Der Wald wirft schwarze Schatten - Kari Brænne - E-Book

Der Wald wirft schwarze Schatten E-Book

Kari Brænne

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Beschreibung

Tief in den Wäldern der Hedmark liegt ein grausames Verbrechen begraben. Ein Verbrechen hat sich ereignet. In einer Hütte, tief im dichten Wald der Hedmark. Eine ganze Familie wird auseinandergerissen. Jahrzehnte später ruft die alte Matriarchin Evelyn alle wieder zusammen. Vor ihrem Tod, an ihrem fünfundachtzigsten Geburtstag, müsse sie ihnen unbedingt etwas Wichtiges mitteilen. Mit unguten Vorahnungen reist Wilhelm aus den USA an. Seit mehr als dreißig Jahren hat er seine Mutter nicht mehr gesehen. Auch der Schauspieler Robert erhält von der merkwürdigen alten Dame eine Einladung, zusammen mit einer rätselhaften Karte und einem Schlüssel ... Am Ende finden sie sich wieder dort ein, wo das Übel seinen Ursprung genommen hat, dort, wo der Wald schwarze Schatten wirft. Und sie blicken in den Abgrund ihrer Vergangenheit. «Dieses Buch hebt sich in vielem von der Masse ab. Es entwickelt einen außergewöhnlichen sprachlichen Sog, ist nüchtern erzählt und doch von großer Dramatik.» Hamar Arbeiderblad «Ein guter Roman – spannend, dramatisch, nervenaufreibend, manchmal sogar ekelerregend ... Ich werde die Augen nach Brænnes nächstem Buch offen halten!» My online library «Ausgezeichnet geschrieben, dramatische Spannung tief aus den Wäldern.» Dag og Tid

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Seitenzahl: 450

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Ähnliche


Kari F. Brænne

Der Wald wirft schwarze Schatten

Roman

Aus dem Norwegischen von Anne Bubenzer und Dagmar Lendt

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

WidmungErinnerst du dich? ...1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel
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Für jene, die gegangen sind

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Erinnerst du dich? Es war so schön. Alles war so schön. Du und ich – auf dem Pfad. Unter den Bäumen. Ich vorweg, du hinter mir. Dieses Licht, die Sonne über der Heide, als wir ankamen. Aufschließen, eintreten. Nachsehen, ob alles in Ordnung, alles an seinem Platz ist. Ob jemand da gewesen ist.

Wie wir auf unserer Treppe vor der Hütte saßen. Sie gehörte nur uns. Ein Bier im Rucksack, fast noch kalt. Wie wir Essen kochten, in der kleinen Küchennische. Eine Puppenmahlzeit. Weißt du noch, wie schön es war, sich auf dem Bettsofa zusammenzurollen, eng umschlungen, um die Wärme zu halten. Ein schwacher Geruch nach Schimmel. Aber hauptsächlich nach Fichten, Kiefern. Moos und Heidekraut. Der Geruch der torfigen Erde. Und die Mücken, die uns um die Ohren summten. Manchmal bist du aufgestanden, hast nach ihnen geschlagen. Ich habe dann gelacht, aber nicht laut. Und am nächsten Morgen wachten wir auf, mit einem Stich auf der Wange und einem am Arm. Ich weiß noch, wie es gejuckt hat. Eine kleine rote Erhebung auf der hellen Haut am Unterarm. Wie Perlmutt war meine Haut. Du hast sie geliebt, erinnerst du dich? Du hast mich mit Küssen bedeckt, hast mich festgehalten. So fest. Und dann geriet alles ins Stocken. Du solltest mich jetzt mal sehen.

Am Morgen, wenn der Nebel im Morgengrauen über das Moor zog, war es immer am schönsten. Die Fenster beschlagen. Drinnen feucht, draußen kühl. Die fließende Sonne. Darüber thronte der Himmel, so blau, so klar. So still. In der Ruhe des Waldes aufzuwachen. Erinnerst du dich an die Lichtstreifen zwischen den Bäumen? An den kleinen Bach mit Quellwasser? Wir brauchten keinen Brunnen. Wir brauchten ihn nicht, aber du hast ihn trotzdem gebohrt. Tief. Es war nie richtig Wasser darin, nur Schlamm. Dunkles Moorwasser.

Weißt du noch, als wir die Kreuzotter entdeckten, die auf dem Pfad lag und sich sonnte? Du wolltest sie totschlagen. Du hattest Angst, sie könnte mich beißen. Du wolltest sie mit der Axt töten, sie mit einem Hieb in zwei Stücke teilen. Ich habe dich aufgehalten. Sie ist schön, habe ich gesagt. Sieh doch, wie schön sie ist.

Und wie man es plötzlich in den Beinen merkte, den steilen Pfad, den weiten Weg. Ein spätes Frühstück auf der Hügelkuppe, Kaffee aus der Thermoskanne. Und der folgende Abend, so lang und intensiv. Die Sonne sahen wir am längsten, wenn wir dort oben saßen. Wir hielten den goldenen Moment fest, ehe sie verschwand. Liebten uns vor dieser Aussicht, im Sonnenuntergang. Weißt du noch, wie du danach die Tannennadeln aus meinen Haaren gepflückt hast? Und mich noch einmal küsstest, auf den Mund. Weißt du noch, dass ich einen Mund hatte? Wenn wir zu lange warteten, war der Pfad schwer zu finden. Schwer, wenn wir warteten, bis alles zu Ende war. Dicht war die Dunkelheit. Es gab keinen Weg zurück. Hinaus und man verschwindet. Hinaus und alles ist vorbei.

Warum bin ich so allein? Warum kann ich nicht schlafen? Warum muss ich warten? Warten, suchen, sehnen. Was, wenn ich länger als hundert Jahre warten muss?

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1

Der Kopfschmerz bohrt hinter Wilhelms grauen Schläfen, aber er widersteht dem Drang, sie mit den Fingern zu massieren. Er behält beide Hände am Steuer und konzentriert sich auf die Straße, die sich in sanften Kurven durch Pittsburghs bessere Gegenden windet, bis er den Garten in Squirrel Hill erreicht, den neuen Auftrag. Er stellt den Motor ab, zieht die Handbremse an.

Auf der anderen Straßenseite liegt der Hillside Cemetery. Er muss nicht hinsehen, er weiß, dass er dort ist, mit all seinen Grabsteinen und eingravierten Namen. Wieder spürt er den Druck hinter der Stirn und schließt die Augen für einen Moment, dann öffnet er die Tür und steigt aus.

«Come on, boy», sagt er zum Hund. Jack freut sich auf einen Spaziergang und springt schwanzwedelnd hinter ihm her.

Die Hitze steht wie eine Wand vor ihm. Der Wechsel vom klimatisierten, kühlen Auto in die Wärme ist ein Schock. Nach all den Jahren hat er sich immer noch nicht daran gewöhnt. Der Gartenbesitzer Mr. Hamilton erscheint auf der Außentreppe der großen Villa. Er begrüßt ihn mit ausgestreckter Hand.

«Nice to meet you», sagt er.

Wilhelm nickt und hält den Hund, der auf den Gartenbesitzer zuspringen will, am Halsband fest. Hamilton lässt den Hund an seiner Hand schnuppern, bevor er ihn streichelt.

«Ein Rhodesian Ridgeback?»

«Nur ein Straßenköter.»

«Nice dog.»

«Ich will ihn demnächst loswerden.»

«Ach, warum das?»

«Warum?»

Der Gartenbesitzer sieht ihn einen Moment an, dann schüttelt er leicht den Kopf und geht auf den Rasen.

«Also – was meinen Sie?», fragt er. «Kriegen Sie es hin, dass hier alles schön grün wird?»

Wilhelm blickt sich um. Ja, ein ordentliches Stück Arbeit, kein Zweifel. Überall trockene, gelbe Stellen und dazwischen harte Büschel von Quecken.

«No problem. Aber wir müssen den Garten natürlich vollkommen umgraben und neu anlegen.»

«Natürlich. Was halten Sie von einem Magnolienbaum am Eingang? Meine Frau mag so was.»

«Magnolie ist gut», sagt Wilhelm und bindet Jack an einen Zaunpfahl. Der Hund gibt ein fast unhörbares Winseln von sich, ehe er sich auf dem hellbraunen Gras zusammenrollt.

