Der vergessene Geschmack von Glück - Lars Simon - E-Book

Der vergessene Geschmack von Glück E-Book

Lars Simon

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Beschreibung

Ein Festmahl für die Seele An einem stürmischen Nachmittag stürzt sich die junge, talentierte Köchin Anna-Greta Olsson vor der Küste Schwedens unter mysteriösen Umständen von einer Klippe in den Tod – und gerät bald in Vergessenheit. Erst als 100 Jahre später der arbeitslose Küchenchef Leif Söderberg in dem alten Hotel auf der Insel anheuert, scheint sich Anna-Greta Olssons Schicksal endlich zu erfüllen. Ohne es zu ahnen, stößt Leif auf ihr magisches Vermächtnis. Wird seine verlorene Leidenschaft zum Kochen neu entfacht? Und was hat Smilla, die undurchschaubare Tochter der Eigentümer, mit der tragischen Geschichte und den unerklärlichen Vorkommnissen in der Hotelküche zu tun?

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Seitenzahl: 396

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Lars Simon

Der vergessene Geschmackvon Glück

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Ich habe gefunden, dass Menschen mit Geist und Witz auch immer eine feine Zunge besitzen; jene aber mit stumpfem Gaumen beides entbehren.

François-Marie Arouet, genannt Voltaire

(französischer Philosoph und Schriftsteller, 1694–1778)

Prolog

In manchen Zeiten und an manchen Orten sind Licht und Schatten in einem beinahe unnatürlichen Maß vorhanden. Etwa in einer alten, etwas heruntergekommenen Villa mit Giebeln, knarzenden Dielen, klappernden Fensterläden und einer schlecht ausgestatteten Hotelküche. Die das Haus umgebende Schönheit sommergrüner Hügel und der Sund mit seinen blau schillernden Wassern täuschen eine verführerische Ewigkeit vor, die es nicht gibt und nie gegeben hat. Denn damals wie heute verwandeln an manchen Tagen aufziehende Wolkengebirge alles in Windeseile in ein schmutziges und bedrohliches Grau, das an Schlacke erinnert und einen tauben, bitteren Geschmack mit sich bringt wie ein Salat aus alter Käserinde und Wildem Wermut. Schon wenig später wird womöglich die Sonne wieder hervorbrechen und den Farben ihre Kraft zurückgeben. Ein Lichtkegel mag durchs Fenster fallen und die Oberfläche eines Sorbets aus sommerfrischen Erdbeeren in einem so reifen Rot erstrahlen lassen, dass man die sämige Substanz und die unverschämt süßen und tiefen Aromen am Gaumen spürt, obwohl man noch keinen Löffel gekostet hat.

Licht vertreibt das Unfassbare, indem es dem Fassbaren wieder eine Gestalt verleiht, aber Friede und Schönheit haben keinen Bestand.

Doch gerade in den lichtlosen Momenten entfaltet die Leidenschaft ihre Magie. Denn erst wenn alles im Schatten liegt, wenn die Konturen verschwimmen und sich mit beinahe vergessenen Träumen zu etwas anderem vereinen, eröffnet sich eine andere Welt. Man könnte dann meinen, die eigene Fantasie führe ein Eigenleben, sie gaukele uns etwas vor, nur, um uns etwas zu offenbaren, vielleicht einen verborgenen Teil der Vergangenheit oder Dinge über uns selbst.

Solche Augenblicke verlangen uns einiges ab, ja, lassen uns an Grenzen stoßen.

Flucht wäre eine Option, für die sich niemand schämen müsste.

Was aber geschieht, wenn wir bleiben und uns dem Unbegreiflichen stellen, dem wir begegnen?

I26. August 1913

Anna-Greta Olsson schlang die Arme eng um sich, weil es sonst niemand tat. Ihr Blick ging vom jättens tand weit hinaus in diesen düsteren Augustmorgen, verlor sich am Horizont, wo sich die aufgewühlte See mit dem Himmel zu einer konturlosen, blaugrauen Unendlichkeit vereinte. Unter ihr toste das Meer und warf seine Brandung donnernd gegen die Felsen, auf denen die Insel Fjärranö aus der Ostsee ragte. In Anna-Gretas Rücken lag ihr Traum, direkt auf der Anhöhe und mit der guten Seele eines Ortes versehen, der an und für sich nicht dafür gemacht schien, dass Tod und Krankheit dort Einzug hielten – erst recht nicht auf eine so groteske Art und Weise. Aber es war geschehen, und Anna-Greta Olsson wusste noch immer nicht, wie es dazu hatte kommen können.

Traf sie am Ende doch die Schuld – so, wie es böswillige Zungen behaupteten? Früher oder später würde auch der ermittelnde Kommissar auf sie aufmerksam, und sei es nur, weil stets ein Verantwortlicher gefunden werden musste.

Sie atmete den aufkommenden Sturm tief ein und schloss die Augen.

Sie spürte, dass ihr Traum vergangen war, mit solcher Kraft zerstört, wie es bloß eine üble Laune Gottes vermochte. Warum bestrafte er sie so? Das Verbrechen, für das sie büßen sollte, war unfassbar, und vielleicht empfand Anna-Greta Olsson auch deshalb – neben all dem Schmerz und Kummer – eine so unermessliche Wut, dass die Energie sie erbeben ließ.

Doch dann beruhigte sie sich und sah Bilder an sich vorüberziehen, schöne, friedliche Bilder. Einen Sommertag auf der Terrasse der Villa Hemland, deren Gästen sie mit ihren Speisen Freude und Glück bereitet hatte. Wie sie von den liebevoll angerichteten Tellern kosteten und genießerisch die Augen schlossen. Wie die Tränen weinender Kinder trockneten und sich ein Lächeln auf ihre Gesichter stahl, als hätte man ihnen eine neue Puppe geschenkt oder ein Dalarhäst geschnitzt. Wie Verliebte einander gegenübersaßen, die Hände ineinander verschlungen, in einem Augenblick vollkommenen Glücks. Sie selbst mochte vergehen, doch die Essenz ihres Daseins würde weiterbestehen. Sie hatte alles aufgeschrieben, alles, was sie jemals zubereitet hatte; und sie würde zurückkehren an diesen Ort, wenn die Zeit reif für die Wahrheit und die Rettung ihrer verleumdeten Ehre wäre.

Eine Glocke ertönte. Durch den immer stärker fauchenden Wind glaubte Anna-Greta Rufe zu vernehmen, die vom Haus her kamen. Sie drehte sich nicht um, sondern öffnete die Augen und blickte hinab.

Sie hatte ihre Schuhe ordentlich neben sich gestellt. Sie wollte den kalten Untergrund spüren, wollte eins sein mit ihm, bevor sie sich endgültig von ihm trennte.

Heute hatte sie Flügel.

Sie schmeckte das Salz auf ihren Lippen, nahm die Düfte und Gerüche der Landschaft auf, die sie umgab. Mit einem Mal (man könnte es beinahe als unpassend bezeichnen, aber es geschah tatsächlich just in diesem Augenblick) schoss ihr endlich das Rezept durch den Kopf, auf welches sie schon so lange gewartet hatte. Wie wäre es, so dachte sie, würde man das Grün des Watts, den Glasschmelz oder Meeresfenchel, wie ihn manche auch nannten, der tief unter ihr und nur an dieser Stelle zu Füßen des jättens tand auf Fjärranö wuchs, teils roh und in einer sanften Vinaigrette aus Apfelessig und Leinöl fein zerkleinert, teils getrocknet und zu Würze fermentiert auf frischen Hering geben, dazu den groben Stampf einer cremig schmeckenden Kartoffel, die den feinen Sud an sich zog und sich an ihn schmiegte wie an einen lang vermissten Freund? Dazu buchenholzfarbene Nussbutter, darin einen Teelöffel Röstzwiebeln, vermengt mit karamellisiertem Knäckebrotbruch? Gewiss würde das Gericht eine junge, unentschlossene Frau zum Träumen bringen, weil es in ihr die Sehnsucht entfachen würde. In ihrer Fantasie liefe sie mit bloßen Füßen am Strand durch die frischen grünen Felder dieser Pflanze, stürzte sich mit dem Mann ihres Lebens in die Frische des kalten Wassers und küsste ihn, und er küsste sie wieder, Gischt im Haar, den Mund voll von Meer, ein paar Körnchen Sand und den süßesten Komplimenten.

