Der Verwahnsinnigungsapparat - Thorsten Morawietz - E-Book

Der Verwahnsinnigungsapparat E-Book

Thorsten Morawietz

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Beschreibung

Der abgründigste aller Serienkiller ist wieder aktiv. Mit seiner mysteriösen Webseite treibt er Menschen in den Wahnsinnund formt sie zu Amokläufern und Attentätern. Er inszeniert Massenselbstmorde, erledigt Präsidenten und schreckt nicht mal davor zurück, die gigantische Verschwörung hinter der nur scheinbaren Realität aufzudecken. Detective Brathwaite, der ihm vor Jahren schon einmal das Handwerk legte, begibt sich erneut auf die Jagd nach ihm. Dabei verstrickt er sich immer tiefer in dessen Gespinst des Irrsinns. Ein interaktiver Thriller mit Filmsequenzen und eigener Website, welche DICH um den Verstand bringt – abermalshart am Limit des Erträglichen. Eine neuzeitliche Bibel für Verschwörungstheoretiker und literarisches Tränengas für die Lachmuskeln.

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THORSTEN MORAWIETZ: „Der Verwahnsinnigungsapparat“ yyyyy.online 1. Auflage, Februar 2022, Periplaneta Berlin, Edition Totengräber

© 2021 Periplaneta - Verlag und Medien Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig und ziemlich schlimm.

Lektorat: Stefanie Maucher Cover: Holger Much Satz & Layout: Thomas Manegold

CAST & CREW

Brathwaite - Christoph Maasch Gaveston - Detlev Nyga Der Irre - Eric LenkeY - Thorsten Morawietz

print ISBN: 978-3-95996-227-8 epub ISBN: 978-3-95996-228-5

Das Buch enthält QR-Codes, welche Sie mit Ihrem Smartphone oder Tablet scannen können, um weitere Kapitel als kurze Filme zu sehen. Alternativ können Sie auch die unter dem Code stehende URL in Ihren Browser eingeben.

Thorsten Morawietz

Der VerwahnSINNIGUNGS- APPARAT

YYYYY.Online

Thriller

periplaneta

Kapitel 1

Die Leiche lag mit ausgebreitetem Haar vor ihm. Ihre Augen starrten in die Dunkelheit. Das Blut lief wie ein Netz aus Schönheit über das bleiche Gesicht. Die Hände waren mit gekrümmten Fingern erstarrt, die Male auf der blassen Haut glänzten. Das Licht seiner Taschenlampe glitt über ihre nackten Schenkel, ihren entblößten Bauch mit den tiefen Schnitten, ihren weit aufgerissenen Mund, der in einem stummen Schrei erstarrt war.

»Brathwaite! Hier! Hier bin ich!«

Er sah den Strahl einer Taschenlampe, der durch die Dunkelheit tanzte, weit hinten im Raum. Das flackernde Blaulicht von der Straße warf seltsame Schatten.

Die Wohnung war riesig, die Wände gesäumt mit überfüllten Bücherschränken. Überall stand Gerümpel. Vorsichtig ging er auf das Licht zu.

Jemand kam ihm mit einer Taschenlampe entgegen. Er strahlte Brathwaite direkt ins Gesicht. Einen Augenblick lang ertrank alles im grellen Licht.

»Brathwaite, sind Sie das? Kommen Sie her!«

Das war die Stimme von Gaveston. Irgendwo da hinten musste er sein.

Im Vorbeigehen warf Brathwaite einen Blick in den Nebenraum. Ein paar Gestalten gingen durch das Dunkel und bestrichen mit dem Licht ihrer Lampen die verwahrloste Wohnung. Nur einzelne Fetzen wurden aus der Finsternis gerissen: ein Stück Wand mit abgerissener Tapete, eine altmodische Deckenlampe, der seltsam verdrehte Arm einer weiteren Leiche.

»Hier, hier drüben!«

Er folgte der Stimme bis zum nächsten Opfer.

Brathwaite schloss die Augen. Er hatte so etwas schon viel zu oft gesehen.

Er war bei 40 Grad in einer winzigen Wohnung in der South Bronx gewesen, wo zwölf Einwanderer aus Puerto Rico auf 20 Quadratmetern zusammengepfercht gehaust hatten und der Vater vom minderjährigen Sohn vor den Augen seiner Brüder mit einer Machete zerstückelt worden war.

In Chinatown hatte er zehn Tote im Kühlraum eines chinesischen Restaurants gefunden, die alle Spuren stundenlanger Folterungen aufwiesen. Zum Abtransport hatte nur ein einziger Leichenwagen zur Verfügung gestanden und um alle Leichen hineinzubekommen, hatten sie einigen die Arme und Beine brechen müssen. Währenddessen wurde vorne im Gastraum völlig ungerührt weiter gekochtes Hundefleisch serviert.

Einmal hatte er den luftdichten Laderaum eines Lastwagens, der drei Wochen auf einem einsamen Parkplatz in der Wüste gestanden hatte, unvorbereitet geöffnet und darin die Leichen von zwanzig erstickten mexikanischen Einwanderern gefunden. Als er sich danach auf dem Klo des Rastplatzes übergeben hatte, entdeckte er dort neben der Toilettenschüssel den abgeschnittenen kleinen Finger irgendeines armen Teufels.

