Der unterbuchte Juniflug - Rainer Dattke - E-Book

Der unterbuchte Juniflug E-Book

Rainer Dattke

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Beschreibung

Im Juni 1989, nach der brutalen Niederschlagung friedlicher Proteste in Peking, stornieren Tausende Reisende ihre Flüge nach China. Manche Linienflüge werden gestrichen, andere finden mit nahezu menschenleeren Flugzeugen statt. Zu einem dieser Flüge kommen sechs Alleinreisende und ein Grüppchen übermütiger Jugendlicher zusammen. Im geschlossenen Raum, auf der Reise durch Nacht und Tag, in der befremdlichen und einmaligen Konstellation rücken die Passagiere zwangsläufig zusammen und offenbaren nach und nach ihre Vorgeschichten und Beweggründe. Dabei treffen oberflächliche Coolness auf nüchternes Kalkül, harte politische Realität auf Idealismus, feinsinnige Ansprüche auf reißerischen Aktionismus. Es ergeben sich Überraschungen und Rückschläge, Konflikte und komische Momente, Enge, Verunsicherung, schließlich neue Ansätze und Perspektiven. "Der unterbuchte Juniflug" ist ein poetisches Theaterstück. Ein Reisespiel, eine Zeitreise. Oder - wenn man über den konkreten zeitgeschichtlichen Bezug hinwegblickt - vielleicht auch eine Parabel auf das menschliche Leben.

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Seitenzahl: 208

Veröffentlichungsjahr: 2017

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"Im Traum kam ich zu einem Berg inmitten des Meeres

und trat ein in einen Palast aus weißem Silber.

Ich begegnete einem taoistischen Weisen

der sich als Li Pa-po bezeichnete.

Drei oder vier junge Unsterblichkeitsmädchen

in lapislazulifarbenen Gewändern

hielten Bälle in den Händen, irisierend wie Monde,

um damit nach den goldenen Pfirsichen zu werfen.

Weiß schimmernd war das Land und ohne allen Staub,

so ging ich denn weiter und kam an das Ufer eines

edelsteinklaren Sees.

Unter den üppig wachsenden Langlebensbäumen kroch dort

ein weißer Drache hervor,

um das [fremde] menschliche Wesen zu beschnüffeln.

Die Paläste und Hallen, hoch übereinandergetürmt,

verloren sich in purpurnem Dunst.

In golden [eingefaßten] Wasserläufen über Jadesand

plätscherte fünffarbenes Wasser.

Die Torhüter und die Unsterblichkeitsmädchen schliefen

friedlich Seite an Seite,

doch als ich heimlich einen Pfirsich von dem krummen

Baume pflücken wollte,

fiel ich plötzlich und brach mir beinahe den Hals."

Kuan Hsiu, "Meng yu-hsien" (9. Jahrhundert)

übersetzt von Wolfgang Bauer

in "China und die Hoffnung auf Glück.

Paradiese, Utopien, Idealvorstellungen"

© 1971 Carl Hanser Verlag München

Rainer Dattke

Der unterbuchte Juniflug

Ein Kammerspiel

© 2017 Rainer Dattke

Verlag und Druck:

tredition GmbH, Grindelallee 188, 20144 Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7439-4113-7

Hardcover:

978-3-7439-4114-4

e-Book:

978-3-7439-4115-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Verlages und des Autors ist unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Aufstellung

ERSTER TEIL. AUS EUROPA.

Erster Akt.

Wartesaal im Flughafen einer mitteleuropäischen Großstadt. Neunzehnter Juni, Abend.

Zweiter Akt.

Im Flugzeug auf dem Weg nach Guangzhou (Kanton). Zwanzigster Juni.

ZWEITER TEIL. IN CHINA.

Dritter Akt.

Wartesaal im Flughafen Guangzhou (Kanton). Einundzwanzigster Juni, Mittagszeit.

Vierter Akt.

Im Flugzeug auf dem Weg nach Jinan. Einundzwanzigster Juni, Nachmittag.

Fünfter Akt.

Warteraum im Flughafen Jinan. Einundzwanzigster Juni, Nachmittag.

Personen

Agnes Bening

Joshua Simjamin

Fielder Pauli

Robert Pawo

Friederike Brecht

Jim Fischer

Albert Dudas

Isabel McPhail

Gabriele Menck

Angestellte im Flughafen

europäische Stewardess

chinesische Stewardess

ERSTER TEIL. AUS EUROPA.

Erster Akt.

