Der Weltkrieg in den Lüften - Rudolf Martin - E-Book

Der Weltkrieg in den Lüften E-Book

Rudolf Martin

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Beschreibung

Es war die alte Idee, für die schon im Jahre 1670 der Jesuitenpater Francesco Luna eingetreten war, die Idee des vollkommen luftleeren Luftschiffes. Bereits am 1. Mai 1916 waren die ersten 5 riesenhaften Vakuumluftschiffe auf deutschen Werften gebaut. Ein solches Vakuumluftschiff wird vor der Fahrt durch große Vakuumpumpen entleert. Es wird nicht von Gas, sondern lediglich durch den luftleeren Raum getragen. Man baute sie in Deutschland sofort von ausgezeichnetem dünnen deutschen Nickelstahl. Die deutsche Stahlindustrie wurde damals mit einem Schlage zur rüstigsten Mitarbeiterin der Aeronautik. Der Kaiser stieg aufs neue in seinem Kaiserluftschiff auf, um persönlich aus der Vogelperspektive das einzigartige Schauspiel des Aufstiegs einer Armee von 500 000 Mann auf Motorluftfahrzeugen mit anzusehen.

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Seitenzahl: 322

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Der Weltkrieg

in den Lüften

 

 

von

Rudolf Martin

Regierungsrat a. D.

_______

 

Erstmals erschienen in:

Bruno Volger, Verlagsbuchhandlung,

Leipzig-Gohlis, 1909

__________

Vollständig überarbeitete Ausgabe.

Ungekürzte Fassung.

© 2018 Klarwelt-Verlag, Leipzig

ISBN: 978-3-96559-175-2

www.klarweltverlag.de

Inhaltsverzeichnis

 

Titel

Der neue Kanzler.

In Friedrichshafen.

Das Bombardement von Paris.

Die große Luftschlacht.

Durch die Sperrforts.

Im Sommer 1916.

Die Drachenflieger von Le Mans.

Vor der Entscheidung.

Englands Seeherrschaft wankt.

Die Landung einer deutschen Armee in England.

Die große Seeschlacht

Die große Landschlacht.

Die Eroberung Londons.

Der neue Kanzler.

„Wir sind gleich da. Das ist der Wannsee“, sagte ein kleiner, untersetzter Herr mit Schnurrbart zu dem neben ihm stehenden, glattrasierten, hageren Amerikaner, der schweigend, aber aufmerksam das Gelände zu seinen Füßen betrachtete. Die beiden standen vorn auf der Plattform des Aluminiumluftschiffes „Kronprinzessin Cäcilie“, welches unter allen Motorluftschiffen der „Internationalen Luftlinie“ in Berlin das schnellste war.

Die „Kronprinzessin Cäcilie“ war um 9 Uhr vormittags in Paris abgefahren. Fahrplanmäßig näherte sie sich gegen 5 Uhr nachmittags dem großen Luftschiffhafen am Wannsee bei Berlin. Unter den Mitfahrenden war wohl niemand, der nicht ab und zu einen Blick nach dem Amerikaner hinüberwarf. Besonders die Damen konnten es nicht unterlassen, immer wieder aufs Neue über die vordere Plattform zu gehen, von wo aus der Amerikaner sich Deutschland ansah. Er schien es gar nicht zu merken, dass er seit 9 Stunden der Mittelpunkt des Interesses seiner Umgebung war. Nur der Monarch eines großen Reiches kann derartig gegen die Aufmerksamkeiten seiner Mitmenschen abgestumpft sein.

Und in der Tat, er war ein Herrscher, aber ein Herrscher im Reiche der Luft. Der 47jährige Amerikaner war niemand anders als Wilbur Wright. Der Herr neben ihm war sein Associé Hart O. Berg. So schweigsam der Amerikaner, so gesprächig war der Franzose. Der Pariser Finanzmann Hart O. Berg überbot sich heute in gelungenen Witzen. Er hatte seinen guten Tag oder vielleicht ein sehr gutes Geschäft in Aussicht.

Niemand anders als der Geheime Kommerzienrat J. Löwe in Berlin hatte in der vergangenen Nacht durch wiederholte drahtlose Telegramme seinen Freund Hart O. Berg ersucht, mit Wilbur Wright persönlich nach Berlin zu kommen, um hier mit der Regierung Geschäfte von dem größten Umfange abzuschließen. Allerdings hatte der vorsichtige Berliner Großindustrielle betont, dass die Anregung zu dem Geschäft nicht von dem Reichskanzler oder einem verantwortlichen Mitgliede des preußischen Staatsministeriums ausginge. Auf Nachfrage Bergs hatte Löwe in einem chiffrierten Telegramm dargelegt, dass in Berlin große politische Veränderungen und der Sturz des Kanzlers vor der Tür seien. Er sei aber sicher, dass der neue Kanzler und der Generalstabschef die ihm vertraulich gegebenen Versprechungen halten würden, da sie mit aller Macht die kriegerischen Rüstungen betreiben würden.

Das Luftschiff hatte schon Potsdam in der Richtung auf Berlin überflogen und segelte in einer Höhe von 600 Metern ziemlich direkt über der Pfaueninsel, als plötzlich eine allgemeine Bewegung auf dem Luftschiff entstand. Von allen Seiten drängten sich die Fahrgäste nach der großen schwarzen Tafel in der Mitte des Luftschiffs, wo schon das zwanzigste Mal während der neunstündigen Fahrt die neuesten drahtlosen Telegramme angeschlagen wurden.

Einer der Nächststehenden, ein blonder deutscher Student, der in Paris sich zum Studium der Sprache aufgehalten hatte, las das Telegramm laut den Umstehenden vor:

Berlin, den 4. November 1915, 4 Uhr nachm. Der Kaiser hat das Entlassungsgesuch des Reichskanzlers Fürsten von Rochow angenommen und den Reichstags- und Landtagsabgeordneten Emil Schammer zum Reichskanzler, Präsidenten des Preußischen Staatsministeriums und Minister der Auswärtigen Angelegenheiten ernannt.

„Das bedeutet Krieg“ rief ein jüngerer Herr, dem man den preußischen Gardeoffizier trotz seines Zivils sofort ansah. Kreidebleich sah sich ein jüdischer Börsenmann aus dem Berliner Tiergartenviertel nach dem Sprecher um. „Kennen Sie ihn?“ fragte er den Offizier. Dieser tat, als wenn er die Frage überhört hätte, aber mit leiser Stimme sagte er im Fortgehen zu zwei Freunden: „Jetzt wird Marokko und die Türkei aufgeteilt“

In größter Erregung gestikulierten einige Herren, deren Äußeres auf starke Börseninteressen schließen ließ. „Das entsetzliche Fallen der Kurse seit 2 Uhr nachmittags ließ mich das Schlimmste ahnen“, meinte der eine.