Der Anblick, der sich ihm hier bot, war also für ihn nicht sonderlich erschütternd, dennoch ertrug er ihn heute kaum. Er hatte einmal zu oft solche Szenen gesehen, den säuerlichen Duft von Leichen gerochen, die sachlichen Mienen der Kriminaltechniker betrachtet und die Blitzlichter der Tatortfotografen.

Seit den Geschehnissen vor sieben Jahren war Brathwaite ständig müde. Er war müde, wenn er aufwachte, müde, wenn er das Büro betrat, müde, wenn er ins Bett ging. Er hatte schon versucht, vierzehn Stunden oder mehr zu schlafen oder nur drei Stunden oder gar nicht, aber egal, was er probierte, er fühlte sich nur noch müder. Das Einzige, was ihn ein wenig wachrüttelte, war ein Anblick wie dieser.

Als er die Augen wieder öffnete, stand Gaveston vor ihm.

»Alles in Ordnung, Brathwaite?«

»Nein, nichts ist in Ordnung.« Brathwaite beleuchte den Körper, der inmitten des Wohnzimmers auf dem Boden lag. »Männlich oder weiblich?«

»Wissen wir noch nicht. Haben Sie so etwas schon mal gesehen, Brathwaite?«

»So was Ähnliches, ja.«

Der Fotograf schoss Bilder für die Akten. Mit steifen Schritten ging er um den Leichnam herum, sorgsam darauf achtend, auf nichts zu treten.

Später war es stets seltsam, die Aufnahmen zu sehen, festgehalten vom sachlich-nüchternen Auge der Kamera. Die präzise Dokumentation des unaussprechlichen Grauens. Aufgerissene Augen, Hände, zu Krallen geformt, seltsam weiße Glieder mit blauen Malen, wie aus Wachs. Leichen sahen ein wenig aus wie Schaufensterpuppen. Sie ähnelten Menschen, aber sie waren keine mehr.

»Dort drüben ist noch eine weitere Leiche. Das Stadium der Verwesung lässt darauf schließen, dass sie schon drei oder vier Tage dort liegt. Der Gestank ist keinem aufgefallen. Man hat uns erst angerufen, als ein Stockwerk tiefer das Leichenwasser durch die Decke tropfte.«

Das Licht der Taschenlampen glitt über den verstümmelten Körper vor ihnen. Leichen hatten etwas Unbeteiligtes in ihren Gesichtern. Sie sahen aus, als wären sie unendlich weit entfernt von der Welt der Lebenden. Sie schliefen nicht, sie waren in einer fremden Dimension. Irgendetwas hatten sie erkannt, wonach alle anderen ewig suchten.

Ein wenig beneidete Brathwaite sie.

»Brathwaite, haben Sie die Schweinerei im Bad schon gesehen?« Einer von der Spurensicherung stand in der Tür des hell erleuchteten Badezimmers. In seinem weißen Schutzanzug und dem Licht eines Flutstrahlers sah er aus wie ein hell strahlender Engel des Todes. Hinter ihm konnte man die grellweißen, mit Blut beschmierten Kacheln sehen.

»Ich komme gleich«, rief er ihm zu.

»Bringen Sie jede Menge Plastikbeutel mit! So was habe ich noch nicht gesehen.«

Sie gingen die paar Meter zu der nächsten Leiche. Gaveston beleuchtete ihren unteren Bauchbereich. Die hier war weiblich. Eindeutig.

»Sie war schwanger. Achter Monat ungefähr. Durch diese Bauchwunde wurden ihr anscheinend die Organe entnommen.«

Brathwaite wollte näher herantreten, doch Gaveston hielt ihn zurück.

»Vorsicht, nicht in das Zeug treten!«

Brathwaite leuchtete auf den Boden. Eine breiige Masse schimmerte in einer Pfütze vor ihm.

»Was ist das?«

»Wissen wir noch nicht. Aber Vorsicht, Ihnen klebt jetzt etwas davon an den Schuhen. Wollen wir mal ins Badezimmer?«

Brathwaite nickte und ging auf das Licht zu.

Die Gerichtsmediziner in ihren weißen Schutzanzügen und den Atemmasken sahen ein wenig aus wie Astronauten. Er hatte sich oft gefragt, weshalb sie solche Masken trugen. Er benutzte keine. Brathwaite atmete den Dreck des Mordes in vollen Zügen ein.

Im Badezimmer war ein Scheinwerfer aufgestellt, der alles mit grellem Licht flutete. Wenn die Techniker an der Lampe vorbeigingen, warfen sie riesige Schatten, die kurz den Raum verdunkelten. Dann brach das Licht wieder hervor und tauchte alles in unerbittliche Helligkeit.

In der Mitte des Badezimmers lag der Rest einer weiteren Leiche. Zwei Typen von der Spurensicherung schabten mit kleinen Spateln rötliches Zeug von den Kacheln.

