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Im Magstadter Wald geschehen eigenartige Verbrechen. Unbescholtene Menschen werden Opfer eines Serientäters, der ein seltsames Zeichen hinterlässt. Die Kommissare Hannah Schön und Jens Rammelt ermitteln und stellen einen Zusammenhang mit einem alten Mordfall her. Aber je mehr sie ermitteln, desto mehr fragen sie sich, was für ein mysteriöses Geheimnis dieser Wald verbirgt.
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Seitenzahl: 191
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Dies ist eine fiktive Geschichte. Die Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sind nicht beabsichtigt und rein zufällig. Ebenso sind die Behauptungen zu der Zusammensetzung des Gemeinderats in Magstadt ausschließlich der Dramaturgie der Geschichte geschuldet und stellen nicht die tatsächlichen Verhältnisse in Magstadt dar.
Glaube mir, ich habe es erfahren, du wirst mehr in den Wäldern finden als in den Büchern. Bäume und Steine werden dich lehren, was Du von keinem Lehrmeister hörst.
Bernhardt von Clairvaux
Prolog
15. Mai - frühmorgens
15. Mai - Vormittags
15. Mai - später Vormittag
15. Mai - mittags
15. Mai - abends
1 Woche vorher
16. Mai - frühmorgens
16. Mai - vormittags
16. Mai - mittags
16. Mai - abends
17. Mai - vormittags
17. Mai - nachmittags
17. Mai - spät abends
18. Mai - frühmorgens
18. Mai - vormittags
18. Mai - nachmittags
18. Mai - spätnachmittags
19. Mai - früh morgens
19. Mai - mittags
20. Mai - abends
21. Mai - vormittags
21. Mai - nachmittags
22. Mai - vormittags
22. Mai - nachmittags
23. Mai - vormittags
23. Mai - abends
24. Mai - vormittags
24. Mai - kurz vor Mitternacht
25. Mai - morgens
Der Magstadter Wald liegt in nord-östlicher Richtung der Gemeinde Magstadt. Er befindet sich zwischen dem romantischen Naturschutzgebiet Oberes Hölzertal und dem Maisgrabental bei Leonberg-Warmbronn. Seine höchste Erhebung ist der Warmbronner Kopf, seine schönste Ecke ist der Hölzersee, ein von Menschenhand aufgestauter kleiner See, welcher heute von Fischern und Ausflüglern genutzt wird. Der Wald ist ein schöner Mischwald, in welchem Eichen, Rotbuche, Kiefern und Fichten wachsen. Es ist ein Wald wie viele in Deutschland, Kulturlandschaft eben und nicht wirklich Wildnis, so wie fast 95 % der Wälder. Der Mensch bewirtschaftet ihn und er hat eine Vielzahl an Wegen oder Hütten angelegt und alles, aber auch wirklich alles in diesem Wald ist bekannt.
Alles?
Vielleicht doch nicht alles.
Denn manche sagen:
„Der Wald sieht alles.“
Es war ein wunderschöner Frühjahrsmorgen. Nicht wirklich kalt, vielleicht so zehn oder elf Grad Celsius im Volksmund würde man es „frisch“ nennen. Über den Wipfeln des Magstadter Waldes zeigten sich ein oder zwei kleine Nebeldampf-Wölkchen, welche am Morgen entstehen, wenn die kühle Luft aus oberen Schichten auf den Boden absinkt und warme Bodenluft zwischen den Bäumen wie Dampf emporsteigt. Die Sonne ging gerade erst auf und ihre Sonnenstrahlen brachen durch das Geäst der Bäume, welche noch nicht alle dichte Blätter trugen. Die Vögel waren laut zu hören, die ruffreudigen und lauten Amseln und Kleiber, das Klopfen eines Grünspechts oder das krächzende Schreien der Rabenkrähen.