Der Gartenbesitzer führt Wilhelm über einen Steinplattenweg zum rückwärtigen Garten. Wie so oft warten die wirklichen Herausforderungen hinter dem hohen Zaun auf der Rückseite des Hauses, gut versteckt vor den Nachbarn. Wilhelm hat schon riesige Schrotthaufen gesehen, Ansammlungen kaputter Kühlschränke, ausrangierter Sofas und Autowracks. Aber so was stellt keine Schwierigkeit dar, so was kann man auf die Müllkippe bringen. Das größere Problem sind meist die verschiedenen Pflanzen, die sich in Sommern, in denen die Luft vor Hitze und Feuchtigkeit flimmert, über Jahrzehnte ungehindert ausbreiten können. Ein undurchdringliches Netz von Schösslingen und Wurzelwerk, das alle Kraft aus der Erde saugt. Erst wenn neue Eigentümer einziehen, so wie in diesem Fall, kommt alles ans Licht.

«What do you think?», fragt Hamilton.

Wilhelm seufzt. Dieser Garten gehört ohne Übertreibung zum Schlimmsten, was er je gesehen hat. Nicht genug damit, dass eine Ecke völlig von Giftefeu überwuchert ist. Die langen Ausläufer sind eine große Buche hinaufgeklettert und ranken außerdem in dichten Büscheln am Zaun, wo sie auf die Pforte zuwachsen. Ein echter Scheißjob, der größte Vorsicht erfordert, außerdem Ganzkörper-Schutzkleidung, die man hinterher nur noch wegwerfen kann, und einen großen Eimer Spritzmittel. Trotzdem, das ist Routine. Schlimmer ist das Sortiment an Pflanzen, mit denen der bisherige Besitzer den Garten vollgestopft hat. Er hat nicht nur genug Zucchini angebaut, um eine ganze Armee damit durchzufüttern. Er hat auch Bambus gepflanzt und irgendwann sowohl das Interesse daran als auch die Kontrolle darüber verloren. Der asiatische Dschungel bedeckt undurchdringlich mehr als die Hälfte des Gartens.

«You can see it from space», betont der Gartenbesitzer. «You can see that bamboo in fucking Google Earth. Pardon my language.»

«Oh yeah?», sagt Wilhelm und wirft einen schnellen Blick zum Himmel. Da ist nichts, natürlich nicht. Trotzdem läuft ihm ein sinnloser Schauer über den Rücken.

«Kriegen Sie den weg, was meinen Sie?»

«What?»

«Den Bambus», entgegnet Hamilton mit einem Anflug von Ungeduld in der Stimme.

«Of course. No problem at all.»

Wilhelm umfasst einen der dicken Stängel. Die sind nicht wie normales Holz, sondern hart wie Stein. Und sie stehen dicht an dicht. Wie lang die Wurzeln sind und wie tief sie in die Erde reichen, wissen nur die Götter.

«Kinderfreundlich», sagt Hamilton. «Das ist die Hauptsache. Der Garten hinter dem Haus soll ein Spielplatz werden. Wo wir sie rauslassen können, ohne uns Sorgen machen zu müssen. Wir bekommen ja bald noch eins.»

«Kid proof.»

«Exactly. Alle Pflanzen müssen entweder essbar oder völlig uninteressant für Kinder sein. Gleichzeitig ist es mir und meiner Frau wichtig, dass wir ständig alles im Blick haben können. Dass wir keine Angst haben müssen, sie könnten zu Schaden kommen. Kleine Kinder kommen auf alle möglichen Ideen, wissen Sie. Ich will auf keinen Fall, dass sie sich verlaufen oder in irgendeinem Gestrüpp festsitzen. Und sich zu Tode ängstigen.»

Wilhelm lässt sich auf einen Gartenstuhl sinken.

«Ist Ihnen schlecht?», fragt Hamilton.

Er wischt sich den Schweiß von der Stirn. «Certainly not», sagt er und steht wieder auf.

Als der Gartenbesitzer sich schließlich ins Auto setzt und wegfährt, lässt Wilhelm den Hund von der Leine. Jack springt freudig an ihm hoch. Wilhelm krault ihn hinter den Ohren, der Köter schmiegt den Kopf in seine Hand und sieht ihn mit seinen dunkelbraunen Augen auf diese bittende und unerträglich vertrauensvolle Art an.

«So geht’s nicht weiter, weißt du. Geht einfach nicht.»

Er geht zu dem grünen Truck mit dem aufgemalten Schriftzug «Greenwood Landscaping Inc.». Der Hund tollt glücklich hinterher.

Wilhelm öffnet den Laderaum, lässt den Blick über die Ausrüstung wandern und überlegt, welche Waffe am effektivsten gegen den Bambus ist. Ob die kräftigste Heckenschere reicht oder ob er die Motorsäge nehmen muss. Die Stängel werden wahrscheinlich splittern und die Splitter wie Pfeile durch die Gegend schießen, denkt er. Danach wird es eine Mordsarbeit sein, die Wurzeln auszugraben.

Er lädt die Geräte aus und trägt sie hinauf zum Garten, als er merkt, dass noch jemand im Haus ist. Hinter den halb geschlossenen Jalousien erkennt er einen Frauenkopf vor einem flimmernden Fernseher. Sie hat langes blondes Haar, ein fast jungmädchenhaftes Profil. Er tritt näher ans Fenster und betrachtet sie durch die Lamellen. Sie ist hübsch, der Mund leuchtend rot, die Augen hell unter den langen Wimpern, und ihr Hals schlank und weiß. So weiß. Er spürt ein Ziehen. Dieses Ziehen. Es durchbohrt ihn vom Herz bis hinunter in den Magen.

Das Handy klingelt. Wilhelm zuckt zusammen, als wäre er bei etwas Verbotenem ertappt worden. Er nimmt das Gespräch an, ohne nachzusehen, wer es ist.

«Hello», sagt er.

«Hallo? Wilhelm?»

«Wer ist da?», fragt er. Mund und Kehle sind wie ausgetrocknet.

«Ich», sagt sie.

Die Stimme klingt so spröde, als wäre sie mehr tot als lebendig. Und er sieht sie vor sich. Er sieht sie.

«Erkennst du mich nicht? Ich bin es, Wilhelm», sagt sie. «Deine Mutter.»

«Ah», sagt er nach einer Weile. «Natürlich. Jetzt höre ich es.»

«Es ist so lange her», sagt sie mit dieser knittrigen Stimme. «Schrecklich lange. Kommst du gar nicht mehr nach Hause? Wollt ihr nie wieder zurückkommen?»

Sie holt Luft, wartet auf Antwort und fragt dann nach einer Weile: «Wie geht es euch?»

«Gut», lügt er wie üblich. «Uns geht es ganz gut.»

«Robin auch?»

Da ist ein lauernder, beinahe infamer Unterton in ihrer Stimme. Was will sie? Warum quält sie ihn?

«Robin auch», sagt er schwerfällig.

«Du hältst mich zum Narren, nicht?»

«Was soll das heißen?», bellt er wütend.

«Robin ist gar nicht drüben», sagt sie.

Er versucht sich zu zügeln. «Ach was», sagt er, so ruhig er kann.

«Er ist nicht bei dir, Wilhelm.»

«Natürlich ist er das.»

«Nein, ist er nicht. Ich habe ihn nämlich gesehen. Hier in Norwegen.»

«So, du hast ihn gesehen?», sagt er mit einem kleinen Lachen und setzt sich auf die Treppe vor dem Haus, von wo er Aussicht auf den Friedhof hat. Auf manchen Grabsteinen sind hinter beschlagenem Glas verblasste Fotos der Toten zu sehen. Von hier aus kann er das natürlich nicht erkennen. Aber er weiß es. Er ist schon öfter über den Friedhof gegangen und hat es gesehen. Bilder der Toten, aufgenommen in besseren Zeiten. Viele Jahre bevor sie starben. Hinterher rausgesucht und auf dem Grabstein befestigt. Ein abscheulicher Brauch.

«Es ist unfair, mir nicht zu erzählen, dass er hier ist», fährt sie eindringlich fort.

«Wo hast du ihn gesehen?»

«Ich habe ihn noch nicht getroffen. Nicht richtig.»

«Nicht richtig? Wie denn sonst?», entgegnet Wilhelm, zu laut.

«Schrei mich nicht an. Ich werde ihn treffen. Aber erst will ich ihm schreiben. Ich mache das auf jeden Fall, auch wenn er nie antwortet. Aber vielleicht antwortet er ja diesmal, jetzt, wo er hier ist.»

Wilhelm sieht die Briefe vor sich, die in regelmäßigen Abständen in seinem Postkasten landen. Mit norwegischen Briefmarken, mit der immer zittriger werdenden Handschrift, mit seinem Namen. Noch öfter mit dem Namen des Jungen. Die Briefe, die er hastig zusammenknüllt, in Fetzen reißt, in den Mülleimer wirft. Vergessen. Er starrt auf seine Finger, auf die schmutzigen Nägel. Es ist immer Erde unter seinen Nägeln. Er schrubbt sie ständig, hält sie kurz, aber die Trauerränder sind im Handumdrehen wieder da. Sie sind immer da.