Brathwaite liebte Forensiker. Sie betrachteten das gewaltige Chaos, das sich ihnen bot, diesen Wahnsinn aus Blut, Knochensplittern und abgrundtiefer Verzweiflung, diesen Wirrwarr aus Scheiße und Schmerz, als eine Sinfonie aus ineinander verschlungenen Strukturen. Als Komposition aus Blut und Qual. Doch vor allem als Grundlage für weitergehende Ermittlungen, als wissenschaftliches Rätsel, das untersucht, vermessen und katalogisiert werden konnte. Sie setzten sich nicht schreiend, heulend oder den Verstand verlierend neben den Leichnam einer vierzehnjährigen Massenvergewaltigten, der man zum Abschluss den Schädel eingeschlagen hatte. Stattdessen entnahmen sie Gewebeproben aus der Scheide, suchten in der aufgeplatzten Hirnschale nach Spuren der Tatwaffe, analysierten die Faserreste auf dem zerrissenen Slip und sammelten Spermaspuren vom geschändeten Körper, um die DNS der dreizehn verschiedenen Täter zu sichern. Die blutige Toilettenschüssel, gegen deren Rand man ihren Schädel so lange gehämmert hatte, bis sie endlich tot war, schien für sie nur ein interessanter Fundort von Spuren. Sie tüteten das Grauen in kleinen Plastikbeutelchen ein, machten den Schrecken unter UV-Licht unsichtbar, platzierten ihre lächerlichen Schildchen neben jeden Fund, kartographierten den Horror und analysierten das Entsetzen. Sie kamen an, stellten ihre riesigen Taschen ab und machten sich sofort daran, den Irrsinn wegzuermitteln. Sie spurensicherten die Verzweiflung weg und zogen sich dabei Gummihandschuhe über, um nicht in Kontakt mit der infektiösen Wirklichkeit zu kommen. Ihre Plastikschutzbrillen machten sie blind für den Wahnsinn, der sie umgab.

Der ganze Kram nützte oftmals zwar ohnehin nichts, viel zu oft kamen die Täter wegen irgendeines Verfahrensfehlers nach dem Prozess wieder auf freien Fuß, aber zumindest fühlten die Forensiker sich besser.

Brathwaite hatte sich vorgenommen, auch so an die Wirklichkeit heranzugehen. Sich die Realität durch Ermittlungen vom Leib zu halten, einen Schutzanzug gegen das Leben an sich zu tragen, doch heute gelang es ihm nicht.

Mit Blut war ein Buchstabe auf die Kacheln über der Badewanne geschrieben worden. Brathwaite wurde kalt. Er musste sich abwenden, wollte augenblicklich sterben, doch er war zu müde dafür.

Im Spiegel über dem Waschbecken sah er sich selbst im grellen Licht. Sein Hemdkragen war leicht verrutscht, man konnte die Narben sehen. Auch diesen Anblick hätte er sich gern erspart.

Gaveston trat neben ihn.

»Alles völlig verrückt, oder? Und dieses Zeichen an den Kacheln, sagt Ihnen das was?«

»Ja, das sagt mir was.«

»Was ist das? Der Buchstabe X vielleicht?«

Brathwaite hatte das Zeichen sofort erkannt. Es war kein X.

Ihn überkam das seltsame Gefühl, als sei er schon einmal hier gewesen, als sähe er all dieses nicht zum ersten Mal.

Ein Typ von der Spurensicherung sammelte irgendwelche klebrigen Stücke vom Boden. Kein Mensch konnte sich seinen Namen merken. Frumpton, Frimpton oder so ähnlich. Er nickte ihm zu.

»Also, die eine Hälfte von Opfer Nummer Drei liegt hier, die andere im Schlafzimmer, aber es fehlen immer noch ein paar Teile. Oben auf dem Schrank waren mehrere Hände in Frischhaltefolie. Seltsamerweise lauter linke, die rechten sind verschwunden. Und in der Kühltruhe haben wir Fleischstücke gefunden, die wir uns noch genauer ansehen müssen.«

Frump- oder Frimpton hatte sichtlich Spaß daran, den jungen Gaveston mit seiner Aufzählung der Scheußlichkeiten mürbe zu machen. Bei Brathwaite hingegen rührte sich gar nichts.

Ein anderer Gerichtsmediziner schaute durch die Tür herein. »Hat die Leiche da drin noch beide Ohren?«

»Was? Ja. Warum?«

»Weil wir eins im Schrank dort hinten gefunden haben. Schöne Schweinerei.«

Gaveston fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Er erlebte so etwas zum ersten Mal.

»Willkommen in der Irrentruppe.«, sagte Brathwaite trocken.

Gaveston blickte ihn hilfesuchend an. »Wie haltet ihr Jungs das aus?«

»Wir halten es nicht aus.«

»So was wie das hier … passiert so was oft?«

»Ab und an. Das mit den linken Händen kommt aber eher selten vor. Kommen Sie, schauen wir uns den Rest der Wohnung an.«

Gaveston blickte zu lange auf die Überreste auf dem Boden. Man sollte besser nicht so genau hinsehen. Nur schwer konnte er sich von dem Anblick losreißen. Dann nickte er schweigend und lief voraus. Als er am Scheinwerfer vorüberging, wirkte seine Silhouette mit ihren glühenden Rändern wie der Mond bei einer Sonnenfinsternis.

Im Wohnzimmer war es so wundervoll dunkel. Als sie an der Frauenleiche vorbeiliefen, flammte ein weiterer Flutstrahler auf. Die Tote war blond und hatte Sommersprossen. Ein Leberfleck an ihrem Arm sah ein wenig aus wie der Umriss von Italien. Sie war so wunderschön. Brathwaite war es, als sähe sie ihn an. Tote Augen hatten eine eigene Schönheit. Sie erblickten etwas, das alle anderen nicht sehen konnten.

