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Vor dem Hintergrund einer zerbrochenen Familie, in einer Welt, in der niemand und nichts genug zu sein scheint, handelt dieser Roman von der unerbittlichen Suche nach Verbundenheit. Eigentlich sollte Fritz Fello, 21, in nicht allzu ferner Zukunft die seit Generationen bestehende Familienbrauerei Hercules übernehmen, doch sein Vater scheint mit einem Mal andere Pläne zu haben, und es kommt zum Zerwürfnis. Nahezu um den Verstand gebracht und von seltsam vertraut wirkenden Traumbildern heimgesucht taumelt Fritz durch die folgenden Tage und Wochen und trifft dabei seinen alten Schulfreund Maik Zando wieder, der gerade dabei ist, nach Australien auszuwandern. Auch Fritz hält nichts mehr in seiner Heimat, und er überlegt, Maik ans andere Ende der Welt zu begleiten. Doch dann gewinnt er mehr und mehr den Eindruck, sein Vater und Maik könnten unter einer Decke stecken, und bald kommt er einem Familiengeheimnis auf die Spur, das alles auf den Kopf stellt …
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Seitenzahl: 223
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Foto: © privat
Martin Rost, geboren 1990, wuchs als Sohn einer Wirtin und eines Lokomotiv-Ingenieurs in einem kleinen Ort nahe Kassel auf. Er studierte Visuelle Kommunikation an der Kunsthochschule und absolvierte ein journalistisches Volontariat in Bremerhaven.
Heute lebt und arbeitet er in Kassel.
Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen
Originalausgabe (1. Auflage 2025)
© 2025 by ars vivendi verlag
GmbH & Co. KG, Bauhof 1,
90556 Cadolzburg
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www.arsvivendi.com
Lektorat: Dr. Felicitas Igel
Covergestaltung: Martin Rost
eISBN 978-3-7472-0665-2
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Vor dem Aufstehen bleibe ich oft noch eine Weile liegen und hänge meinen Träumen nach, meistens nicht länger als ein oder zwei Stunden. Aber heute hab ich nicht einmal geschlafen, und das lag an Toni.
Um kurz nach acht klingelte ihr Wecker, und obwohl ich die ganze Nacht auf den Beinen war und sie ihn sofort wieder ausstellte, hatte sich das mit dem Schlafen für mich erledigt.
Ich sah ihr dabei zu, wie sie sich ihren Hoodie überzog und auf ihren nackten Füßen hinüber zur Küchenzeile schlich. Dann stand ich auf und ging ihr hinterher, und während sie ein bisschen Obst zerkleinerte und auf zwei Schüsseln mit Müsli und Joghurt verteilte, machte ich uns einen Kaffee.
Wir frühstückten auf dem Teppich, gleich vor dem Bett, und betrachteten die Leute, die draußen am Fenster vorbeiliefen. Dann ging sie rüber ins Bad und zog sich fertig an. Sie müsse zum Arzt, etwas abklären. Kurz darauf verließ sie unser Loft.
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Ich sage »Loft«, aber es ist eigentlich eine Wohnung, eine Kellerwohnung mit nur einem Zimmer, und die Fenster sind nichts als schmale Lichtschächte unter der Decke, die von den Passanten draußen kaum mehr zeigen als ihre Füße. Meistens die Füße von Kindern, die auf ihrem Schul- oder Nachhauseweg bei uns vorbeikommen. Und wir wohnen auch nicht zusammen, Toni und ich, nicht richtig jedenfalls. Wir kennen uns von früher, und nachdem sie neulich aus Australien zurückgekehrt ist und wenig später bei mir vor der Tür stand, hat es sich irgendwie so ergeben, dass sie fürs Erste bei mir unterkommt. Ich hab ihr gleich gesagt, dass ich nur ein Bett und wenig Platz habe, aber sie meinte, sie sei Schlimmeres gewohnt, und dann fiel mir auch kein Grund mehr ein, sie nicht bei mir schlafen zu lassen; ich meine, die meiste Zeit bin ich eh nicht richtig da.