Wieder schloss sie die Augen. Ach, wie gerne hätte sie dieses Rezept in ihr Rezeptbuch aufgenommen und ihm einen Namen gegeben, jetzt, da es ihr endlich eingefallen war, lange nachdem sie diese ihre Bucht entdeckt hatte. Nun sollte es ein anderer fertig komponieren. Sie würde es nicht mehr niederschreiben, geschweige denn ausprobieren. Die Rufe hinter ihr wurden lauter. Anna-Greta meinte, ihren Namen zu hören.

Ein letztes Mal atmete sie tief ein.

Dann breitete sie ihre Schwingen aus, ließ sich in den Wind fallen, dem Wasser und der tosenden Gischt entgegen.

Ein Ende ist immer auch ein Anfang, träumte sie und sah die sanften Züge von Nils’ Gesicht, den sie so sehr vermisste.

Das Letzte, was Anna-Greta Olsson vernahm, war ein immer lauter werdendes Rauschen, danach gab es nichts mehr außer unendlicher Ruhe.

Aber keinen Frieden.

1Ein großer Rucksack voll gefrorenem Backfisch

Das Erste, was Leif im Sinn hatte, sobald er abends nach Hause kam, war eine Dusche. Ganz am Anfang, als er gerade in Gunnar Perssons Restaurant begonnen hatte, war es noch nicht so gewesen, doch es hatte nicht lange gedauert, bis sich dieser beinahe panische Reinigungsdrang nach der Arbeit eingestellt hatte. Vielleicht waren es drei Monate gewesen, vielleicht sechs. Leif wusste es nicht mehr.

Nur, dass er jetzt unbedingt duschen musste.

Er schloss die Wohnungstür auf, zog zuerst seine Schuhe, dann seine Jacke aus, die er an die Garderobe neben dem Eingang hängte. Dem folgte ein »Hej!« in Richtung von Mats’ Zimmer, der seine Tür nur zumachte, wenn er am Rechner in ein Onlinespiel vertieft war, oder, was seltener vorkam, wenn er Damenbesuch hatte.

Mats kannte Leif, und Leif kannte Mats. Angestellter Koch und freischaffender Webdesigner. Das passte auf den ersten Blick absolut nicht zusammen, doch es funktionierte hervorragend. Und nach einigen Jahren in einer gemeinsamen Dreizimmerwohnung war es genauso unmöglich geworden, irgendeine charakterliche Eigenheit vor dem anderen zu verbergen, wie es wenig sinnvoll schien, sich noch über irgendeine Verhaltensweise des anderen aufzuregen. Entweder man akzeptierte den anderen, wie er war, oder man zog aus. So einfach war das.

Vermutlich hatte Mats sich aus genau diesem Grund nicht darüber gewundert, dass er nach der knappen Begrüßung seines Mitbewohners nur noch gehört hatte, wie die Badezimmertür zufiel. Er kannte Leifs Ritual.

Im Badezimmer zog Leif sich aus, stellte die Dusche an und schloss eine Weile die Augen, während das Wasser an ihm herunterrann. Dann erst seifte er sich gründlich ein und wusch sich zweimal das Haar (der strenge Geruch von heißem Fett haftete besonders stark darin). Als er fertig war, stopfte er die getragene Kleidung in den Wäschekorb und ging mit dem Handtuch um die Hüften zuerst in sein Zimmer, wo er sich frische Sachen anzog, und danach in die Küche, wo das Feierabendbier schon im Kühlschrank auf ihn wartete.

Wenig später gesellte sich Mats zu ihm. Es hatte etwas Familiäres, wann immer sie hier zusammenkamen. Von hier aus hatte man einen guten Blick durchs Fenster in die Tristesse der Göteborger Sozialbaulandschaft. Wortlos stießen sie an.

»Na, Schatz, wie war dein Tag?«, fragte Mats nach einer Weile, ohne eine Miene zu verziehen. Sein Blick war freundlich und aufmerksam.

Leif stellte seine Bierdose ab und fuhr sich mit den Fingern durch das klamme Haar. »Das Übliche. Backfisch. Hamburger. Krabbenbrote. Hotdogs mit Röstzwiebeln und Kartoffelbrei.« Er zuckte teilnahmslos mit den Schultern. »Eben wie gestern, wie vorgestern und wie letzte Woche. Keine besonderen Vorkommnisse. Skål.«

»Zum Glück hast du dieses Wochenende frei«, sagte Mats und lächelte.

Leif nickte einvernehmlich, doch in Wirklichkeit entlockte ihm die Aussicht auf ein freies Wochenende schon lange keine Freude mehr. Nach fast sechs Jahren als Koch in diesem Restaurant graute ihm jetzt schon vor der kommenden Woche.

Er leerte sein Bier mit einem Schluck, knüllte die Dose zusammen und stellte sie auf den Tisch. Sie schaukelte noch einige Male hin und her, bis sie verknittert innehielt.

»Komm, gehen wir noch in die Stadt, etwas trinken«, schlug Mats vor.

»Nein, heute lieber nicht«, wehrte Leif ab. »Ich bin müde und will nicht zu spät ins Bett.« Was er seinem Freund verschwieg, war, dass er vergangene Nacht schon wieder diesen seltsamen Traum von Jana gehabt hatte, der ihn immer häufiger heimsuchte.

 

Eine frische Brise kam vom Meer heran und strich sanft durch die von der Julisonne aufgeheizte Stadt, die sich bereits hinter den Horizont zurückzog. Leif blickte weit hinaus auf den Götaälv, wo sich ein Lastkahn mit Kies flussaufwärts schob. Es folgten ein Fischerboot und ein Aussichtsdampfer mit Touristen, die wahrscheinlich die Göteborger Oper und den alten Hafen mit seinen vertäuten Dreimastern bei Sonnenuntergang vom Wasser her bestaunen wollten. Die zahllosen bunten Lichter wirkten beruhigend und hatten etwas Tröstliches, gerade so, wie wenn man in einer grillenzirpenden Sternennacht den Kopf in den Nacken legt und sich mit dem Anblick der Milchstraße zudeckt.

Jana saß neben ihm.

Sie roch nach ewigem Sommer und lächelte.

Eine Möwe flog kreischend über sie hinweg.

»Ich kann niemanden lieben, der den besten Tag seines Lebens nicht genutzt hat«, sagte Jana, als der Vogel vorübergezogen war. Sie klang vollkommen ruhig, ohne jede Leidenschaft oder Erregung – als würde sie ein unumstößliches Axiom zitieren. Dann ließ sie ihr halb volles Weinglas auf dem Tisch zurück, stand auf und ging ins Nirgendwo davon.

Die Schiffe verschwanden langsam aus seinem Blickfeld im Meer der Hafenlichter zu Beginn eines weit entfernten Abends.

 

Mats und Leif hatten sich geeinigt, ihren Kneipengang am Wochenende nachzuholen, und nach einem letzten gemeinsamen Bier hatte sich Leif gegen halb elf ins Bett gelegt. Heute wollte er gut schlafen.

Und doch lag er noch eine ganze Weile mit offenen Augen da, starrte an die Decke und grübelte, weshalb ihn dieser eine Traum in letzter Zeit immer wieder überfiel.