«Ich fühle mich zurzeit nicht gut», sagt sie. «Mir ist schwindlig, und ich habe Angst, dass ich nicht mehr erlebe, wie …»

«Unsinn, Mutter.»

«Ich bin alt, Wilhelm. Weißt du, wie alt ich bin? Es gibt ein paar Dinge, die in Ordnung gebracht werden müssen. Das Haus. Die Sachen. Die Hütte.»

«Was für eine Hütte?»

«Die Hütte im Wald. Die Hütte. Du erinnerst dich doch wohl daran?»

«Die ist weg», sagt er schnell. «Abgebrannt.»

«Nein, ist sie nicht! Erinnerst du dich an Onkel Nils? In den letzten Jahren bevor er starb, hatten wir wieder Kontakt. Er ist durch den Wald gewandert, das muss vergangenes Jahr im Herbst gewesen sein. Ich kann nicht begreifen, warum er unbedingt so weit laufen wollte, der alte Mann. Aber jedenfalls war er dort. Und stell dir vor, sie steht noch!»

«Unmöglich», sagt Wilhelm. «Davon hat doch niemand gewusst.»

Seine Kehle ist trocken.

«Sie ist abgebrannt», sagt er wieder und schmückt die alte Lüge aus. «Ich habe dir doch erzählt, wie schnell sie in Flammen aufgegangen ist. Aber dass ich – wir es geschafft haben, das Feuer zu löschen, bevor es auf den Wald übergreifen konnte. Es war ein Schornsteinbrand.»

«Na ja. Ich war auch ein bisschen überrascht, als Nils sagte, er hätte sie gesehen. Ob er sich geirrt hat?»

Wilhelm kneift die Augen zusammen, presst den freien Daumen an die pochende Schläfe.

«Wilhelm, bist du noch da?»

«Ja.»

«Ich will, dass du nach Hause kommst.»

«So, willst du das.»

«Es gibt etwas, was ich dir sagen muss.»

«Was denn?»

«Da ist früher einmal was vorgefallen.»

«Wo?»

«Im Wald.»

Der Schweiß läuft ihm von der Stirn.

«Was ist da vorgefallen?», fragt er ruhig. Ganz ruhig.

«Kein Grund, sich aufzuregen. Ich kann dir das nicht am Telefon sagen. Das kann ich einfach nicht. Du musst kommen, Wilhelm. Du sollst die ganze Geschichte hören, bevor ich sterbe. Deine – eure Geschichte.»

«Was für eine Geschichte!?»

«Ich werde sie euch erzählen. Euch beiden.»

«Uns beiden? Von wem, zum Teufel, redest du?»

«Robin.»

«Aber er ist doch nicht da!»

Plötzlich sieht er den Jungen vor sich. Sein kleines Gesicht, vom Weinen verzerrt. Nein. Unmöglich. Weg, weggewischt. Für immer ausradiert.

«Du sollst nicht so schreien, sag ich. Kannst du nicht zu – meinem Geburtstag kommen?»

«Geburtstag?»

«Ich werde am sechsundzwanzigsten September fünfundachtzig.»

«Das ist ja schon in ein paar Tagen.»

«Dann können wir uns zusammensetzen und reden. Es gibt so viel, was ich gerne erzählen würde. Über die Hütte. Über andere Dinge.»

Er denkt angestrengt nach. Was will sie damit bezwecken? Sie konnte die Hütte doch nicht leiden. Sie hat die Stelle im Wald gehasst. Deshalb kam nie jemand dorthin. Dort war Frieden, dort war es sicher. Aber nun ist es nicht mehr sicher. Jemand kann kommen, jemand kann etwas sehen. Und was weiß sie? Kann Onkel Nils etwas gefunden haben? Etwas weitererzählt haben?

«Ich komme», sagt er.

«Was hast du gesagt?»

«Ich komme.»

«Du kommst nach Hause?»

«Das sage ich doch.»

«Oh, Wilhelm!»

Sie klingt glücklich. Merkwürdig glücklich. Er sitzt mit dem Telefon in den Händen da, noch lange nachdem er aufgelegt hat.

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2

Sie atmet tief durch und lehnt sich auf dem Sofa zurück, ehe sie den Blick durch das Zimmer schweifen lässt. Die hellrote Tapete mit dem Rosenmuster, das dunkle Buffet mit den gedrechselten Beinen. Die alte Uhr auf dem Mahagonischrank. Die Kristallfiguren in der Spiegelvitrine. Die Blumenbilder. Die Gemälde. Der Esstisch mit den vier Stühlen. Dass er wirklich kommen und mit ihr zusammen am Tisch sitzen wird! Und das, wo sie schon seit Jahren keinen Besuch mehr hatte. Außer von Aslaug, natürlich. Aber die zählt ja nicht.

Evelyn nickt dem gelbgrünen Wellensittich im Käfig zu.

«Stell dir vor, Polly, er kommt. Endlich kommt er wieder nach Hause.»

Polly sieht sie an und nickt mit dem Kopf. Evelyn erhebt sich vom Sofa, geht zum Vogelbauer, müht sich mit zitternden Fingern, die kleine Futterschale herauszubekommen, und öffnet die Tüte mit den Körnern. Einige rieseln auf den Fußboden, aber das macht nichts. Es sind nicht die ersten.

Sie stellt den Futternapf wieder in den Käfig, löst die kleine Wasserflasche.

«Und dann auch noch zu meinem Geburtstag!»

Sie seufzt leicht, schlurft in die Küche und füllt frisches Wasser in die Flasche, schaut durch die Gardine hinaus, zur Pforte und die Straße entlang, ob sie Aslaug entdecken kann, die für gewöhnlich um diese Zeit vorbeikommt. So steht sie da und schaut eine ganze Weile. Aber niemand kommt den Berg hinauf. Keine dicke, atemlose Aslaug, die den Rollator vor sich herschiebt. Sie schlurft zurück in die Stube, befestigt die Wasserflasche am Käfig.

«Die wird Augen machen! Wo sie doch immer denkt, ich hätte niemanden außer ihr.»

Polly nickt, das kluge Vögelchen, bevor es den Schnabel unter die Flügel steckt und sich die Federn zurechtzupft.

Das Telefon klingelt. Evelyn hält mitten in der Bewegung inne und starrt den Apparat an. Kann es sein, dass er zurückruft? Aber warum sollte er? Will er vielleicht doch nicht kommen?

«Kommt nicht in Frage», sagt sie. «Nein, er muss kommen. Er muss einfach.»

Sie dreht dem Telefon den Rücken zu, wackelt hinaus in die Küche und verharrt regungslos, während es in der Stube klingelt und klingelt. Bis sie sich beinahe wünscht, sie wäre taub. Doch dann geht ihr ein Licht auf.

«Aslaug», sagt sie zu sich selbst. «Natürlich. Klatschsüchtig wie immer. Ganz wild darauf, über ihre Kinder zu reden, ihre Enkelkinder. Na, die wird jetzt was zu hören bekommen!»

Sie schlurft zurück in die Stube, so schnell sie kann. Reißt im selben Moment den Hörer hoch, als es aufhört zu klingeln.

«Ah, na ja», sagt sie und lässt sich auf einen Stuhl fallen. «Ich hatte sowieso keine Lust, mit ihr zu reden.»

Sie blickt aus dem Stubenfenster. Was für ein schönes Licht, orangefarbenes Abendlicht. Keine Sonnenstrahlen, natürlich. Die kommen ja nie hierher. Diese Seite von Ekeberg erreicht die Sonne nicht. Aber sie kann sehen, dass sie unten in der Stadt auf die hohen Häuser, die Dänemarkfähre scheint. Der Himmel darüber ist tief herbstblau und wunderschön. Links wird die Aussicht von einem Fliederbusch eingerahmt. Er ist größer denn je und beugt sich schwer über den weißen Gartenzaun. Jetzt hat er nur noch Blätter, die bald braun werden. Aber im Frühling kommen die Blüten wieder.

Denn alles kann sich ändern, nickt sie. Und Grün ist die Farbe der Hoffnung. Es wird immer wieder Frühling. Auch wenn erst der Winter kommen muss. Ein Winter, in dem der Flieder nackt dasteht, man sieht nur noch das Unterste, Innerste. Kahle Zweige, die versuchen, nach etwas zu greifen. Die sich in die leere Luft krallen, aber nie etwas anderes zu fassen bekommen als Wind und peitschenden Regen und den eiskalten Schnee.