„Wo bleiben die Schlusskurse der Berliner Börse?“ rief man von mehreren Seiten dem Telegraphenbeamten der Internationalen Luftlinie zu. Dieser antwortete:

„Solange ich mit diesem Luftschiff gegen 5 Uhr am Wannsee eintreffe, ist es das erste Mal, dass die 3 Uhr-Kurse der Ultimopapiere ausgeblieben sind. Auf meine telefonische Anfrage bei der Telegraphenstation der Börse erhielt ich die Nachricht: „hier ist Panik, wir haben keine Zeit“ Wilbur Wright lehnte noch immer über der Brüstung der Spitze des Luftschiffs. Niemand merkte ihm irgendein Interesse für die Vorgänge an, welche Damen wie Herren auf das Äußerste bewegten. Nur ab und zu nickte er mit dem Kopfe, wenn sein amerikanischer Privatsekretär ihm den Inhalt der Depeschen und Gespräche berichtete. Sein Associé Hart O. Berg aber war im eifrigsten Gespräche mit einigen Mitgliedern der Berliner Haute Finance und einem Direktor der „Internationalen Luftlinie“, der sich zufällig auf dem Luftschiffe befand. „Wie beurteilen Sie die Situation?“ fragte Hart O. Berg den Freiherrn von Gemmingen, welcher die Zeppelinschen Interessen als Mitglied des Direktoriums der Internationalen Luftlinie wahrnahm.

„Ich glaube, Sie sind länger und besser mit dem neuen Reichskanzler bekannt, als ich“, erwiderte Freiherr von Gemmingen. „Bei seiner Vorliebe für die Drachenflieger der Gebr. Wright werden Sie jedenfalls über seine politischen Ansichten besser informiert sein, als ich oder mein Onkel, der Graf Zeppelin. Aber soweit wir in Deutschland den neuen Kanzler aus seinen Reden und Schriften kennen, wird er sich weder von Frankreich noch von Russland, noch von England, noch von einer Koalition aller Mächte gegen Deutschlands irgendetwas bieten lassen, was mit der Ehre Deutschlands unverträglich ist. Die kränkende Anfrage, welche gemeinsam die Botschafter von Russland, Frankreich und England heute Morgen wegen des Kaiserinterviews in der „Times“ dem deutschen Staatssekretär des Auswärtigen vorlegten, dürfte in der gebührenden Weise beantwortet werden.“

„Es wird in Preußen nicht so schnell geschossen“, meinte Hart O. Berg lachend. „Ich glaubte nicht an einen Krieg“.

Freiherr von Gemmingen zuckte die Achseln und schwieg.

Während das Luftschiff langsam und sicher sich in der Richtung auf dem Luftschiffhafen herabließ, nahm die Spannung der Fahrgäste beständig zu. Aus einer Höhe von 300 Metern sah man mit bloßem Auge, wie gegenüber auf den langen, breiten Galerien der gewaltigen Motorballonhallen die Berliner Zeitungsjungen die Extrablätter ausriefen. Jetzt hörte man auf dem Luftschiff durch Funkenspruch Näheres. Der Kronprinz hatte am Abend zuvor im Auftrage des Kaisers eine längere Unterredung mit dem Reichstagsabgeordneten Schammer, zu dem er als eifriger Aeronaut seit längerer Zeit Beziehungen unterhielt. Um 2 Uhr nachts hatte der Kronprinz seinem Vater über den Stand der Angelegenheit Vortrag gehalten, und am Morgen um 9 Uhr war ein Generaladjutant bei dem Reichskanzler Fürsten von Rochow erschienen, um ihm den Befehl des Kaisers zur sofortigen Einreichung des Abschiedsgesuches zu überbringen. Den ganzen Vormittag bis tief in den Nachmittag hinein hatte der Kaiser eine Unterhaltung mit dem neuen Reichskanzler über die innere und äußere Politik.

„Hoffentlich bestätigt sich nicht diese Depesche aus dem Extrablatt der Täglichen Rundschau von nachmittags 4 Uhr“, sagte Hart O. Berg, als er mit dem Depeschenzettel der Luftlinie wieder zu Wilbur Wright trat. „Nach dieser Depesche hat an dem Frühstück bei dem Kaiser im Neuen Palais niemand außer dem Generalstabschef Graf Moltke neben dem neuen Reichskanzler beigewohnt. In militärischen Kreisen vermutet man nach dem Gewährsmann der Täglichen Rundschau, dass der Kaiser mit dem neuen Reichskanzler und der Generalstabschef die Frage der Landes-Verteidigung eingehend erörtert habe. In diesem Falle wäre es Essig mit unserm ganzen großen Geschäft; wenn nicht wenigstens noch einen Monat hindurch der Friede erhalten bleibt, können wir aus unseren Fabriken in Amerika, England und Russland keine erhebliche Lieferung von Drachenfliegern an die deutsche Regierung machen. Aus Frankreich möchte ich schon heute nichts mehr ausführen“

Wilbur Wright sah sehr nachdenklich seinem Associé in die Augen. „Soweit ich den Herrn Schammer kenne, wird er nicht losschlagen“ bevor die deutsche Kriegsrüstung eine vollendete ist und über hunderttausend Drachenflieger meiner neuesten Konstruktion verfügt. Aber er ist ein Mann, von dem ich Ihnen schon vor Jahren gesagt habe, dass er schwer, zu beurteilen ist. Wir wissen auch nicht ganz genau, wieviel Drachenflieger unser Freund Löwe in den letzten Monaten für die deutsche Regierung nach unserm System gebaut hat. Es fiel mir vor drei Monaten auf, dass die deutsche Regierung mir eine Entschädigung von 10 Millionen Mark für das Recht gewährte, von meiner neuesten Konstruktion Modell Frühjahr 1915 unbeschränkt viel Drachenflieger herstellen zu können. Die deutsche Regierung würde diese Summe niemals ohne besonderes Gesetz durch einen einzigen Scheck gezahlt haben, wenn nicht eine Gruppe von Reichstagsführern auf Veranlassung des Reichstagsabgeordneten Schammer ausdrücklich die Genehmigung erteilt hätte. Ich war damals Anfang Juli dieses Jahres, mit dem Reichstagsabgeordneten Schammer und dem Generalstabschef bei dem Kronprinzen im Marmorpalais abends zum Diner eingeladen. Wenn der Krieg so unmittelbar bevorstünde, Mister Berg, würde doch Ihr Freund Löwe uns nicht mehr nach Berlin geladen haben.“

Wir wollen das Beste hoffen“, sagte Berg.“ „Übrigens sehe ich schon dort neben dem Hauptportal des weißen Luftschiffhafens mit dem roten Stern, wo wir augenscheinlich landen, das Löwesche Automobil. Jetzt sehe ich ihn selbst.“

Wegen des stürmischen Novemberwetters landeten am 4. November 1915 die von Westen kommenden Aluminiumluftschiffe sämtlich auf dem Wasser nahe vor den in das Wasser hineingebauten riesenhaften Luftschiffhäfen. Die dadurch eintretende Verzögerung des Aussteigens betrug noch nicht eine halbe Minute. In einem Augenblick wurde das Aluminiumluftschiff an zehn verschiedenen Stellen von mächtigen Tauen aus Eisenstahl erfasst und durch eine Maschinerie mit großer Schnelligkeit in die Halle eingezogen. Der ganze Vorgang ähnelte sehr dem Einlaufen eines Schnellzuges in die Bahnhofshalle der Endstation. Auf jeder Seite des 250 Meter langen Aluminiumluftschiffes waren nicht weniger als 20 Falltüren zum Aussteigen angebracht.

