Der werfe den ersten Stein - Ein Schweden-Krimi - Thomas Kanger - E-Book

Der werfe den ersten Stein - Ein Schweden-Krimi E-Book

Thomas Kanger

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Beschreibung

Spannend, packend und vielsagend - wer Schweden-Krimis mag, wird Thomas Klang lieben! Für Kriminalassistentin Elina Wiik ist es ihr erster Fall: Im abgebrannten Bürgerhaus der schwedischen Kleinstadt Surahammar wird eine Leiche gefunden. Ein Schuldiger ist schnell gefunden - zu schnell, meint Elina Wiik. Denn für die Brandnacht gibt es nur einen einzigen, nicht sehr glaubwürdigen Zeugen. Einen jungen Zeitungsboten, dem Elena Wiik von Anfang an misstraut und dessen Familie merkwürdig verängstigt reagiert. Als plötzlich der Vater des Zeitungsboten verschwindet, nimmt der Fall eine überraschende Wende. Die Ermittlungen müssen von vorne beginnen. -

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Thomas Kanger

Der werfe den ersten Stein - Ein Schweden-Krimi

Saga

Der werfe den ersten Stein - Ein Schweden-Krimi ÜbersetztAngelika Kutsch Copyright © , 2019 Thomas Kanger und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726344226

1. Ebook-Auflage, 2019

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

I

3.–22. Mai

1

Der Notruf ging um 03.36 Uhr ein. Die Rettungsassistentin der Leitzentrale gab sofort Großalarm. Bei allen Leuten vom Rettungsdienst in Surahammar, Virsbo, Hallstahammar und Västerås piepsten die Personensucher gleichzeitig. Einige Sekunden später ertönte die Stimme der Rettungsassistentin in den kleinen Lautsprechern.

»Feuer im Bürgerhaus von Surahammar!«

Sie nahm Kontakt zum Dienst habenden Leiter des Rettungsdienstes von Surahammar auf.

»Eine Person hat gemeldet, dass es im Bürgerhaus brennt«, sagte sie. »Er sagt, es brennt heftig auf der Rückseite und dass eine starke Rauchentwicklung besteht.«

»Verstanden«, sagte der Rettungsleiter.

Danach alarmierte die Rettungsassistentin den Dienst habenden Vorgesetzten der Polizei in Västerås und wiederholte ihre Nachricht.

Der Vorgesetzte in Västerås beorderte eine Nachtstreife nach Surahammar, wo sie den Unglücksort absperren und eventuelle Zeugenaussagen aufnehmen sollte. Die Streife bestand aus einem Streifenwagen mit den Polizisten Karlsson und Agestål.

Karlsson fuhr mit Blaulicht. Vierzehn Minuten später bremste er vor der Fußgängerzone von Surahammars Zentrum, stellte den Motor ab, stieg aus dem Auto, blickte geradeaus und sagte nur drei Worte:

»Herr im Himmel!«

Agestål, der auch ausgestiegen war, sagte nichts. Er holte die Absperrbänder, machte ein paar Schritte vorwärts und schaute. Langsam drehte er sich zu Karlsson um.

»Wir sperren erst die Fußgängerzone an beiden Enden ab, die Seiten nehmen wir uns später vor. Hoffentlich schmelzen die Bänder nicht.«

Die Flammen schlugen mindestens acht Meter hoch. Von Karlssons und Ageståls Standpunkt aus schien es, als würde das ganze Gebäude in Flammen stehen. Vor dem großen Haus standen Löschzüge und Tankwagen, die von drei der vier alarmierten Rettungsdienste gekommen waren. Die Wagen aus Västerås waren noch nicht da. Aber das spielte wahrhaftig keine Rolle mehr. Hier galt es nur noch zu verhindern, dass das Feuer auf andere Häuser im Zentrum übergriff. Das Bürgerhaus schien bereits ein Raub der Flammen geworden zu sein.

Als der südliche Zugang abgesperrt war, ging Agestål zu dem Feuerwehrmann, der ihm am nächsten stand.

»Wer ist hier der Rettungsleiter?«, fragte er.

»Kent Widell«, antwortete der Feuerwehrmann und zeigte auf einen Mann. »Er steht dahinten, beim Leiterwagen.«

Agestål ging zu ihm.

»Agestål, Polizei Västerås. Sind hier Zeugen anwesend?«

»Soviel ich weiß, nicht«, antwortete Widell.

Drinnen im brennenden Gebäude krachte es. Es klang, als ob ein Teil des Daches eingestürzt wäre. Agestål hielt eine Hand vor sein Gesicht, um sich gegen die Hitze zu schützen.