Und dennoch. Ich frage mich, wie es angehen kann, dass du nach drei Jahren im Ausland, zehntausend Kilometer entfernt, zurück in die Heimat kommst, ohne dir vorher einen Kopf gemacht zu haben, wo du pennst – und dann bei einem bleibst, den du zuletzt als Teenager gesehen hast. Wir haben zwar ein paarmal hin und her geschrieben, und vor einem Monat hätten Maik und ich es auch beinahe zusammen bis nach Darwin geschafft und sie besucht, aber ein bisschen seltsam ist es trotzdem. Ich meine, wie kann sie wissen, dass ich kein herzloses Monster geworden bin?
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Vermutlich hänge ich deshalb meinen Träumen nach, weil ich hin und wieder nicht genau sagen kann, ob meine Erinnerungen der Realität oder einem Traum entspringen. Es sind Kleinigkeiten. Ich sehe oder höre was, und dann fällt mir etwas dazu ein, nur kann ich es nicht sofort zuordnen, und dann ist es auch schon wieder weg, weil irgendwer oder irgendwas meine Aufmerksamkeit verlangt. Zum Beispiel vor ein paar Tagen.
Toni und ich hatten es uns auf dem Teppich bequem gemacht, aßen Pizza und tranken Tee, den sie aus frischen Kräutern und ein paar Gewürzen zubereitet hatte. Und da erzählte sie irgendwann von ihrer verstorbenen Tante, die es angeblich hingekriegt hat, einer Amsel das Sprechen beizubringen. Es sei weniger ausgeprägt gewesen als bei einem Papagei, aber den ein oder anderen Satz habe der Vogel grammatikalisch einwandfrei gesprochen. Und während sie die Standardsätze der Amsel mit krächzender Stimme imitierte, hatte ich mit einem Mal das Bild dieses Falken vor Augen.
Hoch über der Straße kam er angeflogen und sank anmutig herunter auf den Ast einer knorrigen Eiche. Dort saß er eine Weile, blickte von oben herab und ließ sich dann in die Tiefe fallen, um in einer sanften Kurve zum nächsten Baum zu gleiten. Die Flügel zu voller Spannweite ausgebreitet, der Körper schief in der Luft, dass man seinen weißen weichen Bauch sehen konnte, segelte er über die Landstraße dahin, als ein Lastwagen ihn hinterrücks erwischte. Die Flügel um den schlanken Bauch gewickelt, kullerte er durch die Luft. Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde er sich wieder fangen; er breitete die Flügel aus und zog sich mit schweren Schwingen hinauf. Doch dann, einige Hundert Meter weiter, stürzte er leblos in den Wald.
»Eigentlich ist das die Stelle, an der immer alle lachen!« Toni stupste mich an, und ich schob ein Lachen nach, als hätte ich es absichtlich zurückgehalten, um sie auf den Arm zu nehmen.
Aber sie spürte wohl, dass es nicht echt war; sie lachte zwar, doch nur für einen kurzen Moment. Dann stieß sie einen Seufzer aus und blickte auf den Boden. »Es ist eigentlich nicht lustig, ich weiß. Aber sobald ich an die Amsel denke, macht mich der Tod meiner Tante nicht mehr ganz so traurig, weißt du?«
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Die ersten Nächte schlief sie auf einer dünnen Matte auf dem Boden, gleich neben ihrem Rucksack, ihrem einzigen Gepäckstück, kaum größer als ein dickes Kind, das lautlos in der Ecke steht.
Als ich sie fragte, ob ihre restlichen Sachen noch in Australien seien, schüttelte sie den Kopf und erklärte mir, in diesem Rucksack sei alles, was sie brauche. Sie sagte es zwar in einem völlig anderen Wortlaut, aber die Art, wie sie es sagte, erinnerte mich doch an Maik, und daran, wie ich ihn vor sechs Wochen auf unserer berühmt-berüchtigten Kneipenstraße wiedergetroffen habe – nachdem ich ihn volle zehn Jahre nicht gesehen hatte.