Die Ankunft des weltberühmten Wilbur Wright war durch Funkenspruch längst in Berlin und auch im Luftschiffhafen bekannt geworden. Mehr als hundert Personen drängten nach der Brücke hin, wo der Geheime Kommerzienrat Löwe zum Empfange seines berühmten Gastes bereit stand. Die Polizei des Luftschiffhafens hatte Mühe, die Ordnung aufrecht zu erhalten.

Hart O. Berg sprang zuerst über die Brücke, um Löwe zu begrüßen.

„Sage mir kurz“, flüsterte Berg seinem Berliner Freunde zu, „gibt es Krieg oder nicht?“

„Gestern war ich überzeugt, dass Schammer als Reichskanzler noch mindestens ein halbes Jahr als kluger Mann den Frieden wahren würde. Sonst hätte ich Euch nicht die Mühe der Reise gemacht. Im Übrigen wollen wir uns nachher im Automobil über die Lage unterhalten.“

Während die Diener des Amerikaners und Franzosen das umfangreiche Gepäck in die Löweschen Gepäckautomobile verluden, sauste auf der sogenannten Luftschiffstraße das Löwesche Automobil direkt von dem Luftschiffhafen nach Berlin.

„Ich muss schon jetzt um Verzeihung bitten für den Fall, dass ich die Herren vergeblich von Paris nach Berlin gebeten haben sollte. Noch glaube ich nicht, dass es zum Kriege kommt, aber es ist auch nicht ganz ausgeschlossen. Der neue Reichskanzler ließ mich um ½ 4 Uhr, als er eben von der Kaiserlichen Frühstückstafel kam, zu sich bitten.“

„Sie kennen die politische Situation, Herr Geheimrat“, sagte mir der neue Reichskanzler. „Sagen Sie den Herren Wright und Berg, dass ich es nicht gegenwärtig zum Kriege treiben will. Ich werde vielmehr versuchen, auf irgendeine Weise aus der schwierigen Situation herauszukommen. Mein Bestreben, den Frieden aufrecht zu erhalten, würde aber sehr erleichtert werden, wenn Sie mir alle verfügbaren alten und neuen Drachenflieger des Auslandes einschließlich der Verkehrslinien mit Drachenfliegern verkaufen würden Eine schnelle Neuerwerbung von etwa 10 000 Drachenfliegern würde das militärische Prestige Deutschlands erhöhen und den Krieg verhüten. Ich weiß, sagte er weiter, „dass die Gebr. Wright in ihren Fabriken in Frankreich, England, Belgien, Holland, Schweden und Russland insgesamt etwa 5000 neue Drachenflieger auf Lager haben. Dazu kommen 5000 Drachenflieger solcher Verkehrsluftlinien im Auslande, welche Sie uns sofort verkaufen können“

Wilbur Wright nickte mit dem Kopfe. In englischer Sprache erwiderte er: „Wenn die deutsche Regierung uns sofort bar einen entsprechenden Preis bezahlt, habe ich keine Bedenken, das Geschäft zu machen“

Als Mr. Wrigt und Berg am Abend bei Herrn Löwe dinierten, lief gegen 9 Uhr die Nachricht ein, dass eine friedliche Auffassung allgemein die Oberhand gewinne. Der neue Reichskanzler hatte um ½ 6 Uhr abends im Reichstag das Wort ergriffen und die gesamte auswärtige Politik einer eingehenden Erörterung unterzogen. Nach seiner Darstellung war die Veröffentlichung der Unterredungen, welche eine hervorragende englische Persönlichkeit mit dem Deutschen Kaiser gehabt hatte, in der Londoner „Times“ nur die Folge einer Verkettung von Zufällen. Der bisherige Reichskanzler Fürst von Rochow hatte das unleserlich geschriebene, ihm auf Befehl des Kaisers vorgelegte Schriftstück des Engländers nicht lesen können, da er durch Geschäfte überarbeitet war. Er hatte das verhängnisvolle Schriftstück dem Auswärtigen Amte zugeschrieben, welches in demselben nichts Bedenkliches finden konnte. So war das verhängnisvolle Schriftstück mit der Genehmigung des Kanzlers und des Kaisers an den Verfasser zurückgelangt und in der „Times“ erschienen.

Nachdem der verabschiedete Reichskanzler die Richtigkeit der in dem Schriftstück behaupteten Äußerungen des Kaisers in den letzten Tagen bereits zugegeben hatte, bemühte sich auch der neue Reichskanzler nicht, diese schwerwiegenden Tatsachen in Abrede zu stellen.

Er gab vor dem versammelten Reichstag zu, dass der Kaiser ein Bündnis mit England schließen und auf intimere Beziehungen zu Russland und Frankreich verzichten wollte.

Der neue Kanzler bestritt aber, dass irgendetwas in den Kaiserlichen Äußerungen enthalten sei, was England verletzen könne. Deutschland werde die kürzlich geschlossenen Verträge über Marokko und die Türkei getreulich halten.

Der Kaiser habe niemals gesagt, dass er sich im gegebenen Augenblicke über diese Verträge hinwegsetzen werde. Wenn die englische Persönlichkeit, welche die Unterredung mit dem Kaiser hatte, dies behaupte, so beruhe diese falsche Auffassung auf einem Missverständnis. Der gewesene Kanzler habe in der Aufregung der letzten Tage es versäumt, diesen Punkt zu berichtigen. Der Kanzler schloss seine Rede mit warmer Betonung der Überzeugung, dass der Friede erhalten bleiben werde.

Am nächsten Tage gingen die Börsenkurse wesentlich in die Höhe, und das am Tag zuvor fast erstarrte geschäftliche Leben blühte wieder auf. Die Zeitungen berichteten, dass der neue Kanzler die Botschafter Frankreichs, Russlands und Englands mit besonderer Freundlichkeit empfangen habe. Eine Erklärung auf die Anfrage der drei Botschafter über die Äußerung des Kaisers lehnte er unter Hinweis auf seine gestrige Reichstagsrede ab.