«So, na», sagt sie und wischt sich eine Träne ab, dann schlägt sie die Zeitung auf und blättert zurück zu der Seite mit dem jungen Mann. Das große Anzeigenfoto vom Theater, das nur sein Gesicht zeigt, kein anderes.

«Jaja», nickt sie. «Schade, dass er seinen Namen nicht mehr benutzt, dass er sich einen Künstlernamen zugelegt hat.»

Sie hebt die Brille an, hält die Zeitung dichter vor die Augen. Selbstverständlich ist er das, aber ja doch. Obwohl sie ihn nicht mehr gesehen hat, seit er ganz klein war. Unmöglich, dass irgendjemand anderes als ein sehr enger Verwandter so aussieht. Übrigens hat sie ihn nicht nur in der Zeitung gesehen. Das erste Mal ist er ihr in dieser Fernsehserie aufgefallen. Sie handelte vom Krieg, ausgerechnet. Eine Szene im Winter, draußen im Wald. Da fing ihr Herz an zu rasen, sie bekam keine Luft mehr, musste sich am Sofa festklammern, so unglaublich war die Ähnlichkeit. Als wäre er wiederauferstanden. Der Körperbau. Das Gesicht. Die Farben. Dieselben dunklen Augen, dasselbe dunkle Haar. Die bronzefarbene Haut. Sogar dieselben Bewegungen, und das Lächeln! Kein anderer ist so attraktiv wie er. Oder du. Keiner. Und gäbe es trotzdem noch irgendeinen Zweifel, würde sie es rasch herausfinden. Sie hat ja eine Karte für die Vorstellung, hat sie schon vor langer Zeit gekauft, und morgen ist es schon so weit!

«Er ist ihm noch ähnlicher als Wilhelm. Viel ähnlicher.»

Polly legt den Kopf schräg.

«Und er weiß es nicht einmal. Sie wissen es nicht. Aber jetzt sollen sie erfahren, wo sie dieses Aussehen herhaben. Nach wem sie kommen. Ich kann es ja nicht einfach mit ins Grab nehmen.»

Sie blickt wieder zu dem Vogel hinüber.

«Ich habe vor langer Zeit versucht, es Wilhelm zu erzählen. Aber ich konnte nicht, verstehst du. Was passiert ist, was sie getan haben. Was ich …»

Ihre Stimme bricht.

«Genug jetzt», sagt sie und schluckt das Weinen hinunter, das ihr in die Kehle steigt. «Ich habe doch nur getan, was alle anderen auch getan hätten.»

Aber jetzt kommt er, jetzt kann sie es loswerden, sie wird alles von Anfang an erzählen.

«Wilhelm, mein Junge. Er kommt, weil ihm seine alte Mutter am Herzen liegt!»

Sie fühlt Freude, als sie das sagt. Als wäre da ein kleines, süßes Pralinenherz in ihr, eingepackt in rotes Cellophan. Dass er so lange nicht hier war, hat jedenfalls nichts mit ihr zu tun. Wenn Leute so weit wegziehen, wenn die Entfernung so groß ist, gibt es zwei Möglichkeiten – entweder, sie haben die ganze Zeit Heimweh und halten fast übertrieben engen Kontakt zur Heimat, oder aber sie schauen nicht ein einziges Mal zurück und fangen einfach ein völlig neues Leben an.

«Natürlich ist genau das mit Wilhelm und seiner kleinen Familie passiert», nickt sie. «Sie sind weggegangen und haben nie mehr zurückgeschaut.»

Denn warum hätten sie auch zurückschauen sollen? Bei den Berufen, die sie gewählt hatten, konnten sie ebenso gut in Amerika leben. Wilhelm als Gärtner, die blassblonde Elise als eine Art Künstlerin. In Amerika hatten sie alle Möglichkeiten, ja, und hier gab es nichts, was sie zurückgehalten hätte. Elise hatte ihres Wissens nicht einmal Familie. Ihre Mutter war wohl tot. Sie hatte nur einen Stiefvater. Aber der war ein Trunkenbold, der sich nichts aus ihr machte. Nein, sie allein war die engste Vertraute. Obwohl, eigentlich konnte man das wohl kaum so nennen. Im letzten Jahr, bevor sie auswanderten, hatten sie keinen Kontakt mehr gehabt. Nicht nach dieser schrecklichen Geburtstagsfeier. Wilhelm war nicht einmal vorbeigekommen, um sich zu verabschieden, bevor sie wegfuhren. Nicht, dass sie es gewollt hätte. Sie hatte wirklich nicht das Bedürfnis gehabt, ihn nach dem katastrophalen Fest wiederzusehen. Aber mit der Zeit vermisste sie die Kinder natürlich doch.

«Sie haben dort drüben wohl Anschluss gefunden», seufzt sie. Obwohl es schon ein bisschen schwerfällt, sich vorzustellen, dass sie Wurzeln geschlagen haben, so oft, wie sie umgezogen sind. Sie öffnet das Buffet, nimmt den Schuhkarton mit den Ansichtskarten heraus, die im Laufe der Jahre gekommen sind. Postkarten mit Hochglanzfotos. Viel geschrieben hat er ja nicht, hat ihr nicht einmal jede neue Adresse mitgeteilt. Manchmal kamen ihre Briefe zurück. Aber dann, nach einer Weile, kam eine neue Karte aus einem anderen Ort. Lebenszeichen mit aufgedruckten «Holidays». Happy natürlich. Er wünschte ihr das, selbstverständlich. Denn er liebte sie, wie nur ein Sohn seine Mutter lieben kann. Sie war eine gute Mutter, und er hat sie lieb gehabt. Er hat sie lieb. Das hier ist der Beweis.

Dass er ihr nie einen ausführlichen Brief geschrieben hat, das hat sie schon ein wenig betrübt. Denn auf einer Postkarte kann man nicht viel mitteilen. Fotos hat er auch nie geschickt, obwohl sie darum gebeten hat. Lasst mich doch sehen, wie groß Robin geworden ist! Wie geht es ihm? Woran hat er Spaß? Ich möchte so gerne wissen, was ich ihm zum Geburtstag schenken kann! Mit der Zeit merkte sie, dass erst recht keine Antwort kam, wenn sie zu sehr drängte. Vielleicht war das Wilhelms Art zu protestieren, vielleicht spielte seine etwas schwierige Kindheit immer noch eine Rolle. Denn dass es manchmal schon ein wenig hart war, lässt sich nicht leugnen. Er ist ja kein einfaches Kind gewesen. Wie auch immer – es konnten Jahre vergehen, bis sie wieder etwas von ihm hörte, und dann von einem ganz anderen Ort.

Aber im Laufe der Jahre hat sich ein hübscher Stapel Postkarten angesammelt, immerhin. Und eines Tages, wenn Aslaug wieder behauptet, dass sie niemanden hat, wird sie die Karten hervorholen. Und wie nennst du das dann? Mein Sohn – lebt draußen in der großen Welt. Mein Sohn hat in New York und Chicago gewohnt! Mein Sohn hat gewohnt, wo die Häuser an den Wolken kratzen! So hohe Häuser hast du noch nie gesehen. Und was ist mit diesen phantastischen roten Bergen? Mein Sohn ist dort gewesen. Er hat sie gesehen. Und schau dir das an – diese Wüste, siehst du? Hier wachsen echte Kakteen! Mein Sohn hat dort gelebt. Und was sind schon norwegische Wasserfälle gegen diesen Wasserfall? Wenn das nicht Kontakt halten ist, dann weiß ich auch nicht.

Sie blättert durch die Karten, betrachtet die Stempel, das Datum, sortiert sie. New York City, 1978. Concord, New Hampshire, 1983. Chicago, 1987, San Diego, California, 1991, San Antonio, Texas, 1995. Las Cruses, New Mexico, 2002. Pittsburgh, Pennsylvania, 2007. Es wird übrigens nicht nötig sein, Aslaug irgendwas zu zeigen, denn das Wunderbare ist ja, dass er kommt. Und dann wird Aslaug wirklich Augen machen.

Sie öffnet den Käfig, lockt Polly auf ihren Finger.

«Sie wird ihn zu sehen bekommen – höchstpersönlich. Jaja.»

Polly klettert ihren Finger hinauf, bleibt kurz sitzen, nickt mit dem Kopf.

«Der junge Mann, stell dir vor, wenn wir ihn auch dazu bringen könnten, herzukommen? Zur selben Zeit? Das wäre doch was, du! Stell dir vor, wir könnten beide gleichzeitig treffen.»