Das Bühnenbild zeigt einen Wartesaal im Flughafen einer mitteleuropäischen Großstadt am Abend des neunzehnten Juni, eines Montags. Der große, rechteckige Raum ist ausgestattet mit langen Stuhlreihen, die durch ihre streng geometrische Anordnung einen Eindruck großzügiger, aber unpersönlicher Weite vermitteln. Hinten und seitlich ist der Raum von fensterlosen Wänden begrenzt. In der linken Wand befindet sich die Tür zum Flugplatzvorfeld, in der rechten Wand befindet sich die Eingangstür. Beide Türen sind zunächst geschlossen. Nach vorn (zum Publikum hin) ist der Wartesaal offen, gewährt Wartenden einen freien Blick auf Start- und Landefeld.

Rechts direkt am Eingang steht ein Kundenabfertigungsschalter quer zur Seitenwand, auf diesem ein Computerterminal mit Monitor, nach hinten gerichtet. Außerdem ein Mikrofon. Der Abfertigungsschalter ist mit einem Schild 'Boarding Area' gekennzeichnet.

Im Saal stehen mehrere Abfallbehälter ('Litter') und eine halboffene Telefonzelle ('International'). An den Wänden sind 'No Smoking'-Symbole angebracht, die linke Tür trägt den Hinweis 'Emergency Exit'. In der Mitte des Saals steht ein Regal, in dessen Fächern verschiedene Tageszeitungen ausliegen. Der Großteil der Fächer allerdings ist leer; einige benutzte Zeitungen liegen auf den Sitzen verstreut – zurückgelassen von einer offenbar beträchtlichen Anzahl Reisender, die bereits abgeflogen sind.

Anfangs ist der Saal menschenleer. Dann wird die linke Tür geöffnet, es tritt die Flughafenangestellte ein. Sie sieht sich flüchtig um, sammelt nun rasch die herumliegenden Zeitungen ein. Einzelne davon sortiert sie zurück in die Fächer des Regals in der Saalmitte, alle anderen wirft sie in die Abfallbehälter. Anschließend geht sie hinter den Kundenabfertigungstisch, bedient routiniert den Computer und starrt für einige Sekunden auf den Monitor. Sie nickt kurz dem Monitor zu, beugt sich zum Mikrofon, drückt einen Knopf. Ihre folgenden Worte werden über Lautsprecher verstärkt.

ANGESTELLTE. Die Passagiere des Flugs null eins neun nach Kanton werden gebeten, sich am Flugsteig B fünfundvierzig einzufinden. Passagiere des Flugs null eins neun nach Kanton, bitte finden Sie sich am Flugsteig B fünfundvierzig ein.

Sie verlässt den Schalter, schreitet zur rechten Tür, öffnet diese.

ANGESTELLTE. Bitte treten Sie ein. Sofern Sie sich noch nicht im Besitz einer Platzkarte befinden, möchten Sie bitte den Reisenden mit Platzkarte den Vortritt lassen.

Sie kehrt hinter den Schalter zurück.

Als erster Fluggast erscheint Agnes Bening, eine freundliche, ausgeglichene Frau von vierundzwanzig Jahren. Sie hat kurze, dunkle Haare, trägt T-Shirt, helle Jeans und Sandalen. Unter ihren rechten Arm hat sie einen Strickpullover geklemmt, ihre linke Hand hält ein asiatisches, hübsch gearbeitetes Bastköfferchen, das die junge Frau vor dem Kundenschalter zwischen ihre Füße auf den Boden abstellt. Agnes wirkt natürlich und aufgeschlossen.

AGNES. Guten Abend.(Sie legt ihren Reisepass auf den Tisch, blickt dann der Flughafenangestellten freundlich entgegen.)

ANGESTELLTE(ebenso freundlich lächelnd). Ihr Ticket, Frau Bening?

AGNES(gibt sich andeutungsweise einen Klaps gegen die Stirn). Ach, das Ticket. Einen Moment, bitte.(Sie öffnet ihr Bastköfferchen, entnimmt Bordkarte und Ticket.)

ANGESTELLTE(nimmt die Papiere entgegen). VielenDank. – Sie haben vor dem Vierten Juni gebucht?

AGNES. Im Februar, ja.

ANGESTELLTE(förmlich). Sie wissen, dass Sie wegen der besonderen Umstände noch zurücktreten könnten? Meine Fluggesellschaft würde Ihnen den Ticketpreis voll erstatten.

AGNES(strahlend). Ich will bestimmt nicht zurücktreten.

ANGESTELLTE(erleichtert). Gut.(Sie reicht Agnes das Ticket zurück; Agnes sammelt ihre Papiere wieder ein.)– Frau Bening?

AGNES(blickt auf). Ja?

ANGESTELLTE. Sollten Sie mit Ihrem Platz im Flugzeug nicht ganz zufrieden sein – Sie können sich ohne weiteres auf einen anderen freien Platz setzen.

