Der verschwundene Wal - Hannah Gold - E-Book

Der verschwundene Wal E-Book

Hannah Gold

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Beschreibung

Rios Mutter liegt im Krankenhaus und er wird nach Kalifornien zu seiner Großmutter geschickt, die er kaum kennt. Er wünscht sich nichts sehnlicher, als dass es seiner Mutter besser geht, damit er nach Hause zurückkehren kann. Doch alles ändert sich, als er an einer Walbeobachtungstour teilnimmt und auf Weißschnauze trifft, einen sanften Meeresriesen. Rio freundet sich sofort mit dem Wal an, und zum ersten Mal seit langer Zeit spürt er einen Funken Hoffnung. Doch da wird Weißschnauze vermisst, und Rio ist vielleicht der Einzige, der ihm helfen kann. Nachdem er sich auf das größte Abenteuer seines Lebens einlässt, nutzt Rio seine besondere Verbindung zu dem Wal, um ihn zu finden und zu retten.

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Seitenzahl: 194

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Hannah Gold

Der verschwundene Wal

Aus dem Englischen von Sylke Hachmeister

Mit Illustrationen von Levi Pinfold

Deutsche Erstausgabe

© der deutschsprachigen Ausgabe:

von Hacht Verlag GmbH, Hamburg 2023

Alle Rechte vorbehalten

Text copyright © Hannah Gold 2022

Illustrations copyright © Levi Pinfold 2022

Verlegerin: Rebecca Weitendorf von Hacht

Aus dem Englischen von Sylke Hachmeister

Lektorat: Diana Steinbrede

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

The Lost Whale bei HarperCollins Children’s Books, ein Imprint von HarperCollinsPublishers Ltd Großbritannien

Translation © von Hacht Verlag 2023, translated under licence from HarperCollinsPublishers Ltd.

Hannah Gold and Levi Pinfold assert the moral right to be acknowledged as the author and the illustrator of this work respectively.

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-96826-705-0

 

www.w1-vonhacht.de

www.instagram.com/vonhacht_verlag

Für Chris, mein Ozean und meine Welt

Erstes KapitelAnkunft

Als Rio Turner in die Ankunftshalle des Flughafens von Los Angeles kam, fiel ihm als Erstes der Lärm auf. Flughäfen waren niemals leise, und dieses gigantische, lang gestreckte Monster erinnerte an ein grölendes Fußballstadion.

Als Zweites bemerkte er seine Großmutter. Obwohl er sie seit fünf Jahren nicht gesehen hatte, erkannte er sie sofort. In ihrem türkis glänzenden Jumpsuit überragte sie alle, sie hatte weiße, drahtige Locken und trug eine dicke schwarze Brille.

Sie schaute sich eine Weile um, bis sie ihn entdeckte. »Rio?«, fragte sie. »Du bist es, oder?« Sie blieb vor ihm stehen. »Fast hätte ich dich nicht erkannt. Du bist so …«

Sie verstummte, und Rio überlegte, was sie wohl hatte sagen wollen. Egal, er würde nicht nachfragen. Abwehrend verschränkte er die Arme vor der Brust.

»Dann hast du es also geschafft«, redete sie schnell weiter, und in ihrem Blick lag etwas, was er nicht kannte. »Ich freu mich ja so, dass du hier bist.«

Dann nahm sie ihn in die Arme. Es war eine Umarmung mit Ecken und Kanten und Pfefferminzgeruch, nicht so innig, warm und kuschelig wie die Umarmungen, die er gewohnt war. Rio zählte bis drei, dann hielt er es nicht länger aus und riss sich los.

»Rio?«, sagte sie zögernd. Auf ihren Wangen waren zwei rosige Flecken. »Es ist lange her, und bestimmt ist das jetzt für dich alles ganz komisch, aber ich möchte, dass du dich bei mir zu Hause fühlst. Ich bin ja schließlich deine Großmutter.«

Rio, der während des zweiten Teils ihrer Rede auf den Boden gestarrt hatte, blickte überrascht auf. Sie hatte Weihnachts- und Geburtstagskarten mit den Worten »von Oma« unterzeichnet, aber er konnte sich kaum jemanden vorstellen, der einer Großmutter weniger ähnelte als sie. Kein Vergleich zu seiner anderen Oma, die dicke Hausschuhe mit Gummisohlen trug und ihn gern »Entchen« nannte, obwohl er weder Schnabel noch Federn besaß. Nein, die hier fühlte sich ganz und gar nicht so an wie eine Großmutter, und im Stillen nahm er sich vor, sie mit ihrem Vornamen anzureden, Fran.