Nach einem sinnlosen Tag am Laptop hing ich mit einem Bier an der Haltestelle rum, ein bisschen im Schatten, und ließ mich vom Treiben gegenüber berieseln. Ein Besoffener stolperte über seine Füße und knallte wie ein Käfer gegen die Glasfront der Bar mit den aufgeklebten Flammen. Er rappelte sich auf, riss an der Tür und drängte sich in das Gemisch aus Menschen und Musik, beinahe zeitgleich zerschellte vor der Bar nebenan ein Glas in tausend Stücke. Eine faltige Frau mit blonden Strähnen und Cowboystiefeln maulte herum, es sei noch viel zu früh, man solle es wegmachen, eine Gruppe mit Sprüche-Shirts und einem bemalten Schuhkarton voller Klopfer brüllte vor Lachen. Dann rumpelte die Straßenbahn zwischen das Kneipenpanorama und mich wie ein fetter blauer Wurm und spuckte eine Bande von jungen, lachenden Frauen mit kurzen Röcken heraus, die Handys blickbereit in der Hand, dicht gefolgt von gaffenden Jungs.
Allesamt wussten sie, wohin, ließen sich ziehen von einer unsichtbaren Angel. Und ich?
Ich war ein Telefonstreich.
Eine Lachnummer.
Ein Niemand ohne Job.
Und da entdeckte ich Maik. Keine fünf Meter stand er von mir entfernt, über seiner Schulter eine abgewetzte lederne Tasche mit kurzen Henkeln.
Er hatte mich wohl schon länger beobachtet, so wie er mich ansah. »Fuck, bist du das, Fritz?«
Ich tat so, als wäre ich mir ebenfalls nicht sicher, dabei hatte ich ihn sofort erkannt: die dicken schwarzen Brauen über den dunklen Augen, die glänzende, sichelförmige Narbe auf der Wange.
»Maik? Fuck, ist das lange her!«
»Und doch siehst du genauso aus wie früher.«
Ein paar Sekunden nickten wir uns grinsend an und schüttelten die Hände. Dann deutete ich auf das Geschäft hinter ihm, wo sich das Wort Lederwaren in verschnörkelter Schrift über die gesamte Breite des Schaufensters zog. »Hab noch nie einen gesehen, der sich da was gekauft hat …«
Es stimmte nicht einmal.
Maik wandte sich um und betrachtete den Laden wie einen Kater, der ihm unbemerkt nachgelaufen war. Dann hob er die Schulter mit der Tasche und meinte, das sei doch ein feiner Laden. Man habe ihn dort gut beraten, als er den Rucksack für seinen Trip gekauft hätte.
Seinen Trip.
Fuck!, er sagte das so, als ginge es nicht um Party irgendwo auf dem Globus, wo Klima oder Architektur oder Landschaft besser oder schöner oder einfach unbedingt anders waren, wo du am Ende deiner Reise an einem Bach in der Mongolei sitzt und dir überlegst, in welcher Reihenfolge du die Leute in deiner Heimat von all der Wahrheit überzeugst, die du endlich begriffen hast, an diesem Bach in der Mongolei.
Auf diesem Berg in Nepal.
Auf dieser Lichtung bei Vancouver.
In diesem einen Tempel Goas.
»Was für ein Trip soll das denn sein?«
Ein Kräuseln zog über seine Lippen. »Du erinnerst dich doch an Toni …«
Ich hatte seit Jahren nicht an sie gedacht, und das erste Bild, das mir an diesem Tag von ihr in den Sinn kam, war Toni mit giftgrüner Brille, wie sie Maik im Sommercamp auf Schritt und Tritt gefolgt war, federnde schwarze Locken über dem runden Gesicht, die eingecremte Haut voller kleiner Pickel. »Brillen-Toni?«
Maik grinste und vollbrachte ein kleines Kunststück, indem er zugleich nickte und den Kopf schüttelte. »Brillen-Toni gibt es nicht mehr. Brillen-Toni ist jetzt Managerin.«
»Dann hat sie es ja weit gebracht.«
»Den ganzen langen Weg bis nach Darwin fucking City!« Er sagte das beinahe triumphierend, als wäre es sein Verdienst gewesen. »Und dreimal darfst du raten, wer ihr bald folgen wird …«
»Der Underdog der Nordstadt?«
Er lächelte und nickte und holte Luft, vielleicht, um sich nach mir zu erkundigen, aber dann fiel sein Blick glücklicherweise auf die nächste Bahn, die gerade um die Kurve rollte. Er schaute hin und her zwischen uns, als überlegte er, was besser sei, und klopfte mir dann auf die Schulter. »Entschuldige, Brudi, ich muss los. Aber war schön, dich zu sehen – meld dich doch mal!« Er setzte dem noch etwas hinzu, aber ich hatte ihn nicht richtig verstanden; die Bremsen der Bahn zerrissen die Luft, als eine alte Frau im letzten Augenblick entschieden hatte, mit ihrem Rollator über die Schienen zu wandern.