AGNES. Weshalb sollte ich mit meinem Platz nicht zufrieden sein?

ANGESTELLTE(lächelnd). Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Bei diesem Flug werden einige –(Sieverbessert sich:)werden viele Plätze unbesetzt bleiben, und die Fluggesellschaft möchte ihren Gästen alle Freiheiten gewähren. Sie, Frau Bening, besitzen ein Ticket für unsere Economy Class. Falls Sie wünschen, können Sie sich dort von unserem Filmprogramm unterhalten lassen. Wenn Sie aber zum Schlafen etwas mehr Komfort und Ruhe wünschen, dann steht es Ihnen frei, sich einen Platz in unserer Business Class auszusuchen. Gehen Sie dazu einfach in die vordere Kabine durch.

AGNES(überrascht). Danke. Ich denke, dieses Angebot nehme ich gerne an.

Sie packt ihre Papiere ein. Dann wendet sie sich dem Wartesaal zu, orientiert sich flüchtig, nimmt in einer Ecke Platz.

Noch bevor sich Agnes gesetzt hat, ist ein hagerer, großer Mann eingetreten und hat unauffällig der Flughafenangestellten sein Ticket zur Prüfung gereicht: Joshua Simjamin. Er trägt eine Brille mit dunkel getönten Gläsern, wirkt scheu und empfindlich, meidet den Blickkontakt. Er hat kein Handgepäck bei sich. Joshua ist ungefähr dreiunddreißig Jahre alt.

ANGESTELLTE. Sie haben im Mai gebucht?(Joshuas Nicken ist kaum sichtbar.)Sie wissen, dass Sie aufgrund der besonderen Situation das Recht haben, von Ihrer Buchung zurückzutreten. Gleichwohl hat das Fremdenverkehrsamt der Volksrepublik China dieser Tage beteuert, dass die Sicherheit der ausländischen Touristen wieder gewährleistet ist.

Joshua, zu sehr mit sich selbst beschäftigt, reagiert nicht; er scheint nicht einmal zuzuhören. Er nimmt das Ticket wieder zurück, steckt es in die Brusttasche seines Hemdes, geht gesenkten Kopfes quer durch die Halle und nimmt Platz unweit von Agnes (die er zunächst gar nicht wahrnimmt). Agnes beobachtet ihn. Als er nach einer Weile sie doch bemerkt, blickt sie ihm wohlwollend entgegen. Joshua reagiert irritiert, zieht seinen Blick sofort zurück, massiert seine Stirn. Agnes nimmt sich aus ihrem Bastköfferchen ein Buch über China zur Hand.

Die Flughafenangestellte, die eben einen kurzen, stillen Dialog mit dem Computer geführt hat, wundert sich inzwischen, dass der nächste Passagier noch nicht nachgerückt ist. Sie beugt sich über den Schaltertisch vor, kann jedoch nicht durch die offene Tür blicken. Sie ruft:"Weitere Passagiere mit Platzkarte, bitte!"Da sich nichts tut, schreitet sie um den Tisch herum dem Eingang zu. In diesem Moment stolpert ihr ein schelmischer, eher klein gewachsener Kerl entgegen. Die Flughafenangestellte kann ihm gerade noch ausweichen; Fielder Pauli aber stolpert weiter und fängt sich mit Mühe knapp vorm Sturz ab. Eine von sechs Cola-Dosen, die er gegen seinen Körper gepresst hat, fällt dabei krachend auf den Boden. Ehe er die geplatzte Dose aufhebt, stellt er die übrigen fünf Dosen auf den Schaltertisch ab und zeigt mit ausgestrecktem Arm auf die offene Tür.

FIELDER(kindisch entrüstet). Der da hat mich geschubst!(Nun lacht er los.)

Im nächsten Moment leuchtet ein Elektronenblitz auf und blendet ihn. Dem Blitz folgen Robert Pawo und Friederike Brecht durch die Eingangstür nach. Robert hält einen Fotoapparat in seinen Händen, seine Begleiterin Friederike trägt das Handgepäck und bummelt ihm gelangweilt hinterher. Robert und Friederike sind achtzehn oder neunzehn Jahre alt, Fielder wirkt noch jünger. In Robert vereinigt sich ein bestimmendes, schlagfertiges, nicht selten herablassendes Benehmen mit einem exzentrischen Äußeren: hoher Stirn, mit Gel nach hinten gekämmten Haaren, bunter Nickelbrille, Jackett und Hemd mit klassischer schwarzer Herrenweste, Stiefeln. Friederike ist stark geschminkt; sie trägt einen kurzen Rock, schwarze Strümpfe, hochhackige Schuhe. Ihr anzügliches Äußeres steht im Widerspruch zu ihrem unreifen Kichern.