Als er keine Antwort gab, rieb sie die Hände aneinander, obwohl es gar nicht kalt war. »Tja, dann wollen wir mal.«

Rio lehnte ihr Angebot ab, seinen Koffer zu nehmen – den konnte er sehr gut selber tragen –, und folgte ihr zum Ausgang. Auf dem Parkplatz blieb sie vor einem total verstaubten Jeep stehen.

Er kletterte auf den Beifahrersitz, schnallte sich an und kaute auf der Lippe. Er versuchte zu ignorieren, dass er plötzlich ganz dringend pinkeln musste.

Vielleicht spürte Fran sein Unbehagen, jedenfalls schaute sie ihn an, als wollte sie etwas sagen. Doch wieder blieb es ihr anscheinend im Hals stecken. Sie räusperte sich. »Das … das mit deiner Mutter tut mir leid.«

Rio spürte heiße Tränen aufsteigen und rieb sich wütend die Augen, in der Hoffnung, dass sie es nicht gesehen hatte. Um jedes weitere Gespräch zu vermeiden, schaute er demonstrativ aus dem Fenster. Nach einer kurzen Pause drehte sie den Schlüssel ruckartig im Zündschloss und startete den Motor, dann fuhren sie los.

 

Hier in Kalifornien war Rios Mutter geboren und aufgewachsen. Mit knapp zwanzig war sie weggegangen, erst mit einem Musikstipendium nach New York und dann, nach dem Studium, als Geigerin zum London Philharmonic Orchestra. Seitdem war sie nur ein einziges Mal zurückgekehrt, mit Rio, als er noch ein winziges Baby war.

Daran konnte er sich natürlich nicht erinnern.

Genau genommen war er durch die Geburt seiner Mutter zur Hälfte Amerikaner. Auch wenn es eine sehr kleine Hälfte war, denn er hatte die ganzen elf ein Viertel Jahre seines Lebens in London gelebt und sprach Englisch mit eindeutig britischem Akzent. Und so war ihm diese exotische, weit entfernte Welt mit endlosem Sonnenschein, großen, flatternden Palmen und goldenen Stränden immer wie ein Traum erschienen. Eigentlich hatte Rio sich fast sein ganzes Leben lang darauf gefreut, zurückzukommen.

Aber nicht so.

Er ließ das Seitenfenster herunter und atmete die kalifornische Luft tief ein. Doch auf der Autobahn war das leider keine gute Idee. Rio hustete und prustete und spürte den Smog auf der Lunge.

Das war Kalifornien? Hier war alles so groß. Die Autos, die Straßenschilder, die Gebäude – sogar der Himmel, der sich in gewaltigem indigoblauen Schweigen über ihnen wölbte. Als hätte jemand das Auto genommen und in eine Welt der Riesen geworfen. London war eine Großstadt, aber kein Vergleich zu dem hier.

Mum hatte immer gesagt, dass Kalifornien anders sei. Friedlich. Dass das Temperament der Landschaft zu Rio passen würde. Dass …

Schnell machte er das Fenster wieder zu. Er schloss die Augen, ignorierte die Versuche seiner Großmutter, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, und träumte sich in eine Welt, in der seine Mutter ihn nicht auf die andere Seite der Erde zu einer Frau geschickt hätte, die er kaum kannte.

Zweites KapitelOcean Bay

Irgendwann musste Rio wohl eingeschlafen sein, denn plötzlich merkte er, dass der Wagen hielt. »Wir sind da«, sagte seine Großmutter. »Willkommen in Ocean Bay.«

Die Dämmerung hatte sich herbeigeschlichen, und er musste ein paarmal blinzeln, um sich zu vergewissern, dass seine Augen ihn nicht täuschten. Die kleine Küstenstadt Ocean Bay lag etwa eine Stunde nördlich von L. A. Natürlich konnte er die Stadt in diesem Moment nicht sehen. Seine Großmutter wohnte außerhalb, und der Mond schien auf ein riesiges, weitläufiges Holzhaus am Strand. Das zweistöckige Haus war kreuz und quer gebaut und von oben bis unten pastellgrün angestrichen. Als Rio es sah, wurde er innerlich ganz weich. Als hätte das Haus magische Heilkräfte und könnte sogar die schärfsten Kanten abmildern.