Neben den Bücherschränken klebten Zeitungsausschnitte, handgezeichnete Diagramme mit Pfeilen, Kästchen und Linien, Fotos, Landkarten. Ein Bild vom World Trade Center. Eine Fotografie des Kennedy-Attentats. Charles Manson … Brathwaite trat an die Schränke und betrachtete die Bücher darin. Es war immer interessant zu sehen, was ein Mensch gelesen hatte. Oder was er gelesen zu haben vorgab. Es waren Bücher über Verschwörungstheorien, die Hintergründe des 11. September, die Illuminaten, die eine Weltverschwörung planten und über die Fälschung der Mondlandung. Sogar ein Buch über Reptiloiden, echsenartige Außerirdische, die angeblich längst die Weltherrschaft übernommen hatten, war dabei, neben einer Vielzahl von anderem Verschwörungskram.

Die Menschen versuchten, allem einen Sinn zu geben. Doch wenn die Tochter sieben Stunden lang gefoltert und von einem Psychopathen abgeschlachtet worden war, erschien das den Eltern auf den ersten Blick oft ein wenig sinnlos. Und wenn jemand eine Erklärung für so etwas bot, einen anderen Verantwortlichen lieferte, außer dem Irren, der sowieso für schuldunfähig erklärt wurde, dann wurde dies nur allzu gern geglaubt. Die Menschen wollten vor allem da einen Sinn finden, wo keiner war.

Auf dem Schreibtisch leuchtete matt der Computerbildschirm. Der Name Steve Manning flog in Blockbuchstaben über den Bildschirm, prallte elastisch gegen die Wand und schwebte sinnlos in die andere Richtung. Den Namen des Wohnungsinhabers hatte Brathwaite somit schon mal ermittelt. Er stupste die Maus an. Sofort verschwand der Bildschirmschoner. Brathwaite erstarrte. Er kannte das Bild auf dem Monitor so unendlich gut. Er hatte versucht, nicht mehr daran zu denken und es hatte Tage gegeben, an denen es ihm sogar gelungen war. Schon lange hatte er nicht mehr davon geträumt oder war mitten in der Nacht aufgewacht und hatte gedacht, dass Y neben ihm an seinem Bett sitzen würde.

»Hey, Gaveston, kommen Sie mal her!«

Gaveston stand ein paar Meter entfernt und studierte die Zeitungsausschnitte an der Wand. Als er herantrat und den Bildschirm sah, weiteten sich seine Augen.

»Das gibt es doch nicht!«

»Anscheinend schon.«

»Sitzt er noch?«

»Natürlich.«

Jetzt würde er zu ihm gehen, ihn befragen und ihn in seinen Geist lassen müssen.

Ihn.

Y.

***

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Kapitel 2

Y stand am Fenster und blickte hinaus. Er sah nur eine Ecke des Anstaltshofes und ein kleines Stück Himmel, einen Teil der Straße und das obere Drittel einer Werbetafel. Alle zwei Wochen wurde das Motiv gewechselt. Darauf wartete er, das war einer der Höhepunkte seines Daseins. Dies war sein Universum, sein Kosmos. Seit sieben Jahren.

Er sah zu dem kleinen Fernseher in seiner Zelle. Panzer rollten, Barrikaden brannten, bärtige Männer schossen mit Maschinengewehren. Unten war eine Schrift eingeblendet: ›Einmarsch der US-Truppen‹.

Y lächelte. Diese Unwissenden! Sie alle begriffen nicht, was da draußen vor sich ging. Sie verstanden nicht, dass er hier war, weil er es wollte, nicht, weil sie ihn einsperrten. In ihrer Ahnungslosigkeit beschützten sie ihn vor denen da draußen.

Die letzten Jahre waren ruhig verlaufen. Seine implantierten Chips waren inaktiv, er empfing keine Aggressionsstörimpulse, Massaker-Fernlenkungssignale oder Kontrollverlustaktivierungsschübe. Die dicken Mauern der Anstalt schirmten gewöhnlich alles ab, doch jetzt ging es wieder los.

Am kleinen Stück Himmel, das er von seiner Zelle aus erblicken konnte, war ein Kondensstreifen zu sehen. Das war schon ewig nicht mehr vorgekommen. Sie flogen also wieder!

Zum ersten Mal seit Jahren spürte er die Steuerungssignale. Sie waren noch schwach, aber irgendetwas hatte begonnen. In den unterirdischen Laboratorien wurden bereits die Verwahnsinnigungsgeneratoren hochgefahren, die Irrsinnsspannungsspulen wurden unter Strom gesetzt, die Große Verdunkelung wurde vorbereitet.

In der Tür öffnete sich in Augenhöhe ein Schlitz. Der Wärter sah zu ihm herein.

»Besuch für dich.«

Es ging wieder los.

Er war bereit.

