Der Verlorene von Hans-Ulrich Treichel: Reclam Lektüreschlüssel XL - Hans-Ulrich Treichel - E-Book

Der Verlorene von Hans-Ulrich Treichel: Reclam Lektüreschlüssel XL E-Book

Hans-Ulrich Treichel

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Beschreibung

Reclam Lektüreschlüssel XL – hier findest du alle Informationen, um dich zielsicher und schnell vorzubereiten: auf Klausur, Referat, Abitur oder Matura! Differenziert, umfassend, übersichtlich! - Präzise Inhaltsangaben zum Einstieg in den Text - Klare Analysen von Figuren, Aufbau, Sprache und Stil - Zuverlässige Interpretationen mit prägnanten Textbelegen - Informationen zu Autor:innen und historischem Kontext - Hilfreiche Infografiken, Abbildungen und Tabellen - Aktuelle Literatur- und Medientipps - Prüfungsaufgaben mit Lösungshinweisen - Zentrale Begriffe und Definitionen als Lernglossar Ein Familienschicksal in der Nachkriegszeit, erzählt aus der Perspektive eines Jungen: Auf der Flucht aus Ostpreußen in den letzten Kriegsjahren legt die Mutter, als sie von Russen bedroht wird, den älteren Bruder einer fremden Frau in die Arme. Sie will ihn so schützen und verliert ihn doch. Schuld und Scham bestimmen fortan das familiäre Zusammenleben.

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Seitenzahl: 148

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Hans-Ulrich Treichel

Der Verlorene

Lektüreschlüssel XL für Schülerinnen und Schüler

Von Jan Standke

Reclam

Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe:

Hans-Ulrich Treichel: Der Verlorene. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 132016.

 

 

Lektüreschlüssel XL | Nr. 15518

2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2020

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961694-0

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015518-9

www.reclam.de

Inhalt

1. Schnelleinstieg2. InhaltsangabeDas FamilienalbumDie Wahrheit über den »toten« BruderDer wirtschaftliche Aufstieg des VatersDas Findelkind 2307Reise nach HeidelbergDer Tod des VatersHeinrich/Adoptionspläne3. FigurenHauptfigurenNebenfiguren4. Form und literarische TechnikGattungTextstruktur und ErzähltechnikWiederkehrende Themenkomplexe und LeitmotiveSprache5. Quellen und KontexteFlucht und Vertreibung aus den OstgebietenWirtschaftswunderFamiliengeschichte des AutorsLiterarische Kontexte6. InterpretationsansätzeDie Ouvertüre der Erzählung – der erste AbschnittSchuld und SchamMythos, biblisches Gleichnis, literarische Traditionen7. Autor und Zeit8. Rezeption9. Wort- und Sacherläuterungen10. Prüfungsaufgaben mit LösungshinweisenAufgabe 1: Eine Figurenbeziehung beschreibenAufgabe 2: Eine Textpassage interpretierenAufgabe 3: Einen thematischen Schwerpunkt erörternAufgabe 4: Medienübergreifend arbeiten – einen literarischen Text und einen Film vergleichen11. Literaturhinweise/MedienempfehlungenTextausgabenInterviews mit Hans-Ulrich TreichelRezensionen Der VerloreneSekundärliteraturZur BiografieMedien12. Zentrale Begriffe und Definitionen

1. Schnelleinstieg

Als der auf Hans-Ulrich Treichels Erzählung Der Verlorene basierende Fernsehfilm Der verlorene Bruder im Dezember 2015 erstmals in der ARD ausgestrahlt wird, ist die Überraschung groß: 5,77 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer sehen den Film über ein Familienschicksal im Deutschland der Nachkriegszeit, darunter auch über eine Million in der jüngeren Altersgruppe von 14 bis 49 Jahren. Die Einschaltquote liegt damit nur knapp hinter der des Champions-League-Spiels des FC Barcelona gegen Bayer Leverkusen.1 Treichels Thema trifft ganz offensichtlich einen Einen Nerv getroffen Nerv des Publikums. Schon seine 1998 erschienene Erzählung war ein großer literarischer Erfolg und zugleich der Durchbruch des Autors.