Er rieb sich die Augen. Die Wohnung, die er sich mit seiner Mutter teilte, hätte bestimmt fünfmal in dieses Haus gepasst.

»Es ist schön, nicht?«, murmelte Fran mit leisem Stolz in der Stimme.

Doch wenn das Haus schon besonders war, so wurde es von dem Geräusch, das Rio hörte, als er aus dem Wagen stieg, noch weit übertroffen. Ein gewaltiges, umwerfendes Tosen. Ein Geräusch, das nur von etwas ganz besonders Mächtigem herrühren konnte.

Es war das Tosen des Ozeans.

Und Rio, der Lärm sonst gar nicht mochte, merkte zu seiner Überraschung, dass es bei diesem Lärm anders war. Er spürte, wie dessen Kraft ihn durchströmte, und hatte plötzlich das heftige Verlangen, dieses Gefühl einzusaugen bis tief in den Bauch und den Schmerz, der ihm die Brust zusammenschnürte, zu vertreiben.

»Du hast noch genug Zeit, den Strand zu erkunden.« Fran stand an der Haustür und winkte ihn zu sich. »Komm jetzt erst mal rein.«

Widerstrebend folgte er ihr durch den breiten Flur in die Küche, wo, anders als zu Hause, keine Fotos an den Wänden hingen, keine Schulbilder oder unordentlich angeheftete Einkaufszettel. Es gab nicht mal schmutzige Tassen oder Teller oder halb gegessene Ingwerplätzchen. Stattdessen standen überall kühle Geräte aus Stahl, so glänzend, dass er sein Spiegelbild darin sehen konnte – einen dünnen, blassen Jungen mit misstrauischem Blick und widerspenstigen hellbraunen Haaren, die nie ordentlich aussahen, sooft er sie auch kämmte. Der einzige Farbtupfer war sein gelbes Lieblings-T-Shirt – das hatte Mum ihm letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt.

Nach einer Weile stellte Fran einen dampfenden Teller vor ihn hin. »Vegetarisches Chili. Nach meinem Geheimrezept. Iss erst mal.«

»D-d-danke«, sagte Rio. Er hasste es, dass seine Stimme wackelte, wenn er aufgeregt war. Über seine Großmutter wusste er nur, dass sie Schulleiterin gewesen war, schon immer in Ocean Bay lebte und einen amerikanischen Akzent hatte.

Während er aß, lehnte sie an der Küchentheke und plapperte drauflos. »Ich dachte mir, morgen zeige ich dir mal Ocean Bay. Wir könnten vielleicht einkaufen gehen, oder … oder vielleicht kann ich dir die Marina zeigen, oder wir könnten sogar zum Leuchtturm! Von dort oben kann man meilenweit sehen. Das ist ziemlich beeindruckend. Oder wenn du müde bist, könnten wir auch einfach einen kleinen Strandspaziergang machen?«

Erwartungsvoll schaute sie ihn über den Rand ihrer Brille hinweg an.

Die Worte, die Rio eigentlich sagen wollte, blieben ihm im Hals stecken. Dass er nicht hergekommen war, um Spaß zu haben oder einkaufen zu gehen, und schon gar nicht, um Zeit mit einer Frau zu verbringen, die, als er sie am dringendsten gebraucht hätte, nicht da gewesen war.

Zum Glück war seine Großmutter jetzt abgelenkt, weil eine langhaarige weiße Katze mit einem schwarzen Fleck über dem linken Auge hereinkam und ihr Kommen mit einem kläglichen Maunzen verkündete.

»Pirat! Da bist du ja! Möchtest du unseren Gast kennenlernen?«

Die Katze schien keinen besonderen Wert darauf zu legen, Rio kennenzulernen, trotzdem löste sich etwas in seiner Brust. Er hatte sich immer ein Haustier gewünscht – wenigstens einen Hamster –, aber das war in ihrem Haus nicht erlaubt. Er beugte sich zu der Katze hinunter, kraulte sie hinter den Ohren und wurde mit einem lauten Schnurren belohnt.