Sie denkt nach. Kann sie das machen, ihm eine Einladung schicken: Würden Sie zu meiner Geburtstagsfeier kommen, ich werde fünfundachtzig? Nein, nicht schicken – sie geht ja ins Theater, sie kann sie ihm persönlich überreichen! Denn es gibt doch so etwas wie Garderoben, in denen man die Schauspieler besuchen kann? Das hat sie jedenfalls im Film gesehen.

Sie muss kichern. Die Idee ist ja der pure Wahnsinn. Sie versucht, es vor sich zu sehen. Sie im Theater, in Gott weiß welchem Kleid. Na, das ist wohl egal, sie ist schon seit einer Ewigkeit keine Augenweide mehr. Aber trotzdem, wie sie vor dem jungen Schauspieler steht, mit ihrem Brief, der Einladung, wie sie ihn aus der Tasche zieht und ihm überreicht, ihm, der eine so unglaubliche Ähnlichkeit mit dem anderen hat, dass er, wenn es nicht so etwas wie Zeit gäbe, tatsächlich der andere wäre. Und wenn es nicht so etwas wie Zeit gäbe, wäre sie jung und schön, und alles könnte noch einmal von vorn beginnen. Sie mit dem Brief, den sie vor langer Zeit hätte schreiben sollen. Einen anderen Brief, mit einer ganz anderen Nachricht. Der richtigen Nachricht, die ihn dazu gebracht hätte, in die andere Richtung durch den Wald zu rennen, über die Grenze anstatt direkt in die Arme seiner Henker.

Sie seufzt schwer, spürt den Klumpen in sich. Den alten zähen Klumpen, der sie ausfüllen und alles schwarz machen wird, wenn sie nicht aufpasst. Sie versucht, einen Gedanken zu finden, der sie ablenken kann, aber es gelingt ihr nicht, etwas anderes vor sich zu sehen als den Waldsee. Den kleinen Weiher in der Nähe der Hütte. Wie sie hineinging, untertauchte und sich vorstellte, nie wieder an die Oberfläche zu kommen. Wie sie die Augen öffnete und auf den schlammigen Grund starrte und sich zwang, unten zu bleiben, bis sie so schlaff wie ein Lappen war. Sich vorstellte, dass sie den Mund öffnete, um Wasser in die Lungen zu saugen, sie ganz zu füllen, bis sie platzten. So, wie sie es verdiente. Sie schaffte es nicht. Kam am Ende immer wieder hoch, schnappte nach Luft, erleichtert und beschämt zugleich. Ich rette nicht mich, hatte sie da gedacht. Nur das Kind. Aber das war eine Lüge. Sie dachte nicht an das Kind. Wollte es ja gar nicht haben. Das Kind war an allem schuld. Sie war es, die leben wollte. Es gibt immer Überlebende.

«Solange es Leben gibt, gibt es Hoffnung», murmelt sie. «Und es muss doch noch möglich sein, etwas wiedergutzumachen.»

Sie erhebt sich, schlurft in den Flur und steigt die Treppe ins Obergeschoss hinauf. Wilhelms ehemaliges Zimmer ist längst zu einem Nähzimmer geworden. Sie öffnet den Sekretär, zieht die oberste Schublade auf und findet das Schreibset, die Doppelkarten mit Blumensträußen darauf. Sie sucht eine schöne Karte mit Maiglöckchen, Leberblümchen und Buschwindröschen aus, hübsche Dinge, die zum Frühling gehören. Schreibt. Es ist nicht so wichtig, was genau, Hauptsache, die Adresse ist dabei, Telefonnummer, Datum und Uhrzeit der Feier. Er weiß ja, wer sie ist, auch wenn er sich vom Aussehen her vielleicht nicht mehr an sie erinnert. Er war ja noch so klein, als sie ihn zuletzt gesehen hat. Aber es wird ihm alles wieder einfallen, wenn er einen Blick auf den Umschlag wirft. Er wird ihre Handschrift von den früheren Briefen wiedererkennen. Sie steckt die Karte in den Umschlag und will ihn gerade zukleben, als sie innehält.

Selbst wenn es ihr gelingt, den Brief zu überreichen – welche Garantie hat sie, dass er auch wirklich kommt? Die jungen Leute heutzutage haben ja so viel um die Ohren. Vielleicht ist es nicht genug, dass er endlich seine Oma wiedersehen kann, nach so vielen Jahren. Ob sie etwas in den Umschlag hineintun soll? Ein kleines Geschenk, sodass er gar nicht anders kann, als zu kommen? Etwas Spannendes, das seine Neugier weckt? Hat sie so etwas?

Sie zieht die anderen Schubladen des Sekretärs auf. Kramt durch Packpapier, Geschenkpapier und Schleifen, Schreibsachen, Packschnur in verschiedenen Stärken, Gummibänder und Mottenkugeln, fest in Plastiktüten verpackt, trotzdem riechen sie stark. Öffnet die letzte Schublade und findet einen Haufen alter Schlüssel. Sie nimmt sie heraus, legt sie nebeneinander auf den Tisch und versucht sich zu erinnern, zu welchen Türen sie passen.

«Der war für die Haustür», nickt sie. Bevor sie das Schloss ausgewechselt hat. «Und das ist der Schlüssel zur Kellertür.»

Da ist auch ein Schlüssel für das Vorhängeschloss am anderen Keller. Dem Kohlenkeller – der nur von außen zugänglich ist. Dem Raum ohne Fenster, tief in der Erde, in dem sich nie jemand aufgehalten hat und der niemals für etwas anderes benutzt wurde als für Kohlen und Holz.

«Für nichts anderes», sagt sie und greift nach dem Ring mit den Ersatzschlüsseln fürs Haus, sieht sie durch, sie sind wohl komplett.

Da liegt auch noch ein anderes Bund, mit drei richtig alten Schlüsseln. Sie kennt sie gut. Sie gehören zu dem Hof, auf dem sie aufgewachsen ist, den sie vor langer Zeit einmal ihr Zuhause genannt hat. Der Vater hatte vergessen, sie ihr abzunehmen, ehe er sie vom Hof jagte. Ob sie wohl immer noch passen?

Jetzt liegen nur noch zwei Schlüssel auf dem Tisch. Den einen kennt sie. Er ist für den Verschlag im Flur. Die kleine Kammer mit den Wintermänteln, Wollpullovern und Stiefeln, in der Wilhelm ganz selten einmal eine kleine Weile verbringen musste, wenn er besonders ungezogen gewesen war.

Nur ein Schlüssel bleibt übrig. Sie nimmt ihn, dreht und wendet ihn, erkennt ihn aber nicht wieder. Er ist ziemlich klein, vermutlich für ein Vorhängeschloss. Er sieht neu aus und blank, als sei er niemals benutzt worden. Zu welcher Tür gehört er? Der kann doch nicht für die Hütte im Wald sein? Hat Wilhelm sie nicht repariert? Es ging sie ohnehin nichts an, sie wollte ja nichts damit zu tun haben, wollte nicht einmal etwas davon hören. Sie muss ihre Ohren verschlossen haben. Trotzdem ist es möglich, dass sie einen Schlüssel bekommen hat. Immerhin ist die Hütte noch auf ihren Namen eingetragen.

Sie dreht ihn noch einmal zwischen den Fingern, bevor sie ihn in den Umschlag legt. Danach sieht sie sich das Regal über dem Sekretär an, zieht den Ordner mit der Aufschrift «Wichtige Papiere» heraus. Sie weiß, was er enthält – die Eigentumsurkunde für das Haus, die Schuldverschreibung an die Bank, Versicherungspolicen. Sie blättert die Papiere durch und muss husten von all dem feinen Staub, der aufwirbelt. Viele Jahre ist es her, dass sie die Mappe durchgesehen hat. Aber jetzt wird es Zeit. Diese Dinge muss sie ja in Ordnung bringen, bevor Wilhelm kommt.

«Sieh an», murmelt sie und zieht ein zusammengefaltetes Blatt heraus. Sie faltet es auf. Die Karte ist so mürbe, dass Löcher in den Falzen sind. Aber es ist die richtige, ohne Zweifel. Sie legt das Blatt wieder zusammen, steckt es in den Brief für Robin und klebt den Umschlag zu.

«Man kann über mich sagen, was man will. Aber jedenfalls steckt eine gewisse Logik hinter dem, was ich tue», sagt sie. «Denn falls ich nicht selbst daran denken sollte, wird mich der Junge daran erinnern, was ich erzählen wollte, wenn er mich fragt, was das ist.»