Jana hatte Medizin studiert. Ihre Eltern waren äußerst vermögend. Dass sich eine so hübsche angehende Kinderärztin mit besten Karriereaussichten wenig standesgemäß in Leif verliebt hatte, den Koch aus ›Gunnar’s Bistro & Lumumba Beach‹, wo sie sich zum ersten Mal begegnet waren, hatte offenes Entsetzen in ihrem gesamten Freundeskreis und bei ihrer Familie ausgelöst. Doch zwei Jahre lang waren sie gegen alle Widerstände wirklich glücklich gewesen. Dann war Leif zu ihr in die geräumige Eigentumswohnung im obersten Stock eines denkmalgeschützten Altbaus mit Blick auf den Hafen gezogen.

Hinter ihnen hatte die Norrstan gelegen, Göteborgs nördlicher Teil der Altstadt, mit seinen traumhaft schönen Häusern, den engen Gassen, vielen kleinen Läden und Restaurants. Und trotz der zentralen Lage war die Wohnung ruhig gewesen. Ein Jahr später hatte sich Jana von ihm getrennt und ihn gebeten zu gehen, weil sie sich in jemand anderen verliebt hatte. Sie war jetzt mit einem Orthopäden aus ihrer Klinik zusammen und schwanger, wie Leif gehört hatte.

Das alles war bald zwei Jahre her, und noch immer träumte er von ihr. Warum? Er liebte sie nicht mehr – daran konnte es also nicht liegen. Doch von der Zeit mit ihr war eine Ahnung zurückgeblieben, eine vage Idee von Zukunft, die sich Leif nun nicht mehr bot.

Und unbestimmte Zweifel.

Ich kann niemanden lieben, der den besten Tag seines Lebens nicht genutzt hat.

Der beste Tag meines Lebens?, grübelte Leif. Was mochte das sein? Und wie kam sein Gehirn darauf? Jana selbst hatte sich nie so geäußert. Sie hatte von Liebe und Leidenschaft gesprochen, davon, dass sie beides nicht mehr fühle.

Leif knipste die Nachttischleuchte aus und fiel, sobald er es aufgegeben hatte, dem eingebildeten Geruch von heißem Frittierfett weiter nachzuspüren, in einen tiefen Schlaf.

 

Gegen acht Uhr am nächsten Morgen trat er einigermaßen erholt aus dem Haus. Fahler Sonnenschein begrüßte ihn. Ein für Mitte Mai ungewöhnlich kalter Wind kam vom Meer herüber und fegte kaum sichtbaren, sehr feinen Nieselregen durch die Straßen.

Die Fahrt in die Innenstadt dauerte etwa zwanzig Minuten. ›Gunnar’s Bistro & Lumumba Beach‹ lag im Stadtteil Heden, nur etwa fünfhundert Meter vom Ullevi-Stadion entfernt und fußläufig zum alten Wallgraben, der die Göteborger Altstadt mit seinem Kanal zickzackförmig umschloss, wie zur Verteidigung bereit (wozu dieser auch ursprünglich erbaut worden war, lange bevor Touristendampfer sich dort entlangschoben).

Gunnar Persson hatte sein Bistro vor über zwanzig Jahren eröffnet. Es lag in einem großen Zweckbau mit dem Charme eines Behördengebäudes, das mittels Kunstpalmen, grob gezimmerten Holzmöbeln und allerlei Schnickschnack nachträglich mehr schlecht als recht auf ein tropikales Ambiente getrimmt worden war. Der größte Umsatzbringer, zumindest in den warmen Monaten und bei schönem Wetter, war zweifelsohne der große Außenbereich, ehemals als Parkplatz gedacht, doch dann von Gunnar Persson zum ›Lumumba Beach‹ umgestaltet. Dazu hatte er das gesamte Areal mit einem Zaun aus blickdichten Strohmatten eingefriedet, und zu Beginn jeder Saison ließ er den Boden zuerst reinigen und dann von einem befreundeten Bauunternehmer mit einer Lkw-Ladung Sand zuschütten, um dann rund zwei Dutzend Plastikgartentische mit passenden Stühlen und bunten Sonnenschirmen darauf zu verteilen.

Leif fühlte sich hier zwar auch im Sommer nie wie an einem Strand, geschweige denn wie in den Tropen, doch das Bistro war bei schönem Wetter derart gut frequentiert, dass die Leute Mühe hatten, einen freien Platz zu finden. In den warmen Monaten machte Gunnar Persson richtig Geld, ganz besonders mit Touristen, die von der Altstadt ins Museumsviertel und zu den Sportstätten mäanderten und unterwegs eine Stärkung brauchten. Außerdem lag Gunnars Bistro im Einzugsgebiet der Universität. Sein Publikum legte im Schnitt nicht ganz so viel Wert auf die Ausgewogenheit von Qualität und Preis, wenigstens, solange Letzterer günstig genug und man nach dem Essen satt war. Viele Gäste verzichteten ohnehin aufs Essen und tranken viel lieber im aufgeschütteten ›Lumumba-Beach‹-Bereich Cocktails oder Bier, was Gunnar sehr entgegenkam, da er damit noch weniger Arbeit hatte und zudem den weitaus höheren Gewinn erzielte.

Über den Winter brachte er sein Bistro mithilfe von Einsparungen am Personal und bei der Speisekarte. Es gab Fastfood-, Grill- und Fritteusenklassiker, den obligatorischen ›Fitness-Salat‹ mit gebratenen Putenstreifen – der Renner bei weiblichen Gästen jeden Alters – sowie ein vegetarisches Alibi-Hauptgericht, das sich Gunnar Persson selbst ausgedacht hatte und auf das er deswegen besonders stolz war. Es handelte sich um einen Convenience-Gemüseburger mit vorfrittierten Süßkartoffel-Farmer-Potatoes und einem Joghurt-Dip aus dem Großgebinde, der vor allem unter Studenten reißenden Absatz fand.

Leif hatte seine Haltestelle erreicht und stieg aus dem Bus. Über ihm stoben einige Tauben auf und flogen davon, bis sie zwischen den Häusern verschwanden. Irgendetwas musste die Vögel aufgeschreckt haben. Leif lief um das Gebäude herum zum Lieferanten- und Personaleingang, der links vom Haupteingang gelegen war und durch eine Mauer und eine Überdachung vor den Blicken der Gäste im Außenbereich geschützt wurde.

Sobald die dicke Brandschutztür hinter ihm ins Schloss gefallen war, liefen vor seinem inneren Auge alle anstehenden Handgriffe ab. Manchmal hatte er den Eindruck, als würde er sein Ich draußen vor dem Gebäude abstellen und es erst nach Feierabend wieder abholen, wenn er nach Hause fuhr. Er zog sich in der Personalumkleide um, holte die rutschfesten Sicherheitsschuhe und seine grau melierte Kochhose nebst weißer Jacke aus dem Spind. Dann setzte er sich die Kochmütze auf den Kopf und ging in die Küche, um, wie jeden Tag, das Mise en Place vorzubereiten. Er begrüßte seine Kollegen – es waren neben der Spülhilfe ein älterer Koch namens Stefan, der ihm gleichgestellt war, und Ole, ein junger Beikoch –, dann füllte er gemeinsam mit ihnen die zahllosen normierten Schalen aus hygienischem Nirosta mit allem, was man zur Zubereitung der angebotenen Gerichte auf der Speisekarte von ›Gunnar’s Bistro & Lumumba Beach‹ benötigte: mit Zwiebeln in Würfeln und Ringen, mit Tomaten, geriebenem Käse, Salatblättern, diversen Soßen, die man aus großen Kunststoffbehältern einfüllte, und vielem anderen.

Das Neonlicht strahlte bläulich wie der Mond in einer Frostnacht, nur sehr viel heller und absolut nicht romantisch. An der Stirnseite besaß die Küche lediglich zwei kleine, auf Kopfhöhe gelegene Fenster, die man bloß kippen konnte und die mit satiniertem Glas verhinderten, dass Unbefugte einen Blick hineinwarfen, leider aber auch, dass man selbst einen hinauswarf.