»Das ist mein Enkel Rio. Er ist von ganz weit her aus London gekommen und macht ein paar Wochen Ferien bei uns. Sagst du ihm guten Tag?«

Rio wusste nicht, ob es an dem albernen Tonfall lag, in dem sie mit der Katze sprach – so wie Erwachsene mit Babys sprechen –, oder daran, dass er erschöpft war von dem zwölfstündigen Flug, oder an ihrem amerikanischen Akzent. Vielleicht alles zusammen. Jedenfalls platzte es aus ihm heraus: »Das sind keine Ferien! Ich bin nicht zum Spaß hier! Ich bin nur hier, weil ich muss!«

Fran machte den Mund auf und klappte ihn wieder zu. Rio dachte, sie würde etwas sagen, aber sie scheuchte nur Pirat vom Tisch und zupfte dann weiße Katzenhaare von ihrem Jumpsuit.

Den Rest der Mahlzeit verbrachten sie schweigend.

 

Als es Zeit zum Schlafengehen war, folgte Rio seiner Großmutter eine wacklige Holztreppe hinauf in den ersten Stock, wo er den Ozean sogar durch die Wände hindurch hören konnte. Nachdem sie ihm das Badezimmer gezeigt hatte – in das mindestens zwei Elefanten gepasst hätten und das die größte Dusche hatte, die er je gesehen hatte –, führte sie ihn noch mehr Stufen hinauf bis nach ganz oben.

»Das ist dein Zimmer«, sagte sie und machte die Tür auf.

Es war ein großes Dachzimmer, und Rio gingen die Augen über, als er das Doppelbett sah – so viel größer als sein schmales Bett zu Hause. Hinter dem dunkelblauen Lamellenvorhang verbarg sich ein rechteckiges Fenster, und der Raum roch frisch und sauber und ganz leicht nach Desinfektionsmittel.

Ein friedliches Zimmer, dachte er instinktiv. Es hatte etwas Warmes, Tröstliches und Vertrautes an sich. Und hier war nirgendwo der Lärm von Autos, Motorrädern oder Bussen zu hören. Nur das Rauschen des Meeres.

Rio erwartete, dass seine Großmutter wegging, und war überrascht, als sie unschlüssig in der Tür stehen blieb. Er legte seinen Koffer auf das Bett. Als er den Schnappverschluss öffnete, zuckte er vor dem Ingwergeruch der Plätzchen zurück, die seine Mutter ihm eingepackt hatte. Der Geruch war so scharf, dass es ihm fast den Atem verschlug.

»Das war ihr Zimmer, weißt du.«

»Was?!« Er fuhr herum. »Das war das Zimmer von meiner Mum?«

Seine Großmutter nickte. »Hier hat sie immer gestanden und stundenlang Geige geübt. Man sieht immer noch ihre Fußabdrücke auf den Holzdielen.«

Rio folgte ihrem Blick bis zu einer etwas dunkleren, abgenutzten Stelle in der Maserung, wo man, wenn man genau hinschaute, die Umrisse von zwei Füßen erkennen konnte.

Ohne nachzudenken, ging er dorthin und stellte vorsichtig seine Füße an die Stelle am Fenster, wo seine Mutter viele Jahre zuvor gestanden hatte. Weil sie klein und zierlich war, passten seine Füße genau in ihre Abdrücke. Das Holz fühlte sich warm unter seinen Zehen an. Und da war noch etwas. Etwas Raues, Lebendiges. Während er in ihren Fußstapfen stand, meinte er zu spüren, wie ihre Musik aus der Seele des Hauses strömte, wo sie all die Jahre verborgen gewesen war.

Rio schloss die Augen, und es war, als stünde seine Mutter direkt vor ihm, die Geige an den Hals gelegt, und ihre Augen leuchteten auf, als …

»Es … es tut mir leid, dass es so gekommen ist«, sagte Fran stockend. Als er ihre Stimme hörte, versteifte er sich, und die Musik verstummte abrupt. »Aber sie ist da gut untergebracht.«

»S-s-sie wird wieder gesund!«, gab Rio wütend zurück. »In vier Wochen fliege ich wieder nach Hause, und … dann wirst du schon sehen! Dann ist alles wieder normal!«

Fran machte den Mund auf, um etwas zu sagen, schien sich dann jedoch dagegen zu entscheiden. »Dann schlaf mal gut. Bis morgen früh.«

Drittes KapitelMum

Vor genau einem Monat hatte Rio erfahren, dass er nach Kalifornien musste. Es war ein Dienstagabend im Dezember, seine Mutter und er saßen auf dem Sofa und schauten einen Dokumentarfilm über Eisbären in der Arktis. Sie aßen jeder ein dickes, klebriges Stück Schokoladenkuchen, zusammen mit einer Kanne Tee in einem Geigenkasten serviert.