Ich hakte aber auch nicht weiter nach.
Ich wünschte ihm, was auch immer er sich wünschte.
Er bedankte sich, stieg in die Bahn und winkte mir noch einmal zu, während ihn der blaue Wurm ins Innere der Stadt zog.
Schwarze Wolken hingen über den Dächern und drohten mit Weltuntergang.
Sollte er ruhig kommen, der Weltuntergang!
Blitze und Tsunamis und der ganze fiese Rest.
Sollten sie doch alle zugrunde gehen und –
»Und dann?«, sagte ich tonlos vor mich hin und wusste selbst keine Antwort.
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In der dritten oder vierten Nacht, vielmehr am Morgen danach, kam Toni das erste Mal in mein Bett geschlichen. Ich hatte noch nicht richtig geschlafen, und als ich hörte, wie sie ihren Schlafsack beiseiteschob und auf Zehenspitzen herüberkam und sich neben mich legte, tat ich, als schliefe ich.
Ich spürte ihren Atem in meinem Nacken, spürte, wie er ruhig und sehr gleichmäßig wurde, und nachdem ich mich eine ganze Weile nicht bewegt hatte, um sie nicht wieder aufzuwecken, fiel auch ich in den Schlaf, einen ungewöhnlich tiefen.
Im Traum verlief die Zeit wie gedrosselt, und es gab auch keine wirkliche Handlung, nur das eingefrorene Bild einer Lichtung im Zwielicht und die vage Ahnung, dass irgendwo im Schatten der angrenzenden Bäume etwas lauert. Als ich wieder erwachte, war Toni schon weg. Aber sie hatte mir so etwas wie eine Notiz hinterlassen, auf der Kellertür, die ins Treppenhaus führt, eine Sicherheitstür, die noch aus der Zeit stammt, als die Wohnung ein richtiger Keller war. Heute dient sie als Magnettafel, und Toni hat so was wie einen deformierten Apfel darauf gemalt, mit langen dürren Beinen und seitlich abstehenden Kringel-Armen, wie Sprungfedern. Er sieht ein bisschen aus wie ein Herz, und als ich ihn entdeckt habe, musste ich aus irgendeinem Grund an den Keller im Haus meines Vaters denken, den alten Gewölbekeller, tief unter der Erde. Und natürlich auch an die Geburtstagsparty von Betty, seiner Verlobten.
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Eigentlich hatte sie schon im Februar gehabt. Aber weil sie am neunundzwanzigsten hatte und wir ein Schaltjahr haben und sie rein rechnerisch erst zehn wurde, veranstaltete sie im August ein riesenhaftes Spektakel.
Der ganze Garten war voller Menschen, die ich noch nie gesehen hatte. Ein Fleischer aus der Vorstadt mit schnellem, klugem Mundwerk grillte ein Spanferkel, daneben hatte eine junge Frau, vielleicht noch Studentin, ein vegetarisches Büfett errichtet. Weiter oben, auf dem halb ummauerten Freisitz, wartete eine Band auf ihren Einsatz. Unten im Garten befand sich der Ausschank: ein gigantisches hölzernes Fass auf Rädern. Mein Vater hatte es für diesen Anlass anfertigen lassen. Oben blinkte die Kontur einer Keule, des Markenzeichens der Hercules-Brauerei. Seiner Brauerei. Seit dreiundfünfzig Jahren im Besitz der Familie.