»Komm, jetzt sperren wir den nördlichen Zugang ab«, forderte ihn sein Kollege auf.

Als alles abgesperrt war, rief er die Notrufzentrale an und fragte, ob jemand wusste, wer den Brand gemeldet hatte.

»Nein«, antwortete die Rettungsassistentin. »Ich weiß nur, dass der Anruf aus einer Telefonzelle kam, so viel kann ich hier erkennen.«

Agestål wandte sich an Karlsson.

»Sie wissen nichts«, sagte er. »Das muss die Kripo später herausfinden. Wir müssen uns darauf einstellen, den Platz abzuschirmen.«

Als Kriminalkommissar Erik Enquist von der Polizei in Hallstahammar kurz vor halb sechs morgens nach Surahammar kam, war das Feuer gelöscht. Die Fassaden der Nachbargebäude waren verrußt, aber sonst nicht in Mitleidenschaft gezogen. Vom neuen Bürgerhaus, das vor etwa neunzehn Jahren das alte Bürgerhaus ersetzt hatte, standen nur noch die Ziegelsteinmauern. Aus einigen Teilen des Gebäudes stieg immer noch Rauch auf. In der Fußgängerzone breiteten sich rußschwarze Wasserlachen aus. Die Brandtechniker der vier Rettungsdienste hatten angefangen, in den Resten, die sie betreten konnten, nach Spuren zu suchen. Enquist ging zu Kent Widell.

»Wissen Sie schon was?«, fragte er.

»Dass es wie in der Hölle gebrannt hat«, antwortete Widell, »sonst wissen wir nicht viel. Die Techniker haben eben erst angefangen, es dauert sicher noch eine Weile, ehe wir klarer sehen. Gehen Sie hinein und schauen Sie selbst.«

Im selben Augenblick ertönte von der Rückseite des Hauses eine Stimme:

»Widell! Hörst du mich? Kannst du mal herkommen?«

Kent Widell ging um die rauchende Ruine herum und kletterte durch ein Loch in der Fassade. Erik Enquist folgte ihm. Sie arbeiteten sich über Wasser getränkte, verkohlte Reste der Einrichtung zu einem Brandtechniker mit Namen Per Pettersson vor. Er stand an einem Fenster.

»Schauen Sie, da.« Pettersson zeigte auf den Fußboden.

»Aha, nun wissen wir also mehr«, stellte Widell fest.

»Was wissen wir?«, fragte Erik Enquist und sah die beiden Feuerwehrleute an.

»Glasscherben«, sagte Pettersson. »Das Fenster ist von außen eingeschlagen worden. Fenster in einem brennenden Haus werden fast immer von der erhitzten Luft gesprengt, von Ausnahmen abgesehen. Das Fenster ist vermutlich vor dem Brand eingeschlagen worden. Dies scheint der Teil des Gebäudes zu sein, der am leichtesten brennbar war, hier kann das Feuer ausgebrochen sein.«

»Also Brandstiftung«, stellte Enquist fest. »Dann müssen auch Leute von der Spurensicherung der Kripo her.«

»Bevor wir ganz sicher sein können, sind natürlich Analysen nötig«, sagte Widell. »Wir haben noch viel zu tun. Aber ich wette, dass dieses Feuer gelegt wurde.«

Sie starrten auf die Glasscherben, als erwarteten sie eine Antwort von ihnen. Jemand klopfte Widell auf die Schulter. Es war Petter Pettersson, der Bruder von Per Pettersson, der auch Brandtechniker war.

»Können Sie mal kommen? Ich hab da was gefunden.«

Sie gingen etwas tiefer in das Gebäude hinein. In einem verkohlten Haufen auf dem Fußboden lag etwas, was einem Baumstamm mit Zweigen glich.

»Absolute Sicherheit gibt’s nicht«, sagte Petter Pettersson. »Aber ich glaube, hier handelt es sich um einen Menschen. Ich meine, das war mal ein Mensch. Ich bin ziemlich sicher. Dies hier muss ein Fuß sein.«

Erik Enquist schloss eine Sekunde die Augen und ging dann hinaus. Er nahm das Handy aus der Innentasche und wählte die Zentrale der Polizei von Västerås. Mit dem hier wurde er nicht mehr allein fertig.