»Rio-Kater«, sagte sie zögernd. So nannte sie ihn, weil seine Ohren ein ganz klein wenig spitz zuliefen. »I-i-ich muss dir was sagen.«

»Mmmmm«, machte er gedankenverloren und fragte sich, ob sie ihm den letzten Rest ihres Kuchens anbieten wollte, obwohl er ihr Stück schon fast allein gegessen hatte.

»Ich muss für eine Weile weg«, sagte sie so leise, dass Rio dachte, er hätte sich verhört.

»Weg?« Überrascht schaute er sie an. Er konnte sich nicht mal erinnern, wann sie London das letzte Mal verlassen hatten.

»Wohin denn?«

Seine Mutter strich sich eine Strähne ihrer roten Haare hinter das Ohr und schluckte nervös. Sie war erschreckend rot geworden. »In … ein Krankenhaus.«

Rios Kehle wurde so eng, dass er kaum schlucken konnte. Entsetzt sah er sie an.

»Ins Krankenhaus? W-w-was für ein Krankenhaus?«

»Ein spezielles.« Seine Mutter seufzte, wischte ihm ein paar Krümel vom Kinn und erklärte ihm dann, dass es Krankenhäuser nicht nur für körperliche Leiden gab. Es gab auch Krankenhäuser für Menschen, die Hilfe bei anderen Problemen brauchten, die man nicht auf den ersten Blick sah.

»Die Ärzte sagen, wenn ich nicht gehe …«

Rio schluckte schwer und ließ unruhig den Blick hin und her wandern. Hauptsache, er musste nicht seine Mutter mit dem schiefen Lächeln und den allzu glänzenden Augen ansehen.

Aber es kam noch schlimmer. Sie erklärte ihm, er müsse für vier Wochen zu seiner Großmutter. Zu seinem Vater konnte er nicht wegen des neuen Babys, und seine Großmutter väterlicherseits hatte nur ein Zimmer in einem winzigen Häuschen und schied damit ebenfalls aus.

»Vier Wochen!«, schrie er, und sein Magen krampfte sich so heftig zusammen, dass ihm schlecht wurde. »Aber du redest doch kaum mit ihr!«

»Das liegt daran, dass deine Großmutter und ich sehr verschieden sind, und als sie das letzte Mal in London war … na ja, da hatten wir ein bisschen Streit.«

»Warum schickst du mich dann zu ihr?!«

»Da bist du am besten aufgehoben, Rio-Kater. Du wirst es gut haben. Manchmal muss man die eigenen Vorbehalte beiseitelassen, um das Richtige zu tun«, antwortete sie müde. »Außerdem ist es ja nur so lange, bis … bis es mir besser geht.«

Ein Schweigen hing in der Luft. So ein Schweigen kurz vor einem großen Moment. Rio wusste, dass es das schlimmste Schweigen überhaupt war.

Seine Mutter war immer unberechenbar und launenhaft gewesen – mal leicht und beschwingt wie eine Flöte, mal traurig und schwer wie ein Trommelschlag. Früher dachte Rio, alle Erwachsenen wären so – bis sein Vater ihm erklärte, seine Mutter sei anders. Als Rio nachbohrte, was »anders« genau heißen sollte, sagte sein Vater nur, seine Mutter sei nicht ganz richtig im Kopf. Aber was sollte das überhaupt bedeuten?

Die düsteren Phasen kamen wie aus dem Nichts, schlugen unerwartet zu und hielten dann Tage, Wochen oder, wie zuletzt, monatelang an. Diesmal hatte sie sich sogar beim Orchester krankgemeldet – das war noch nie vorgekommen. Und obwohl der Herbst mit Gold- und Bronzefarben und knallblauem Himmel prunkte, sperrte seine Mutter sich jeden Tag in der Wohnung ein, als hätte sie auf einmal Angst vor der Welt da draußen.

