dem, was heute Abend passiert war.
Sie schaute wieder aus dem Fenster. Sie hatte den Eindruck, nicht sie, sondern die Lichter führen vorbei. Wirbel stoben durch ihren Kopf.
María hatte bereits kurz nach ihrem Einstand in Düsseldorf eigene Mandate akquirieren können und war zu einer gefragten Expertin für außergerichtliche Streitbeilegung avanciert. Einige Seniorpartner, darunter Harry Clemens, einer der beiden Kanzleigründer, hielten große Stücke auf sie. Man hatte sie einstimmig zur Juniorpartnerin ernannt. Thomas, der zweifelsohne ein guter Anwalt war, aber eher im Hintergrund arbeitete, war damals nicht berücksichtigt worden.
María war nach dieser Episode auf Thomas zugegangen und hatte ihn zum Mittagessen eingeladen. »Mein Vater hatte schon den Schampus kaltgestellt«, hatte er ihr gestanden. Er hatte niedergeschlagen geklungen. »Jetzt muss ich mir eine Story ausdenken, warum ich immer noch Legal Counsel und kein Partner bin.« Dann hatte sich sein Gesicht mit einem Mal aufgehellt. Er hatte sie augenzwinkernd angesehen und mit seinem trockenen Humor hinzugefügt: »Ich erzähl‘ meinen Eltern einfach, dass wir hier eine Frauenquote haben.« María hatte gelacht.
Sie hatten immer wieder in verschiedenen Projekten zusammengearbeitet und waren sich auf dem Flur häufig über den Weg gelaufen. Jetzt, da sie darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass er in letzter Zeit sehr angespannt gewirkt hatte, irgendwie bekümmert. Sie bekam ein schlechtes Gewissen. Warum hatte sie ihn nicht einfach mal auf einen Kaffee eingeladen? Schließlich hatte sie ihm einiges zu verdanken, und Thomas war gewiss kein schlechter Kerl gewesen. Aber jeder in der Kanzlei war immer so mit seinen eigenen Dingen beschäftigt. María seufzte. Thomas war einer von denen gewesen, die immer grüßten. Anders als manche anderen Kollegen, die vor lauter Arbeit oder was auch immer nicht mal ein »Guten Morgen« zustande brachten. Ein freundlicher Mann. Freundlich und irgendwie bedrückt.
Sie waren an ihrer Wohnung angekommen. Viktor hielt an und stellte den Motor ab.
»Herzlichen Dank, das war sehr nett von Ihnen«, sagte María und wandte sich Viktor zu.
»Das habe ich sehr gern gemacht.« Viktor schaute María in die Augen. »Was beschäftigt Sie gerade?«
María starrte Viktor an. So eine Frage hatte ihr noch nie jemand gestellt. Ja, was beschäftigte sie gerade? Natürlich ihr toter Kollege, dachte sie sich noch, dann sprudelte es förmlich aus ihr heraus. »Er wollte doch gar nicht springen. Wenn er sich nur hätte helfen lassen. Er wollte es alleine schaffen. Wenn er einfach nur stehen geblieben wäre!« Der Schrecken und die Angst, die sie empfunden hatte, brachen sich Bahn. Dann sprach sie über ihre Schuldgefühle. Dass sie ihn nicht hatte retten können. Und dass sie ihn lange nicht mehr zu einem Kaffee eingeladen hatte. Nach zehn Minuten fühlte sie sich besser.