Was Treichel in Der Verlorene erzählt, ist auf den ersten Blick gar nicht so außergewöhnlich. Ein namenloser Ich-Erzähler erinnert sich an seine Kindheit und Jugend in den 1950/60er Jahren, irgendwo in der ostwestfälischen Provinz. Dort ließen sich seine Eltern nieder, nachdem sie in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs aus Ostpreußen fliehen mussten. In der neuen Heimat hat der Vater es zum Großhändler für Fleisch- und Wurstwaren gebracht. Die Mutter unterstützt als Hausfrau den wirtschaftlichen Aufstieg ihres Mannes und erster Wohlstand stellt sich ein. Das Familienleben hingegen ist von Schweigen bestimmt. Schuld- und Schamgefühle begleiten die Kindheit des Erzählers. Sie rühren, wie sich herausstellen soll, unter anderem vom Verlust seines älteren Bruders Arnold her, der auf der Flucht in den Westen verlorenging.

Jahre später macht der Suchdienst des Roten Kreuzes ein Findelkind ausfindig, das der Familiengeheimnis verlorene Bruder sein könnte. Bevor die Familie zueinanderfinden kann, muss aber die Verwandtschaft mit dem Findelkind nachgewiesen werden. Eine Odyssee der erbbiologischen Untersuchungen, Vermessungen und Berechnungen beginnt.

Die Ergebnisse sind betrüblich. Denn am Schluss gilt eine Unwahrscheinliche Verwandtschaft Verwandtschaft als nahezu ausgeschlossen und auch ein Adoptionsantrag der Mutter scheitert. Kurz bevor die Mutter das beinahe erwachsene Findelkind in einer nahegelegenen Stadt sehen könnte, schreckt sie zurück. Der Ich-Erzähler hingegen meint, seinen Doppelgänger zu erblicken. Ob das Findelkind tatsächlich der gesuchte Bruder ist, bleibt offen.

Treichels Ich-Erzähler wächst während des bundesdeutschen Wirtschaftswunders auf. Den Zweiten Weltkrieg hat er nicht miterlebt. Mit seinen Nachwirken des Krieges Konsequenzen ist er dennoch konfrontiert. Denn unter der Oberfläche von wirtschaftlichem Aufschwung und Konsum wirken die Traumata weiter, die Flucht und Vertreibung bei den Eltern hinterlassen haben: der Verlust des Bruders, der Verlust von Haus und Hof in Ostpreußen, eine mutmaßliche Vergewaltigung der Mutter während der Flucht. Es stellt sich aber auch die Frage nach historischer Schuld: Der Vater war Soldat, und rassistisch gefärbte Ressentiments gegen Polen und Russen sind ihm nicht fremd. Welche Rolle er im Krieg spielte und wie er zu den Besitztümern in Ostpreußen gekommen war, erfahren die Leserinnen und Leser nicht. Statt über ihre Erfahrungen zu sprechen, verdrängen die Eltern das Erlebte. Die Mutter flüchtet sich in Schweigen und Melancholie, der Vater stürzt sich in die Arbeit. Die Traumata, die Scham und Schuld der Eltern übertragen sich auch auf den Sohn.

Das Schicksal der Eltern ähnelt den Erlebnissen vieler, die nach ihrer Flucht und Vertreibung während des Zweiten Weltkriegs in Deutschland ankamen. Der Verlorene ist ein Stück literarische Literarische Mentalitätsgeschichte Mentalitätsgeschichte der Nachkriegszeit, die der Ich-Erzähler anhand seiner Betrachtungen der familiären Verhältnisse entwirft. Er berichtet vom gesellschaftlichen Umgang mit der Vergangenheit und individueller Schuld, von den Herausforderungen der 1950/60er Jahre, aber auch vom unterschwelligen Fortleben nationalsozialistischer Ideologie. Auch lange tabuisierte Themen wie sexuelle Gewalt als Nebenerscheinung des Krieges werden angesprochen. Vor allem aber wird vom Aufwachsen und der Identitätssuche in einer Familie berichtet, die dem Abwesenden mehr Bedeutung zumisst als dem Anwesenden.