***

»Sie kennen das ja, Brathwaite, Sie dürfen ihm keine Gegenstände reichen und nichts von ihm annehmen. Überqueren Sie nicht die weiße Linie. Es ist gerichtlich untersagt, ihm irgendwelche Adressen, Telefonnummern oder Ähnliches zugänglich zu machen. Und Achtung, ich muss Sie warnen! Unterschätzen Sie diesen Punkt bitte nicht: Der Kaffee auf dem Tisch ist heute noch schrecklicher als sonst.«

Der Wärter nickte ihnen kurz zu und ging hinaus.

Brathwaite wusste den Scherz zu schätzen. Das Gefängnispersonal hatte natürlich gehört, was damals passiert war und versuchte, ihn aufzumuntern.

Der Besuchsraum war karg eingerichtet. Der Tisch war fest mit dem Boden verschraubt, ebenso die Beine der Stühle. Es roch nach abgestandenem Zigarettenrauch. Rauchen war in der ganzen Anstalt verboten, aber hier machten sie eine Ausnahme. Durch ein schmales vergittertes Fenster weit oben schimmerte ein wenig Tageslicht herein.

Die Anstalt erinnerte an ein Flughafenterminal, überall Stahl und Glas. Hier waren die schlimmsten Fälle untergebracht. Ein Irrer, der die Eingeweide seiner Mutter an die Hunde verfüttert hatte. Ein durchgedrehter Psychopath, der mit einem stumpfen Küchenmesser in einem Einkaufszentrum Amok gelaufen war und sich vor der Verhaftung die Zunge herausgeschnitten hatte. Ein Bombenbastler, der sich bei seinem letzten Anschlag versehentlich beide Arme weggesprengt hatte und nun immer mühsam versuchte, mit seinem Stumpf den Hitlergruß zu machen.

Brathwaite war schon einige Male hier gewesen, meistens dienstlich. Manchmal mussten sie Insassen verhören, wenn sie nach Hinweisen, nach Mustern im Chaos suchten. Viele der Gefangenen waren froh, wenn die Polizei kam und sie in die Mangel nahm. Nach ein, zwei Jahrzehnten konnte das Leben in einer geschlossenen Anstalt recht eintönig werden. Brathwaite war ohnehin der festen Überzeugung, dass die meisten Menschen nur wirren Unsinn von sich gaben, aber hier war es noch ein klein wenig extremer.

Ein Verhör war ihm besonders im Gedächtnis geblieben. Der Insasse hatte sich damals geweigert, mit ihnen zu sprechen, wenn er dabei nicht nackt sein durfte. Brathwaites Vorgesetzter hatte jedoch auf dem Verhör bestanden. Also war er stundenlang einem unbekleideten Irren gegenüber gesessen und hatte herauszufinden versucht, wo dieser die Leichen seiner Opfer versteckt hatte. Währenddessen hatte sich der Psychopath unter dem Tisch permanent selbst befummelt. Hier, in diesem Raum.

Damals hatte er sogar den Amokläufer ohne Zunge vernehmen müssen. Brathwaite war nicht der Typ, der leicht die Nerven verlor, aber als er diese Dienstanweisung bekommen hatte, war es ihm schwergefallen, ruhig zu bleiben. Dieses Gespräch nahm einen vorderen Platz unter den Top 100 seiner abartigsten Erlebnisse ein.

»Wie ist er so?«

Gaveston stand neben ihm. Er war das erste Mal hier. Er hatte sich einschüchtern lassen, von dem gedämpften Geschrei, das aus den Gängen zu hören war, von den Sicherheitsschleusen, den Metalldetektoren und den Wachen mit ihren Pumpguns. Brathwaite wusste, dass die meisten Metalldetektoren ohnehin kaputt waren und die Insassen nur herumschrien, wenn Besuch kam, um sich wichtig zu machen. Zudem war der Großteil der hier im Einsatz befindlichen Gewehre nicht geladen. Scharfe Waffen im Inneren einer Haft- oder Verwahrungsanstalt waren viel zu gefährlich. Aber der neue Gouverneur wollte Härte demonstrieren und die Fotos hatten sich gut in der Zeitung gemacht. So standen die Wachen also mit ihren völlig sinnlosen Gewehren herum und kamen sich dämlich vor. Einige trugen angeblich sogar Spielzeuggewehre, weil diese bedeutend leichter und handlicher waren. Und genauso sinnlos. Die Insassen wussten es natürlich und lachten sie aus.

Die Wachen waren ebenso überflüssig wie Polizisten mit Maschinengewehren am Flughafen, die gefährlich in die Gegend guckten. Mit einem Maschinengewehr konnte man in einem belebten Flughafen ganz sicher nicht schießen, weil man die siebenköpfige Familie hinter dem Attentäter zuverlässig mit erwischen würde.

Man erschoss hier also nur sehr selten Insassen. Stattdessen pumpte man sie mit Medikamenten voll. Das war ähnlich wirkungsvoll, machte aber weniger Papierkram.