Er genoss diese Stimmung am Morgen jedes Mal aufs Neue. Das Alleinsein in der Natur war das Elixier, welches er täglich benötigte. Die Geräusche der Fauna wie das Knacken oder Rascheln, wenn etwas durchs Laub huschte, belebten seine Sinne. Er versuchte es dann zuzuordnen: Ist das nun ein Vogel, der im Laub umher huschte oder vielleicht ein Säugetier? Ein Eichhörnchen, nur eine Maus oder auch mal etwas Größeres? Ein Wildschwein würde man riechen. Es riecht nach Maggi-Kraut, würzig und intensiv. Aber ein Wildschwein oder auch Damwild ist zu scheu. Es hört den Menschen viel zu schnell und sucht lieber das Weite. Die Diskussionen über die Wiederansiedlung von Wölfen in Baden-Württemberg ließen ihn manchmal hoffen, dass der einzige bisher in Baden-Württemberg nachgewiesene Meister Isegrim ausgerechnet im Magstadter Wald umherlief. Dann schoss ihm ein kleiner Adrenalinstoß ins Blut, welcher seine Schritte beschleunigten. Wäre es nicht wunderbar, wen er einen Wolf hier entdeckt?
Er kam aus dem Maisgrabental zurück und lief nun bergauf bis zum alten CVJM Bolzplatz, an welchem der Magstadter Wald begann. Er fühlte sich frisch und fit und bog für eine kleine Schleife durch den Wald nach links ab. Zunächst lief er den Wirtschaftsweg entlang, vorbei an der Baumliege bis zur Hütte „Kern Saat Schule“. An der Weggabelung nach Warmbronn bog er nach rechts in den Wald ab. Hier befand sich kein Wirtschaftsweg, sondern ein Wanderweg, welcher zum Bogenschießplatz führte. Dieser war weicher und angenehmer zu laufen. Leider fuhren die Forstarbeiter hier mit schweren Maschinen und hinterließen teils tiefe Gräben, sodass er seine Schritte verlangsamte, um nicht über eine Bodenunebenheit zu stolpern. Als er vielleicht einhundertfünfzig Meter vor dem Wegkreuz war, auf welchem er rechts zum CVJM Platz zurückkam und geradeaus zum Bogenschießplatz, sah er den Mann. Der Mann war auf den dort direkt am Wegekreuz stehenden Jägerhochstand angebunden. Das heißt, er saß auf dem Hochstand und war scheinbar an den Beinen und den Händen angebunden. Sein Kopf war vornübergefallen und es sah so aus, als ob der Mann schliefe. Er hatte eine Hose, Stiefel und einen schweren olivfarbenen Mantel mit Fellkragen an. Zudem hatte er eine wollene Mütze auf, seine Augen waren verbunden und in seinem Mund steckte eine Art Knebel. Der Jogger näherte sich langsam und scheinbar hatte der Mann ihn jetzt gehört. Jedenfalls richtete er sich schlagartig auf. Sein Kopf bewegte sich hektisch hin und her. Man konnte durch den Knebel ein unterdrücktes Stöhnen und vielleicht eine Art „Hallo?“ hören. Die Stimme des Mannes steigerte sich und je näher der Jogger kam, umso mehr verstand er von dem was der Mann unter dem Knebel stöhnte.
„Hallo? Ist da wer? Bitte helfen Sie mir!“
Der Jogger hatte noch wenige Meter und näherte sich noch immer mit vorsichtigen Schritten dieser unwirklichen Szene. Er schaute sich um, so als ob er nicht glauben könnte, was da vor ihm sich abspielte. Doch es war nichts zu sehen und zu hören.
„Bitte …“ flehte der Mann weiter und es klang verzweifelt und weinerlich.
„Jaa, Jaa…ich sehe Sie ja“, antwortete der Jogger endlich. „Was machen Sie um Gottes Willen denn da oben?“
Der Jogger stand jetzt vor dem Hochsitz.
„Gott sei Dank ist jemand da“ konnte man gerade so vernehmen. „Bitte! Sie müssen mich losmachen.“
Der Jogger sah von unten hinauf und der Mann wendete sein Gesicht mit den verbundenen Augen in seine Richtung.
„Ok, ich komm zu Ihnen hinauf.“
Der Jogger stieg zwei Stufen des Hochsitzes empor und besah erst die Füße und dann die Hände, welche mit einem starken Kabelbinder angebunden waren.
Er stieg zwei weitere Stufen hinauf und entfernte den Knebel aus dem Mund des Mannes. Dieser lies ein lautes, fast endloses, aber erleichtertes Seufzen hören. „Gott sei Dank! Gott sei Dank! Sie schickt der Himmel! Gott sei Dank!“
Der Jogger griff an den Hinterkopf des Mannes und schob die Augenbinde nach unten. Der Mann blinzelte in die Frühsonne und sah den Jogger an.