In Friedrichshafen.

Als am Abend des 4. November die Berliner Extrablätter der Welt verkündeten, dass der Reichskanzler zur Aufrechterhaltung des Friedens um jeden Preis entschlossen sei, hatte gegen 9 Uhr abends Graf Zeppelin die gesamte Arbeiterschaft seiner riesenhaften Werftanlagen nach Beendigung der Tagesarbeit nochmals in die Fabriken rufen lassen. In der großen Mittelhalle der Werft, die eine Länge von 500 Meter hat, versammelten sich die tausend Mitarbeiter des berühmten Generals und Luftadmirals. In sechs Reihen standen sie in einem Karree und harrten mit Spannung der Dinge, die da kommen sollten.

In dem weiten Anbau eine Treppe hoch war das Hauptbüro des alten Grafen. Hier wurde heut fieberhaft gearbeitet. Alle Konstrukteure und Zeichner waren in Tätigkeit. In dem Arbeitszimmer des Grafen waren die Direktoren Kolzmann und Dürr und die Ingenieure Kober und Stahl. Der 78jährige Graf war immer so rüstig wie zur Zeit seiner großen Erfolge im Jahre 1908. Wer ihn aber scharf beobachtete, der konnte bemerken, dass heut seine Erregung größer war als damals, wo die Explosion von Echterdingen die Hoffnung und den Stolz seines Lebens zu zerstören schien.

Als man dem Grafen meldete, dass die Arbeiter versammelt seien, fragte der Graf noch einmal den Direktor Dürre: „Glauben Sie wirklich, dass tausend Arbeiter reinen Mund halten können?“

Dürr antwortete: „Ich kenne jeden einzelnen, und ich zweifele nicht daran, dass Euere Exzellenz sich auf die Verschwiegenheit jedes einzelnen verlassen können. Auch bleibt uns nichts übrig, wir müssen ihnen den wirklichen Sachverhalt mitteilen. Sonst plaudern sie die Ursache ihrer nächtlichen Beschäftigung aus, und morgen steht es in allen Blättern“

Als der Graf mit seinen Ingenieuren in das Karree eintrat kommandierte er mit lauter Stimme: „Stillgestanden!“

Wohl noch niemals hat der Leiter eines großen industriellen Unternehmens einer Arbeiterschaft von 1000 Mann in kommandierendem Tone ein „Stillgestanden“ zugerufen. Die Zeppelinschen Arbeiter wussten auch nicht, ob sie gegen die Gewohnheit aller Fabriken zum Stillstehen verpflichtet seien. Aber sie standen still wie von Erz gegossen. Ein jeder von ihnen war Soldat gewesen. Und dem Befehl des eigenen Monarchen würden sie nicht pünktlicher nachgekommen sein als dem Befehle ihres berühmten Luftadmirals.

„Wenn ich Euch Soldaten „Stillgestanden“ kommandiere, so tue ich es auf Grund von § 3 des Mobilmachungsgesetzes vom 6. Januar 1912. Mit diesem meinem Kommando hat für Euch, die Angehörigen meines Etablissements, die Mobilmachung auf Befehl seiner Majestät des Kaisers begonnen. Ich habe Euch die Mittelung zu machen, dass mein Etablissement von heut Abend 8 Uhr an sich in dem Zustande der Kriegsmobilmachung befindet Ich habe es nicht nötig, Euch darauf aufmerksam zu machen, welche schweren Strafen nach dem Militärgesetz auf Ungehorsam stehen. Ich muss Euch aber darauf hinweisen, dass Ihr mit denselben schweren Strafen bedroht seid, wenn Ihr die Pflicht der Geheimhaltung verletzt.

Geheim muss aber bleiben die Tatsache der Mobilmachung und ebenso die Art Eurer Beschäftigung in der Fabrik. Die Hälfte von Euch wird von heut ab eine Nachtschicht bis auf weiteres. abzuleisten haben. Wenn Ihr nach der Ursache der Nachtschicht gefragt werdet, so verweist auf die Erklärung, welche morgen früh im Friedrichshafener Seeblatt stehen wird. Sie besagt, dass ich den Auftrag für den schleunigen Bau von sechs Luxusluftschiffen der Internationalen Luftlinien Berlin—Peking erhalten habe, und dass diese Schiffe am 1. Januar bereits ihre Probefahrt bis Peking zurückgelegt haben müssen. Das Nähere werden Euch die Werkmeister mitteilen, die von heute ab Eure militärischen Vorgesetzten sind.“

Nur die Hälfte der Arbeiter durfte nunmehr nach Hause gehen, die andere Hälfte trat ihre Nachtschicht an, um am Morgen um 6 Uhr abgelöst zu werden. Die meisten Arbeiter des Zepplinschen Unternehmens wohnten in den 400 Arbeiterwohnhäusern, die Zeppelin errichtet hatte. Sie bildeten neben den Werftanlagen eine besondere Vorstadt von Friedrichshafen. Da die Häuser sämtlich in den letzten 7 Jahren und meist in den letzten 5 Jahren errichtet waren, so waren sie alle modern gebaut und sauber und wohnlich eingerichtet. Die Zeppelinsche Vorstadt war der beste Teil von Friedrichshafen.

Die beiden Köhler waren Söhne eines Fischbacher Fischers und Motorbootbesitzers. Sie gehörten nicht zur Nachtschicht und gingen zusammen zu Fuß in der mondhellen Nacht nach ihrem Heimatsorte Fischbach, der ungefähr dreiviertel Stunden von Friedrichshafen entfernt liegt. Bis sie von den Werkmeistern entlassen waren, war es ½ 10 Uhr geworden.

Immer und immer wieder hatten die Werkmeister jedem einzelnen eingeschärft, was er seiner Frau, seinen Eltern und Kindern über die Ursache der vielen Nachtschichten zu erzählen habe. So war die Zeit verronnen.

Auch in Friedrichshafen wurden bis zum späten Abend Extrablätter ausgerufen. Der Lohn in den Zeppelinschen Arbeitsstätten war in Rücksicht auf die hohe Qualifikation der Arbeiter ein sehr hoher. Die Erfahrung hatte die Geschäftsleitung zu dem Grundsatz gebracht, dass wirklich gute Arbeiter nur durch sehr hohen Lohn festzuhalten sind. Bis nach Amerika und Japan hatte man gegen Gehälter von 5000 bis 10 000 gewöhnliche Arbeiter Zeppelins herbeigezogen. Einzelne Vorarbeiter bezogen in fremden Ländern ein Gehalt von 20 000 und mehr Mark. Ein Werkmeister war im Januar 1915 sogar gegen 40 000 Mark von der japanischen Regierung engagiert worden.