Viktor hatte ihr aufmerksam und ohne sie zu unterbrechen zugehört. Bevor sie ausstieg, gab er ihr noch einen Flyer, den er aus dem Rucksack hervorgeholt hatte. »Wenn Sie später noch mal mit jemandem sprechen wollen«, fügte er hinzu, »hier steht meine Telefonnummer drin. Ich wünsche Ihnen trotz allem eine gute Nacht.«
Marías schwarz-weiß getigerte Katze Penelope kam schnurrend auf sie zu und schmiegte sich an ihr Bein. Sie nahm die Katze hoch und berührte mit ihrer Stirn das Fell. Die Katze ließ diese Begrüßung kurz über sich ergehen, dann sprang sie wieder auf den Boden und stolzierte in Richtung Küche davon. María schloss die Tür ihrer Dachgeschosswohnung und folgte ihr. Mein Gott, der arme Thomas, dachte sie erneut. Warum nur hatte Thomas Siebenmorgen sich das Leben nehmen wollen?
Die Schuldgefühle kamen zurück. Warum hatte sie ihn in der letzten Zeit nicht einfach einmal angesprochen? Er hatte doch so traurig auf sie gewirkt. Warum war sie vorhin nicht schneller zu Thomas gelaufen? Warum hatte sie ihn nicht retten können?
María fütterte die Katze. Dann legte sie Musik auf, eine Metamorphose von Philip Glass, und seufzte. War sie irgendwie mit schuld an seinem Tod? Ein grotesker Gedanke. Sie schüttelte den Kopf. Sie wusste, dass Schuldgefühle sie noch nie weitergebracht hatten. María dachte nach. Sie wollte herausfinden, was ihn derart gequält hatte. Ging es sie etwas an, fragte sie sich einen Augenblick lang. Natürlich, entschied sie, Thomas war schließlich ein guter Kollege gewesen. Sie nahm ihr iPhone und öffnete eine Notiz, die sie mit dem Titel Thomas Siebenmorgen – Warum? versah. Darunter schrieb sie die Frage Warum am Arbeitsplatz?
Die Frage war bestimmt wichtig. Thomas hatte sich nicht zu Hause das Leben nehmen wollen. Er war nicht über die Brüstung einer Rheinbrücke geklettert. Nein, es war an seinem Arbeitsplatz passiert. Das musste etwas zu bedeuten haben. Sie runzelte die Stirn. Was zum Teufel war da los gewesen? War er in irgendeine krumme Sache verwickelt gewesen? Spielte Peters dabei eine Rolle? Und wenn ja, welche? Sie erinnerte sich, die beiden oft zusammen vor dem Imbissautomaten gesehen zu haben. Thomas hatte Peters zugearbeitet, das wusste sie. Was hatte Thomas zu so einer Wahnsinnstat getrieben?
Sie kannte einige Kollegen aus Thomas’ Abteilung sehr gut. Die würde sie morgen früh gleich ansprechen. Sie schickte ihrer Sekretärin eine Nachricht, alle Morgentermine abzusagen. Die Sache mit Thomas hatte jetzt Priorität.
María blickte auf das Poster mit ihrer Heimatstadt Sevilla, die sie so liebte. Sie dachte an all die Spuren arabischer Sprache und Kultur, die ihre Stadt prägten. Nach allem, was heute Abend passiert war, brauchte sie Kraft. Bevor sie sich schlafen legte, las sie noch ein paar Seiten aus ihrem liebsten Buch, dem Gedichtband eines syrischen Poeten, und streichelte Penelopes Fell.
Viktor folgte María mit den Augen, als sie das stilvolle Wohnhaus betrat, und sah, wie kurze Zeit später die Lichter in der Dachgeschosswohnung angingen. Er beugte sich über das Lenkrad und blickte hinauf in den klaren Sternenhimmel. Für ihn war es undenkbar, den ganzen Tag auf einen Bildschirm starrend in einem Bürohochhaus zu verbringen. War es das gewesen, was den Mann zur Verzweiflung getrieben hatte?
Er dachte an die Eltern des Toten, denen er morgen würde beistehen müssen. Schon oft hatte er erlebt, was für einen Schock die Nachricht eines unerwarteten Todes für die Angehörigen bedeutete. Das Schlimmste, was einem Vater und einer Mutter zustoßen konnte, war doch, das eigene Kind beerdigen zu müssen. Mit dem Kind starben auch die Eltern ein Stück. Mit ihm mussten sie all ihre Träume, die sie mit dem Kind verbanden, zu Grabe tragen. Die gemeinsam erlebte Vergangenheit hatte auf einmal keine Fortsetzung mehr. Für Eltern war es wie der eigene Tod noch zu Lebzeiten.