„Vielen Dank, ich bin so froh, dass endlich jemand kommt.“
Seine Erleichterung war grenzenlos. Der Jogger stieg eine Stufe wieder hinab.
„Die Kabelbinder an ihren Händen und Beinen bekomme ich nicht auf. Da braucht man ein Messer oder eine Zange. Ich glaube, ich rufe erst mal Hilfe. Das Schützenhaus ist nicht weit, bis dahin kann man auf alle Fälle fahren.“
Der Mann nickte. Der Jogger stieg ganz hinab und holte sein Mobiltelefon hervor und wählte die Notrufnummer.
„Hallo? Ja, ich bin hier im Magstadter Wald joggen und ich habe einen Mann gefunden. Er ist auf einem Hochsitz beim Bogenschützenhaus festgebunden. Wir brauchen einen Krankenwagen und auch die Polizei. Ich denke, hier ist ein Verbrechen passiert.“
Die Zentrale fragte nochmals nach und der Jogger musste mehrfach die seltsame Geschichte bestätigen. Nachdem er seinen Namen hinterlassen hatte, wurde das Gespräch beendet.
Der Jogger wendete sich dem Mann wieder zu:
„Die Notzentrale schickt gleich einen Krankenwagen und die Polizei. Die sollten schnell da sein, wir sind ja in Deutschland. Machen Sie sich keine Sorgen, das ist gleich vorbei. Ich bleibe, bis die da sind!“
„Oh die Polizei …“, flüsterte der Mann.
„Äh ja, ich denke, dass Ihnen Gewalt angetan wurde, oder?“, fragte der Jogger.
„Äh ja natürlich… da brauchen wir die Polizei“, flüsterte der Mann wieder. Der Jogger hatte den Eindruck, als ob dem Mann der Krankenwagen gereicht hätte. Er stieg wieder zu dem Mann hoch und begutachtete die Kabelbinder. Dabei schob er den schweren Mantel ein wenig nach oben und besah sich die Handgelenke. Der Mann war an den Kabelbindern wundgescheuert. Er stieg wieder hinab.
„Keine Sorge, die sind sicher gleich da“ versuchte er den Mann zu beruhigen. “Wenn Sie wollen, können Sie mir erzählen, was passiert ist, ansonsten warten wir einfach, bis Hilfe da ist, ok?“
Doch der Mann zitterte nur, entweder weil es ihm trotz der schweren Jacke kalt war oder weil er schlicht noch unter Schock stand. Daher beließ es der Jogger mit einem Schultertätscheln und stieg wieder hinab. Unten angekommen wartete er geduldig, während der Mann nur leise stöhnte. Keine zehn Minuten später sah er ein Blaulicht beim Bogenschützenhaus. Er stellte sich auf den Wanderweg und winkte mit den Armen. Der Weg war breit genug und das Polizeiauto konnte bis zum Tatort vorfahren. Der Krankenwagen war noch nicht in Sicht. Der Polizeiwagen fuhr heran und zwei männliche Polizeibeamte stiegen aus. Der Jogger informierte sie kurz über die Situation und erklärte, dass man eine Zange oder ein Messer für das Durchtrennen des Kabelbinders benötigte. Einer der Polizisten ging zum Kofferraum des Polizeiwagens und holte eine Kneifzange hervor. Dann ging der Polizist zu dem Mann auf dem Hochsitz, stieg zwei Treppen hinauf und sagte:
„So, dann wollen wir Sie armen Teufel mal losbinden.“
Er schob den schweren Fellmantel etwas hoch und zwickte den Kabelbinder an den Handgelenken durch. Der Mann hob die Arme an und der schwere Fellmantel rutschte ihm etwas von den Schultern. Jetzt sah man, dass der Mantel einerseits dem Mann viel zu groß und zudem nicht zugeknöpft war. Der Mann trug außer dem Mantel keine Oberbekleidung, sodass man jetzt einen Teil der Brust sehen konnte. Mit großen Augen betrachteten die zwei Polizisten, was auf der Brust des Mannes eintätowiert war:
+ + +