Mit dem Ich-Erzähler hat der Autor Autobiografische Grundlage Treichel manches gemeinsam. Auch der älteste Bruder des Autors ging auf der Flucht der Eltern aus Polen verloren. Doch Der Verlorene ist keineswegs nur ein faktischer Lebensbericht des Autors. Die Erzählung ist komplex komponiert, reich an Symbolik und mythologischen Bezügen sowie ironisch im Ton. Biografie und Fiktion fließen bei Treichel kunstvoll zusammen.

In anderen literarischen Texten hat Treichel die Ereignisse, von denen Der Verlorene handelt, weitererzählt und aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Der Verlorene ist somit Intertextualität intertextuell mit weiteren Erzählungen und Romanen Treichels verbunden und eignet sich als Einstieg in das Werk eines wichtigen Erzählers der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.

Die Medien filmische Adaption der Erzählung sowie eine Dramatisierung für die Theaterbühne bieten medienspezifische Bearbeitungen des literarischen Stoffs.

Durch die enorme Bedeutung der Themen Flucht und Migration für unsere Gegenwart hat Treichels historisch orientierte Erzählung an Aktualität Aktualität gewonnen.

2. Inhaltsangabe

In Der Verlorene berichtet ein namenloser Ich-Erzähler von seiner Kindheit und Jugend in einer ostwestfälischen Stadt. Die erzählte Handlung beginnt in den 1950er Jahren und reicht bis ins Jahr 1964. Einzelne Rückblenden vermitteln zudem Erlebnisse der Eltern auf der Flucht aus Ostpreußen und führen ins Jahr 1945 zurück.

Das Familienalbum

Der Verlorene beginnt mit der Betrachtung einer Fotografie: »Mein Bruder hockte auf einer weißen Wolldecke und lachte in die Kamera.« (S. 7) Der namenlose Ich-Erzähler beschreibt ein Foto, das seinen ca. einjährigen Bruder Bruder Arnold Arnold zeigt und »ganz vorn« (S. 7) im Familienalbum platziert ist.

Die Mutter, der beim Betrachten des Fotos stets die Tränen kommen, erklärt, dass dieses Bild im letzten Kriegsjahr »zuhaus« entstanden sei, kurz bevor die Familie aus dem »Osten« (S. 7) habe fliehen müssen. Der Ich-Erzähler beneidet den älteren Bruder um dessen Platz im Familienalbum und um die Aufmerksamkeit der Mutter, der das Foto stets »Anlaß zu unerschöpflicher Betrachtung bot« (S. 10). Vom Ich-Erzähler finden sich lediglich »winzige[ ]« (S. 10) Fotos im Album, auf denen nur einzelne Körperteile zu erkennen sind. Von der Mutter werden sie rasch überblättert. Zunächst zeigt sich der Ich-Erzähler nur »beiläufig beunruhigt« (S. 10) darüber, dass er seinen älteren Bruder bislang nie kennengelernt hat.

Als die Mutter ihm »[i]rgendwann« (S. 10) mitteilt, dass sein Bruder auf der »Flucht vor dem Flucht vor dem »Russen«Russen« (S. 11) verhungert sei, stellt der Ich-Erzähler Fragen nach den näheren Umständen, die unbeantwortet bleiben. Da der Ich-Erzähler nun weiß, dass Arnold tot ist, kann er leichter mit dessen Foto umgehen und der ältere Bruder wird ihm sogar »sympathisch« (S. 11). Denn mit einem »auf der Flucht […] verhungert[en]« (S. 12) Bruder kann er vor seinen Spielkameraden angeben.

Die Wahrheit über den »toten« Bruder

Der Ich-Erzähler lebt einige Jahre in der Überzeugung, sein Bruder sei tot, bis ihm die Mutter in Aussprache mit der Mutter einer »Aussprache« (S. 12) die Wahrheit über Arnold offenbart: Arnold sei gar nicht tot, stattdessen sei er auf der Flucht aus der ostpreußischen Heimat verlorengegangen. Es fällt der Mutter schwer, den Grund für das Verschwinden des älteren Sohnes auch nur »annähernd begreiflich zu machen« (S. 14), und der Ich-Erzähler versteht die »Geschichte vom verlorengegangenen Arnold« (S. 13) dementsprechend auch nur zum Teil.