Viktor hatte mehrmals Eltern nach einer Todesnachricht beigestanden. Eltern von Säuglingen, die eines plötzlichen Kindstods gestorben waren. Eltern von Kindern, die auf dem Schulweg tödlich verunglückt waren. Eltern von Jugendlichen, die auf die sogenannte schiefe Bahn geraten waren. Eltern von jungen Erwachsenen, die nach erfolgreich absolviertem Studium auf einer Weltreise Opfer eines Verbrechens geworden waren.
Der tote Anwalt war in meinem Alter, dachte Viktor, Anfang fünfzig. Die Eltern des Toten dürften folglich um die achtzig sein. Nie zuvor hatte er so hochbetagten Eltern die Nachricht vom Tod ihres Kindes überbringen müssen. Was würde er für sie tun können? Er würde natürlich wie immer konkrete Hilfe bei den nun anstehenden unumgänglichen Formalitäten leisten, Behörden, Benachrichtigungen, Bestatter. Formalitäten, an die Eltern niemals hatten denken wollen. Aber er würde auch einfach da sein, empathische Professionalität zeigen müssen, wie es in den Schulungen hieß. Manche sprachen in diesem Zusammenhang von professioneller Empathie. Es lief aufs Gleiche hinaus, doch letztlich war das nur Theorie. Was in der Praxis konkret zu tun war, musste jeder KIT-Mitarbeiter für sich selbst herausfinden. Viktor wusste, dass er aufrichtiges Mitgefühl nur dann zeigen konnte, wenn er emotional authentisch und präsent war. Wenn der Panzer, mit dem er so oft durchs Leben gehen musste, auch Risse zeigen durfte. Risse, durch die das Licht scheinen konnte. Gleichzeitig musste er aufpassen, dass sich seine Emotionen nicht mit denen der Trauernden vermengten. Es ging nicht um seine Trauer, es ging darum, den Eltern beizustehen.
Viktor lehnte sich im Fahrersitz zurück und schloss die Augen. Er dachte an die Narben auf seiner Seele. Narben, die er lange nicht hatte sehen wollen. Er atmete ein paar Mal tief durch. Zum Glück gab es im Anschluss an emotional schwierige Einsätze immer die Möglichkeit, im Rahmen der Supervision die eigenen Gefühle zu reflektieren. Erst letzte Woche hatte er die Supervision in Anspruch nehmen müssen, nachdem er in der Wohnung einer jungen Mutter gewesen war, die gerade an einem Aneurysma verstorben war. Der Ehemann hatte zusammengesunken auf dem Sofa gesessen, als sich das Baby gemeldet hatte. Der Mann war zum Kühlschrank gegangen, hatte ein Fläschchen mit abgepumpter Muttermilch herausgeholt und aufgewärmt. Den Augenblick, wie der junge Vater dem Kind zum letzten Mal die Milch der Mutter gegeben hatte, würde Viktor niemals vergessen können. Ich hatte das Gefühl, dass meine Seele gekrümmt würde, hatte Viktor diesen Moment später in der Supervision beschrieben, ohne genau zu wissen, was er damit meinte.
Viktor öffnete die Augen, startete den Wagen und fuhr los. Bevor er aus der Straße bog, schaute er ein letztes Mal zu den Fenstern der Dachgeschosswohnung, in der noch Licht brannte.
Simon Nyakuri sah, dass Mueller-Reichenberg zweimal versucht hatte, ihn anzurufen. Nicht einmal beim Training hatte man seine Ruhe. Egal, dachte er und verstaute seine Handschuhe im Spind. Zuerst würde er duschen.