Kriminalhauptkommissarin Hannah Schön drückte auf den Knopf des Kaffeevollautomaten. Der Running Gag im Fernsehen mit dem Kaffeeautomaten auf dem Flur, welcher nur eine Instantbrühe im Plastikbecher bietet, amüsierte sie jedes Mal, wenn sie sich einen Kaffee zubereitete. Hier im Büro der Kriminalinspektion 1 in Böblingen gab es selbstverständlich einen modernen Kaffeevollautomaten mit One-Touch Zubereitung, Wasserfiltertechnologie, zehn individuellen Nutzerprofilen und einem Aroma System für optimale Kaffeezubereitung (was auch immer das sein soll). Die Maschine hatte Hannah für das Team für fast 1.500 Euro angeschafft. Bei der Abrechnung der Kaffeebohnen kam sich das Team anfänglich allerdings mächtig in die Haare. Zunächst hatte man einfach Kaffeebohnen gekauft und eine Kasse eingerichtet, in welcher jeder zwanzig Euro pro Monat legen sollte. Dann hat man gemerkt, dass bei den hochwertigen Kaffeebohnen zwanzig Euro pro Kopf einfach nicht ausreichte. Als Hannah vorgeschlagen hatte eben dreißig Euro zu zahlen, beschwerten sich die Ermittlungsassistenten, dass Hannah ja viel mehr Kaffee trinken würde. Also wollten sie eine Abrechnung durchführen und erstellten hierfür eine Exceltabelle, welche zentral abgelegt werden und worin jeder seinen Kaffeekonsum tassengenau eintragen sollte. Die Tabelle hatte den Namen, Tag, Uhrzeit sowie die Kaffeeart (Espresso, Cappuccino usw.) enthalten und sollte tassengenau den jeweiligen Konsum abbilden. Im Hintergrund ermittelte eine Formel unterschiedliche Preise für die Kaffeeart. Am Monatsende konnte ein kleines Programm eine Abrechnung pro Namen ausdrucken. Hannah sprach von Stasiüberwachungsmethoden, klein kariertem Spießbürgertum und fragte die Assistenten, ob sie nicht genug zu tun hätten, das könnte man dann ändern. Schließlich drohte sie damit, die Maschine als privat für sich selbst zu deklarieren und alle anderen vom Konsum auszuschließen. Eine Drohung die für sofortige Ruhe sorgte. Einfach weil niemand in der Kriminalinspektion 1 mit Hannah Ärger haben wollte. Sie galt, vorsichtig formuliert, als meinungsstark. Hannah pflegte eine klare Sprache und nahm auf nichts Rücksicht, auch nicht auf Hierarchien. Dabei half ihr auch ihre sportliche und, für eine Frau, auffallend muskulöse Erscheinung. Sie war normal groß, aber sehr schlank und an ihren Unterarmen und Oberarmen sah man die definierte Muskulatur und hervorstechende Adern, wie man es von Bodybildern kennt. Ihre Bewegungen waren schnell und etwas zackig, wie bei militärischen Befehlshabern. Der Kaffee-Kompromiss sieht nun vor, dass es bei den zwanzig Euro bleibt und Hannah am Monatsende, wenn die Bohnen mal leer sind, einfach Bohnen mitbringt.
Als der „Flat White“ durchgelaufen war, öffnete sich die Tür und Kriminaloberkommissar Jens Rammelt, ihr Teamkollege, kam ins Büro. Jens Rammelt war ein sportlicher und gut aussehender Hüne. Er maß fast zwei Meter, war kräftig und muskulös, hatte noch blonde Haare und ein gewinnendes Lächeln. Umso erstaunlicher fand sie, dass er noch immer Single war. Wobei Hannah wusste, dass er nicht wirklich Single war, sondern permanent wechselnde Beziehungen hatte. Er war der Typ des modernen Menschen, welcher sich nur für einen kurzen Lebensabschnitt an einen Partner bindet und dann weiterzieht. Am Anfang ihrer Zusammenarbeit hatte sie durchaus erwogen, sich den Jungen mal genauer anzuschauen. Jens war zwar fast zehn Jahre jünger, aber das war für sie kein Kriterium. Allerdings hatte sie auch die goldene Regel: „Never have your honey, where you make your money”. Und mit zunehmendem Kennenlernen merkte sie auch schnell, dass sie Jens zwar kollegial sehr schätzte, jedoch keinesfalls als Partner.