Eines Morgens hätten russische Soldaten den Treck der Eltern Auf der Flucht gestoppt gestoppt und sich »ihre Opfer« aus den Flüchtenden herausgesucht, darunter auch die Eltern des Ich-Erzählers. Aus panischer Angst vor einer Erschießung habe die Mutter Arnold einer neben ihr hergehenden Frau in die Arme gelegt (S. 15). Die Frau sei sofort in der Menschenmenge verschwunden, so dass sie ihr nicht einmal den Namen des Kindes habe zurufen können.

Die Eltern wurden von den russischen Soldaten nicht erschossen, aber dennoch sei das Das »Schreckliche« geschieht »Schreckliche« – vermutlich eine Vergewaltigung der Mutter – »dann doch passiert« (S. 16). Auf die Neuigkeiten über den »untoten Bruder« (S. 17) reagiert der Ich-Erzähler wütend. Er erkennt nun, dass ihm durch Arnolds Schicksal nur eine »Nebenrolle« (S. 17) in der Familie zugewiesen wurde.

Der Ich-Erzähler macht den Bruder dafür verantwortlich, dass er in einer »von Schuld und Scham Schuld und Scham vergifteten Atmosphäre« (S. 17) aufwächst, die alle Lebensbereiche durchdringt. Vor allem die sonntäglichen Ausflüge, die die Familie mit der »schwarzen Limousine« (S. 18) des Vaters in den Teutoburger Wald unternimmt, erlebt der Ich-Erzähler als »wahre Schuld- und Schamprozessionen« (S. 19).

Um den Ausflügen zu entgehen, legt sich der Ich-Erzähler eine »spezielle Form von Reisekrankheit Reisekrankheit« (S. 21) zu. Während der Autofahrten, für die der Vater verschiedene neue Limousinen anschafft (S. 21), und später dann auch im Zug muss sich der Ich-Erzähler regelmäßig erbrechen. Die Eltern kapitulieren schließlich, und der Ich-Erzähler darf die Sonntage fortan zu Hause verbringen. Die sonntäglichen Stunden sieht er als seine »schönsten Kindheitserinnerungen«, obwohl er nach kurzer Zeit stets »Beklemmung und Verlassenheit« (S. 23) empfindet. Ablenkung findet er z. B. bei seinen Versuchen, mit geschlossenen Augen die am Wohnzimmer vorbeifahrenden Autos am Motorgeräusch zu erkennen, oder beim »exzessive[n] Radiohören« (S. 24).

Bei der Sendersuche lauscht er begierig Radio und russische Worte russischen Worten und bildet sich ein, dass die Worte in der fremden Sprache etwas mit dem Schicksal seiner Familie zu tun haben (S. 25). Dass der Ich-Erzähler seine Zeit nun oft auch vor dem neuen Fernsehen Fernsehgerät verbringt, findet der Vater »unerträglich« (S. 26). Deshalb überhäuft der sonst sehr wortkarge Vater den Sohn mit Arbeitsanweisungen, sobald der Fernseher eingeschaltet ist (S. 27).

Nur wenn Tante Tante Hilde Hilde, die ältere, verwitwete Schwester des Vaters, zu Gast ist, findet dieser Gefallen am Fernsehen. Es amüsiert ihn, dass die strenggläubige Hilde durch das Fernsehen in »Versuchung[ ]« (S. 29) geführt wird. Denn eigentlich liest sie ständig nur im »Kirchenblättchen«, diskutiert die »Wochenlosung« und hält das Fernsehen für eine »Erfindung des Teufels« (S. 28). Heimlich interessiert sie sich aber doch für das Fernsehprogramm. Sie sitzt zwar abgewandt, hört aber aufmerksam zu, während die Mutter und der Ich-Erzähler auf den Bildschirm blicken.

Die Freude, die Mutter und Sohn am Fernsehen empfinden, wird von Schuld- und Intimität und Scham Schamempfindungen verdrängt, sobald es auf dem Bildschirm harmlose Intimitäten, z. B. Kussszenen, zu sehen gibt (S. 31). Die Beschämung hält auch dann noch an, wenn keinerlei intime Szenen mehr zu sehen sind. »Die bloße Zweisamkeit vor dem Fernseher« (S. 31) treibt dann dem Ich-Erzähler die Schamröte ins Gesicht. Die Mutter entgeht der Situation, indem sie den Fernseher ausschaltet, den Raum verlässt und sich im Haus »zu schaffen« (S. 32) macht.