Leif schnitt Gurken in Scheiben, die später unter anderem bei den Hamburgern und dem Fitnesssalat zum Einsatz kommen würden. Seine Bewegungen liefen mechanisch ab und in einer hohen Geschwindigkeit. Mit immer gleicher Stärke fielen die Scheiben von der Salatgurke ab, wenn Leif mit seinem Kochmesser hindurchfuhr. Laien würden ob der Akkuratesse staunen, doch Leif wusste es besser. Pierre Lascombes, der alte Koch, bei dem er seine Ausbildung begonnen hatte, hätte ihn dafür, wie er hier arbeitete, ordentlich zusammengestaucht. Pierre hatte Leif Hunderte Stücke Gemüse schneiden lassen, bis er endlich halbwegs mit Aussehen und Arbeitsgeschwindigkeit zufrieden gewesen war. Besonders bei den Juliennes und den Brunoises war der damals bereits kurz vor der Rente stehende Exil-Franzose extrem pedantisch gewesen: »In der Qualität der Produkte und der Exaktheit ihrer Verarbeitung liegen zwei der drei Geheimnisse verborgen, um die Seele des Gastes zu berühren. Die wichtigste von allen ist aber die Leidenschaft des Kochs.«

Außerdem war er der Meinung gewesen, Leifs Talent sei Verpflichtung und nicht Gabe. Ganz gleich, was es war, alles hatte sich mit seinem französischen Akzent noch so viel schöner und bedeutsamer angehört.

Nichts davon spielte hier eine Rolle. Leif schob den letzten Haufen Gurkenscheiben vom Kunststoffschneidbrett zu den anderen in die 10-Liter-Nirostabox, deckte sie mit Klarsichtfolie ab und ging damit zum Kühlraum hinüber. Pierre Lascombes hatte seine Rente und Leifs Abschlussprüfung nicht mehr erlebt. Eine Kurve im Regen und ein Überschlag mit dem Auto. Das war’s. Tragisch und traurig. Pierre hatte keine Kinder gehabt. Er hatte immer gesagt, Leif könne später sein kleines Restaurant einmal übernehmen. Doch nach Pierres Tod musste Leif schnell einen anderen Ausbildungsbetrieb finden, um seine Prüfung ablegen zu können. Seine Mutter und sein Bankkonto hatten ihn damals dazu gedrängt. Und er hatte dem Drängen nachgegeben. So war er in ›Gunnar’s Bistro & Lumumba Beach‹ gelandet und war dort Koch geworden.

Hier würde sich keiner der Gäste jemals über einen Millimeter Abweichung beim Gemüseschnitt beschweren. Die meisten würden Julienne, Brunoise oder eine Duxelles ohnehin mit französischen Chansons oder mit Küstenstädten in der Normandie in Verbindung bringen und sicher nicht mit Handwerk. Ganz kurz durchzuckte Leif ein Gefühl. Es war die Erinnerung an Stolz. Einen Stolz, den er während seiner Ausbildung bei Pierre von Zeit zu Zeit gefühlt hatte, wenn ihm etwas besonders gut gelungen war und wenn Pierre Lascombes ihn gelobt hatte.

»He, Leif! Träum hier nicht wieder herum! Die ersten Gäste kommen gleich, und wir wollen Umsatz machen. Also: zack, zack!«

Gunnar Persson stand im Kücheneingang und blickte Leif auffordernd und befehlsgewohnt an. Er war untersetzt und gut einen halben Kopf kleiner als Leif. Volles, grau meliertes Haar, das er sich mit viel Mühe und Haargel zu einer Tolle zurückfrisiert hatte, gab ihm ein affektiertes, ja beinah anmaßendes Aussehen. Eine goldene Uhr und eine dicke Goldkette, gebettet in dichtes Brusthaar, das aus dem Kragen eines weißen Polohemdes ragte, komplettierten das Erscheinungsbild. Bei ihm hatte Leif seine Ausbildung abgeschlossen, wenigstens der Form halber, denn schon damals hatte Leif bei Gunnar nichts mehr lernen können, einmal abgesehen von der prozessoptimierten Bedienung von Küchengeräten, die es in Pierre Lascombes’ Küche nicht gegeben hatte. Gunnar Persson kochte schon lange nicht mehr selbst, außer es war Not am Mann. Er war mittlerweile durch und durch Restaurantbetreiber. Allerdings verstand er sich trotzdem nach wie vor als Küchenchef und hielt damit auch nicht hinterm Berg.

»Ich muss gegen Mittag mal zwei Stunden weg, und ich will, dass der Laden dann läuft, in Ordnung? Also, ran jetzt, Jungs, aber dalli!« Wie zur Bekräftigung eines Marschbefehls schlug Gunnar Persson mit der flachen Hand lautstark gegen den Türrahmen, bevor er die Küche verließ und sich in den Gastraum begab, um die Kassen vorzubereiten, so wie er es jeden Morgen zu tun pflegte, nachdem er seine Angestellten auf Trab gebracht hatte.

Leif stellte die Gurken zu den übrigen Behältern mit vorbereiteten Zutaten ins Regal und schloss die mannshohe Tür des begehbaren Kühlraums. Dann heizte er die beiden Fritteusen und die große Griddleplatte auf – für gewöhnlich kamen die ersten Frühstücksgäste tatsächlich gleich, nachdem sich die Türen des Restaurants um zehn Uhr geöffnet hatten. Und nicht wenige begannen ihren Tag (oder beendeten ihre Nacht) mit einem Backfisch, einem Hamburger oder einem Spiegelei mit gebratenem Speck und Toast.

 

Etwa ein Dutzend Backfische, zwanzig Hamburger mit Pommes frites und mindestens genauso viele Krabbenbrötchen mit Mayonnaise später (die Würstchen mit Röstzwiebeln und Kartoffelbrei nicht mitgezählt) kam eine der Bedienungen aufgeregt in die Küche. Ein Gast hatte sich über das Essen beschwert. Offenbar verlangte er sein Geld zurück und wollte sofort mit dem Geschäftsführer sprechen.

Emma war Anfang zwanzig und neu im Serviceteam. Es war ihr dritter Arbeitstag, und so etwas hatte sie gewiss noch nie erlebt. Leif sah von seinen Kollegen zu der jungen Frau. »Ich mache das«, entschied er.

Das Restaurant war etwa zu einem Drittel besetzt. Leif folgte Emma zum Tisch des Gastes, der sich beschwert hatte. Der Mann war mit Anfang dreißig nicht viel älter als Leif. Seine Begleitung war eine jüngere Frau, etwa in Emmas Alter. Leif hatte nach all den Jahren einen Blick für Gäste bekommen. Er vermutete, dass dieser Mann sich vor seiner Freundin wichtigmachen wollte. Er sah aus wie ein Aufschneider, der sich die größte Mühe gab, so zu wirken, als hätte er mehr Geld, als er besaß.

»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte Leif höflich.

»Wie Sie mir helfen können?«, entgegnete der Angesprochene in unangemessener Lautstärke. »Das will ich Ihnen sagen. Ich will mein Geld zurück. Das Essen war unter aller Sau!«

Leif merkte, wie sich Emma förmlich hinter ihm versteckte.

»Es tut mir leid zu hören, dass es Ihnen nicht geschmeckt hat. Was war denn unter aller Sau?«, hakte Leif ruhig nach.

Die Begleitung des Mannes schwieg, und Leif hielt es durchaus für möglich, dass sein Benehmen ihr unangenehm war, insbesondere da sich mittlerweile mehrere andere Gäste zu ihnen umgedreht hatten und mit Spannung den Fortgang des Gesprächs erwarteten.