In der Kriminalinspektion 1 der Kriminalpolizeidirektion Böblingen wurden Kapital- und Sexualverbrechen bearbeitet. Sie bestand aus mehreren Ermittlungsteams, welche auf Ermittlungsassistenten im Bedarfsfall zugreifen konnten. Hannah und Jens waren als das Team „Rammelt-Schön“ bekannt. Eigentlich müsste es „Schön-Rammelt“ heißen, da sie Hauptkommissarin und Jens Oberkommissar war, aber als sie sich als Team gefunden hatten, hatte mal ein Idiot den Spruch „Ahh! „Jens Rammelt Hannah Schön“ getätigt und vielwissend „zwinki-zwonki“ mit den Augen gemacht. In der Kriminaler-Macho Welt war das natürlich ein Gassenhauer und auch die satte Ohrfeige von Hannah an den Kollegen hatte den Spruch nicht mehr aus der Welt gebracht. Mit der Zeit gewöhnte sie sich daran und die Erfolgsquote des Teams bei den Ermittlungen lag ja im durchschnittlichen Rahmen, daher gab es nichts zu bemängeln.
„Morgen Schatzi, mach mir doch auch ein Schümchen.“
Nun, sie mochte es nicht wirklich, wenn er sie Schatzi nannte, zumal sie das Team leitete, jedoch zeigte es eigentlich nur, ob Jens in guter oder schlechter Stimmung war, daher war es ihr sogar ganz recht, wenn er sie so nannte, war er doch dann gut gelaunt. Also strich sie sich ihre rotbraunen, halblangen Haare hinter ihre Ohren und antwortete:
„Morgen, Mausebär, Kaffee kommt gleich“.
Ihr Konter nötigte ihm ein Grinsen ab.
Ermittlungsassistent Hansi Kopp betrat den Raum und legte eine Mappe auf den Schreibtisch von Jens. Hansi war der Rookie im Team, seit nunmehr zwölf Monaten bei der Polizeidirektion 1 und für seine jungen Jahre enorm selbstbewusst mit der Neigung zur Frechheit. Das lag vermutlich an seiner Herkunft aus dem Havelland bei Berlin. Immerhin hatte er sich in den zwölf Monaten das Berlinerische schon etwas abgewöhnt und man verstand ihn in der Direktion immer besser. Zu Jens gewandt sagte er:
„Moin zusammen, da gibts einen neuen Fall in Magstadt, ziemlich komisch, vielleicht ein Sexualdelikt, ihr sollt Euch drum kümmern.“
Er wendete sich zu Hannah um, nahm den für Jens vorgesehenen Café Latte entgegen und verschwand mit einem freudigen „Oh, danke Hannah, das ist aber nett“ genauso schnell, wie er gekommen war.
„Frechheit!“, schimpfte Jens. Hannah lächelte milde und stellte nochmals ein Latte Macchiato Glas unter die Maschine.
„Schau doch mal, was uns die Katze vor die Tür gelegt hat, ich mach Dir noch mal eine Latte“. Jens schnaubte kurz und schlug die Mappe auf.
Eine Stunde später waren die beiden am Auffundort des Mannes im Magstadter Wald. Der Mann war zwischenzeitlich ärztlich versorgt und mit dem Krankenwagen ins Krankenhaus nach Sindelfingen gebracht worden. Vor Ort war noch die Streife, welche als Erstes am Tatort war.
„Moin zusammen“, grüßte Jens die beiden Polizisten. „Servus-na endlich“ gab einer der Polizisten zurück. Offensichtlich warteten die beiden schon etwas länger auf das Kriminalteam.
„Was können Sie uns denn berichten?“, fragte Jens den Gesprächigeren. Der Polizist schilderte die Auffindesituation und berichtete von dem Jogger, welcher den Mann gefunden hatte.
„Und, dann hatte der noch drei Kreuze auf der Brust tätowiert. Das schien ganz frisch zu sein. Seine Haut war noch ganz gerötet. Außerdem war das eine Scheißarbeit, ganz bestimmt kein gelernter Tätowierer. Wir haben den Mann nicht befragt, aber scheint so, als ob der Täter dem Mann die Kreuze heute Nacht eintätowiert hätte“, schloss der Polizist seinen Bericht.