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3

Das Raumschiff vollführt einen Hopser, ehe es mit einem Krachen mitten auf einer riesigen Ebene aufsetzt.

«Gute Landung», sagt Luke Skywalker.

«So gut, dass wir jetzt ein Loch haben», sagt Wolf.

Luke dreht sich um und sieht nach. Wolf hat recht, im Karton ist ein großes Loch.

«Das reparieren wir später», sagt Luke.

«Na, hoffentlich müssen wir nicht schnell abhauen, weil uns jemand auf den Fersen ist.»

Luke setzt seinen Weltraumhelm auf, öffnet die Tür und stellt erst den einen, dann den anderen Fuß auf den Boden des Waldplaneten. Er springt hinaus und kommt mit vollem Gewicht auf.

«Normale Schwerkraft», seufzt er.

«Es wird bestimmt trotzdem eine tolle Expedition», sagt Wolf. «Mit dir ist es nämlich immer spannend, Luke.»

Luke schaut sich um. Auf der einen Seite der Ebene erhebt sich ein gewaltiger Vulkan. Vom Gipfel steigt Rauch auf.

«Dort wohnen die Monster», sagt Luke.

«Welche Monster?», fragt Wolf ängstlich.

«Die Lavamonster.»

«Sind die gefährlich?»

«O ja. Sie sind groß, schwarz und kochend heiß und haben lange Arme, mit denen sie uns fangen können. Wenn sie dich in die Finger kriegen, ziehen sie dich ins Innere des Vulkans und braten dich. Und dann wirst du ein Zombie.»

«Oh», sagt Wolf, und es hört sich an, als fürchtete er sich sehr.

«Aber das ist kein Problem für uns», sagt Luke, zieht sein Laserschwert aus dem Gürtel und schwingt es herum.

Er hat nämlich keine Angst. Er hat starke Muskeln und viel Kraft. Er ist blitzschnell, im Superturbo läuft er genauso schnell wie Sonic. Außerdem hat er gute Waffen, ein Laserschwert, das alles durchdringt, und eine Pistole, die mit Lichtgeschwindigkeit Laserpfeile abfeuert.

«Du brauchst keine Angst zu haben», sagt er zu Wolf und streichelt ihm über den Rücken.

Aber es kommt vor, dass Wolf sich doch fürchtet, obwohl er ein großes und gefährliches Tier ist, das seine Feinde über hunderttausend Meter wittern und sie mit seinen Zähnen in Stücke reißen kann, knurrend und mit gesträubtem Fell. Es ist gut, dass Wolf Luke hat und nicht allein auf der Welt ist.

«Die Lavamonster sind ja nicht so gefährlich wie die Dunklen Mächte», sagt Luke tröstend.

Die Dunklen Mächte sind nämlich das Gefährlichste, was es gibt. Zum Glück sind sie weit weg, auf ihrem Todesstern – Lichtjahre entfernt. Aber sie können trotzdem herkommen, denn sie hocken dort oben und starren durch ihre langen Teleskope in die Galaxie, und wenn sie einen erst finden, dann schicken sie ihre gigaschnellen Raketenraumschiffe los – mit den Klonen, den Androiden, Mr. Freeze und Darth Vader, der sich zwar anhört wie die Kaffeemaschine in der Küche, aber der Schlimmste von allen ist. Sie werden Lasermaschinengewehre und riesige Bazookas mitbringen, mit denen sie schwarze Löcher in die Erde und den Himmel schießen. Löcher, die einen verschlucken und zu einer kleinen Kugel zerquetschen, immer kleiner, bis man so klein wie eine Plastikperle ist, und dann kullert man weg und ist verschwunden. Und es ist, als ob man nie existiert hätte.

«Komm», sagt er zu Wolf, «wir müssen uns beeilen.»

Noch haben sie einen guten Vorsprung. Die Superbösewichte wissen nämlich nicht, dass sich der Schatz hier auf dem Waldplaneten befindet. Wüssten sie es, wären sie schon längst hier gewesen. Aber Luke weiß es, denn er hat eine Karte.

Er holt die Karte hervor und faltet sie auf. Er hat sie eigenhändig gezeichnet, fein säuberlich mit einem spitzen Bleistift, und dann mit Filzstift ausgemalt. Auf der Karte ist ein Kreuz eingezeichnet, aber das ist nicht besonders genau platziert. Luke weiß nur, dass der Schatz tief drinnen in den dunklen Wäldern liegt, hinter einem Wasserfall und fünf flammenden Pforten, gut bewacht vom schrecklichsten aller Tiere, dem übermächtigen Komodowaran, von dem ein einziger Biss tödlich ist.

«Was meinst du?», sagt Luke und zeigt zu den Bäumen. «Ob das die Dunklen Wälder sind?»

«Sieht ganz danach aus», sagt Wolf.

Im Zickzackkurs laufen sie hinüber zum Wald und schleichen zwischen den Bäumen in den dichten grünen Dschungel. Sie hören die Schreie von Papageien und quakende Frösche. Aus Versehen tritt Luke auf eine Schlange, die ihm einen tödlichen Biss versetzen will, aber er erledigt sie blitzschnell mit seinem Laserschwert.

«Komm, Wolf», ruft er leise. «Jetzt ist es sicher.»

Wolf folgt ihm schnuppernd. «Ist es noch weit bis zum Schatz?»

Der Schatz ist ein magischer Totenkopf aus Diamanten mit enormen kosmischen Kräften. Der Held, der ihn findet und der Sonne so entgegenhält, dass sie hindurchscheinen kann, bekommt dermaßen viel Kraft, dass er die Macht über das gesamte Universum übernehmen kann. Darum ist es wahnsinnig wichtig, dass ihn die Dunklen Mächte nicht in die Finger bekommen, denn sonst wird die Galaxie ein schrecklicher Ort.

«Was soll ich machen, wenn ich erst die ganze Kraft habe?», sagt Luke.

«Wie wäre es, wenn du den Todesstern vernichtest?»

«Gute Idee, Wolf.»

Sie dringen immer tiefer in den Dschungel vor. Er scheint endlos zu sein. Luke entdeckt eine Kraft-Pflanze, deren kleine Blätter aussehen wie Klee. Er isst ein paar der sauren Blättchen und spürt, wie unglaublich stark er wird. Gleichzeitig merkt er, dass er Hunger hat. Richtig großen Superheldenhunger. Luke sieht sich um. Kein Wildschwein in Sicht. Und die Johannisbeeren und Pflaumen sind längst gepflückt.

«Komm, Wolf, wir müssen auf die Jagd gehen.»

Das beste Essen im gesamten Sonnensystem gibt es im Vulkan. Aber da ist es natürlich schrecklich gefährlich, weil es so gut wie unvermeidbar ist, mindestens einem Lavamonster zu begegnen.

Doch Luke ist ein mutiger Held. Sie laufen aus dem Wald, hinüber zu den Steinplatten, nähern sich dem Felsvorsprung und schleichen die Treppe hinauf, wo sie einen Spalt entdecken, der gerade groß genug ist, dass sie hindurchpassen.

«Sollen wir das wirklich wagen?», fragt Wolf.

«Wir wollen doch wohl nicht verhungern.»

Luke und Wolf kriechen in den Vulkan hinein. Wie befürchtet sind dort drinnen die Lavamonster, zwei Stück, eklig und gefährlich. Aber sie sehen ihn nicht. Das Lavamonstermännchen liegt auf dem Sofa, eine Sonnenbrille über den grausigen Augen. Das Weibchen geht auf und ab und spuckt Feuer. Wolf und Luke verstecken sich hinter der Bücherklippe und sind so leise wie zwei weiße Mäuse.

Die Lavamonster beginnen zu sprechen. Es geht hin und her, als würden sie sich gegenseitig beschießen. Luke versucht, nicht hinzuhören, aber er kann es nicht lassen. Jedes einzelne Wort bekommt er mit.

«Kannst du nicht einfach sagen, was los ist?», sagt das Weibchen zum Männchen.

«Wie, los?»

«Mit dir.»

«Was soll mit mir los sein?»

Das Lavamonstermännchen nimmt die Sonnenbrille ab. Das Weibchen starrt das Männchen lange an.

«Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Liebling», sagt das Männchen und lächelt. Lukas hört, dass es lächelt, denn er weiß genau, wie das Männchen klingt, wenn es lächelt und es nicht ehrlich meint.

«Warum tust du das?», sagt das Weibchen.

«Was denn?»

Sie stöhnt.

«So grinsen. Wir wollten doch ein paar schöne Tage genießen. Du versuchst es ja nicht mal.»