»Er ist – ungewöhnlich. Die Ärzte sagen, er hätte Schizophrenie. Er sieht Zusammenhänge, wo keine sind.«

»Was erzählt er denn?«

»Völlig wirres Zeug. Er sei beim Attentat auf das World Trade Center dabei gewesen, er kenne die Hintergründe des Papst-Attentats und der Manson-Morde, er habe Tausende von Kindern aus riesigen unterirdischen Laboratorien befreit, er arbeite in einer Organisation, die um die Weltherrschaft kämpft … Und das sind noch die harmlosen Geschichten. Zum Zeitpunkt mancher Ereignisse war er noch gar nicht geboren und kann gar nicht dabei gewesen sein. Ein typischer Schizo. Die Krankheit kommt in Schüben. Zwischendurch wirken diese Typen beinahe normal. Manchmal erinnern sie sich nicht mal mehr an ihre Wahnvorstellungen oder daran, was sie getan haben. Dann wieder werden sie völlig von ihrem Irrsinn überwältigt und glauben, ihre Gedanken würden ferngesteuert, man würde sie abhören und so weiter und so fort. Die meisten sind völlig harmlos. Und ein paar sind so wie er.«

Die Tür am anderen Ende des Raumes war noch verschlossen. Brathwaite glaubte, schon Schritte dahinter hören zu können.

»Eine Zeit lang war er ein richtiger Star. Alle nannten ihn nur ›Y‹. Manchmal auch ›Q‹. Er war der Messias der Amokläufer, der Engel der Psychopathen, der Prophet der Schizophrenen. Er hatte andere Psychos um sich versammelt, die ihn förmlich anbeteten. Wir haben sogar Filmaufnahmen von seinen Versammlungen gefunden. Eine Armee der Verrückten ist darauf zu sehen, ein regelrechtes Heer der Durchgeknallten.«

***

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***

»Er behauptet, mit vielen Attentätern weltweit in Kontakt gestanden zu haben. Y sagt, sie wären auf seiner Website gewesen, er hätte mit Ihnen gemailt und sie zu ihren Taten überhaupt erst verleitet. Er sei ihr Meister gewesen, ihr Messias, ihr Erlöser. Wir haben das überprüft. Er bildet sich das Meiste nur ein. Es ist eben viel reizvoller, ein Agent inmitten einer weltumspannenden Verschwörung zu sein, als ein psychopathischer Irrer.«

Gaveston sah ihn schon wieder so merkwürdig sanft an. »Es muss hart für Sie sein. Ich meine, nach dem, was damals passiert ist.«

»Meine zweite Scheidung war viel schlimmer.« Das war Brathwaites Standardantwort. Ebenfalls ein traumatisches Ereignis, das ihm regelmäßig Albträume bescherte.

»Trotzdem, das hier ist sicher eine Herausforderung.«

Brathwaite nickte verdrossen. Er hasste solche Wörter. Er hasste das Wort ›Herausforderung‹. Wenn ein Typ seine Frau dreimal wöchentlich verprügelte, dann war das ein Problem, eine Katastrophe, eine Riesenscheiße, aber keine Herausforderung. Eine Herausforderung war es, sich glutenfrei zu ernähren und dabei eine Barfuß-Wanderung durch die Antarktis zu machen, um Spenden für taubblinde somalische Waisenkinder zu sammeln.

Vor der anderen Seite des Raumes her ertönten jetzt Geräusche. Die Tür wurde aufgeschlossen.

Brathwaite atmete tief ein.

Die Tür öffnete sich, zwei Wärter traten in den Raum. Der größere der beiden blickte zu ihnen herüber und fragte: »Alles bereit?«

Brathwaite sagte nichts.

Der Große nickte seinem Kollegen zu, der nun Y hereinführte.

Brathwaite gelang es, ganz ruhig zu bleiben.

Y sah aus wie damals. Keinen Tag älter schien er geworden zu sein. Er trug einen dicken Ledergürtel, an welchem seine Handschellen befestigt waren. Fußfesseln sorgten dafür, dass er nur kleine Trippelschritte machen konnte, und er hatte einen weißen Overall mit kurzen Ärmeln an. Die Wärter führten ihn zu seinem Stuhl auf der anderen Seite des Tisches und ketteten ihn an einem in den Boden eingelassenen Ring fest. Dabei lächelte Y Brathwaite unentwegt an.

Die zwei Wärter positionierten sich im Hintergrund, einer dicker als der andere.

Brathwaite versuchte, Y in die Augen zu blicken und seine Stimme ruhig klingen zu lassen, als er sagte: »Mister Qualon, ich bin sicher, Sie erinnern sich an mich. Man hat mich angewiesen, mit Ihnen zu reden. Sie wissen, dass ich nichts davon halte. Gespräche aller Art sind zumeist nur Zeitverschwendung und mit einem durchgedrehten Psychopathen wie Ihnen sind sie ganz besonders überflüssig.« Eine sensible Einleitung, um Vertrauen herzustellen. Wie aus dem Lehrbuch. »Aber ich kriege eine Abmahnung, wenn ich mich nicht an die Anweisungen halte, also sitzen wir uns jetzt einfach eine halbe Stunde schweigend gegenüber. Wir haben uns sowieso nichts zu sagen. Einverstanden?«

»Erinnern Sie sich an unsere Verhöre, Brathwaite?« Seine Stimme klang noch immer so sanft, so einfühlsam. »Wir sind uns damals so nahegekommen. Sie waren der Einzige, der mich verstand. Ihnen konnte ich mich öffnen. Sie haben meine Seele berührt.«

»Mister Qualon, es sind Straftaten geschehen, die an ihre vergangenen Delikte erinnern. Ich muss Sie fragen, sonst bekomme ich meinen Urlaubsantrag nicht durch: Hatten Sie Kenntnis davon?« Als Brathwaite sprach, klang seine Stimme beinahe ruhig.