„Drei Kreuze auf der Brust?“, fragte Hannah erstaunt. „Yep. Wobei es waren eigentlich keine Kreuze, eher so Pluszeichen, also alle Striche des Kreuzes gleich lang“, präzisierte der Polizist noch.
„Ah ha. Und sagt Ihnen das was?“, wollte Hannah wissen.
Der Polizist zuckte mit den Achseln: „Keine Ahnung, habe ich noch nie gesehen. Wenn Sie uns nicht mehr brauchen, würden wir jetzt den Adler machen.“
Hannah nickte und die Polizisten stiegen in ihren Pkw und fuhren davon.
„Brauchen wir die KTU?“, fragte Jens seine Chefin. Hannah wiegte den Kopf. Die Kollegen von der kriminaltechnischen Untersuchung wurden immer dann geholt, wenn Spurensicherung erfolgversprechend war.
„Scheint kaum Spuren hier zugeben, lass uns mal ein bisschen umherschauen. Die KTU können wir ja noch immer holen.“
Beide zogen sich Einmalhandschuhe über und betrachteten den Jägerhochsitz. An diesem war nichts Ungewöhnliches. Es handelte sich um einen einfach zusammengebauten Hochsitz, der einem erhöhten Sessel gleicht. Es gab nur sieben Stufen und er hatte vielleicht eine Höhe von drei Metern. Hannah und Jens gingen um den Hochsitz herum und dann jeder ein paar Schritte in den Wald.
„Wenn der Täter den Mann hierhergebracht hat, dann wahrscheinlich auf einem der Wege“, rätselte Jens.
Hannah überlegte laut: „Vermutlich ja. Wenn der Täter dem Mann aufgelauert hätte, würde man hier etwas erkennen, einen Kampf oder Ähnliches. Der Mann wurde hierhergebracht und festgebunden, steht für mich fest. Wenn es auf dem Weg von der Bogenschießhütte war, haben unsere Kollegen mit ihrem Wagen alle Spuren zunichtegemacht. Ich glaube, KTU bringt nichts.“
Miriam Dobler verlies heute reichlich spät mit ihren Hunden ihre Wohnung. Üblicherweise ging sie früh morgens zum Gassi gehen. Heute hatte sie es sich anders überlegt. Sie war morgens nur kurz zum Geschäft verrichten vor die Tür gegangen - also die Hunde sollten natürlich ihr Geschäft verrichten- und hatte den Ausflug auf heute kurz vor Mittag verschoben. Das war Teil ihrer Strategie „Bloß nicht auffallen“. An der Leine führte sie den sechsjährigen Kleinen Münsterländer Rüden „Bob“ und den fünfjährigen Dackel Rüden „Toni“.
Miriam war Ende 30, deutlich übergewichtig und wirkte manchmal etwas ungepflegt. Sie legte keinen Wert auf die üblichen Pflegeprodukte für die Dame. Ihr Credo war: „An meine Haut kommt nur Seife und Wasser -Schluss aus Nikolaus-“. Auch ihre lockige Haarpracht wurde bereits grau und färben war für sie zu anstrengend. Gerne begründete sie diese Haltung mit dem Verweis auf ihre beiden Hunde, die ja auch nicht die Finger lackierten oder eine Maske auflegten und doch von vielen gehätschelt und gestreichelt wurden. Allerdings musste sie eingestehen, dass ihre Hunde deutlich häufiger Streicheleinheiten bekamen als sie selbst. Ihre letzte Beziehung lag nun mehr als zehn Jahre zurück. Die Beziehung war auch nicht von einer Qualität, dass sie umgehend in eine neue Beziehung hätte stürzen mögen. Sie hatte damals lieber ihre alte Liebe zu Tieren entdeckt und sich zunächst für Pferde interessiert. Allerdings musste sie mit der Zeit feststellen, dass Pferde sehr betreuungs- aber vor allem auch kostenintensive Gefährten sind. Daraufhin legte sie sich einen Kater namens „Moritz“ zu. Moritz war charakterlich allerdings sehr eigenständig und gelinde gesagt etwas ichbezogen. Wenn Miriam nach schmusen zumute war, konnte es sein, dass Moritz nach anfänglichem schmusen mittels eindeutigen Schlags mit der Pfote klarmachte, dass