Mit dem Auftreten der drei Teenager findet die Ruhe der Szene ein abruptes Ende. Fielder, Robert und Friederike legen eine mitunter pöbelhafte Ausgelassenheit an den Tag.

ROBERT(zur Flughafenangestellten). Hören Sie nicht auf ihn. Er ist betrunken. Hier, unsere Tickets.

Er breitet die drei Tickets auf der Tischfläche aus. Die Flughafenangestellte greift sie auf, prüft sie. Robert bemerkt, wie die Angestellte aus ihren Augenwinkeln seinen Freund Fielder mustert.

ROBERT. Keine Angst – er hat nur Cola geschluckt. Von einem kleinen Whiskey Bourbon einmal abgesehen.(zu Agnes Bening und Joshua Simjamin:)Die Angebote der Bars hier im Flughafen sind einfach zu verlockend.(Friederike kichert.)

ANGESTELLTE. Wo im Flugzeug möchten Sie Ihre Plätze haben?

ROBERT. Da, wo man das Kinoprogramm am besten sieht. Wir brauchen nonstop Unterhaltung. Und: Raucher, bitte.

FRIEDERIKE. Warum denn 'Raucher'?

ROBERT. Weil ich's so will.

ANGESTELLTE(tippt Daten in den Computer ein). Ich reserviere Ihnen Plätze ganz vorn in der Economy. Sie können während des Fluges aber auch andere freie Plätze einnehmen.(Sie gibt Robert die Tickets mit den Platzkarten zurück.). Sie haben gültige Visa?

ROBERT.Klar.

ANGESTELLTE(freundlich). Die chinesischen Konsulate arbeiten derzeit recht zügig.

ROBERT(trocken). Das liegt einfach daran, dass sie sonst nichts zu tun haben. Wer will schon nach China in diesen Tagen?(Er wendet sich Friederike zu.)So, Freddy. Jetzt noch sechsunddreißig Stunden, eineinhalb Tage, dann wird's ernst.

Unter gegenseitigen Sticheleien und Mätzchen bemühen sich die drei jungen Leute, zu einem Konsens hinsichtlich der geeignetsten Plätze im Wartesaal zu kommen. Auch nachdem sie Platz genommen haben, treiben sie ihren Schabernack weiter: Friederike erneuert aufwendig ihr Make-up, um gleich darauf ihre roten Lippen gegen Roberts Wange zu drücken. Fielder wühlt in Roberts Handgepäck, woraufhin dieser ihm auf die Finger schlägt. Robert greift sich eine Dose Cola und gießt sich ihren Inhalt akrobatisch in die Kehle. Friederike hält es nicht lange auf dem Stuhl, dann steht sie auf und geht an den vorderen Rand der Bühne, blickt auf das Flugfeld hinaus.

FRIEDERIKE. Da hebt gerade 'ne Boeing sieben vier sieben von den Trans World Airlines ab.

FIELDER. Du hast die ganze Sache mental immer noch nicht richtig realisiert?

FRIEDERIKE(mit einem nachdenklichen Kopfschütteln). Ihr seid dermaßen durchgeknallt, ihr beide!

ROBERT.Duhast doch angefangen, vom Gelben Fluss zu palavern.

FRIEDERIKE(ins Publikum). Ich hatte nicht eine blasse Ahnung, wo der Gelbe Fluss liegt.

FIELDER. Jetzt bekommst du Schiss?

FRIEDERIKE(nachdenklich). Ach was.(Sie kehrt zurück an ihren Platz.)

Die Flughafenangestellte hat am Schalter inzwischen weitere Eingaben in den Computer gemacht. Plötzlich hört man von draußen eine Männerstimme drei kurze, akzentuierte Worte sprechen:"Ah, hier. Endlich!"Gleich darauf tritt mit eiligen Schritten Jim Fischer ein. Der Fünfunddreißigjährige hat eine kräftige, etwas untersetzte Figur und ist schon an seinem Anzug mit weißem Oberhemd und Krawatte als Geschäftsmann zu erkennen. Außerdem trägt er einen schwarzen Aktenkoffer mit sich. In seiner Haltung und seiner Sprache äußert sich ein besonderes Wichtigkeitsgefühl, welches mit einer gewissen, ihm selbst natürlich unbewussten Komik kontrastiert. Noch ehe er vor der Flughafenangestellten zum Stehen kommt, beginnt Fischer ungeduldig und unfreundlich zu lamentieren.