Y beugte sich vor. Sofort richteten sich die Wärter etwas auf, bereit einzuschreiten. Sie übertrieben tatsächlich.

»Verstehen Sie das alles wirklich nicht? Ich weiß, was geschehen ist. Ich habe es veranlasst. Ich habe die Schönheit dieser Taten aus mir geboren, habe all das aus mir quellen lassen, habe es erschaffen. Es hat begonnen. Und Sie, Brathwaite, werden es vollenden.«

Brathwaite hielt seine Hände entspannt im Schoss gefaltet. Sie zitterten nicht.

»Das letzte Kapitel beginnt nun und Sie sind die Hauptfigur. Sie denken, ich wäre es, dabei sind Sie es. Sie werden nun geprüft werden, Brathwaite. Sie müssen in die Tiefe gehen! Steigen Sie hinab, in die Kellerverliese der Verlorenheit. Öffnen Sie die Hintertüren der Wirklichkeit! Sie werden in den Kaninchenbau vordringen, die Tür am Ende des langen Ganges öffnen, der Sie in die endlosen Labyrinthe des Vergessens führen wird, in die unterirdischen Laboratorien des Wahnsinns. Dort werden Sie auf den Ursprung von Allem stoßen, auf den Erkenntniszentralgenerator in der innersten Zone, auf den transzendentalen Gotteshauptspeicher in der Kammer am Ende des Ganges, auf den Verwahnsinnigungsapparat. Sie werden den Quellcode der heiligsten Wahrheit erfassen.«

»Haben Sie etwas gesagt, Qualon? Entschuldigung, ich bin ein wenig unaufmerksam. Könnten Sie das wiederholen?«

Y ging gar nicht auf ihn ein und redete leiser weiter. »Dies alles ist ein Rätsel, welches Sie lösen müssen, Brathwaite. Achten Sie auf Wiederholungen, Strukturen und Ähnlichkeiten, auf versteckte Codewörter inmitten der Realität, auf verborgene Ebenen, auf eingeschriebene Chiffren! Suchen Sie das verschollene 33. Kapitel! Es wird Ihnen die Augen öffnen. Ihnen werden Dinge widerfahren, die Sie nicht begreifen können, zumindest nicht auf Anhieb. Sie werden Informationen erhalten, Einblicke in die Hinter- und Untergründe, Einsichten in verborgene Zonen, in Sperrbezirke des Daseins eindringen, Zugang erhalten zu den Geheimarchiven der Wirklichkeit. Ohne den inneren Schlüssel ist dies alles nur ein wirres Durcheinander, ein Chaos ohne Sinn und Struktur, das Ihnen wie Wahnsinn erscheinen wird. Aber wenn Sie die Zeichen zu deuten vermögen, wird sich Ihnen die Weisheit des Ganzen erschließen. Noch sehen Sie nicht die Schönheit meiner Taten. Noch begreifen Sie nicht die Reinheit meiner Mission. Doch wenn Sie die Zeichen erkennen, werden Sie den Pfad, den ich bereitet habe, bis zum Ende beschreiten. Sie werden die Türen des Lichts öffnen und durch die Pforte der Erkenntnis treten. Sie sind der Schlüssel zu Allem, Brathwaite! Lesen Sie dies alles mit Bedacht! Machen Sie sich Randnotizen, blättern Sie ein paar Seiten in der Wirklichkeit zurück und achten Sie auf kleine Fehler in der Struktur, Rechtschreibfehler, Webfehler der Existenz … Dann, das verspreche ich Ihnen, werden Sie das Licht sehen. Alles ist nur ein Vexierbild. Sie müssen das begreifen, um es zu übersteigen. Um es hinter sich zu lassen, müssen Sie in die unterirdischen Gänge des Verstandes eindringen. Es ist ein Buch mit Kapiteln, die zunächst wirr erscheinen und erst zusammengenommen einen Sinn ergeben. Dringen Sie ein in die Tiefe, Brathwaite! Steigen Sie hinunter in die unendlichen Tunnelsysteme der Verlorenheit.«

***

Als sie nach einer Stunde das Verhörzimmer verlassen hatten und er sich am Automaten einen Kaffee holte, zitterten Brathwaite die Hände. Y hatte ohne Unterlass geredet, ohne Pause. Das Meiste war nicht zu verstehen gewesen, doch Vieles erinnerte Brathwaite an eine Liebeserklärung. Y sprach noch immer so innig, so sanft, so warm.

Als er sich umwandte, bemerkte er, dass Gaveston ihn aufmerksam beobachtete.