Als der Fleischer meinem Vater das Signal gegeben hatte, dass das Spanferkel servierbereit sei, stieg mein Vater auf die Bühne und trat ans Mikrofon. »Kommt ihr alle mal her?« Er sagte das viel weniger als Frage denn als Aufforderung, und die Leute bildeten eine bunte Traube vor ihm, leicht und sommerlich bekleidet. Dem einen oder der anderen nickte oder lächelte er zu, und zwei junge Frauen in eng geschnittenen Pinguinkostümen liefen umher und verteilten Champagner. Mein Vater, wie immer im schwarzen Anzug, das ebenfalls schwarze Hemd ein bisschen aufgeknöpft, dass man das goldene Kettchen sehen konnte, bekam als Letzter sein Glas, und sobald er es hatte, hob er es an und hielt eine Rede auf Betty.
Die Einzelheiten habe ich vergessen; um ehrlich zu sein, hatte ich gar nicht richtig hingehört. Doch ganz am Ende, nachdem Betty sich schon neben ihn gestellt und sich auf den Applaus der Leute hin in jede Richtung verbeugt hatte, da sagte mein Vater zwei Dinge, die mich doch überraschten.
Als Erstes verkündete er seine Verlobung mit ihr, woraufhin erneut gejubelt wurde – aber nicht, als sei es eine Neuigkeit, sondern vielmehr so, als bejubelten sie seinen Mut, es endlich laut verkündet zu haben. Und in dieses Gejubel hinein rief mein Vater dann: »Esst euch satt, feiert wild – es wird das letzte Mal in diesem Garten sein!«
Nun, er hatte schon eine ganze Weile davon gesprochen, das Haus zu verkaufen, es sei zu groß und zu teuer und zu abgelegen; und die Abstände, in denen er davon redete, waren kürzer geworden. Aber schließlich sprach er die ganze Zeit von irgendwelchen Dingen, die er dann nicht umsetzte, und hätte ich wetten müssen, ob er das Haus nun verkauft oder nicht, wäre ich all in auf Letzteres gegangen. Immerhin war er dort aufgewachsen und hatte nie woanders gelebt, und ich glaubte, dass er irgendwann auch dort sterben würde, so wie mein Großvater, und dann würde es wieder mein Zuhause werden, und die Brauerei liefe unter meiner Führung, und ich hätte vielleicht eine Freundin, vielleicht Kinder, vielleicht einen Hund, der im Garten herumtollt, wer weiß. Und als ich meinen Vater Stunden später unter vier Augen erwischte, drinnen in der Küche, wo er dicke kalte Brocken von den Resten des Spanferkels in seinen Mund stopfte, sagte ich ihm das.
Er lächelte mit feuchten Lippen. »Es ist mein Haus, Junge. Ich kann damit tun und lassen, was ich will.«
»Findest du nicht, es wäre besser, es zu behalten?«
»Nein.« Er schmatzte und packte seine Hand auf meinen Kopf. »Sieh es nicht so eng. Es ist Zeit für Veränderungen.«
Ich wollte ihn fragen, was genau er damit meinte, aber in dem Moment kam Betty hinzu. Sie stellte ein paar leere Gläser in die Spüle und hakte sich bei ihm ein. Dann wandte sie sich an mich und sagte genau im gleichen Wortlaut, als hätte sie unser Gespräch belauscht, ich solle es nicht so eng sehen.
Sie lächelte.
Meinte, ich würde doch eh nicht mehr dort wohnen.
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Ihre Worte hallten in mir wider, als ich am nächsten Morgen, im blauen Licht der Dämmerung, im Jägerstand erwachte, weit hinter dem Garten, zwischen Wald und Wiese. In meinem Schoß lag eine Flasche Fernet, halb leer, und als hätte mich ihr Anblick eines Besseren belehrt, kletterte ich den Jägerstand wieder hinab und wankte durchs taunasse Gras zurück zum Haus.
Es herrschte eine Stille, wie es sie nur nach Partys geben kann, und als ich anfing, die Sachen einzusammeln, kam ich mir vor wie ein Eindringling. Selbst mein altes Zimmer schien mir fremd. Ich huschte bloß hinein und zog meinen Scout, meinen ersten Schulranzen, schwarz und mit bunten geometrischen Formen, unter dem Bett hervor. Dann schlich ich mit dem Ranzen wie eine Aktentasche in der Hand über die lichtdichte Diele ins alte Dienstbotenquartier, wo mein Großvater zuletzt gewohnt hatte. Bis auf die Staubschicht, die wie ein Tuch aus Samt auf den Möbeln und den Lampenschirmen lag, wies nichts auf seine Abwesenheit hin.