FISCHER. Guten Abend. Fischer. Ich erwarte, dass der Transfer pünktlich starten wird. Hoffentlich haben Sie einen Kapitän, der imstande ist, den Flugplan einzuhalten. Was sind das für Zeiten, in denen man in China landen muss, um nach Hongkong zu gelangen!(Er streckt der Flughafenangestellten sein Ticket entgegen.)

ANGESTELLTE(das Ticket begutachtend).Sie wollen nach Hongkong?

FISCHER(brummig).Solange es Hongkong noch gibt.

ANGESTELLTE. Aber Sie haben ein Ticket nach Kanton.

FISCHER(unbeherrscht laut). Ja, ich habe ein Ticket nach Kanton!(Er nimmt sich zusammen.)Weil es keine Rückflugtickets nach Hongkong mehr gibt. Warum? – Die Bevölkerung reagiert panisch. Und zwar aus gutem Grund.

ANGESTELLTE. Sie haben ein Visum für China?

FISCHER(lacht auf). Ein Visum? – Gute Frau, im internationalen Business ist eine wirre Epoche angebrochen. Ich wusste heute Vormittag noch nicht, dass ich heute Abend nach Hongkong aufbrechen muss. – Ich werde in Kanton ein Übergangsvisum beanspruchen und mit dem Zug sofort nach Hongkong weiterfahren.

ANGESTELLTE. Wo möchten Sie sitzen im Flugzeug?

FISCHER. Vorn. Immer weit vorn.(für sich; unruhig:)Wenn der Flug nur planmäßig abläuft.

ROBERT(ruft herüber). Wie wäre es mit Teleportation:WarumbeamenSie sich nicht einfach nach Hongkong, Herr Fischer?(Fischer blickt ihn etwas verdutzt an.)Sie kennen doch Star Trek? Raumschiff Enterprise?

FISCHER(humorlos).Hören Sie mal! Mir steht der Sinn nicht nach Clownereien. Mich erwartet dringende verantwortungsvolle Arbeit in Hongkong.(abschätzig:)Das ist etwas anderes als Party-Tourismus.

ROBERT(greift sich den Fotoapparat, steht auf und geht nahe an Fischer heran).Darf ich?(Noch ehe Fischer reagiert, hat Robert mit Blitzlicht ein Foto von ihm gemacht.)Vielen Dank. Sie sind bestimmt Vorstandsvorsitzender oder Außenminister.(Er dreht sich ab, geht an seinen Platz zurück, wo Friederike vor Lachen prustet.)

FISCHER(aufgebracht). Freundchen! – ...

ANGESTELLTE(in der Absicht, die Konfrontation zu entschärfen). Wenn Sie mit Ihrem Platz im Flugzeug nicht zufrieden sein sollten, Herr Fischer, – ...

FISCHER(hört nicht zu; nimmt sich das Ticket und wendet sich zornig ab).Danke. Schon gut. Ich habe keine Zeit.(kopfschüttelnd:)Dass ich in einem Touristenflugzeug fliegen muss...(Er wirft Robert, Fielder und Friederike einen verächtlichen Blick zu, steuert einen Stuhl weit entfernt von der Gruppe an.)

ROBERT. Warum chartern Sie sich nicht ein Privatflugzeug?

FISCHER(verächtlich). Taugenichtse.

Inzwischen ist ein älterer Herr eingetreten: Albert Dudas, augenfällig ein 'Mann von Welt', äußerlich ein Diplomat, stilvoll und korrekt vom Scheitel bis zur Sohle. Der Mittsechziger trägt bei sich das klassische Handwerkszeug eines altgedienten Journalisten: Schreibmaterial, Füllfederhalter im Etui, dazu mehrere Zeitungen und Magazine. Sein stoisches Auftreten scheint Spiegel innerer Ausgeglichenheit. Dudas wirkt, als ob er alles schon erlebt habe; jede neue Situation scheint für ihn die Wiederholung einer vergangenen zu sein.

DUDAS.(mit Seitenblick in Richtung Fischer:)Es herrschen Ausnahmezustand und Kriegsrecht in China. Wir wissen, dass derartige Entwicklungen sich auf den Reiseverkehr auswirken.(zur Flughafenangestellten:)Guten Abend.(Er überreicht ihr seine Papiere.)In Paris, wo ich mich noch gestern aufgehalten habe, führte ich Gespräche mit studentischen Dissidenten, denen die Flucht aus China geglückt ist – zumeist über Hongkong. Sie hatten tagelang im Untergrund gelebt, ehe es ihnen in der vorigen Woche gelang, über den Luftweg das Land zu verlassen und nach einer beschwerlichen Reise hier in Europa zu landen. Ich meine, wir, die wir den umgekehrten Weg einschlagen, dürften also ruhig ein wenig Nachsicht und Geduld mitbringen.(Während die Flughafenangestellte den Computer mit Daten füttert, schweift Dudas' Blick langsam über die leeren Sitzreihen des Wartesaals.)Ein bescheidenes Häufchen Reisender ist es, das Ihre Fluggesellschaft nach Guangzhou befördern darf.