Draußen im Auto auf dem Parkplatz des Münchner Box-Treffs rief er ihn zurück. »Hallo Chef, Sie haben versucht, mich zu erreichen?«
»Clemens hat mich vor einer Stunde aus Düsseldorf angerufen. Können Sie morgen den ersten Flieger nach Düsseldorf nehmen? Abflug sechs Uhr dreißig. Es ist dort etwas vorgefallen.« Mueller-Reichenbergs Stimme hörte sich an wie immer, bestimmt, ohne Umschweife, keinen Widerspruch duldend. Vielleicht schwang eine Spur Unsicherheit mit, aber nur eine Spur, fand Simon. Wenn die beiden Kanzleigründer spätabends telefonierten, musste es etwas Ernstes sein. Doktor Harry Clemens vom Düsseldorfer und Doktor Alfons Mueller-Reichenberg vom Münchner Büro waren mittlerweile Anfang sechzig, bestens vernetzt, mit allen Wassern gewaschen. Intern wurden sie auch als die »Silberrücken« bezeichnet.
»Ein Mitarbeiter hat sich aus fünfzig Metern Höhe in den Tod gestürzt. Sieht nach Suizid aus. Am Arbeitsplatz, verstehen Sie? Worst Case. Thomas Siebenmorgen. Hat beim Schnabel in der Arbeitsrecht-Abteilung gearbeitet.«
»Verstehe«, sagte Simon. Was für eine Nachricht, schoss es ihm durch den Kopf.
Vereinzelte Regentropfen fielen auf die Windschutzscheibe. Simon wurde wieder einmal bewusst, dass das juristische Metier voller Überraschungen steckte. Vor einigen Jahren hatte er sein zweites juristisches Staatsexamen mit »gut« abgeschlossen. Er war unter den Jahrgangsbesten gewesen, Platzziffer 4 im Freistaat. Vor dem Berufseinstieg war er ein halbes Jahr um die Welt gereist, auch nach Ruanda, die Heimat seines Vaters. Simon hatte rasch als einer der Rising Stars in der Kanzlei gegolten, einer, bei dem schon nach kurzer Zeit klar gewesen war, dass er das Zeug zum Partner hatte. Mittlerweile war er die rechte Hand von Mueller-Reichenberg. Ein Knochenjob, aber er zahlte sich aus. »Du bist papabile, du hast das Zeug zum Papst«, hatte eine italienische Kollegin aus dem Turiner Büro erst neulich gespöttelt. Tatsächlich war sein Gesicht in dem neuen Kanzleivideo, das eine PR-Firma kürzlich gedreht hatte, auffallend oft zu sehen. Weil er so schön lachen konnte. Und weil das Gesicht eines jungen afrodeutschen Anwalts Diversität und Weltoffenheit demonstrierte. Simon störte sich nicht daran. Er war fünfunddreißig Jahre alt und stand kurz vor seiner Ernennung zum Juniorpartner. Das war alles, was für ihn zählte.
»Clemens meint, dass Peters irgendwas mit der Sache zu tun haben könnte«, sagte Mueller-Reichenberg. »Da ist etwas faul im Staate Dänemark. Dieser alte Gauner. Wir haben seit seinem Abgang auch so schon genug Unruhe in Düsseldorf.« Mueller-Reichenberg klang jetzt beunruhigt. Der Regen wurde stärker. »Wenn es da irgendeine Schweinerei am Arbeitsplatz gegeben hat, Mobbing oder so was, dann müssen wir das als Erste wissen. Selbstmord eines Anwalts – das kommt immer gleich in die Presse und die Social Media, wo sich dann alle Trittbrettfahrer die Mäuler zerreißen. Wir müssen damit offensiv umgehen. So eine Story macht auch die Mandanten nervös. Eine richtige Scheiße ist das, auf Deutsch gesagt.«
»Und wie sehen Sie meine Rolle dabei?«, fragte Simon.