Kein Wunder, dass die beiden Brüder auf ihrem Wege nach Fischbach sich noch sämtliche Extrablätter kauften und die politischen Ereignisse noch an ihrem Stammtische am Ende von Friedrichshafen besprechen wollten.

In der Kneipe glaubte jedermann, dass der Krieg vor der Tür sei. Denn ganz Friedrichshafen wusste, dass die Zeppeliner einberufen worden waren.

Als die beiden Fischbacher das Restaurationszimmer betraten, begrüßte sie sofort der freundliche Ingenieur aus Köln, welcher sich seit einigen Wochen in Friedrichshafen aufhielt. Im Gespräche hatte er erzählt, dass er der Vertreter einer großen Maschinenfabrik in Düsseldorf sei und auch mit der Zeppelinschen Werft Geschäfte mache.

„Ich glaubte, Sie würden heute Abend nicht kommen“, sagte er zu den Fischbachern.

„Warum?“ entgegnete Albert, der jüngere der beiden Köhler. „Nun, wegen der Nachtschicht.“

„Wir sind davongekommen, aber Max Lehmann und Karl Müller sind reingefallen. Sie müssen bis 6 Uhr morgens schwitzen.“

„So, da kommt also doch Krieg“, meinte der Kölner.

„Wenn er nicht schon da ist“, meinte der Fischbacher.

In diesem Augenblicke bekam er von seinem älteren Bruder einen heftigen Stoß in die Rippen.

„Ich scherze ja nur“, sagte er daraufhin zu der Kölner. „Was verstehe ich von Krieg“

Das Bier wollte ihnen aber beiden nicht mehr schmecken. Immer wieder warf der ältere Köhler dem Jüngeren vorwurfsvolle Blicke zu.

„Nee, Krieg gibt‘s nicht“, sagte der Jüngere laut und zu dem Kölnischen Ingenieur gewendet, als der Wirt das deutsche Beefsteak mit Bratkartoffeln brachte.

„Ich denke, Sie verstehen nichts vom Krieg“, fragte spitzig der Kölner Ingenieur. „Wie können Sie denn da mit einem Male sagen, es gibt keinen Krieg“

„Nun, man redet nur so“, meinte Albert Köhler verlegen.

Das Beefsteak aber wollte ihm nicht schmecken. Kaum hatte er einen Bissen gegessen, so klagte er über Appetitlosigkeit und Hitze im Zimmer. „Er müsse morgen früh um 6 Uhr antreten und beizeiten schlafen gehen.“

„Um 6 Uhr morgens?“ fragte der Kölner Ingenieur. Sie beginnen doch sonst erst um 8 Uhr.“

„Von morgen ab beginnt der Dienst für uns um 6 Uhr“, sagte Albert zögernd. Jetzt griff sich der ältere Bruder an die Stirn und rief unwirsch: „Komm, wir gehen.“

Auf dem Heimwege kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen den beiden Brüdern. Der Jüngere erwiderte auf die Vorwürfe des älteren Bruders, dass erst der Rippenstoß und die unschickliche, beleidigende Handbewegung des älteren Bruders die Aufmerksamkeit des fremden Ingenieurs erregt hätten. Im Übrigen halte er den Kölner für durchaus zuverlässig.

„Ich nicht“, meinte der ältere, „vielmehr zeigt mir sein lauernder Blick gerade heute, dass er ein Spion des Auslandes ist.“

Während die Brüder sich streitend Fischbach näherten, hörten sie immer deutlicher von allen Seiten in der Ferne das Surren der Propeller von Aluminiumluftschiffen.

„Was ist das?“ sagte Albert zu seinem älteren Bruder Karl. „Nach 8 Uhr abends kommt während des Winters überhaupt kein fahrplanmäßiges Luftschiff nach Friedrichshafen. Die Familie unseres Grafen fährt auch nur sehr selten nachts. Ich höre aber die Schraubenflügel von vier oder gar sechs Luftschiffen, die sich von verschiedenen Seiten Friedrichshafen nähern.“

Karl war soeben von der Landstraße links auf eine kleine Anhöhe gesprungen, die einen freien Überblick über den Bodensee gewährte. „Komm hierher“, rief er seinem Bruder zu. „Über dem See zähle ich nicht weniger als sieben Luftschiffe. Sie kommen in der Richtung von Konstanz, Rohrschach und Bregenz.“

Die Brüder kannten jedes Luftschiff, welches in der Zeppelinschen Werft gefertigt war, ganz genau. Seit der Begründung der Werft im Jahre 1909 hatten nicht weniger als rund 400 Aluminiumluftschiffe die Werft verlassen. Im Jahre 1909 waren nur sechs Stück fertig geworden.

Das Jahr 1914 wies aber allein eine Produktion von 150 Stück auf. So hatte sich die Werft in der kurzen Zeit vergrößert.

„Die beiden ersten Luftschiffe,“ meinte Karl, indem er in der Richtung nach Rohrschach zeigte, „sind von unserer Viktoria-Luise-Klasse und stehen jetzt, soviel ich weiß, im Luftschiffhafen zu Bern, um den Verkehr mit Paris und Wien zu vermitteln“

„Auch dort die von Konstanz kommenden“, meinte der ältere Köhler, „sind Zeppelinsche Aluminiumluftschiffe. Soviel ich sehe, gehören sie zur Internationalen Luftlinie „Paris-Berlin“ und „Paris-München“. Sie scheinen aus den französischen Luftschiffhäfen unserer Linien zu kommen. Meinst du, dass alles mit richtigen Dingen“ zugeht, oder sollen wir an die Werft telefonieren? Es wäre ja möglich, dass sie als französische Kriegsluftschiffe hierherkommen.“

„Dagegen spricht“, meinte der Jüngere, „dass die aus der Schweiz kommenden uns als Luftschiffe einer deutschen Luftlinie bekannt sind. Wie du weißt, ist die Internationale Luftluftlinie eine deutsche, und alle Zeppelinschen Luftschiffe dieser Linien führen im Kriege nur die deutsche Flagge. Aber wir wollen trotzdem telefonieren.“

Die Brüder setzten sich in scharfen Trab nach dem Gasthaus von Fischbach und klingelten sofort die Werft an. „Wir wissen Bescheid“, war die Antwort des Werftbeamten. „Die Luftschiffe kommen nur auf einige Stunden hierher und gehen dann in die Luftschiffhäfen an der Grenze. So lang keine Luftschiffe des französischen Systems und der französischen Flagge zu sehen sind, liegt kein Grund der Beunruhigung vor. Auch dies ist alles als militärisches Dienstgeheimnis zu betrachten“ In jeder Nacht kamen seit dem Abend des 4. Nov. 1915 10 bis 50 Aluminiumluftschiffe in die Werftanlagen zu Friedrichshafen, wurden hier als Kriegsluftschiffe montiert, mit Torpedolanzierrohren versehen und in kriegsbrauchbaren Zustand versetzt. Meist wurden sie noch in derselben Nacht in die großen Luftschiffhäfen, die sich von Metz bis zur südlichen Grenze von Elsass-Lothringen längs der französischen Grenze hingezogen, überführt. Auch die riesenhaften Luftschiffhäfen in Straßburg und Aachen wurden mit diesen Luftschiffen gefüllt. In der sechsten Nacht waren nicht weniger als 350 Zeppelinische Aluminiumluftschiffe dicht an der französischen und belgischen Grenze in den deutschen Luftschiffhäfen in voller Kriegsausstattung untergebracht.