»Die Pommes frites schmecken nach Fisch und altem Fett, die Mayonnaise ist sauer und mehlig, und mein Hamburgerbrötchen ist weich und komplett geschmacklos«, fasste der Mann zusammen. »Das ist unter aller Sau.«

Da geschah etwas Seltsames mit Leif.

Er konnte förmlich spüren, wie sich alles in ihm zusammenballte, wie sich aller Frust der letzten eintausend Backfische auf einen einzigen energetischen Punkt konzentrierte und die Kontrolle übernahm. Leif konnte sich nicht dagegen wehren, er dachte nicht einmal daran, er ließ dem einfach freien Lauf.

»Sie haben vollkommen recht«, gab er kopfnickend zurück, »aber, ganz ehrlich? Das muss Ihnen doch bereits klar gewesen sein, als Sie hier reingekommen sind. Oder was hatten Sie erwartet?«

»Wie bitte?« Der Mann hatte offenbar mit vielem gerechnet, aber nicht mit dieser Reaktion. »Was soll das heißen?«

»Sehen Sie: Sie führen Ihre Freundin zum Essen aus, möglicherweise um sie zu beeindrucken, und dazu wählen Sie ein solches Restaurant? Entschuldigen Sie, aber das ist doch lächerlich«, fuhr Leif unbeeindruckt fort. »Was haben Sie erwartet? Dass wir die Mayonnaise aus Eiern aus Bodenhaltung vom Biohof und kalt gepresstem Olivenöl aus der Toskana frisch herstellen und sie mit einem Spritzer der Sorrento-Zitrone aus Sizilien abrunden? Dass wir die Burgerbuns aus selbst gemachtem Briocheteig täglich selbst backen und sie mit Sesam aus biologischem Anbau bestreuen? Und wissen Sie eigentlich, wie viel es kostet, alle zwei bis drei Tage in den Fritteusen das Öl zu wechseln? Dazu wären wir eigentlich verpflichtet, das tun wir aber nicht. Niemand tut das. Stattdessen werfen wir aus wirtschaftlichen Gründen gefrorene Pommes frites und den fertig panierten Tiefkühlbackfisch abwechselnd eine ganze Woche lang ins selbe Fett. Damit sparen wir schnell zehntausend Kronen im Monat, und so stellen wir sicher, dass Ihr Burger mit Beilage auch weiterhin nur hundertfünfunddreißig Kronen kostet. Nun wissen Sie, weshalb die Pommes frites manchmal etwas fischig schmecken – ich frage Sie noch mal: Was haben Sie erwartet?«

Die Gesichtsfarbe des Mannes hatte sich in ein helles Rot verwandelt. Er sah aus, als würde er gleich platzen. Aber außer einem gestammelten »Das ist eine bodenlose Unverschämtheit!« bekam er nichts heraus. Er war schlicht fassungslos. Und er war nicht der Einzige. Emma, die sich bisher hinter Leif gehalten hatte, stand mit offenem Mund neben ihm und starrte ihn an. Einige Gäste tuschelten, andere schauten beschämt weg. Wieder andere riefen eine Bedienung herbei, um zu zahlen.

Noch einmal wandte Leif sich an den Mann. »Das ist keine Unverschämtheit, das ist einfach nur die Wahrheit. Ich finde nämlich, man sollte seine Gäste nicht belügen.« Zu Emma sagte er: »Sei so gut und gib den Herrschaften das Geld zurück. Schreib es bei mir auf die Abrechnung. Gunnar kann es mir vom Lohn abziehen.«

»Man wird Sie in hohem Bogen rausschmeißen!«, sagte der Mann erbost und stand drohend von seinem Platz auf. »Dafür werde ich sorgen!«

»Das ist nett von Ihnen, aber das brauchen Sie nicht«, entgegnete Leif. »Ich regele das selbst.« Damit nickte er dem Gast und seiner Begleitung zum Abschied zu, nahm seine Kochmütze ab und ging an der Küche vorbei zur Personalumkleide.

Wenngleich Leif nicht erklären konnte, was ihn da geritten hatte, fühlte er sich wie von einer Bürde befreit. So, als hätte er einen großen Rucksack voll gefrorenem Backfisch von seinen Schultern direkt in die Küche von ›Gunnar’s Bistro & Lumumba Beach‹ geworfen.

Er öffnete seinen Spind, zog sich um und steckte seine Arbeitskleidung in den voluminösen Wäschesammler, als er eilige und höchst energische Schritte näher kommen hörte. Er wusste, wer das war.

Im selben Moment sprang auch schon die Tür des Umkleideraums so heftig auf, dass sie ungebremst gegen die Wand schlug. Gunnar Persson musste vor Kurzem von seinem Außentermin zurückgekommen sein und bereits von Leifs Gespräch mit dem unzufriedenen Gast erfahren haben, höchstwahrscheinlich sogar von diesem selbst.

Leif drehte sich um.

Gunnar Persson stand mitten im Raum und schäumte vor Wut.

Leif kannte ihn seit einigen Jahren, und er wusste: Sobald seine Adern am Hals hervortraten und sein Gesicht in etwa die Farbe von gekochtem Hummer annahm, war man besser auf der Hut. Zumindest, wenn man seinen Arbeitsplatz behalten wollte. In diesem Zustand höchster Erregung (der recht häufig auftrat, auch aus ganz nichtigen Gründen) hatte Gunnar Persson, seit Leif hier angefangen hatte, nämlich bereits mehrere Bedienungen und Spülhilfen und sogar zwei Köche auf die Straße gesetzt. Wenn seinen Anweisungen nicht unverzüglich und widerspruchslos Folge geleistet wurde oder wenn ihm etwas gegen den Strich ging, fuhr er schnell aus der Haut.

Das schien hier offenbar der Fall zu sein.

Gunnar Persson baute sich vor Leif auf und stemmte die Ellbogen in die Hüften. Sein gezwirbelter Bart zitterte vor Wut. »Bist du verrückt?«, brüllte er. »Was fällt dir ein, dem Gast so einen Schwachsinn zu erzählen und mein Essen schlechtzumachen?«

Leif schloss die Stahlblechtür des Spinds und machte einen Schritt auf seinen Chef zu. »Gunnar, ich kann verstehen, dass du dich aufregst, aber ich habe ihm bloß die Wahrheit gesagt.«

»Die Wahrheit? Was für eine Wahrheit? Dass er in meinem Bistro Mist zu essen bekommt?«, tobte Gunnar Persson.

»Das nicht«, entgegnete Leif ruhig, »sondern nur, dass er hier nicht mehr erwarten kann für sein Geld.«

Für einen Moment zeigte Gunnar Persson den gleichen Ausdruck von Fassungslosigkeit, den Leif auch bei dem Gast gesehen hatte. »Du bist tatsächlich verrückt«, stellte er irritiert fest. Es klang, als hätte er plötzlich eine lange gesuchte Erklärung gefunden. »Was bildest du dir eigentlich ein?«

»Ich bilde mir gar nichts ein«, sagte Leif. »Ich weiß nur, dass ich diesen Job nicht mehr machen will.«

»Du willst kündigen?« Gunnar Perssons Fassungslosigkeit wandelte sich in erstaunte Enttäuschung. »Warum ziehst du dann hier so eine Show ab, anstatt es einfach zu tun?«

»Ich wusste es vorhin selbst noch nicht, und das war auch keine Show, das war …«, Leif sinnierte kurz, »es hat sich eben so ergeben.«

»Du denkst wohl immer noch, du wärst der begabte Jungkoch mit der französischen Ausbildung und dem ach so besonderen Talent, dem die Welt offensteht, was? Und was hast du jetzt vor? Wechselst du direkt in die internationale Sternegastronomie?« Gunnar lachte verächtlich und lauthals, dann wurde er wieder ernst. »Vergiss es! Du wirst irgendwo anders Hamburger belegen und Pommes frites abtropfen lassen, bloß für weit weniger Geld als bei mir. Du bist Ende zwanzig und nicht mehr als irgendein beschissener Durchschnittskoch aus einem Fastfood-Restaurant.« Gunnar Persson schnaufte wie eine Dampflok. »Und ein entsprechendes Zeugnis werde ich dir auch schreiben, darauf kannst du Gift nehmen!«

»Ich weiß«, sagte Leif. »Leb wohl.«

Mit diesen Worten ließ er seinen Chef stehen und ging zum letzten Mal durch den Personaleingang von ›Gunnar’s Bistro & Lumumba Beach‹ nach draußen, um den nächsten Bus nach Hause zu nehmen.