»Und, Gaveston? Was sagen Sie zu ihm?«

»Er redet gern, oder?«

»Heute war er noch schweigsam. Verlegen Sie ihn in das Staatsgefängnis, dort sind die Sicherheitsbestimmungen strenger. Vielleicht konnte er hier irgendwie Kontakt nach außen herstellen. Sagen Sie, das wäre nötig, damit er kooperiert.«

»Wirklich? Ich dachte, diese Anstalt wäre bestens gesichert.«

»Ich traue diesen Doktoren nicht. Er soll gleich morgen verlegt werden.«

Gaveston war nicht überzeugt, aber er nickte. »Sagen Sie, Brathwaite, darf ich Sie etwas fragen?«

»Warum fragen Sie, ob Sie mich fragen dürfen? Sie tun es doch eh.«

»Was genau ist damals passiert, mit Y und Ihnen? Man hört die irrsten Geschichten, aber keiner weiß was Genaues. Ich dachte, ich frage Sie einfach selbst.«

»Das ist eine lange Geschichte.«

»Ich habe Zeit.«

»So viel Zeit haben nicht mal Sie.«

»Und was war mit Ihnen? Ich meine, danach.«

»Ich war – beurlaubt, das wissen Sie doch. Ich habe Medikamente bekommen und musste zur Gesprächstherapie. Nur das Töpfern blieb mir erspart.«

Gaveston versuchte es noch eine Weile, fragte nach, mimte den verständnisvollen Kumpel, klopfte Brathwaite verbal aufmunternd auf die Schulter und gab die eine oder andere Floskel zum Besten. Schließlich gab er auf und ließ ihn allein.

Brathwaite fuhr sich übers Gesicht. Seine Hände zitterten und endlich musste er es nicht länger verbergen.

Die Gedanken an Ermittlungen, Untersuchungen und Verhöre machten ihn so unendlich müde. Er hatte schon so oft nach Spuren im Chaos gesucht, Beweismittel in diesem Universum aus Tod und Scheiße gesammelt, mit Kreide die Umrisse der Leichen der Vernunft auf den Boden gezeichnet, seine Spurensicherungsschildchen neben den verstümmelten Überresten der Wirklichkeit aufgestellt, Tatortfotos von blutigen Spuren angefertigt und den Ozean des Wahnsinns vermessen.

Er war ständig müde, aber nach solchen Gesprächen konnte er sich kaum noch auf den Beinen halten. Manchmal war die Müdigkeit wie ein Bad aus heißem Blei, in dem er versank. Er fühlte sich dann wie ein Taucher am Grund des Ozeans, von einer Glocke aus Eisen umgeben, so unendlich fern von der Oberfläche, so unermesslich weit weg vom Licht.

Manchmal wünschte er sich, den Verstand zu verlieren.

Doch er war zu müde dafür.

***

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Kapitel 3

Eine Leiche …

Die Kamera fuhr dicht heran, um die klaffenden Wunden in Großaufnahme aufzunehmen. Der Sucher glitt über die zu Krallen verkrampften Finger hinweg. Einen Augenblick lang fokussierte die Kamera die in den Himmel starrenden Augen, dann bewegte sie sich zu einer Wunde im Brustkorb und wieder nach oben, bis das Bild über der aufgeschnittenen Kehle einfror.

Der Projektor warf sein grelles Licht auf die Leinwand im Besprechungszimmer im dritten Stock. Chief Cummings blickte ungerührt auf die Bilder und kommentierte mit unbeteiligter Stimme. »Dies sind die Aufnahmen des ersten Tatorts vor zwei Wochen. Die Ähnlichkeiten zu dem neuen Fall und zu den Y-Vorkommnissen sind frappierend.

Wahrscheinlich gehört dieser Tatort also auch zu der Serie. Es war ja äußerst seltsam, was dort passiert ist. Das ganze Revier spricht davon ... Das hier war das erste Opfer, Mitte dreißig, männlich. Zahlreiche Frakturen, Todesursache mehrfacher Schädelbruch. Achten Sie auf die Schnittwunden, man sieht sie gleich nochmals deutlich ... Sie erinnern sehr stark an die Schriftzeichen, die wir in der Wohnung des letzten Opfers gefunden haben.«

Alle saßen am großen Konferenztisch und blickten stoisch auf die Bilder. Es war völlig überflüssig, sie sich abermals anzusehen, aber der Chief hatte heute wohl einen schlechten Tag.

Brathwaite war wieder so müde, dass er am liebsten einfach gestorben wäre.

Die gesamte Truppe war versammelt. Cummings war der Chief, Gaveston neu dabei, und dann war da noch Tompson. Der hatte in seinem ersten Dienstjahr bei einem Einsatz versehentlich den eigenen Partner erschossen, war seitdem eigentlich dienstuntauglich, wurde aber von der Abteilung durchgeschleppt. Meistens stand er unbeteiligt herum und blickte wirr in die Gegend. Sie gaben ihm nur völlig unbedeutende Aufgaben, die er stets zuverlässig vermasselte. Eigentlich also ein ganz normaler Cop.

Man nannte sie im Revier die Irrentruppe. Aber nicht, weil sie irre waren, sondern weil sie sich mit Irren beschäftigen. Okay, womöglich beides. Wenn einer bei der Verhaftung etwas von Außerirdischen oder von unterirdischen Laboratorien erzählte, dann wurden sie dazu gerufen. Nicht, dass irgendeiner von ihnen irgendwelche Qualifikationen im Umgang mit Irren gehabt hätte, nein, das war einfach der Dienstweg. Nachts schaute Brathwaite sich manchmal im Fernsehen Dokus über Verrückte an, das war alles. Außerdem waren sie alle im Lauf der Jahre dank ihrer Arbeit selbst ein wenig durchgedreht, so dass sie sich quasi nachträglich gewisse Qualifikationen angeeignet hatten.