Die beiden jungen Köhler waren nicht die einzigen, welche am Abend des 4. November und in den folgenden Nächten das Kommen und Gehen der Aluminiumluftschiffe in Friedrichshafen beobachteten. Kaum hatten sie am Abend des 4. Nov. ihren Stammtisch in Fischbach verlassen, als der Kölner Ingenieur seine Rechnung bezahlte und nach der großen Werft auf dem Lande sich begab. Hier sah er alles erleuchtet. Obgleich die Werft in großem Umkreise von Gendarmen abgesperrt war, konnte er doch deutlich beobachten, wie ein Luftschiff nach dem andern die Werft verließ und immer wieder neue Luftschiffe von allen Seiten eintrafen. Er sah, wie die Luftschiffe erst kurz vor Friedrichshafen Lichter aufsetzten und bis dahin mit geblendetem Lichte heransegelten. Es widersprach den strengen Gesetzen des Luftverkehrs, von München bis Friedrichshafen bei Nacht ohne weithin leuchtende elektrische Lichter zu fahren. Und doch war dies heut der Fall. Wenn die Luftschiffe kurz vor dem Ziele die Blenden der Lichter entfernten, so geschah dies offenbar nur, um einen Zusammenstoß der sich am Zentralpunkt dicht zusammendrängenden Luftschiffe zu vermeiden. All diese Vorkehrungen ließen auf Krieg schließen.

Karl Eduard Müller war kein fremdländischer Spion, für den ihn der ältere Köhler hielt. Er war in der Tat in Köln geboren, aber er stand in den Diensten einer französisch-schweizerischen Luftschiffbaugesellschaft, welche grade jetzt sich bemühte, ihre neuen Luftschiffe derartig mit Aluminium zu versteifen, dass sie den Zeppelinschen schon recht ähnlich wurden. Er hatte den Auftrag, seiner Firma eine Reihe von Einzelheiten des Zeppelinischen Luftschiffbaues zu übermitteln. Allerdings hatte ihm die Firma vor zwei Tagen unmittelbar nach Veröffentlichung des berühmten Interviews in der „Times“ welches die Beziehungen Deutschlands zu Frankreich in ein so schweres Stadium gebracht hatte, aufgetragen, auf das sorgsamste in Friedrichshafen Obacht zu geben, ob Vorbereitungen für den Krieg getroffen wurden. Die Firma hatte hinzugefügt, dass jede Feststellung in dieser Richtung von größtem geschäftlichem Wert für sie sei. Komme es zum Kriege, so müssten ihre geschäftlichen Dispositionen sofort geändert werden. Eine hohe Belohnung war ihm für die erste sichere Nachricht über kriegerische Vorbereitungen in Friedrichshafen in Aussicht gestellt. Zugleich hatte ihm die Firma einen Schlüssel der Verständigung für den telegraphischen Verkehr mittels Chiffern übermittelt.

Von der Landwerft ging Ingenieur Müller, so schnell er konnte, zur Seewerft. Nicht weniger als zwanzig große Motorballonhallen waren in den See hineingebaut. Für die großen Aluminiumluftschiffe erwies sich der Seehafen bei stürmischen Wetter noch immer als die einzige Möglichkeit einer sicheren Landung. Sein Weg nach der Seewerft führte ihn bei dem Königlichen Schloss zu Manzell vorbei. Kaum hatte er von dem Schloss aus einen halben Kilometer zurückgelegt als ihm auf der Landstraße zwei Gendarmen in den Weg traten.

„Wo wollen Sie hin?“ war die Frage. „An den See“, erwiderte er verdutzt.

„Dieser Weg führt nur nach der Seewerft“, sagte einer der Gendarmen, ihm scharf ins Auge sehend. „Wie heißen Sie und wo wohnen Sie? Zeigen Sie Ihre Legitimationspapiere vor“, herrschte ihn der andere Gendarm an.

Karl Eduard Müller zitterte am ganzen Körper. Er war sich eigentlich keiner Schuld bewusst. Er war kein Spion. Aber doch fühlte er in diesem Augenblick, dass er das Opfer eines schweren Verhängnisses werden könnte. Ingenieur Müller war von der französisch-schweizerischen Luftschiffbaugesellschaft einer großen Aktiengesellschaft, mit allen notwendigen Legitimationspapieren versehen worden. Er führte alle Papiere bei sich, auch wurden sie von den Gendarmen als ordnungsmäßig befunden.

„Der Weg nach der Werft ist gesperrt“ sagte der eine der Gendarmen. „Ich warne Sie, den Versuch zu wiederholen, sich der Werft von irgendeiner Seite zu nähern, und rate Ihnen, sich sofort nach Hause zu begeben, andernfalls müsste ich zur Arretur schreiten“

Karl Eduard Müller kehrte sofort um. Aber bald blieb er wieder stehen, denn grade über seinem Kopfe weg in der geringen Höhe von nur 300 Metern segelten zwei Aluminiumschiffe der größten Bauart, die von Nordosten zu kommen schienen, nach der Seewerft zu. Welche Ingenieure des Luftschiffbaues hätten diese dunklen, abgeblendeten Riesenluftschiffe um Mitternacht nicht interessiert. Ingenieur Müller wollte nur sehen, ob sie auf dem Wasser niedergingen. Schnell kletterte er auf einen Baum, von dem er voraussichtlich die Seewerft und den Spiegel des Bodensees erblicken konnte. Er war noch nicht oben, als ein Zivilist aus dem Gebüsch hervorstürzte und einen schrillen Pfiff in die dunkle Nacht ertönen ließ. In demselben Augenblick wurde es auf allen Seiten lebendig. Im Galopp sprengten von verschiedenen Seiten Gendarmen heran. „Kommen Sie sofort von dem Baum herunter, oder ich schieße“, rief ein reitender Gendarm mit gehobenem Gewehr dem Ingenieur Müller zu.