Es waren Kleinigkeiten.
Ich packte ein paar seiner wertvollsten Messer ein, einige Urkunden und seinen Meisterbrief. Zuletzt noch das Foto von uns beiden, das ich kurz vor seinem Tod über seinen Fernseher gehängt hatte, und die Uhr, die ich am Handgelenk trug. Dann ging ich zurück ins Haupthaus und von dort in den Keller, wo ich die Geheimtür zum alten Gewölbekeller freiräumte.
Es war nicht wirklich eine Geheimtür, da waren keine versteckten Hebel und kein Regal, das sich auf wundersame Weise drehen ließ, kein ausgeklügelter Mechanismus hinter einer unscheinbaren Wand. Da standen einfach ein paar schmutzverschmierte leere Fässer alten Hercules-Biers, und hinter einem davon verbarg sich ein Loch, das die Treppe in den Gewölbekeller freigab. Und so schwarz und verschmiert, wie meine Hände aussahen, als ich das bestimmte Fass endlich gefunden und zur Seite gehievt hatte, waren die Fässer seit einer Ewigkeit nicht berührt worden.
In der absoluten Finsternis – der Akku meines Handys war wie immer leer – tastete ich mich hinab in den niedrigen Raum und legte die Sachen in einer Ecke auf den feuchten Boden. Dann flüsterte ich einen Trinkspruch und ging mit dem leeren Scout wieder nach oben.
Und da packte mich so was wie eine Wut, ich weiß auch nicht. Ein Fass nach dem anderen bugsierte ich auf die Treppe, bevor ich hinters Haus ging, die Schubkarre am Schuppen mit Feuerholz belud und sie zurück in den Wäschekeller rollte, wo ich das Holz dann in die Hohlräume zwischen den Fässern steckte, Fuhre für Fuhre, bis nur noch Mäuse und Ratten nach unten gelangen konnten. Und als auch das erledigt war, rührte ich in einer Waschwanne Zement an und klatschte ihn gegen das Holz und die Fässer. Ich ritzte meine Initialen in die Ecke der buckligen Pampe, warf mir den Ranzen über die Schulter und verließ das Haus, in dem ich eh nicht mehr wohnte.
Die Sonne schien mir grell ins Gesicht.
Runde 1
Die Sonne.
Bei meiner ersten Runde heute hing sie noch knapp über dem Horizont. Bei der nächsten wird sie untergegangen sein.
Dann wird es dunkel hier auf dem Parkplatz, ein Gelände so groß wie zwanzig Fußballfelder, nur ich und die Autos. Ein Meer aus Leasing- und Jahreswagen der Firma VW. Immer die gleichen Modelle.
Tag für Tag bringen Lkws aus aller Welt neue heran und holen die geparkten ab. Allerdings nie mehr als achtzig an einem Tag. So gesehen ist es vielmehr ein Zwischenlager, ein großes Kommen und Gehen, abseits der neugierigen Augen der Stadt, mitten im Nirgendwo, umgeben von brachliegenden Äckern und einem kleinen Stück Wald. Und ich, ich bin der Nachtwächter.
Eine Vogelscheuche für die Verbrecher.
Regelmäßig verlasse ich meinen Posten, einen halbierten Bürocontainer, in dem nichts weiter steht als ein Stuhl, ein Tisch und ein Kühlschrank, und umrunde das Gelände, wobei ich meinen Scanner – ein klotziges Gerät in Form eines Walkie-Talkies – an jeden der siebzehn Checkpoints halten muss, bis es piept. Wenn die Chefin unten im Büro ihn ausliest, kann sie sehen, dass ich auch wirklich meine Runden gelaufen bin.
Meistens laufe ich mehr als genug.