»Sie sind meine Augen und Ohren.« Mueller-Reichenberg überlegt kurz. Dann fuhr er fort: »Drei Dinge sind jetzt wichtig. Erstens: rauskriegen, was da los war, warum er gesprungen ist. Rausfinden, ob das irgendwas mit der Kanzlei zu tun hat. Das heißt wohl oder übel auch, mit Peters Kontakt aufnehmen.«
»Wie erreiche ich ihn?«
»Lassen Sie das meine Sorge sein. Ich werde Peters gleich kontaktieren. Er sitzt bestimmt gerade in seiner Düsseldorfer Luxussuite. Ich werde darauf drängen, dass er morgen mit Ihnen spricht. Aber Vorsicht, Sie wissen, dass wir nächste Woche wohl gerichtlich gegen ihn vorgehen werden.«
»Alles klar.«
»Zweitens: Ruhe in den Laden bringen. Reden Sie mit den Kollegen, hören Sie zu, zeigen Sie Präsenz, wir kümmern uns und so weiter. Für die ist das ja auch ein Schock.«
»Natürlich.«
»Und drittens: human face. Nehmen Sie Kontakt zu der Familie auf, aber natürlich nur, wenn die das will. Vielleicht sind wir für die ja der Leibhaftige. Der hat sich ja nicht vor den Zug geschmissen. Der ist am Arbeitsplatz gesprungen. Da hängen wir automatisch mit drin.« Mueller-Reichenberg sprach hastig, fast gepresst. Simon konnte spüren, dass er unter Druck stand.
»Vielleicht können wir der Familie auch juristisch beistehen. Bei dem Aufprall ist anscheinend eine sündhaft teure Kunstplastik kaputtgegangen. Da kommen unter Umständen Regressforderungen auf die Angehörigen zu.« Wieder hielt er kurz inne, bevor er weitersprach: »Wenn Sie sämtliche Steine umgedreht haben, packen Sie alles in einen kurzen Bericht. Achtung wegen Datenschutz, Namen möglichst anonymisiert, keine Spekulationen, rein auf die Fakten beschränkt. Wenn die Rechtsanwaltskammer anklopft, kann ich denen sagen, dass wir die Sache untersuchen und im Griff haben, volle Kontrolle und so weiter.« Mueller-Reichenbergs Tonfall hatte wieder seine normale Temperierung angenommen. Simon bewunderte die Fähigkeit dieses Mannes, auch in schwierigsten Situationen emotionsfrei und lösungsorientiert zu denken. Keiner in ihrer Branche konnte Probleme schneller in To-do-Listen umwandeln. Mueller-Reichenberg war ein Meister der Taktik. »Dafür braucht es jemanden mit Fingerspitzengefühl. Sie sind dafür der richtige Mann, das weiß ich. Und noch was: Seien Sie auf der Hut vor Peters. Dem Burschen ist nicht zu trauen.«
Nach dem Telefonat startete Simon den Wagen und fuhr zur Ausfahrt, um auf den Mittleren Ring abzubiegen. Der Regen fiel jetzt in Strömen. Er wollte gerade beschleunigen, als er abrupt bremste, um nicht mit einer Radfahrerin zu kollidieren, die ohne Licht auf dem Radweg fuhr. Simon schüttelte den Kopf. Dann gab er Gas. Um diese Uhrzeit waren nicht mehr viele Autos unterwegs. Er schaute auf das Tachometer und bemühte sich, die zulässige Höchstgeschwindigkeit nicht zu sehr zu überschreiten.
Simon runzelte die Stirn und dachte über den ungewöhnlichen Auftrag nach, den er gerade erhalten hatte. Im Geiste ging er die drei Punkte noch einmal durch: Rausfinden, was da los gewesen ist. Ruhe in den Laden bringen. Den Angehörigen, soweit gewünscht, beistehen.