Auf dem Bauch robbt Lukas ein Stück vorwärts und späht zwischen den Büchern im Regal hindurch. Sie sehen nicht fröhlich aus. Sie waren den ganzen Tag nicht fröhlich, und auch gestern nicht. Sie waren die ganze Zeit zwei ziemlich ätzende Lavamonster. Er legt die Hand auf den Boden und spürt ein schwaches Vibrieren. Wenn diese dummen Monster nicht bald aufhören, gibt es noch ein Erdbeben, und der Vulkan explodiert und speit Lava und Flammen. Vielleicht sollte er sie unschädlich machen, bevor es so weit kommt. Luke setzt den Schalldämpfer auf die Pistole und zielt. Er schießt so leise, dass sie es nicht hören. Pscht – bumm. Pscht – bumm. Aber sie sterben nicht, sie merken es nicht einmal. Die Laserpfeile dringen einfach in sie ein und verschwinden.

«Musst du immer so verdammt aalglatt sein?»

«Aalglatt?»

«Ich sehe doch, dass du spielst.»

Sie spricht jetzt leiser. Fast klingt es, als spräche sie mit sich selbst.

«Die ganze Zeit spielst du nur. Aber in dir ist trotzdem etwas, das du nicht verbergen kannst.»

«That really makes sense, honey. Gib mir einen Kuss.»

«Irgendwas hinter deinen Augen.»

«Must be that wild gypsy blood.»

«Das ist doch auch bloß eine Rolle, weißt du. Du hast genauso wenig Zigeunerblut in dir wie ich.»

«Da irrst du dich, mein Schatz.»

«Das Großbürgertum, Robert. Da hast du diese blöde Oberflächlichkeit gelernt. Kannst du nicht ein Mal nur du selbst sein?»

«Ist das jetzt die tiefsinnige Unterhaltung? Jon Fosse, komm, hör zu, hier findet gerade die tiefsinnige Unterhaltung statt.»

Das Männchen lacht, aber es klingt nicht echt. Lukas hört, dass es traurig ist. Papa ist sehr traurig, aber das hört Mama nicht. Weil Papa nicht will, dass sie es hört.

«Ein Mal nicht spielen. Einfach nur so sein, wie du wirklich bist.»

«So? Oder so?»

Papa schneidet Grimassen.

Mama beugt sich über den kleinen Koffer, trägt ihn hinaus in den Flur und kommt zurück.

«Du bist nicht lustig. Kein bisschen lustig.»

Lukas schleicht sich in die Küche, nimmt das Brot aus der Schublade und schneidet zwei dicke Scheiben ab. Er holt Milch und Himbeermarmelade aus dem Kühlschrank und nimmt sich viel mehr Marmelade, als er darf. Aber das kümmert ja gerade niemanden. Er legt seine Butterbrote auf einen Teller und schneidet ein Stück für Wolf ab.

«Da, Wolf, bitte schön, namm, namm.»

Lukas beißt ein großes Stück von seinem Brot ab. Doch obwohl er richtigen Heißhunger hat, bekommt er es kaum hinunter. Sein Hals ist ganz eng. Und seine Augen laufen über vor Tränen.

«Scheiße», sagt er, obwohl er weiß, dass es ein böses Wort ist. Aber außer Wolf hört ihn keiner. Außerdem fluchen sie ja selbst, diese dummen Lavamonster, und das ist noch viel schlimmer.

Als Mama weiterspricht, hört er ihre Stimme, ob er will oder nicht.

«Warum, zum Teufel, kannst du nicht einfach sagen, wie schade du es findest, dass ich abreisen muss? Und dass wir dieses Wochenende nicht gemeinsam verbringen können?»

Papa antwortet nicht.

«Fällt es dir so schwer, auszusprechen, dass du traurig bist, weil ich nicht zur Premiere kommen kann?»

Sie hält inne, dann fährt sie fort: «Mir tut es auch leid. Aber was soll ich denn machen? Kannst du nicht irgendwas sagen? Vielleicht ist dir das alles ja auch scheißegal?»

Sie wartet. Papa ist stumm wie ein Fisch.

«In letzter Zeit bist du so merkwürdig, dass ich fast Angst habe, euch hier allein zu lassen.»

«Tatsächlich?»

«Ich frage mich manchmal, ob es sicher ist – für Lukas. Ob nicht am Ende noch etwas passiert.»

Eine ganze Weile herrscht Schweigen.

«Ich bin traurig, dass du nicht zur Premiere kommst», sagt Papa künstlich. «Und dass du in letzter Zeit so viel weg bist.»

«Ach, fahr zur Hölle.»

Mama weint. Wieder ist es eine Weile still, dann spricht Papa weiter: «Willst du das anbehalten?»

«Was?»

«Willst du dieses Kleid anbehalten?»

«Was ist denn verkehrt daran?»

«Takelst du dich für die so auf?»

«Wer, die?»

«Findest du ihn heiß?»

«Von wem sprichst du?»

«Von deinem neuen Boss. Versuchst du, dich hochzuschlafen?»

«Robert, was in aller Welt ist eigentlich los mit dir?»

«Du wolltest es doch so echt.»

Wieder schneidet er eine Grimasse und sagt mit seiner künstlichen Komikerstimme: «Ich bin es, der eifersüchtige Ehemann!»

«Musst du eigentlich immer auf der Bühne stehen?»

«Die ganze Welt ist eine Bühne, Anna, auf der Männer und Frauen nur kleine Figuren sind.»

«Du kannst mich mal, Robert, echt, du kannst mich.»

Lukas schiebt den Teller mit den Butterbroten weg.

«Komm, Wolf», sagt Lukas, «wir hauen ab. Zurück in den Wald.»

«Da kommt mein Taxi», sagt Mama im Wohnzimmer.

Vom Küchenfenster aus sieht Lukas den Wagen, der vor dem Tor angehalten hat.

«Lukas!», ruft Mama.

Er hört, wie sie die Treppe hinauf und in sein Zimmer geht. Lukas nimmt Wolf unter den Arm, schleicht gebückt aus der Küche, aus dem Haus, zurück in die Dunklen Wälder. Dort können sie sich im Laub vergraben, sich unter Bäumen oder in einer großen Höhle verstecken. Er legt sich unter den Johannisbeerstrauch und atmet in die Erde. Kneift die Augen zusammen.

«Lukas? Lukas!»

Lukas blinzelt durch das Blattwerk hinauf zum Haus. Mama steht jetzt auf der Veranda. Sie lässt den Blick über den Garten schweifen. Lukas duckt sich zwischen ein paar Zweigen. Nun kann ihn keiner finden.

«Ich muss jetzt fahren! Willst du Mama nicht auf Wiedersehen sagen?»

Eine, die einfach wegfährt, kann ihn mal gernhaben. Sie streitet und fährt weg. Nach einer Weile kommt sie mit ihrem Koffer aus dem Haus. Papa steht in der Tür.

«Dann gib ihm einen Kuss von mir», sagt sie.

Aber sie umarmen sich nicht wie sonst immer, wenn sie abfährt. Sie küssen sich nicht. Papa hebt die Hand, irgendwie abwesend, und Mama steigt in das Taxi. Sie zieht die Tür hinter sich zu, dann fährt der Wagen die Straße hinunter und verschwindet hinter der Kurve.

Lukas schaut sich um, betrachtet die magischen Bäume in diesem endlosen, verzauberten Wald. Sie schimmern nicht mehr. Es leben auch keine giftigen Frösche oder Schlangen darin.

Hier ist nichts weiter als dummes Gebüsch im Garten. Sein Blick wandert hinüber zu der kleinen Vertiefung in dem Haufen aus Blättern, Ästen und Zweigen. Jeder kann sehen, dass es keine Höhle ist. Er schleudert Wolf in den Dreck, wo er mit weit offenem Maul und lang heraushängender hellroter Filzzunge liegen bleibt. Lukas merkt es genau. Er ist nicht mehr stark. Die kosmischen Kräfte sind auf und davon. Er sammelt seinen Kuschelhund wieder auf und drückt ihn an sich.

Da knackt es im Geäst, und einen Moment lang hofft er, es ist der Komodowaran. Aber er weiß ja, dass es bloß Papa ist.

«Hier steckst du also. Komm raus, komm schon.»

Aber Lukas rührt sich nicht. Unbeweglich, mit dem Gesicht nach unten, liegt er da und starrt in den Haufen nackter Äste, die im vergangenen Jahr von der Hecke abgeschnitten wurden. In die braunen Blätter, die sich langsam auflösen. Ein Käfer mit einem dunkel glänzenden Panzer kriecht dort unten hinein.