Ansonsten habe ich nicht viel zu tun, außer die angelieferten Autos anzunehmen und diejenigen, die abgeholt werden, freizugeben. Das ist einfach und geht in der Regel schnell: Ich schaue nach, ob die Nummern in den Scheiben der Autos übereinstimmen mit den Nummern auf den Papieren des Transportpersonals, und wenn alles passt, dann setze ich einen Stempel und meine Unterschrift darunter, reiße eine Durchschrift ab und sage Ciao.
Aber heute war noch keiner da, und wenn das bis zweiundzwanzig Uhr so bleibt, dann wird sich daran auch nichts ändern. Bis Sonnenaufgang wird es dann sehr ruhig hier draußen, sehr dunkel und sehr ruhig, und die Stunden ziehen sich hin wie Gummi.
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Eigentlich seltsam, dass man das so sagt: Die Sonne geht auf. In Wahrheit ist es die Erde, die sie umkreist. Es ist nur aus unserer Perspektive anders. Doch obwohl wir das schon lange wissen, und Wissen einen derart hohen Stellenwert genießt, hält sich der Ausdruck hartnäckig in unserer Sprache.
Dabei ist es genau genommen eine Lüge.
Statt Sonnenaufgang müsste es viel eher heißen, die Erde dreht sich in den Tag hinein, dreht sich aus dem Tag heraus. Die Welt wird hell, wird wieder dunkel. Wird geküsst vom Licht oder verabschiedet sich davon.
Aber so redet ja keiner.
Wir ziehen unsere eigene Perspektive vor.
Wobei das eine tückische Sache ist mit der Perspektive. Sie ist abhängig vom Betrachtenden. In Darwin zum Beispiel, in Australien, hängen die Sterne und der Mond andersherum am Himmelszelt. Toni hat mir erzählt, die Sonne gehe dort jeden Tag um die gleiche Zeit unter, um sechs, etwa so wie bei uns im Winter. Das dürfte für Leute von hier einigermaßen befremdlich sein. Für uns gehören Temperaturen, wie sie im Norden Australiens herrschen, zu langen Tagen und kurzen Nächten. So kennen wir es. Lange Nächte hingegen gehören für uns zum Winter und sind in der Regel kalt, zumindest frisch, aber auf jeden Fall nicht lau. Das ist so, als würde man seine Hand in Wasser tauchen, ohne dass sie dabei nass wird. Ich würde ewig brauchen, um mich daran zu gewöhnen.
Aber nicht jemand wie Maik.
Für ihn war es sicher kaum mehr als die Umstellung von Sommerzeit auf Winterzeit.
Ein unbedeutender Jetlag auf dem einen großen Trip, der alles endlich zum Guten wendet. Auch wenn er fürs Erste wieder bei null anfängt.
Er hat Besseres zu tun, als sich mit Phänomenen des Blickwinkels zu beschäftigen. Er kümmert sich um seinen Land Cruiser, irgendwie hat er ihn bekommen, poliert ihn für die Touristen.
Bitte sehr.
Thank you.
Fremde Leute in Cargo-Shorts, von oben bis unten eingeschmiert mit Sonnencreme, gierig darauf, einmal in ihrem Leben quer durchs Outback zu heizen, wer weiß, wann es vorbei ist, und Maik, dieser wunderbare Hund, liegt unterdessen am Strand und balanciert ein kühles Bier auf seinem Bauch. Die Racer-Sonnenbrille tief auf der Nase, einen ausgeblichenen Bucket Hat auf dem Kopf, hält er Ausschau nach den Haien, die in der Bucht von Darwin ihre Kreise ziehen, gar nicht mal so selten.
Wäre er ein Fisch, er würde gegen sie kämpfen. Maik motherfucking Zando.
Er fehlt mir.
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Einmal hat Toni in einem Nebensatz erwähnt, seine Eltern seien auch getrennt, so wie ihre. Oder meine.