Soweit Rio wusste, hatte sich die Welt da draußen nicht verändert.

Aber seine Mutter hatte sich verändert.

Wenn er aus der Schule nach Hause kam, wusste er nie so recht, was ihn erwartete. Manchmal hatte seine Mutter sich nicht mal umgezogen, und wenn doch, saß sie bei zugezogenen Vorhängen auf dem Sofa. Ihr pfauenfarbenes Lieblingstuch aus Seide – das sie normalerweise nur zu Konzerten trug – war oft mit Tee bekleckert. In letzter Zeit hatte oft ein muffiger, säuerlicher Geruch in der Wohnung gehangen, der sich auch durch häufiges Lüften nicht vertreiben ließ. Und er wusste schon gar nicht mehr, wann sie zuletzt ein richtiges Essen gekocht hatte.

Aber nach Kalifornien geschickt zu werden? Ganz allein?

Er schaute sich ein letztes Mal alles an, als wollte er die Umgebung aufsaugen – die Bücherborde voller Biografien, die seine Mutter so gern las, den wackligen Notenständer am Fenster, die Fotos auf dem Kaminsims, auf denen sie beide an Rios siebtem Geburtstag am Strand zu sehen waren, und schließlich seine Mutter. Und als er sie ansah, stellte er fest, dass er sie kaum erkannte. Ihr Gesicht war wirr und aufgelöst und machte ihm ein bisschen Angst.

»Aber … warum kann ich nicht mitkommen?«

»Ach, Rio«, sagte sie. »Das Krankenhaus ist kein Ort für Kinder.«

»Du hast selbst gesagt, wie erwachsen ich schon bin!«

»Zu erwachsen«, sagte sie sanft. »Das ist nicht gut für dich. Du solltest draußen spielen wie alle anderen elfjährigen Jungen. Nicht in der Wohnung hocken und dich um mich kümmern.«

»Ich kümmere mich aber gerne um dich!«, schrie er. »Was ist, wenn ich gar nicht nach Amerika will?«

Bei der Vorstellung, von seiner Mutter getrennt zu sein, fühlte er sich nackt und bloß, als hätte man ihm einen Mantel vom Leib gerissen, von dem er gar nicht gewusst hatte, dass er ihn trug. Er zitterte, obwohl die Heizung voll aufgedreht war.

Seine Mutter seufzte und zwickte sich mit den Fingern in den Nasenrücken. »Das Krankenhaus ist für Erwachsene wie mich … die Hilfe brauchen.«

Rio wollte protestieren. So lange protestieren, bis sie es sich anders überlegte.

Doch da fing seine Mutter einfach an zu weinen. Entsetzliche, hässliche Tränen, die in ihre Teetasse fielen und über den Rand spritzten. Und obwohl es ihm Angst machte, wenn sie so war, nahm Rio ihre Hand. Es war eine warme Hand, voller Schwielen vom Geigespielen, aber es war auch die weichste Hand, die er kannte.

Und Rio, der sich nie für besonders mutig gehalten hatte, nahm den tiefsten, tapfersten Atemzug seines Lebens.

»Okay«, sagte er mit kleiner Stimme. »Dann fliege ich eben.«

Viertes KapitelDer Anruf

Rio dachte, er würde ewig brauchen, um einzuschlafen, aber dann sank er in einen so tiefen, überwältigenden Schlaf, dass er sich fühlte wie auf dem Grund des Ozeans. Ein trüber, undefinierbarer Ort voller Schatten und seltsamer, geheimnisvoller Klänge, die sich um ihn schlängelten. Als er schließlich aufwachte, kam es ihm so vor, als hätte er, um wieder nach oben zu kommen, eine Reise mit dem U-Boot gemacht.

Das Tageslicht lugte durch die Lamellen herein, und er war verwirrt. Das Bett war viel weicher als sonst. Die Luft sauberer. Und die Geräusche … Das hörte sich nicht nach Verkehrsrauschen an.

Der Pazifik! Der größte Ozean der Erde – größer als alle Kontinente zusammen.

Rio schwang sich aus dem Bett und lief schnell ans Fenster, zog den Lamellenvorhang zur Seite und schnappte nach Luft.