Papa tätschelt seinen Kopf.

«Mein Kleiner. Bist du traurig?»

«Ja», weint Lukas in die Zweige.

«Ich auch.»

«Du bist dumm.»

«Das bin ich wohl.»

Papa holt Luft.

«Vielleicht sollten wir beide etwas Schönes unternehmen.»

«Es gibt nichts Schönes mehr», sagt Lukas.

«Was sagst du zu einem kleinen Ausflug? Wir könnten am Wochenende irgendwohin fahren.»

«Wir fahren doch sowieso am Wochenende weg. Nach Schweden mit Mama.»

«Mama muss arbeiten.»

«Warum muss sie immer arbeiten?»

«Sie hat einen neuen Job, und da kann sie nicht nein sagen. Aber wir denken uns was anderes aus. Wir können in den Vergnügungspark fahren.»

«Ich will nicht in den Vergnügungspark.»

«Vielleicht nach Bygdøy.»

«Dann will ich baden gehen.»

«Das geht nicht mehr. Es ist zu kalt.»

«Dann will ich nach Afrika. Ich will ein wilder Mann in Afrika sein. Und nie wieder nach Hause kommen.»

«Das könnte schwierig werden.»

«Dann will ich gar nichts.»

Papa seufzt. Lukas sieht genau, dass er auch traurig ist.

«Okay», sagt Lukas. «Machen wir eben einen Ausflug. Aber es muss eine Entdeckungsreise sein.»

«Eine Entdeckungsreise?»

Lukas richtet sich auf. «Machen wir das?»

«Wir können am Fluss entlangwandern.»

«Och Mann, das tun wir doch andauernd. Ich will eine echte Entdeckungsreise machen. Irgendwohin, wo wir noch nie gewesen sind! Und dann können wir nach einem Schatz suchen. Ja? Bitte!»

«Tja, das lässt sich wohl machen.»

«Versprich es mir!»

«Okay, ich verspreche es. Wir fahren irgendwohin, wo wir noch nie gewesen sind.»

«Jetzt gleich?»

«Nein, das geht nicht. Ich habe heute Abend Premiere, weißt du.»

«Dann morgen?»

«Wir fahren am Samstag und können bis Montag bleiben.»

«Es muss eine echte Entdeckungsreise sein! Ich will auf eine richtig echte Expedition.»

«In Ordnung. Abgemacht. Eine richtig echte Expedition.»

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4

Traumloser Schlaf und Bilder der vergangenen Nacht: eine hell erleuchtete Bühne, und der Vorhang fällt. Tosender Applaus, Blumen werden überreicht, Ansprachen und Gläser mit Blubberwasser. Viele Gläser, viel zu viele. Zu beiden Seiten bodenloses Dunkel und dann: eine Bar. Dahinter eine beleuchtete Wand, die rot zwischen den Flaschen hindurchscheint. Wunderschön. Abstand halten zur Dunkelheit, Abstand halten. Die Rosen ließen die Köpfe hängen, doch das Ensemble blühte noch immer – abgesehen von ihm, der mitten in der Menge saß. Er hatte das Gefühl, sie alle durch Wasser wahrzunehmen. Sie schienen sich in einem anderen Element zu befinden.

Ophelia hatte einen Lachkrampf, sie schüttelte ihr helles Haar. Das Gespenst sagte etwas Geistreiches und grinste durch die Reste der grauweißen Schminke. Rosenkranz und Güldenstern knufften sich gut gelaunt in die Seite, während sich König Claudius mit dem Regisseur unterhielt. Die Blicke glitten schnell an ihm vorüber, als wäre er nicht da. War er noch da? Doch, das war er. Er öffnete den Mund und sang ausgerechnet Bellmann: «Gott des Schlafes, Morpheus, komm! Kerze schmolz und sacht verglomm», und erhob das Glas zu den Flaschen.

Ein paar blonde Mädchen an der Bar zwängten sich lächelnd neben ihn. «Du bist doch dieser schwedische Schauspieler, oder? Ich hab dich im Fernsehen gesehen.» Vorgestreckte Brüste, ein Dekolleté. Eine Tiefe, um darin zu versinken, ein Spiegel. In diesem Spiegel sah er gut aus, sexy und attraktiv. Und trotzdem herrschte dort Leere. In den Augen, im Blick war niemand. Niemand, der ihn interessierte. Er war, ist allein. Anna, ich halte das nicht aus. Komm zu mir. Komm.

Noch einen Tequila, dann stolperte er hinaus in die Dunkelheit. Blieb stehen und starrte zur letzten Tram hinüber, die an der Haltestelle auf der anderen Straßenseite hielt. Ein paar Jugendliche feierten im hinteren Wagen eine Party und hoben ihre Bierflaschen zum Gruß. Dann fuhren sie davon. Horatio kam aus dem Gebäude und bot ihm eine Zigarette an. Sie rauchten schweigend. Und er fand es merkwürdig, dass er an die anderen mit ihren Rollennamen dachte.

Die Königin kam als Nächste, elegant wie immer, in einen schwarzen Mantel mit weißem Pelzbesatz gehüllt. Sie rauchte Zigarillos, sie trug Handschuhe. Und mit ihrem bleichen, erhabenen Gesicht sah sie ihn auf eine Weise ernst an, wie sie es auch auf der Bühne getan hatte. Kein Schauspiel, sondern aufrichtige Besorgnis.

«Das war nur eine kleine Kunstpause», sagte er. «Wird nicht wieder vorkommen.»

Woher will er wissen, dass es nicht wieder vorkommt?

 

Der Klingelton des Handys, dieses verdammte Stairway to Heaven, reißt ihn aus dem Halbschlaf, hinein in einen sonnigen Morgen. Viel zu viel Sonne. Sie scheint ihm direkt in die Augen, als er sich umdreht und verschwitzt nach dem Telefon tastet.

«Hallo», ruft er heiser, als er es endlich gefunden hat. «Wer ist da?»

«Ich bin’s.»

«Anna!»

Robert setzt sich auf, reibt sich die Augen. Sein Kopf ist so schwer. Er trinkt immer mehr, verträgt aber immer weniger. Ab jetzt wird er kürzertreten. Schön langsam kürzertreten. Alles wird gut. Er wird wieder ganz der Alte.

«Wie geht es euch?», fragt sie. Ihre Stimme klingt gepresst.

«Gut», sagt Robert und schaut zur Uhr auf dem Nachttisch. Es ist halb zwölf.

«Und Lukas?»

Er schwingt die Beine aus dem Bett, steht unsicher auf und torkelt ins Zimmer seines Sohnes. Das Bett ist leer. Auf dem Tisch steht ein Lego-Raumschiff mit kleinen bewaffneten Sternenkriegern darum herum, erstarrt in der Schlacht, aber keine Spur von dem Jungen.

«Kann ich mit ihm sprechen?»

«Moment.»

«Weißt du nicht, wo er ist?»

«Doch, doch.»

Er geht die Treppe hinunter und wirft einen Blick in die Küche. Alles sauber und ordentlich. Das Wohnzimmer: verlassen und still. Der Fernsehapparat und die Spielkonsole sind ausgeschaltet. Robert öffnet die Terrassentür und späht hinaus in den Garten. Hält das Telefon zu und ruft.

«Lukas!»

«Kannst du ihn nicht finden?», fragt Anna am anderen Ende.

«Er ist hier, ganz in der Nähe.»

«Warst du noch gar nicht auf?»

«Doch, doch. Kann ich dich zurückrufen?»

Er legt auf, zieht sich Hose und T-Shirt an und geht nach draußen.

«Lukas?»

Auf der Wiese ist er nicht. Auch nicht im Gebüsch unten im Garten. Sein Spielzeug liegt fein säuberlich im Schuppen. Robert umrundet das Haus, geht entlang der Hecke an den Reihenhäusern vorbei und schaut in die Gärten der Nachbarn, dann geht er in das Wäldchen, das sich zwischen der Reihenhaussiedlung und der Schule erstreckt. Das Wäldchen, in dem im vergangenen Jahr ein paar kleine Jungen von einem unbekannten Mann angefasst worden sind. Erst war er freundlich, dann hat er die Kinder bedroht und sie gezwungen, ihre Hosen herunterzulassen. Einer der Jungen ist kurz darauf weggezogen. Die Familie hielt es nicht mehr aus, hier zu wohnen. Das Ereignis hatte den kleinen Jungen verändert. Und der Mann wurde nicht gefasst.

Robert irrt durch das Wäldchen, schaut zwischen die Büsche, und in seinem Kopf entstehen schreckliche Bilder.

«Lukas! Lukas!»