ANGESTELLTE(ohne die Augen vom Monitor abzuwenden). Wir hatten noch niemals so wenige Fluggäste. In den Tagen seit dem Vierten Juni hat sich große Verunsicherung breitgemacht.(Jetzt blickt sie auf.)Aber Sie profitieren insofern von dieser Situation, als Sie nun einen umso ruhigeren Flug haben werden, Herr Dudas!(Sie lächelt.)

DUDAS. Das will ich hoffen!(ernst:)Aber auch für uns Journalisten haben sich die Arbeitsbedingungen verschärft. – Ich spreche von den Bedingungen in China: Man bekommt immer weniger zu sehen. Man wird davor gewarnt, nach Einbruch der Dunkelheit auf die Straße zu gehen. Interviews, Filmen und Fotografieren sind nach wie vor verboten. Am vergangenen Mittwoch haben die chinesischen Behörden zwei amerikanische Journalisten ausgewiesen, und am Donnerstag einen französischen Kollegen festgenommen.

FISCHER. Man sollte entsprechend die chinesischen Journalisten aus den westlichen Staaten ausweisen.

DUDAS(dreht sich zu Fischer um). Man muss differenzieren –

ANGESTELLTE. Ich habe Ihnen einen Platz ganz hinten in der Business Class zugeteilt, Herr Dudas. Die Sitzplatzvergabe ist unter diesen Umständen allerdings eine bloße Formalität.

DUDAS. Nun, die Abwicklung von Formalitäten... – Sind die Formalitäten nicht ein Charakteristikum unserer Zeit? – Wie selbstverständlich sind doch gerade diese Computer als Datenspeicher geworden.(nostalgisch:)Als ich im Frühjahr einundfünfzig zum ersten Mal nach Ostasien flog – ich beabsichtigte, über Französisch-Indochina die Grenze zur chinesischen Provinz Yunnan zu erreichen, um über den Widerstand gegen Maos Truppen zu berichten – ,(Er lacht:)da genügte es, dass ich Name und Beruf in eine Liste eintrug. Ich wurde von einer vollbesetzten Militärmaschine noch mitgenommen.

Er schüttelt wehmütig den Kopf, erhält dann seine Platzkarte und sein Ticket, bedankt sich. Er geht zielstrebig auf einen Stuhl in der Nähe Jim Fischers zu, setzt sich, holt seine Lesebrille hervor, schlägt ein politisches Magazin auf und vertieft sich.

Als Nächste tritt Isabel McPhail ein. Sie ist einundzwanzig Jahre alt, wirkt jugendlich und sportlich, aber auch etwas chaotisch und unkonventionell. Sie deutet mit ihrer Erscheinung die Vorfreude, Aufregung und Spannung eines Sommerurlaubs und zugleich große innere Unruhe an. Isabel hat lange Haare, trägt leichte Kleidung; ihre Hände halten eine Art Einkaufstasche in bunten, lebhaften Farben umfasst. Die junge Frau ist freimütig und treuherzig; sie hat eine klare, schöne Aussprache mit reizvollem amerikanischem Akzent.

Isabel blickt sich auffallend um. Sie mustert die anderen Reisenden, insbesondere den introvertierten Joshua, dessen Gesicht sie aber kaum sehen kann. Isabel hat sich dem Saal zugewandt wie ein Wanderer, der auf einer Anhöhe atemlos das Tal betrachtet. Sie steht abseits rechts, nahe der Eingangstür, durchkämmt den Saal mit ihrem Blick, aber das erwartungsvolle Strahlen in ihrem Gesicht entweicht, da sie offensichtlich nicht entdeckt, wen sie sucht. Unsicher starrt Isabel in den Raum, als sei sie nun im Begriff, aus einem Tagtraum zu erwachen. Offenbar hat sie die Flughafenangestellte nicht wahrgenommen.

ANGESTELLTE(die zunächst abgewartet hat). Reisen Sie alleine?

ISABEL(wendet sich jetzt erst langsam dem Schalter zu).J-Ja. Hm, entschuldigen Sie – sind das alle Passagiere hier? – Dies ist doch der Flug nach Kanton, nicht?

ANGESTELLTE(freundlich). Es ist der Flug nach Kanton, und es sind bisher alle Passagiere.