Im bleichen Licht des hellen Tages sah der Pazifik überwältigend aus. Ein Flickenteppich aus Blau, Smaragdgrün und Türkis mit Wellen, auf denen die Schaumkronen wie Diamanten tanzten. Endlos erstreckte sich das Wasser, bis es mit dem Himmel verschmolz – man konnte nicht erkennen, wo das eine endete und das andere begann. Etwas Leichtes, Prickelndes rauschte durch Rios Adern und verscheuchte den letzten Rest von Müdigkeit. Dann, als spürte er etwas durch die Dielen aufsteigen, schaute er nach unten. Und sofort verflog die überschäumende Energie.

»Mum«, flüsterte er, und das Heimweh schlug ihm wie eine Welle gegen die Brust.

Er nahm sein Handy, obwohl seine Mutter ihm erklärt hatte, dass sie ihm keine Nachrichten schreiben konnte. Nicht, weil sie nicht gewollt hätte. Aber der Arzt hielt es für das Beste, dass sie eine richtige Pause machte. Aber eine Pause wovon? Von ihm? In seinen dunkelsten Gedanken fragte Rio sich manchmal, ob alles seine Schuld war.

Anstatt ihr Handy zu benutzen, würde seine Mutter jeden Sonntag auf Frans Festnetztelefon anrufen, wegen der Zeitverschiebung immer zur Londoner Teezeit.

Jetzt prickelte es wieder ein klein wenig. Heute würde sie zum ersten Mal anrufen!

 

»Ah, da bist du ja!« Fran lächelte zögernd, als Rio in die Küche kam. »Hast du gut geschlafen?«

Rio nickte und ließ die Morgenstimmung auf sich wirken. Es duftete nach frisch gebrühtem Kaffee, und Pirat döste lang ausgestreckt in einem Sonnenfleck.

»Das macht der Ozean. Die beste Medizin der Welt.« Sie hielt inne. »Ich weiß nicht, was du sonst immer zum Frühstück isst, aber ich kann Pfannkuchen, Waffeln oder Rührei machen. Worauf hast du Lust?«

»I-i-i…« Er verstummte. Normalerweise aß er ein Schälchen Cornflakes. Manchmal, wenn keine Milch da war, aß er sie trocken. Aber darüber sprach er nicht gern.

»Weißt du was?«, sagte Fran, die sein Schweigen als Unschlüssigkeit deutete. »Ich mach einfach alles drei und dann suchst du dir was aus, okay?«

Rio zog die Augenbrauen hoch. Alles drei?

Ohne seine Antwort abzuwarten, nahm sie eine Pfanne aus dem Schrank, krempelte die Ärmel ihres türkisfarbenen Jumpsuits bis über die Ellbogen hoch und kramte verschiedene Zutaten aus den Schubladen, als das Telefon klingelte.

Das Geräusch war so unvermittelt und schrill, dass Pirat vor Schreck in die Luft sprang.

Fran ging dran und reichte Rio nach wenigen Worten das Telefon. Er hätte es ihr fast aus der Hand gerissen.

 

»Hallo, Rio-Kater«, flüsterte seine Mutter am anderen Ende.

Fran rührte Pfannkuchenteig an der Küchentheke, deshalb ging Rio zur Hintertür hinaus, wo die Sonne als gelber Ball hoch oben am leuchtend blauen Himmel stand, viel knalliger und kräftiger als der schwache Sonnenschein zu Hause. Kaum zu glauben, dass Rio gestern noch im tiefsten Winter aufgewacht war.

Er setzte sich auf die Treppe und ließ sich von der vertrauten Stimme seiner Mutter berieseln, während sie vom ersten Tag im Krankenhaus erzählte, das sie Klinik nannte. Es war tröstlich, so wie der Regen manchmal tröstlich ist. Wenn man einfach nur drinnen bleiben, sich aufs Sofa kuscheln und Filme gucken möchte.

»Ich wäre so gern bei dir«, murmelte er und schluckte den Kloß in seinem Hals herunter.

»Es sind ja nur vier Wochen«, sagte sie. »Die sind im Nu vorbei, und wenn wir uns wiedersehen, kannst du mir alles erzählen, was du getrieben hast.«

Was soll das schon sein?, hätte er am liebsten geantwortet. Wie konnte man in Ocean Bay vier lange Wochen herumkriegen? Aber das sagte er natürlich nicht.

»Wie ist es mit deiner Großmutter?«