schmusen zu Ende war. Häufig verlangte er auch entschieden das Verlassen der Wohnung und das eigenständige Streunen. Zwar bedachte er Miriam häufiger mit einem erjagten Vögelchen oder einer Maus, jedoch anerkannte sie diese Geschenke nicht als Zuneigungsbeweis. Eines Morgens ging Moritz zum Streunen und kehrte nicht zurück. Miriam hängte überall in Magstadt Vermisstenfotos von Moritz auf, doch der Kater blieb verschwunden. Nach einem halben Jahr der Trauer und des Alleinseins entschied sich Miriam für einen Hund. Als erstes legte sie sich „Bob“ zu. Als sie diesen bei einem Züchter erwarb, versprach ihr dieser, dass Bob bei artgerechter Haltung in seinem Zuhause ein ausgeglichener Vierbeiner wäre, der sich freundlich gegenüber Menschen und Artgenossen verhält. Er würde sich eng an seine Bezugsperson binden und gerne soziale Bindungen mit anderen Hunden eingehen. Das war genau nach Miriams Geschmack. Der Hund gefiel ihr sehr gut und er hatte auch einen guten Charakter den Menschen gegenüber. Unterschätzt hatte sie allerdings, dass Bob eigentlich ein vorzüglicher Jagdhund mit ausgeprägtem Arbeitseifer ist. Dieser Eifer überforderte Miriam regelmäßig und daher kam ihr die Idee, für Bob einen zweiten Hund als Spielgefährten anzuschaffen, dann hätte sie etwas mehr Ruhe. Hier entschied sie sich für den Rauhaar-Dackel „Toni“. Auch Toni war ein dem Menschen gegenüber freundlich gesonnener Hund und vor allem verstand er sich auf Anhieb mit Bob. Allerdings hatte sie auch hier übersehen, dass Dackel zwar niedlich und auch verschmust sind, jedoch im Charakter durchaus selbstständig und teilweise stur. Toni hätte definitiv jemand benötigt, welcher ihm die Rangordnung deutlicher klargemacht hätte, was aber nicht Miriams Stärke war.
So ging sie auch an diesem schönen Vormittag zu ihrem vor der Tür ihres Mehrfamilienhauses geparkten, weinrot-metallic farbigen Dacia Dokker. Toni zerrte nach rechts, Bob zerrte nach links, Miriam zerrte in die Mitte zurück. Immer wieder herrschte sie den einen oder anderen Hund an, er solle doch endlich gehorchen. Das war den beiden aber reichlich egal. Erst als die Hunde das Auto erblickten, waren sie wieder gehorsamer. Sie wussten, jetzt geht es in den Wald und damit in eine Stunde Freiheit. Miriam öffnete den Dacia und den Hundekäfig im Heck, und die beiden Tiere sprangen hinein. Sie umrundete das Fahrzeug und fuhr schnurstracks ins nahe gelegene Hölzertal. Sie fuhr am Hölzersee vorbei Richtung Stuttgart und bog in den ersten Wirtschaftsweg auf der linken Seite ein. Ihrer Erfahrung nach war sie hier allein. Keine Spaziergänger, Jogger, Reiter oder andere Hundegassi-Gänger verirrten sich hier her. Sie stellte den Dacia ab und öffnete die Hecktür und den Hundekäfig. Beide Hunde sprangen heraus, bellten freudig und wirbelten in den nahe gelegenen Wald. Miriam folgte ihnen langsam auf dem Wirtschaftsweg. Sie mochte ihre beiden Streuner keine Frage. Die beiden Tiere gaben ihr ein Familiengefühl, welches sie im Unterbewusstsein zweifelsohne vermisste. Sie hatte sich auch an den latenten Ungehorsam der Hunde gewöhnt. Zwar hatte sie am Anfang mit Bob eine Hundeschule besucht, aber sie fand das ständige Einüben der Verhaltensregeln doch zu anstrengend. Alles in allem fand sie, dass sie mit den Tieren gut zu Recht kam und es gab ja schließlich auch keine großen Beschwerden von Nachbarn. So sog sie die frische Luft ein und lief den Weg entlang und genoss den Wald. Die Hunde wussten, wo Miriam entlanglief und sie