ISABEL(enttäuscht).Ach, entschuldigen Sie.(offener, frischer:)Ich war heute pausenlos unterwegs. Ich war in der chinesischen Botschaft. Ich habe die Leute dort so lange bearbeitet, bis sie mir mein Visum ausgestellthaben. Es war fast aussichtslos, aber es hat geklappt!(Sie holt ihr Ticket aus der Tasche hervor.)Ich habe aber noch keine Platzkarte; ich hoffe, es macht keine Umstände...

ANGESTELLTE. Sie bekommen die Platzkarte hier bei mir. Es ist nur eine Formalität; Sie können den Platz noch während des Fluges wechseln.(Sie bedient den Computer.)

ISABEL. Das Ticket habe ich erst vorhin gekauft. Ich war so froh, noch eines zu bekommen, so kurzfristig. Ich hatte Angst, dass es heute nicht mehr reicht.(Sie wirft nochmals einen suchenden Blick durch den Saal.)

ANGESTELLTE(schaut auf den Monitor). Nichtraucher?

ISABEL(eifrig). Ja, Nichtraucher.

ANGESTELLTE(nach wenigen Sekunden). Ich habe Ihnen einen Platz in der Business Class zugewiesen. Aber wie bereits gesagt: Sie können sich im Flugzeug einen beliebigen freien Platz aussuchen. Hier Ihr Ticket, hier Ihre Bordkarte, Frau McPhail.

ISABEL. Danke. Vielen Dank.

Sie steckt die Papiere ein, geht dann einen langen Weg durch den Saal. In der Nähe von Joshua verlangsamt sie ihren Gang und betrachtet den Mann. Als er aufblickt, schrickt sie leicht zurück, geht weiter, entscheidet sich für einen Platz etwas entfernt von Agnes und Joshua und sinkt ermattet nieder.

Die Gruppe der Reisenden vervollständigt sich mit Gabriele Menck, einer Frau von etwa fünfundfünfzig Jahren.

Gabriele trägt schlichte, aber elegante Kleidung aus reiner Baumwolle. In ihrem aufrechten, bedachtsamen Gang drücken sich Reife und Umsicht aus, die – anders als bei Albert Dudas – mit Stolz nichts gemein haben. Gabriele Menck gibt das Bild einer individuellen, selbstständigen Frau. Sie wirkt tatkräftig und entschlossen, aber nicht unbelastet.

ANGESTELLTE. Guten Abend.

GABRIELE. Guten Abend.(Sie legt ihr Ticket auf denSchaltertisch.)Ich habe ein kleines Anliegen: Meine Bordkarte ist für den Raucherbereich ausgeschrieben; ich möchte aber zu den Nichtrauchern. Ihre Kollegin muss mich falsch verstanden haben.

ANGESTELLTE. Sie haben schon eine Bordkarte?

GABRIELE. Ich habe sie heute früh bei der Gepäckabgabe erhalten.

ANGESTELLTE. Kein Problem.(Sie prüft die Bordkarte.)

GABRIELE. Können Sie den Vermerk 'Smoking yes' jetzt noch ändern?

ANGESTELLTE. Das ist unnötig. Sie können sich Ihren Platz im Flugzeug selbst aussuchen.(während sie Eingaben in den Computer macht:)Es ist eine sehr kleine Schar, die dieser Tage nach China fliegt.

GABRIELE. Ich bin eher überrascht, dass der Flug überhaupt zustande kommt.

ANGESTELLTE(während sie Gabriele das Ticket zurückgibt, in vertraulichem Ton). Sie haben befürchtet, der Flug könne annulliert werden? – Nein, für meine Fluggesellschaft war das keine Option. – Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Flug, Frau Menck.

GABRIELE. Ich danke Ihnen.

Gabriele Menck geht weiter in den Wartesaal, grüßt mit lautloser Geste die anderen Reisenden und setzt sich auf einen der nächstgelegenen Plätze.

Die Flughafenangestellte verlässt nun ihre Stellung hinter dem Kundenabfertigungsschalter, geht zum Eingang, blickt hinaus, schließt dann die Tür. Sie kehrt zurück hinter den Schaltertisch, drückt einen Knopf, richtet ihren Mund zum Mikrofon.

ANGESTELLTE(über Lautsprecher verstärkt). Meine Damen und Herren, Teilnehmer am Flug null eins neun nach Kanton! Sie werden gebeten, sich hier bereitzuhalten. In wenigen Minuten beginnt der Bustransfer zum Flugzeug. Bitte halten Sie sich bereit.

Jim Fischer stöhnt auf. Die Flughafenangestellte schaltet das Mikrofon aus, erledigt noch einige Dinge an ihrem Arbeitsplatz, verlässt dann den Saal durch die linke Tür – begleitet von einem schwärmerischen Pfiff Fielders.