Der wirtschaftliche Aufstieg des Vaters

Der Vater des Ich-Erzählers verfolgt währenddessen ausschließlich den wirtschaftlichen Wirtschaftlicher Aufstieg Aufstieg. Zunächst betrieb er eine Leihbücherei und dann ein Lebensmittelgeschäft; nun führt er einen Fleisch- und Wurstgroßhandel (S. 32). Für diesen Aufstieg hat sich der Vater fleißig weitergebildet; bei der Industrie- und Handelskammer legte er die Prüfung zum Großhandelskaufmann ab (S. 33).

Zu seinen Aufgaben als Großhandel Großhändler gehört es auch, zu Kunden zu reisen und sich deren Sorgen anzuhören. Der Ich-Erzähler begleitet den Vater auf diesen Reisen gelegentlich und beobachtet dabei die Lebensmittelhändler. Viele der Händler erscheinen ihm als »gehetzte« und »traurige« Menschen, die meisten haben gesundheitliche Probleme (S. 35). Mit den Lebensmittelhändlern spricht der Vater über die Konkurrenz, die wählerische Kundschaft und das aktuelle Angebot (S. 35–37).

Eine kulinarische Vorliebe des Vaters ist frischer Schweinekopf als Festessen Schweinekopf. In jedem Frühjahr und Herbst bringt er ein Exemplar nach Hause, aus dem die Mutter eine ganz Fülle an Speisen zubereitet, von denen sich die Familie wochenlang ernährt. Der Ich-Erzähler nimmt nur widerwillig am Schweinekopfessen teil, da ihn die grausame Schlachtung der Tiere schockiert (S. 40 f.). Ein besonderes Ereignis des Schlachttags, an dem auch Bekannte der Eltern aus dem Osten teilnehmen, ist der Verzehr des Schweinehirns. An diesen Tagen erinnert sich der Vater an seine Heimat und es geht – was dem Sohn gefällt – so »ausgelassen« zu wie »in [s]einem Elternhaus sonst nie« (S. 43). Allerdings wird er vom Vater zum Verzehr des Schweinehirns verpflichtet: »›Hirn macht klug‹, […] in den Augen des Vaters fehlte mir nichts so sehr wie eine anständige Portion Hirn« (S. 42).

Die Gäste des Essens erzählen heitere Anekdoten über das Schlachten unterschiedlicher Tiere, die beim Ich-Erzähler zuweilen Alpträume hervorrufen. Irgendwann nehmen die fröhlichen Abende jedoch eine Wendung, die Heiterkeit schwindet und die Gespräche verstummen. Dem Ich-Erzähler scheint es, dass die Eltern in den folgenden Tagen durch Buße Schweigen und Geschäftigkeit für das »gute Essen« und die kurzen Momente der Heiterkeit »büße[n]« (S. 45).

Den Vater treibt der Wunsch nach wirtschaftlicher Expansion zu umfangreichen Umbau des Hauses Umbauarbeiten am Haus der Familie. Die Renovierungen und Erweiterungen führen so weit, dass »nichts mehr dem alten glich«. Für den Ich-Erzähler bedeuten die Umbauten den Verlust seines » Kindheitslabyrinth Kindheitslabyrinth[s]« (S. 46). Zuvor nämlich diente ihm das Haus als mythischer Spielplatz, den er gern durchwanderte. Besondere Bedeutung kam dabei dem Dachboden zu, den der Ich-Erzähler als seinen »Zauberwald« und »Angstort« (S. 46) bezeichnet. Durch die Falltür des Dachbodens konnte er einen Raum sehen, den er »noch nie betreten hatte« (S. 47). Der Ich-Erzähler traut sich nicht, seine Eltern nach diesem Raum zu fragen. Er ist sich sicher, dass er auch nach dem Hausumbau noch existiert.