Vermutlich ist es das, was er ihr erzählt hat, vielleicht war es auch bloß Tonis Mutmaßung, auf jeden Fall ging ich nicht weiter darauf ein. Ich sagte ihr, dass es nirgendwo überhaupt noch einen gebe, dessen Eltern es nicht seien oder irgendwann sein würden. »Keine Ahnung, wieso die Leute überhaupt noch heiraten oder sich zusammentun. Vielleicht wegen der einzigartigen Partys und der feinen Klamotten, die sie und alle ihre Gäste extra für diesen Anlass tragen, extra für sich, ihre Gäste und die Party. Vielleicht glauben sie auch, dass sie immer die Gleichen sein werden, wie zwei Porträtfotos, die man nebeneinander gehängt hat. Vielleicht glauben sie wirklich, dass immer alles gut bleibt.«
Toni war da anderer Meinung.
Ich weiß nicht mehr genau, wann wir darüber gesprochen haben, aber es war wohl in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft, und sie sagte, es komme ganz darauf an. Es sei nicht ausgeschlossen, dass es funktioniere, auch für uns nicht. Womit sie wahrscheinlich unsere Generation meinte.
»Worauf genau kommt es an?«
Sie saß vor mir, im Schneidersitz, und trug ihr Nachthemd, einen übergroßen ausgeblichenen Hoodie. Die Lippen gespitzt, die Augen hinter ihrer großen modischen Brille zusammengekniffen, dachte sie lange über meine Frage nach und sah dabei viel mehr nach Teenie-Brillen-Toni aus, als ihr wahrscheinlich lieb gewesen wäre.
»Zuerst einmal muss man es wollen«, sagte sie schließlich. »Das ist das Wichtigste. Und dann geht’s darum, zu reden. Über alles, immer wieder, mit offenem Herzen. Und auf Augenhöhe.« Sie hob ihren Kopf, sodass sie mir in die Augen blicken konnte.
»Das soll funktionieren?«
Sie lachte. »Ja, wenn du es willst.«
»Und wenn du nicht weißt, was du willst?«
»Dann solltest du besser hinhören.«
»Wohin denn?«
»Dorthin.« Sie piekte mit ihrem ausgestreckten Zeigefinger auf meine linke Brust. Und nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Ich könnte nie mit jemandem zusammen sein, der sich mir verschließt. Du?«
Es kann gut sein, dass es dieser Tag war, als ich Toni von meinem Vater erzählte. Von dem Abend in unserer Stammkneipe, der Schenke, und dem Anfang vom Ende der Hercules-Brauerei.
Runde 2
Mein Vater saß am Tresen. Mit seinem langen, krummen Rücken und dem schwarzen Sakko sah er aus wie ein Orca. Es war der Platz, an dem sonst mein Großvater gesessen hatte, und obwohl er schon über ein Jahr tot war, schien es mir falsch, dass mein Vater dort saß.
Hinter dem schwach beleuchteten Tresen stand Heinrich. Die Leute nennen ihn den Schwarzen, angeblich war er der Erste in seiner Familie, der mit pechschwarzen Haaren zur Welt kam. Auf jeden Fall war er der Erste, der Hercules-Fässer in seinen Keller rollte, als niemand sonst etwas vom dunklen, untergärigen Bier meines Großvaters hören wollte.
Über fünfzig Jahre war das nun her.
Der Schwarze hatte die Gestalt eines Bären. Seine nassen Pranken ruhten auf der grünen Apparatur zwischen den Zapfhähnen, ein Geschirrtuch hing gefaltet über seiner Schulter. Er zwinkerte mir zu, nahm ein Glas aus dem Regal und zapfte einen Schwapp Bier hinein.
Die anderen hatten mich noch nicht bemerkt. Wie gebannt hingen sie an den Lippen von Siggi Fink, einem Mann, den ich noch nie ohne Anzug gesehen habe und der drei der renommiertesten Restaurants an drei der prominentesten Standorte führte, eines davon mit Stern.
»Kaum hatte Claus seine Kippe an, da steht der Schaffner vor unserer Nase!« Siggi schaute in die Runde am Tresen. »›Sie dürfen hier nicht rauchen! Im ganzen Zug gilt absolutes Rauchverbot, wissen Sie das nicht?!‹« Er hatte seine Stimme piepsig verstellt, um den Schaffner zu imitieren. Onkel Benni neben ihm, der in Wahrheit niemandes Onkel war, verschränkte die Arme vor der Brust und setzte ein Lächeln auf.