IIFrühsommer 1911

Es war ein Tag, so schön, wie ihn kaum ein Schriftsteller in Worte hätte fassen können. Und es hätte kein besserer Tag sein können, um Anna-Greta Olsson die Entscheidung über den Kauf der kleinen Insel Fjärranö und des dort befindlichen Baugrundstücks leichtzumachen. Wolken suchte man vergebens, die Sonne stand hoch am Himmel und wärmte die Haut, und in sanften Wellen brandete das Wasser rhythmisch ans Ufer des Sunds.

Der Vertreter der Kommune, ein gewisser Herr Viklund, hatte sich mit Anna-Greta Olsson vor etwas mehr als einer Stunde an einem Sandplatz auf dem Festland getroffen, der genau gegenüber der Insel, nur eine halbe Meile von Dalarö entfernt, lag. Anna-Greta Olsson sah sofort, dass dieser Ort einen hervorragenden Parkplatz für Kutschen oder Automobile abgeben würde, wenn man ihn ein klein wenig begradigen würde.

Von dort waren sie mit einem kleinen Fischerboot übergesetzt, denn der natürliche Wall aus Grundgestein, der vom Festland hinüber nach Fjärranö führte, war zwar im Laufe der Zeit verstärkt worden, doch wenn man wie Anna-Greta Olsson lederne Damenschuhe und einen langen Rock trug, wie es in Stockholm nun einmal Mode war, wäre eine Überquerung auf diesem Wege nicht nur unziemlich, sondern möglicherweise sogar gefährlich gewesen – mit erhöhten Absätzen und eingeschränkter Beinfreiheit ist schlecht Klettern auf bemoostem Untergrund.

Herr Viklund mochte es ganz ähnlich gehen; er trug dunkle Stoffhosen mit grauen Nadelstreifen, ein strahlend weiß gebleichtes und gestärktes Oberhemd und dazu einen schwarzen Frack und eine Melone, und auch seine auf Hochglanz polierten schwarzen Lederschuhe taugten eher für die Begehung eines Amtszimmers als für eine Kletterpartie. Das Auffälligste an ihm war jedoch sein gezwirbelter Bart; so lang und spitz getrimmt, dass man geneigt war, ihn gedanklich als Garderobenhaken zu missbrauchen.

Anna-Greta Olsson beschloss, den Wall etwas zu verbreitern und zu bewehren und ihn zum befestigten Weg ausbauen zu lassen, wenn die Insel erst einmal in ihrem Besitz wäre. Das würde auch den Bau ihres Hotels ganz erheblich vereinfachen.

Am Eingang zum ausgebauten Wall würde sie ein schönes Tor errichten lassen – mit zwei aus Stein gehauenen großen Säulen und mit schmiedeeisernen Flügeln. Wer durch dieses Tor schritt, betrat eine neue Welt und ließ das Alltägliche hinter sich zurück.

Auch wenn das Gros ihrer Gäste jener Gruppe angehören würde, die mit einer eigenen Kutsche vorfuhr, wollte Anna-Greta keinen Dünkel pflegen.

Ihr ging es um die Sehnsüchte und Wünsche aller Menschen, nicht um Herkunft oder Stand. Es galt, die Seele der Gäste zu berühren – und welcher noch so ungehobelte Klotz bekam keine feuchten Augen, wenn man ihm ein Stück Kuchen vorsetzte, das ihn an die Backkunst seiner Großmutter erinnerte, oder einen Eintopf, wie er ihn nur von seiner Tante oder gar von seiner Mutter her kannte?

Menschen mussten satt werden, und die Schweden hatten viele harte Jahre hinter sich. Doch bessere Zeiten hatten neue Bedürfnisse und Wünsche hervorgebracht, die Genuss und Neugier hießen, zumindest bei den Bewohnern der Hauptstadt.

Die meisten ihrer Bekannten aus Stockholm verstanden Anna-Gretas Vorhaben trotzdem nicht. Viele fanden es weder standesgemäß noch angemessen für eine Frau, und manche hielten es sogar für unschwedisch und geradezu revolutionär.

Aber auch das war Anna-Greta gleich. Sie hätte jede Krone ihres Erbes hergegeben, wenn es Nils zurückgebracht hätte. Doch er war tot, und er würde nie wiederkommen. Jetzt war es ihr Geld, es war ihr Leben, und an einer neuen Ehe hatte sie im Moment überhaupt kein Interesse (auch wenn viele ihrer Freundinnen sie dazu drängten). Sie hatte Interesse an dieser Insel, und sie wollte ihren Traum verwirklichen.

»Entspricht das Gelände Ihren Vorstellungen, Frau Olsson?«, schnarrte Amtsvorsteher Viklund in ihre Gedanken und den Wind hinein. Der Mann war angemessen höflich, aber alles andere als nahbar.

»Ja, das tut es. Wie hoch soll der Kaufpreis sein?«

»Zehntausend Kronen.«

»Das ist eine Menge Geld«, merkte Anna-Greta Olsson an und überschlug: »Das sind beinahe vier Kilogramm Gold.«

»Es ist eine ganze Insel«, entgegnete Amtsvorsteher Viklund ungerührt. Versonnen blickte er aufs Wasser, dann wandte er sich wieder Anna-Greta Olsson zu. »Und Sie, gnädige Frau, wollen sich hier in der Einsamkeit allen Ernstes niederlassen? So weit weg von Stockholm?«

»Genau dort oben.« Anna-Greta Olsson deutete hinauf zum Plateau, das sich gut zwanzig Meter über ihnen erhob. »Dort werde ich wohnen und arbeiten, sobald das Haus fertiggestellt ist, das ich im Sinn habe.«

»Arbeiten. Verstehe«, sagte Herr Viklund, doch man sah ihm an, dass er genau das nicht tat. Offensichtlich entzog es sich seiner Vorstellungskraft, dass eine reiche, attraktive Stockholmerin im heiratsfähigen Alter überhaupt arbeiten wollte, zudem noch auf diesem gottverlassenen Eiland, umgeben von nichts außer Wind, Felsen und Meer.

»Ein kleines, aber feines Gästehaus mit besonderer Küche soll es werden«, führte Anna-Greta Olsson aus.

»Möglicherweise haben wir da ein Problem«, wandte Herr Viklund nach einigen Sekunden ein.

»Was für ein Problem?«

»Bei gewerblicher Nutzung muss der Gemeinderat zustimmen. Mit absoluter Mehrheit. Ich kann nur Empfehlungen aussprechen.«

Anna-Greta Olsson blickte Herrn Viklund von der Seite prüfend an. Über die Jahre hatte sie viel Zeit damit verbracht, zu lernen, Menschen einzuschätzen. Schon immer war ihr ein gewisses Einfühlungsvermögen zu eigen gewesen, und Nils hatte ihr in seiner Funktion als Kulturattaché auf Empfängen und Reisen Gelegenheit gegeben, diese Fähigkeit weiter zu perfektionieren. Daher spürte Anna-Greta, dass sich Herr Viklund hinter seiner Art versteckte, mehr noch, sie spürte ein tief verborgenes Unglück.