Das Findelkind 2307

Als die Arbeiten am Haus beendet sind, erleidet die Mutter einen Zusammenbruch Zusammenbruch (S. 48). Der Arzt diagnostiziert eine Überanstrengung und die Mutter tritt eine mehrwöchige Kur an. Vom Vater wird sie dort an den Wochenenden besucht. Als er von einem der Besuche zurückkehrt, erklärt er dem Sohn, dass der wahre Grund für den Zusammenbruch der Mutter der nicht überwundene Verlust des älteren Bruders Arnold sei (S. 48 f.). Hierauf entgegnet der Ich-Erzähler, dass die Mutter ihn bereits darüber informiert habe, dass Arnold noch am Leben sei. Nun erfährt der Ich-Erzähler vom Vater, dass auch diese Wahrheit nicht vollständig ist.

Seit Jahren schon, so erklärt der Vater, suchen die Eltern mit Hilfe des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes nach Suche nach Arnold Arnold. Und jetzt sei jemand gefunden worden, »bei dem es sich um Arnold handeln könnte« (S. 50). Den Ich-Erzähler, bei dem die Neuigkeiten die »alte Übelkeit« (S. 50) hervorrufen, bittet der Vater nun um Hilfe. Da das Jugendamt noch Zweifel habe, müsse er daran mitwirken, die Verwandtschaft mit dem » Findelkind 2307Findelkind 2307« (S. 52) zu bestätigen. Der Sohn reagiert verwundert: »Der Vater hatte mich noch nie um etwas gebeten« (S. 50).

Der Vater betont, es gebe schon jetzt viele Anzeichen dafür, dass es sich beim Findelkind um Arnold handle. Bei einem Termin auf der Suchdienststelle hätten die Eltern ein Foto des nun beinahe erwachsenen Findelkindes gesehen, das wie Arnold über »einen auffällig starken Haarwirbel an der rechten Seite« (S. 51) verfüge. Außerdem solle das Findelkind demselben Treck angehört haben wie die Eltern und dort am Schlüsseldatum 20. Januar 194520. Januar 1945 einer Frau übergeben worden sein – demselben Tag, an dem die Mutter Arnold aus den Händen gegeben habe. Nicht zuletzt habe das Findelkind eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Ich-Erzähler; er sei ihm »wie aus dem Gesicht geschnitten« (S. 55). Diese Formulierung ruft beim Ich-Erzähler unvermittelt »eine Art Magenkrampf« (S. 55) hervor, als würde er die »Schnitte spüren«; ihn durchzucken »Schmerzblitze« und sein Gesicht verzieht sich zu einem unfreiwilligen »krampfartige[n] Grinsen« (S. 56).

Der Vater missversteht das Grinsen als unangemessene Reaktion des Sohnes. Er teilt dem Ich-Erzähler mit, dass sie nach dem Kuraufenthalt der Mutter ein Institut würden aufsuchen müssen, wo die Verwandtschaft mit dem Findelkind bestätigt werden solle. Da der Ich-Erzähler auch nach dem Gespräch mit dem Vater unter den Gesichtskrämpfen leidet, sucht er einen Arzt auf, der eine » Trigeminusneuralgie Trigeminusneuralgie« (S. 57) diagnostiziert. Der Arzt empfiehlt, abzuwarten, ob sich das Leiden von selbst erledigt. Die Krämpfe verschwinden jedoch nicht, und der Ich-Erzähler ist überzeugt davon, dass sie durch die Geschehnisse um seinen Bruder Arnold hervorgerufen werden (S. 57). Er möchte niemandem ähnlich sein, schon gar nicht Arnold.

Die Vergleiche mit dem älteren Bruder führen dazu, dass der Ich-Erzähler eine einsetzende Selbstentfremdung Selbstentfremdung verspürt: »Jeder Blick in den Spiegel irritierte mich. Ich sah nicht mich, sondern Arnold, der mir zunehmend unsympathischer wurde« (S. 58).

Die Mutter kehrt nahezu unverändert aus der Kur zurück. Ihre Stimmung ändert sich erst, als ein Kriminalbeamter in Begleitung des Revierpolizisten, Herrn Rudolph, ins Haus der Eltern kommt, um die Fingerabdrücke und Blutproben Fingerabdrücke der Familie für die weiteren Untersuchungen abzunehmen (S. 58). Sechs Wochen nachdem auch der Hausarzt Blutproben der Familienmitglieder entnommen und eingeschickt hat, erhalten die Eltern die Ergebnisse der Untersuchung vom Institut für Gerichtliche Medizin der Universität Münster (S. 59