„Schießen Sie nicht“ rief Müller, „ich komme sofort herunter.“ Er fiel mehr als er kletterte. In einem Augenblick war er wieder auf der Landstraße. Inzwischen waren auch die Gendarmen, welche ihn visitiert hatten, keuchend herbeigelaufen. Im Ganzen umringten ihn sechs Personen, von denen zwei in Zivil augenscheinlich Kriminalbeamte waren. Diesen musste er nochmals seine Papiere zeigen. Jetzt begleitete ihn ein berittener Gendarm bis nach Friedrichshafen in seine Wohnung in, einem kleinen Gasthaus, wo der Wirt ihn legitimierte und erklärte, dass er die Verantwortung für ihn übernehmen könne. Herr Müller interessiere sich als Ingenieur für Luftschiffe und sei nur aus Neugierde, wie andere Friedrichshafener auch, auf seinen Rat nach der Seewerft gegangen. Alles dies wurde von dem Gendarmen zu Protokoll genommen.

Nachdem Ingenieur Müller mit seinem Wirt noch einige Glas Bier zur Erholung von dem überstandenen Schrecken getrunken hatte, ging er auf das Postamt. Ihm war jetzt ein Zweifel mehr, dass der Krieg entweder schon ausgebrochen sei oder unmittelbar bevorstehe. Auf dem Postamt nahm er aus seiner Brieftasche den Schlüssel für die chiffirierten Telegramme und suchte die Chiffer für „der Krieg ist ausgebrochen“ Sie lautete: „Annas Hochzeit ist morgen“ Das Telegramm war zu richten an Jacques Gilbert in Genf. Dieser Herr war der Privatsekretär des Generaldirektors der französisch-schweizerischen Luftschiffbaugesellschaft.

Als Ingenieur Müller sein Telegramm um 1 Uhr nachts dem Postbeamten übergab, fiel ihm der forschende Blick des Beamten auf. Auch fragte ihn der Beamte nach seinem Namen und seiner Adresse für den Fall, dass das Telegramm unbestellbar sei oder eine Antwort einlaufen sollte. Um nicht unnötiges Aufsehen „zu erregen, gab er seinen Namen und Adresse gewissenhaft an. Jetzt endlich begab sich Ingenieur Müller zur Ruhe. Sein Telegramm verließ aber nicht das Postamt von Friedrichshafen. Nach dem neuen Mobilmachungsgesetz unterliegt der Postverkehr in Orten mit Luftschiffwerften von der Stunde der Mobilmachung an einer Zensur. Dasselbe gilt von allen Orten zehn Kilometer im Umkreise. Vor der Absendung musste das Telegramm nach den bestehenden Bestimmungen erst der politischen Polizei vorgelegt werden. Im Allgemeinen war der gesamte telegraphische und telefonische Verkehr ins Ausland einer Verzögerung von mindestens 10 Stunden zu unterwerfen, um Zeit für die Prüfung zu gewinnen. Durch seine nächtliche Rekognoszierung hatte sich aber Ingenieur Müller so verdächtig gemacht, dass am kommenden Morgen der Leiter des Polizeiwesens von Friedrichshafen entschied, dass kein Telegramm oder Brief von Müller bis auf weiteres befördert werden dürfe.

Am Morgen des 5. November telegraphierte Ingenieur Müller aufs Neue nach Genf in chiffriertem Telegramm, indem er sich Instruktionen für sein zukünftiges Verhalten erbat. Da ihn keine Antwort erreichte, und er sich Gewissheit über die kriegerischen Vorbereitungen der Landarmee verschaffen wollte, fuhr Ingenieur Müller am 6. November mit dem Zuge nach Stuttgart und stieg im Hotel Marquardt ab. Hier glaubte niemand an das Bevorstehen des Krieges. Seine Erzählungen von den nächtlichen Luftschiffen nach und von Friedrichshafen stießen überall auf Zweifel. Der Reichskanzler hatte sich fast täglich immer neuen Personen gegenüber auf das friedfertigste ausgedrückt. An der Nachtschicht auf den Zeppelinischen Werften fand niemand etwas Besonderes, da der „Schwäbische Merkur“ und das „Neue Tageblatt“ gleichfalls die Mitteilung gebracht hatten, dass Graf Zeppelin von der Internationalen Luftlinie „Berlin-Peking“ enorme Aufträge zur schleunigen Lieferung erhalten habe.

Ingenieur Müller war aber klug genug, um den wirklichen Sachverhalt klar zu durchschauen. Das Landheer hatte noch nicht mobil gemacht, aber die Luftmacht war seit dem 4. November in dem Zustande der Mobilmachung. Zum Überfluss stellte Müller in Stuttgart fest, dass der Luftschiffverkehr von Stuttgart nach Berlin sowie von Stuttgart nach München und von Stuttgart nach Bern einfach aufgehört hatte. Ein Herr im Hotel Marquardt, der am Morgen des 6. November mit dem fahrplanmäßigen Luftschiff nach Berlin fahren wollte, hatte bei seiner Ankunft in dem Luftschiffhafen nur den Bescheid erhalten, dass heut und morgen wegen des stürmischen Wetters der Luftverkehr eingestellt sei.

„Sie können ja noch gar nicht wissen, ob auch morgen stürmisches Wetter ist, zumal auch heute der Wind eine sehr mäßige Stärke hat“, hatte der Reisende zu dem Beamten des Luftschiffhafens gesagt.

Lachend hatte der Hafenbeamte erwidert: „Sie merken heut nur nicht hier unten, wie stürmisch es oben ist und besonders weiter nördlich nach Berlin zu. Auch für morgen und die nächsten Tage liegen schon Warnungen wegen schweren Sturmes von den meteorologischen Stationen in Berlin und Leipzig vor. Ich rate Ihnen, mit der Eisenbahn zu fahren, denn in den nächsten Tagen können Sie auf dem Luftwege Berlin nicht erreichen.

Das war eine sehr merkwürdige Geschichte, denn seit dem Jahre 1912 funktionierte der Luftverkehr zwischen Stuttgart und Berlin Sommer wie Winter mindestens ebenso sicher wie der Eisenbahnverkehr.

Nun hielt es Ingenieur Müller an der Zeit, nach Genf zu telefonieren.

Als er vom Hotel Marquardt aus in Stuttgart das Fernsprechamt anrief, wurde ihm erwidert, dass der Verkehr mit Genf augenblicklich an Störungen leide. Er solle aber nur sagen, um was es sich handle, vielleicht könne man ihn bevorzugen. Und das war auch wiederum eine sehr merkwürdige Tatsache. Ingenieur Müller konnte sich nicht entschließen, der Telefonistin seine Beobachtungen über die Mobilmachung der deutschen Luftmacht anzuvertrauen. Noch eigentümlicher war, dass die Telefonistin seinen Namen und Wohnort verlangte, obgleich er schon versichert hatte, dass er von Hotel Marquardt aus spreche.