Nun sind die Reisenden unter sich. Robert und Fielder reichen eine Dose Cola hin und her; Friederike träumt mit offenen Augen. Joshua verharrt regungslos, Dudas pflegt seine Lektüre, Isabel macht einen müden und immer müderen Eindruck. Gabriele Menck blickt nachdenklich in Richtung Fischer, der unruhig auf dem Stuhl herumrutscht und nervös mit den Fingern auf seinem Aktenkoffer trommelt. Agnes hat ihr China-Buch beiseite gelegt, um interessiert die hier zusammengekommenen Menschen zu beobachten. Sie öffnet nun ihr Köfferchen, legt ihr Buch hinein und holt eine Packung Kekse hervor.

Wortlos blickt sie zu Joshua. Als der ihren Blick erwidert, hält sie ihm die Kekse entgegen, aber Joshua schüttelt nur knapp den Kopf. Agnes dreht sich in die andere Richtung, bietet Fielder von den Keksen an. Der nimmt hastig einen letzten Schluck aus seiner Cola-Dose und greift sich dann einen Keks.

FIELDER. Danke.

ROBERT(unverschämt). Bring' mir auch einen, Fielder!Fielder wirft einen fragenden Blick zu Agnes. Die nickt nachsichtig. Fielder entnimmt der Packung einen zweiten Keks.

FIELDER. Vielen Dank.

ROBERT. Danke.

Agnes bietet auch Friederike von den Keksen an. Friederike schüttelt jedoch den Kopf.

ROBERT(zu Friederike).Was ist los?(Er nimmt von Fielder den Keks entgegen, schiebt ihn sich in den Mund.)

FRIEDERIKE. Was soll los sein?

ROBERT(den Keks kauend). Die Dinger sind gut – und kosten nichts!(Fielder lacht. Robert ist zufrieden.)Leute, mir ist heiß!

Er steht nun auf, zieht sein Jackett aus und wirft es über den Zeitungsständer in der Mitte des Saals. Anstatt direkt zu seinem Platz zurückzugehen, schlendert er noch ein paar Schritte weiter. Im Vorbeigehen stößt er leicht gegen Jim Fischers Fuß, woraufhin er theatralisch ins Straucheln gerät.

FISCHER(ihn anherrschend). Tolpatsch! Haben Sie keine Augen im Kopf?

Robert reagiert nicht, sondern schlurft lässig an seinen Platz neben Friederike zurück. Wenige Sekunden lang grübelt er, dann spricht er zu Friederike:

ROBERT. Nun stell' dir vor, du hättest deine Augen nicht im Kopf, sondern an den Fußzehen.

FRIEDERIKE(kichernd). Ich – ich müsste auch im Winter Sandalen tragen.

ROBERT. Darauf will ich nicht hinaus.

FRIEDERIKE. Ich würde mir den Kopf überall anschlagen. Meinst du das?

ROBERT. Nein. Überleg' doch: Augen an den Füßen – du würdest im Auto nicht mehr Bremspedal mit Gaspedal verwechseln! Du hättest deinen Führerschein gleich beim ersten Mal geschafft!

FRIEDERIKE(gelangweilt). Ha. Ha.(Sie lässt Robert für einige Momente ihre 'Verachtung' spüren. Dann, plötzlich:)Ich hab' meinen Bikini vergessen!

ROBERT(ruhig). Das stört nicht. Meinetwegen kannst du auch im Blaumann oder mit Jacke springen.

FRIEDERIKE(gereizt). Sieht dann aber bescheuert aus...

ROBERT(laut; zu den anderen Reisenden).Freddy wird in den Gelben Fluss springen. Den Huáng Hé!

FRIEDERIKE. Das brauchst du nicht jedem hier zu erzählen.

ROBERT(unbeirrt und weiterhin laut). Sie hat nämlich vor vier Wochen im zweiten Anlauf die Fahrprüfungdritter Klasse bestanden. Und muss jetzt ihr Versprechen einlösen.(zu Fielder:)Fielder, was hat sie versprochen? Was hat sie angekündigt?

FIELDER. Sie hat gesagt: "Wenn ich die Prüfung bestehe, springe ich in den Gelben Fluss."

FRIEDERIKE. Ich hab's gesagt. Einfach nur so dahingesagt.

ROBERT. Du hast nicht damit gerechnet, dass die Flüge nach China auf einmal um fünfzig Prozent billiger werden. – Ein Hoch auf Deng Xiaoping! Hätte der nicht den dicken Max gemacht, dann könnten wir uns diese Reise nicht leisten, und du könntest deine Ankündigung nicht wahr machen.(Er prostet Fielder zu:)