»In meinem Gästehaus«, hob sie an, »werde ich vor allem Fischspezialitäten anbieten. Zum Beispiel könnte ich mir einen köstlich zubereiteten Aal vorstellen. Vielleicht sanft geschmort in einem Sud aus Fischbrühe, Sahne und Meerrettich, abgerundet mit einem Hauch geriebenem Aromaapfel und viel Dill. Dazu könnte man Kartoffeln mit Nussbutter beträufeln und zusammen mit dunklem Roggenbrot reichen, so wie man es in Skåne gerne isst.«

Herr Viklund machte große, ungläubige Augen. Es waren die Augen eines Kindes. »Aal?«, fragte er – für einen Moment schien alles Unglück vergessen. »Das ist mein Lieblingsfisch. Sie müssen wissen, ich komme aus Skåne, aus der Nähe von Malmö«, fuhr er unaufgefordert fort. »Ein ganz ähnliches Gericht hat meine Mutter manchmal freitags gekocht, wenn frischer Fisch verfügbar war. Ihr Aal war gewiss nicht so raffiniert wie Ihr Rezept, Frau Olsson, doch ich habe ihn genauso geliebt wie meine Brüder und mein Vater – Gott hab ihn selig. Und Mamas Brot war … ofenwarm, so frisch und knusprig und so gut.«

»Oh, das ist schön«, sagte Anna-Greta Olsson, »was für ein Zufall, dass Sie diesen Fisch am liebsten essen!« Es war natürlich kein Zufall, sondern Gespür und allerhöchstens ein klein wenig Glück und Geschick. Anna-Greta Olsson hatte anhand des Dialekts von Herrn Viklund dessen Herkunft leicht erraten können. Und da sie wusste, dass Aal der regionale Fisch von Skåne war, so wie Dorsch der regionale Fisch von Blekinge und Lachs der von Halland, wusste sie auch, dass der Apfel der Sorte »Aroma« in Skåne weit verbreitet war und man nur im Süden überhaupt dunkles Brot kannte, weil es im Norden für Roggen schlicht zu kalt und dunkel war.

Anna-Gretas Kunst bestand nicht darin, sich ein besonderes Gericht auszudenken, sondern zu erkennen, welches Rezept etwas auslöste. Es ging nicht darum, herauszufinden, wie Herrn Viklunds Mutter den Fisch damals zubereitet und ihrem Sohn aufgetischt hatte – dieses Rezept hatte sie vermutlich längst mit ins Grab genommen. Nein, es ging einzig und allein darum, das Gefühl zu reproduzieren, das er empfunden hatte, als er damals im Kreis seiner Familie am Tisch saß und zu Abend aß.

Das war es, was Anna-Greta Olsson den Menschen schenken konnte: leidenschaftlich zubereitetes Essen für den Gaumen, vor allem aber für das Herz und für die Seele.

Der Ausdruck beinahe kindlicher Freude verschwand wieder aus Herrn Viklunds Gesicht. Aber in seinem Blick glomm nach wie vor ein wenig Freude über die intensive Erinnerung an lange vergangene Tage. Vielleicht hatte er auch noch den Geschmack des Aalgerichts seiner Mutter im Mund.

Das war keinesfalls auszuschließen.

»Frau Olsson«, hob Herr Viklund an, »nach kurzer Abwägung bin ich recht zuversichtlich, dass ich dem Gemeinderat Ihre Vorstellungen von der Nutzung der Insel Fjärranö schon werde schmackhaft machen können. Und ich vermute, dass auch der gewünschte Kaufpreis nicht in Stein gemeißelt ist.«

2Nicht so sexy wie ein Astronaut oder ein Tiefseetaucher

Am nächsten Tag trafen sich Mats und Leif um kurz nach zehn Uhr in der Küche. Leif saß am Tisch und frühstückte. Neben ihm lagen einige Papiere.

»Hejsan«, grüßte Leif, »schon zurück?«

»Ich bin heute Morgen recht früh losgefahren.« Mats schenkte sich ebenfalls einen Kaffee ein. Seine Eltern wohnten in Skövde, gut zwei Stunden Fahrtzeit entfernt, und nicht selten blieb er bei ihnen über Nacht, wenn er sie besuchte. »Und was ist mit dir?«, erkundigte er sich bei Leif, »ich dachte, du hättest erst am Wochenende frei.«

»Ich habe gestern gekündigt.«

Mats kam zu Leif an den Tisch und setzte sich. »Wie, du hast gekündigt?«, fragte er mit erstauntem Gesichtsausdruck.

Leif erzählte ihm, was in Gunnars Restaurant vorgefallen war. Als er geendet hatte, schloss er achselzuckend: »Ob du es glaubst oder nicht, aber ich weiß selbst nicht, wie es dazu kommen konnte. Es hat sich angefühlt, als wäre mir etwas herausgerutscht, das ich schon vor Monaten hätte sagen müssen. Mir ist einfach der Kragen geplatzt.«

»Wohl ein Backfisch zu viel«, meinte Mats trocken.

»Kann sein«, sagte Leif. »Weißt du, wäre Gunnar Persson kein Sklaventreiber, der meint, sein Personal behandeln zu können, wie er will, würde ich mich vielleicht ein klein wenig schämen wegen meiner Rede vor dem Gast, aber so? Nein, nicht einmal das. Vielleicht musste es so kommen.«

»Manchmal kommt es eben einfach, wie es kommt«, sagte Mats. »Und nun? Hast du schon eine neue Stelle im Auge?«

»Als Koch? Nein, Mats, das hat sich endgültig erledigt. Ich kann und will nicht mehr. Ich werde aufhören zu kochen.«

Mats blickte Leif perplex an. »Wirklich? Du willst ganz aufhören zu kochen?«

»Wenn ich etwas bereue, dann, dass ich überhaupt jemals eine Ausbildung zum Koch gemacht habe.«

»Von diesem Pierre, deinem Ausbilder, hast du oft sehr geschwärmt«, wandte Mats ein. »Das klang immer nach echter Bewunderung.«

»Ja, das stimmt«, gestand Leif ein. »Pierre war für mich mehr als ein Ausbilder. Er war beinahe wie ein Vater für mich.« Mit lauterer Stimme fuhr er fort: »Allerdings war ich damals erst neunzehn und davon überzeugt, dass ich mit meiner Küche die Welt verändern könnte. Nachdem Pierre gestorben ist, musste ich nach und nach erkennen, dass es genau umgekehrt läuft. In Wahrheit hat die Welt mich verändert. Jetzt werde ich bald dreißig. Und was habe ich erreicht? Aber vielleicht kann ich doch noch etwas Sinnvolles aus meiner Kochlehre machen.«

Damit schob er Mats die Papiere über den Tisch. »Ich habe gestern bis spät in die Nacht hin und her überlegt und mir alles Mögliche im Internet angesehen. Daran bin ich schließlich hängen geblieben. Es ist der einzige Kurs seiner Art in Schweden, und der findet auch noch hier bei uns in Göteborg statt.«

Mats nahm die Ausdrucke auf und las. Kurz darauf ließ er sie sinken. »Staatlich geprüfter Lebensmittelkontrolleur?« Mats wirkte nicht, als habe er diesen Berufswunsch von seinem Freund erwartet.

»Das ist absolut solide«, bekräftigte Leif.

»Solide schon, aber ist das sexy?«

Leif nahm die Papiere wieder an sich. »Wahrscheinlich nicht so sexy wie ein Astronaut oder ein Tiefseetaucher. Aber es bedeutet geregelte Arbeitszeiten, angemessene Bezahlung, viel weniger Stress und ab und zu sogar Urlaub. Damit ist es etwa hundert Mal mehr sexy als ein Dasein als Küchenschabe unter dem Regiment von Gunnar Persson oder einem anderen Chefcholeriker.«

»Da magst du recht haben«, gestand Mats ein.