Die Fortsetzung seines Gespräches mit der Telefonistin erlitt jetzt ein Ende, da die Tür der Telefonzelle sich öffnete und ein Herr hineintrat, während ein anderer draußen stehen blieb.

„Hier ist meine Legitimation. Ich bin der Kriminalkommissar Rosstäuscher von der politischen Polizei in Berlin. Dieser Herr neben mir ist der Herr Kriminalkommissar Lange vom Polizeipräsidium in Stuttgart. Sie sind arretiert auf Grund des Gesetzes über das Mobilmachungswesen und haben uns sofort und ohne Aufsehen nach dem Polizeipräsidium zu folgen.“

Die Lage des Ingenieurs Karl Eduard Müller war sehr bedenklich. Denn in seiner Brieftasche befand sich der Schlüssel der chiffrierten Telegramme über Krieg und Mobilmachung. Jetzt war ihm auch klar, dass sein Stuttgarter Telegramm in die Hände der politischen Polizei gefallen war und Genf gar nicht erreicht hatte. Obgleich Müller sich keines Landesverrats und überhaupt keiner unerlaubten Handlung bewusst war, folgte er den Beamten mehr tot wie lebend. Wie leicht konnte man ihn auf Grund seiner Schlüssel für chiffrierte Telegramme, wegen seines Stuttgarter Telegramms und seiner Annäherungsversuche an die Seewerft in dunkler Nacht für einen Spion halten.

Müller war klug genug, auf dem Polizeipräsidium von vornherein die Dinge genauso zu schildern, wie sie waren. Gleichwohl behielt man ihn in Untersuchungshaft.

Das Bombardement von Paris.

Am 10. November morgens brachte die „Times“ die sensationelle Enthüllung, dass der neue Reichskanzler den Engländern ein Bündnis angetragen habe unter der Bedingung, dass England sich von Frankreich und Russland trenne. Wenn England dieses Bündnis annehme, so könne es mit Deutschland den gesamten Orient aufteilen. Deutschland rechne augenscheinlich darauf, der französischen und russischen Diplomatie aus Anlass ihrer Anfrage wegen des Interviews des Kaisers eine exemplarische Niederlage zu bereiten. Diese Berechnung Deutschlands sei verkehrt, denn England werde sich nicht von seinen Verbündeten, Frankreich und Russland, trennen.

Am Abend desselben Tages brachte die „Kölnische Zeitung“ an der Spitze des Blattes in durchschossener Schrift die Mitteilung, der deutsche Reichskanzler habe durch den deutschen Botschafter in Paris der französischen Regierung eröffnen lassen, dass das bisherige Verhalten der französischen Regierung in der Frage des Kaiserlichen Interviews die Beziehungen beider Reiche derartig verschlechtert habe, dass Deutschland auf der genauesten Innehaltung der Beschlüsse der letzten Marokkokonferenz bestehen müsse. Frankreich habe bis morgen Mittag eine bestimmte Erklärung abzugeben, innerhalb welcher Zeit die französischen Truppen aus ganz Marokko zurückgezogen sein würden. Das vor sechs Monaten auf der letzten Marokkokonferenz gegebene Versprechen Frankreichs, innerhalb eines Vierteljahres alle Truppen aus Marokko zurückzuziehen, sei in keiner Weise gehalten worden. Und weiter sei bis zum folgenden Tage, 6 Uhr abends, die sogenannte Casablancaangelegenheit aus der Welt zu schaffen, indem Frankreich die der deutschen konsularischen Schutzhaft durch französische Soldaten entrissenen Deserteure freigebe und wegen dieses Übergriffs der französischen Soldaten um Entschuldigung bitte.

Am 11. November mittags herrschte an sämtlichen Börsen Europas die größte Panik seit dem Ausbruch des Krieges im Jahre 1870. Es wurde bekannt, dass Frankreich bis Mittag 12 Uhr keinerlei Erklärung abgegeben hatte. Mit beispielloser Spannung sah die Welt dem Ablauf des weiteren Ultimatums Deutschlands, welches auf 6 Uhr abends angesetzt war, entgegen. Noch gab man sich vielfach an den internationalen Börsen der Hoffnung hin, dass in letzter Stunde Österreich-Ungarn, die Vereinigten Staaten von Nord-Amerika oder vielleicht die Schweiz ihre guten Dienste anbieten würden.

Gleichzeitig brachten Extrablätter in Paris und London die Nachricht, dass über das ganze Deutsche Reich weg und auf allen deutschen Linien in Frankreich, England und Russland der Luftverkehr eingestellt sei.

Am Morgen des 11. November hatten die letzten deutschen Luftschiffe Paris und London verlassen, ohne dass neue zurückgekehrt waren.

Allerdings wurde diese Nachricht in Paris durch den um 5 Uhr nachmittags erscheinenden „Temps“ dahin berichtigt, dass soeben ein großes deutsches Verkehrsluftschiff in dem deutschen Luftschiffhafen bei Vincennes im Osten von Paris eingetroffen sei, und dass auch zwischen Paris und Metz mehrere andere deutsche Luftschiffe den Verkehr unterhielten.

Die Aufregung in Paris wuchs gegen 6 Uhr abends in das Ungeheuerliche, als „La Presse“ die Nachricht brachte, dass die französische Regierung in beiden Ultimatums Deutschland ohne jede Antwort lassen werde, ihrerseits aber im Verein mit England und Russland am selben Abende nochmals eine Erklärung von dem deutschen Reichskanzler wegen des Interviews des Kaisers verlangen werde.

In einer Extraausgabe brachte der „Figaro“ abends acht Uhr ein Interview seines Vertreters mit Mr. Wilbur Wright, der einige Tage zuvor von Berlin zurückgekehrt war.

„Ist die Nachricht richtig“, fragte der Vertreter des Figaro den Amerikaner, „welche in belgischen Blättern zu lesen ist, dass sämtliche Aeroplanlinien in Belgien, Holland, Dänemark in der letzten Woche aus dem Besitz der Firma Wright n. Berg in den Besitz des Löwekonzerns in Berlin übergegangen sind? Ist es ferner richtig, dass alle diese Aeroplane und noch weitere 5000 nagelneue Drachenflieger innerhalb der letzten Woche nach Deutschland übergeführt worden sind?“

Mr. Wilbur Wright bestritt die Richtigkeit dieser Tatsachen nicht, erklärte aber, dass ihm persönlich der deutsche Reichskanzler die bestimmte Versicherung gegeben habe, dass an einen Krieg zwischen Deutschland und Frankreich nicht zu denken sei.