Simon fuhr auf eine Ampelkreuzung zu. Die Ampel sprang von Grün auf Gelb. Er wusste, dass an dieser Stelle Radargeräte standen, und trat auf die Bremse. Manchmal hatte er den Eindruck, dass die Ampeln bewusst so eingestellt waren, um den Verkehrsfluss zu unterbrechen. Jetzt würde er wieder gefühlt eine halbe Ewigkeit warten müssen.
Er griff seinen Gedanken wieder auf. Wie ging man an einen solchen Auftrag heran? Schon kurz nach seinem Eintritt in die Kanzlei hatte Simon begriffen, dass man weder auf der Universität noch im Referendariat die Dinge lernte, auf die es in der Branche wirklich ankam. Das eigentliche Geschäft lernte man on the job. Dafür musste man genau beobachten können und bereit sein, von den Besten zu lernen, weil nur sie das wahre Spiel kannten und es beherrschten. Das Spiel an sich und auch alles drumherum. In seinem Leben gab es dafür eine Reihe von Lehrmeistern:
Harry Clemens, der die Kunst der freien Rede beherrschte und Vertrauen zu seinen Zuhörern aufbauen konnte. Simon hatte auf einer Recruitment-Veranstaltung einem humorig-kompetenten Vortrag von Clemens gelauscht und danach den Entschluss gefasst, sich bei der Kanzlei zu bewerben.
Alfons Mueller-Reichenberg, der die hohe Schule der Taktik meisterte. Simon erinnerte sich noch gut an die erste wirklich heikle Telefonkonferenz, an der er als Kanzlei-Neuling teilgenommen hatte. Ihr Mandant war ein DAX-Konzern, der unmittelbar vor einer feindlichen Übernahme gestanden hatte. Ungeachtet der späten Stunde – es war weit nach Mitternacht gewesen –, der Dringlichkeit und der Brisanz des Falles, hatte Mueller-Reichenberg den aufgebrachten Vorständen seine äußerst clevere Abwehrstrategie dargelegt. Abgebrüht, routiniert, brillant. Und selbstverständlich erfolgsgekrönt.
Seinerzeit war Simon unerwartet auf einen weiteren Lehrmeister gestoßen. Am Tag nach der aufsehenerregenden Telefonkonferenz hörte Simon, wie Edouard de Lascaux, ein Seniorpartner aus dem Pariser Büro, die verängstigten DAX-Vorstände mit Figuren aus Michel Houellebecqs Roman Unterwerfung verglich. Simon hatte dem aus altem französischem Adel stammenden Edouard bis zu diesem Zeitpunkt nur wenig Beachtung geschenkt. Doch die Selbstsicherheit und Selbstverständlichkeit, mit der dieser eine Parallele zwischen Business und Literatur zog – und erst recht die beeindruckten Gesichter der anderen – hatten ihm imponiert. Simon, der sich bis dahin für feingeistige Literatur nicht sonderlich interessiert hatte, hatte sich seitdem bewusst Zeit genommen, einen literarischen Kanon auf seinem E-Book zusammenzustellen, um ihn in seiner freien Zeit abzuarbeiten.
Oder eben Jens Peters, der just ausgeschiedene Seniorpartner, der die vielleicht allerhöchste Kunst ihrer Zunft beherrschte: die Fähigkeit, jeden Gegner zu dominieren. Simon hatte Peters einmal live bei Vertragsverhandlungen erlebt, und dies hatte einen bleibenden Eindruck auf ihn gemacht.