Leif erzählte ihm, dass diese Fortbildung vom Arbeitsamt finanziert würde und dass der nächste Kurs bereits in drei Wochen beginnen würde, gleich Anfang Juni. Das Ganze dauere regulär eineinhalb Jahre, aber für Köche mit abgeschlossener Lehre bloß zwölf Monate. »Ich habe mich gestern gleich angemeldet«, erklärte Leif.

»Das nenne ich mal Entschlossenheit«, sagte Mats und nickte anerkennend. Er war offensichtlich froh darüber, dass Leif einen Plan für die Zukunft hatte. Dann machte er einen Vorschlag. »Da du ja morgen nicht zur Arbeit musst, könnten wir doch heute Abend ein wenig um die Häuser ziehen, oder? Und dann stoßen wir auf dein neues Leben an!«

»Das hört sich verlockend an«, sagte Leif. »Ja, das wird mir guttun.«

 

Den Samstag nutzte Leif, um sich mit seinen Kochkollegen Stefan und Ole aus ›Gunnar’s Bistro & Lumumba Beach‹ zu treffen. Sie hatten in den letzten Jahren oft in wechselnder Besetzung zusammengearbeitet, weshalb sich Leif dazu verpflichtet fühlte, die beiden in einem Göteborger Tex-Mex-Restaurant zum Essen einzuladen.

»Gunnar ist noch immer stinksauer auf dich«, meinte Stefan, was Ole nickend bestätigte, der nie sonderlich viel sprach, und wenn überhaupt, dann nur das Nötigste. »Er hat geflucht, dass jeder, der der Meinung des Sternekochs sei, sich auch gleich verpissen könnte«, fuhr Stefan fort und nahm einen tiefen Schluck von seinem Bier.

»Er nennt mich Sternekoch?«, fragte Leif.

»Er meint es nicht so«, sagte Ole.

»Danke, das habe ich mir schon gedacht«, entgegnete Leif. »Es ist trotzdem mutig von Gunnar, solche Reden zu schwingen. Wenn noch einer von euch geht, kann er den Laden doch zumachen.«

Stefan stellte die leere Bierflasche vor sich ab und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. »Du kennst doch Gunnar Persson, diesen Dickschädel. Der würde uns lieber alle rausschmeißen und mit Pauken und Trompeten untergehen, bevor er auch nur einen Zentimeter von seiner Meinung abrückt. Außerdem hat er schon Ersatz für dich gefunden.«

»Ein neuer Koch? So schnell?« Leif war überrascht.

»Göteborg ist teuer, und Gunnar zahlt nicht schlecht«, sagte Ole.

»So sieht’s aus«, pflichtete ihm Stefan bei. »Wenigstens das. Ah, das Essen!«

Die Kellnerin brachte den Männern Burritos mit Hackfleisch, Bohnen, Reis, Tomaten und Avocado, überbackene Nachos und Enchiladas mit verflucht scharfer Füllung aus Hähnchenfleisch. Dazu eine neue Runde Corona.

Leif erfasste jetzt erst, dass dieser Moment nicht nur den Abschied von seiner ehemaligen Arbeitsstelle und seinen Kollegen markierte, sondern die Abkehr von einem beruflichen Weg bedeutete, der vor Jahren bei Pierre Lascombes begonnen hatte, ihn aber ziemlich schnell in die Durchschnittlichkeit von Gunnar Perssons Küche geführt hatte. Dort hatte Leif alles verloren, was diesen Beruf auszeichnete. Das war nicht Gunnar Perssons Schuld, aber für Leif war es ein beklagenswerter Verlust.

Herz. Leidenschaft.

Beides war Leif noch vor der Genauigkeit abhandengekommen. Eine Zeit lang hatte er ihr Fehlen noch bemerkt, erinnerte sich Leif – während Stefan und Ole über einen mittelmäßigen Kellnerwitz lachten, den er bereits kannte –, doch schließlich hatte Leif es einfach hingenommen, dass jeder integrale Bestandteil von Pierre Lascombes’ Küchenphilosophie für immer sang- und klanglos in den Untiefen einer Fritteuse oder eines Großgebindes Industriemayonnaise untergegangen war. Er wollte Herz und Leidenschaft weder dort noch in irgendeiner anderen Küche mehr finden, sondern ganz woanders. Mit der Leidenschaft zum Kochen verhielt es sich im Prinzip ähnlich wie mit der Liebe zu Jana: Vermutlich war diese Liebe schon lange, bevor Jana tatsächlich gegangen war, aus seinem Leben verschwunden.

Man musste loslassen können.

Nachdem sich Leif zu vorgerückter Stunde von seinen beiden Kollegen herzlich und mit den besten gegenseitigen Wünschen für eine bessere Zukunft verabschiedet hatte (von seinen Plänen, als Lebensmittelkontrolleur zu arbeiten, hatte er bewusst geschwiegen), war er – sosehr er sie auch mochte – schlussendlich einfach bloß froh darüber, dass er diesen Abend hinter sich gebracht hatte.

 

Nur wenige Tage später hielt Leif den Brief vom Arbeitsamt in Händen. Er atmete tief durch, dann öffnete er das Kuvert und zog das Schreiben hervor.

Sehr geehrter Herr Söderberg,

hiermit bestätigen wir Ihre Anmeldung zu folgender Weiterbildung:

Kurs: VUB-0256-Lebensmittelkontrolleur, staatl. geprüft

Ort: Göteborg

Beginn: 01.06.2013

Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass dieser Kurs aufgrund geringer Nachfrage nicht stattfinden kann, sondern mit dem späteren Kurs am 05.01.2014 zusammengelegt wird.

Sollten wir bis zum30.05.2013nichts von Ihnen gehört haben, werden wir Ihre gültige Anmeldung automatisch auf diesen späteren Kurs übertragen und Ihnen eine neue Anmeldebestätigung zusenden.

Wir bedanken uns für Ihr Verständnis und verbleiben mit freundlichen Grüßen

 

Ihre Arbetsförmedlingen

Leif glaubte seinen Augen kaum. Das konnte doch nicht wahr sein! Nicht nur, dass er durch diese Mitteilung des Arbeitsamtes seine Planung vereitelt sah, auch stellte sie ihn vor ein handfestes Problem. Und zwar vor ein finanzielles. Bis Januar nächstes Jahr waren es noch neun Monate. Sein Erspartes aber würde höchstens bis August reichen, vorausgesetzt, dass er sich sehr zusammennahm. Spätestens ab September würde er weder die Untermiete an Mats noch die Rate für seinen Wagen zahlen können, von Lebensmitteln und anderen Notwendigkeiten einmal ganz abgesehen.

»Was machst du denn für ein Gesicht?«, wollte Mats wissen. Er musste auf dem Weg zur Küche in Leifs Zimmer geschaut und seinen Mitbewohner mit leerem Blick auf dem Bett sitzend entdeckt haben.

»Lies selbst«, sagte Leif und hielt Mats das Schreiben hin.

Dieser betrat das Zimmer und nahm das Anschreiben entgegen. Wenig später schaute er verwundert und mit ernster Miene auf und gab es Leif zurück. »Das ist ja ein dickes Ding«, kommentierte er.

»So kann man es auch bezeichnen«, sagte Leif. Er machte eine Pause. »Ich brauche einen Job zur Überbrückung.«

»Also doch noch mal Koch für kurze Zeit«, meinte Mats.

»Sieht wohl so aus. Etwas anderes kann ich ja nicht.«

»Such dir doch einfach für die paar Monate eine Anstellung in einem Laden, der nicht ausschließlich mit Fritteuse arbeitet und wo der Chef nicht Gunnar Persson heißt. Von mir aus auch ein Stückchen weg von Göteborg«, sagte Mats. »Du würdest mir zwar fehlen, aber ein Tapetenwechsel könnte dir guttun. Und es wäre ja nicht für immer …«

»Eigentlich hast du recht«, sagte Leif nachdenklich. »Aber was ist mit unserer Wohnung?«