Simon fuhr sich mit den Händen durchs Haar, als könne er dadurch seine Gedanken auf Vordermann bringen. Die Sache war vertrackt. Für den Auftrag in Düsseldorf gab es nicht nur kein Uni-Skript, sondern auch keinen Präzedenzfall in der Kanzlei. So etwas war eigentlich in ihrer Branche nicht vorgesehen. Simon spürte, dass Mueller-Reichenberg ihn auf dünnes Eis geschickt hatte. Klar, einerseits war es eine große Chance. Er bekam dadurch maximale kanzleiweite Visibility. Andererseits war bei so einer Sache kein Blumentopf zu gewinnen, schließlich ging es um reine Schadensbegrenzung. Im Gegenteil, man konnte sich leicht die Finger verbrennen. Was, wenn es da irgendeine Beziehungsgeschichte gegeben hatte, unerwiderte oder enttäuschte Liebe? Simon musste auf der Hut sein und sein Pulver möglichst trocken halten. Und in jedem Fall cool und professionell auftreten.
Die Ampel sprang wieder auf Grün. Na endlich, dachte Simon und drückte aufs Gaspedal.
Das Flugzeug war pünktlich in München abgeflogen. Ein kurzer Inlandsflug, einmal rauf und dann wieder runter. Simon liebte das Fliegen. Als kleiner Junge hatte er Pilot werden wollen und alles über Flugzeuge gelesen, was ihm in die Finger gekommen war. Das Fliegen gehörte für ihn zu den angenehmen Begleiterscheinungen seiner Arbeit.
Er hatte seinen Laptop aufgeklappt und studierte die Hintergrundinformationen, die Mueller-Reichenberg ihm noch zu nächtlicher Stunde gesendet hatte. Thomas Siebenmorgen hatte anscheinend keinen Abschiedsbrief hinterlassen. Er hatte in der Kanzlei keinen Partnerstatus gehabt. Er war, wie es im Kanzleijargon hieß, Legal Counsel, also ein angestellter Anwalt, dessen Vertrag auf fünf Jahre befristet war. Mueller-Reichenberg hatte festgestellt, dass Siebenmorgens Vertrag zum 31. März ausgelaufen wäre, was natürlich sofort die Frage aufwarf, ob etwa Angst vor dem drohenden Verlust des Arbeitsplatzes ein Motiv für den Suizid gewesen sein könnte.
Simon kannte das Prozedere in Sachen Vertragsverlängerung. Jeder Legal Counsel war der Abteilung eines Seniorpartners zugeordnet. Dessen Aufgabe war es, einen für ihn arbeitenden Legal Counsel auf die sogenannte Grüne Liste zu setzen. Wer einmal auf dieser Liste stand, war schon so gut wie über die Ziellinie, denn sie wurde von den Partnern in gemeinsamer Sitzung eigentlich nur noch durchgewinkt. Man durfte natürlich keine goldenen Löffel geklaut oder sich jemanden zum Feind gemacht haben, wie Mueller-Reichenberg es formulierte, aber im Grunde war es reine Routine.
Die Grüne Liste aller zum 31. März auslaufenden Verträge war am Tag vor Thomas’ Tod erstellt und an die Partner versandt worden. Spätestens ab diesem Moment wussten die betroffenen Vertragsanwälte, ob ihr Vertrag verlängert werden würde. Dass der Name von Thomas Siebenmorgen nicht auf der Grünen Liste gestanden hatte, war Mueller-Reichenberg natürlich aufgefallen, und er hatte deshalb noch zu später Stunde Kontakt mit Siegismund Schnabel aufgenommen, dem Seniorpartner, in dessen Abteilung Thomas Siebenmorgen gearbeitet hatte.
Schnabel hatte sich gegenüber Mueller-Reichenberg konsterniert gegeben, wie Mueller-Reichenberg es mit der ihm eigenen Mischung aus Süffisanz und Understatement in seiner E-Mail an Simon ausgedrückt hatte. Natürlich habe er sich vom plötzlichen Tod eines Mitarbeiters durchaus sehr betroffen gezeigt, aber er hatte zugleich pikiert auf Mueller-Reichenberg gewirkt, weil er hatte zugeben müssen, dass er Siebenmorgens anstehender Vertragsverlängerung wegen seiner durchgehend hohen Arbeitsbelastung derzeit leider nicht gewärtig gewesen