2

Im selben Moment schlug Elina Wiik die Augen auf. Während ihr Körper erwachte, lag sie ganz still, streckte sich wie eine Katze und drehte sich zum Wecker um. Fünf Minuten bevor er klingeln sollte. Dann hörte sie sich laut zu sich selber sagen:

»Woher weiß mein Unterbewusstsein immer, wann ich geweckt werden muss?«

Augenblicklich überflutete sie die Erinnerung an den vergangenen Abend. Sie empfand eine Mischung aus Freude und Selbstverachtung. Er hatte gegen acht angerufen, gesagt, er sei gerade in Höhe von Örebro und könne um neun da sein. Nur wenn sie es wolle natürlich. Sie wollte es und sagte es ohne Umschweife. Er konnte höchstens zwei Stunden bleiben. Länger konnte er nicht so tun, als hätte er sich verspätet. Sie war sofort in die Küche gegangen und hatte ein einfaches Essen vorbereitet aus den Zutaten, die sie vorrätig hatte. Er kam schneller als erwartet. Ein Kuss, eine leise Unterhaltung bei Tisch, jeder ein Glas Wein, nicht mehr, er musste ja noch fahren und sie musste am nächsten Morgen früh aufstehen. Eine halbe Stunde später lagen sie im Bett.

Das erste Mal seit fünf Wochen. Sie überlegte, warum sie immer auf alles einging, was er verlangte, ständig akzeptierte sie seine Bedingungen. Warum sollte sie für einen verheirateten Mann da sein, der sechzehn Jahre älter war als sie? Liebe, klar, so war es wohl. Aber sie wusste, dass es andere, undurchsichtigere Gründe gab. Gründe, die mit den eineinhalb Stunden zusammenhingen, in denen sie sich nach der kurzen Mahlzeit einander widmeten, und gegen deren innersten Antrieb sie sich wehrte.

Eines Tages, dachte sie, werde ich mich selber analysieren, ein Puzzle aus den Teilen meiner Seele legen, genau wie ich es mit den Angaben einer Ermittlung mache. Erst wenn ich verstehe, warum ich mich so verhalte, kann ich vernünftige Entscheidungen treffen. Aber nicht jetzt und auch vorläufig noch nicht.

Damit war ihre stumme Diskussion mit sich selbst für diesmal beendet. Sie seufzte, erhob sich und ging duschen. Sie hatte eine Stunde und zwanzig Minuten Zeit für das, was eine allein stehende Frau von zweiunddreißig Jahren jeden Morgen vor der Arbeit zu erledigen hat. Die Morgenkonferenz war für acht Uhr angesetzt, aber Elina fing lieber schon um sieben an, der früheste Zeitpunkt, den die Gleitzeit erlaubte.

Das Licht verwandelte die Mauseöhrchen an den Birken vorm Fenster zu Schattenspielen auf den weißen Badezimmerwänden. An Maimorgen wie diesem wünschte sie, ihre Wohnung wäre etwas weiter vom Präsidium entfernt. Ihre Zweizimmerwohnung am Oxbacken lag so nah am Arbeitsplatz, dass man nicht einmal ins Schwitzen geraten würde, wenn man den ganzen Weg liefe. Bergab, die zweite Querstraße nach rechts, einen Häuserblock weiter. Umwege zu machen, was natürlich eine Alternative gewesen wäre, kam ihr irgendwie ziellos vor, und das passte nicht zu ihrem Naturell.

Das Präsidium in Västerås nahm einen halben Häuserblock zwischen Källgatan und Svartån ein. Es lag im zentralen Teil der Stadt, wo es immer noch einige ältere, schöne Gebäude gab, gerettet durch eine seltene Gnade, als die Abrissraserei der sechziger Jahre wie eine Windhose über das Land gefegt war. Das Präsidium jedoch war geprägt vom typischen Schnitt dieser Zeit und spiegelte die Einstellung jener Jahre zur Rolle der Herren in der Gesellschaft; grau wie ein Bürokrat und viereckig wie die Vorschriftenhörigkeit der Verwaltungsbeamten. Die Mauern des Gebäudes strahlten Uneinnehmbarkeit und Distanz aus, seine kleinen Fenster waren die Augen des Überwachers der Allgemeinheit.

Daran dachte Elina Wiik mit keinem Gedanken, als sie das Gebäude durch den Haupteingang betrat. Sie dachte auch nicht über die innere Geschlossenheit des Hauses nach. Routiniert öffnete sie mit Hilfe ihres Dienstausweises die Tür, um in das Innere des Hauses zu gelangen.

Ihr Zimmer lag im ersten Stock. Auf dem Weg dorthin begegnete sie dem einzigen Kollegen, der genauso früh seinen Dienst antrat wie sie.

»Guten Morgen«, sagte Kjell Stensson und lächelte.

»Hallo«, antwortete Elina Wiik und lächelte zurück, ohne jede Anstrengung, denn sie schätzte Stensson als Polizisten und auch als Menschen. Außerdem empfand sie Dankbarkeit für ihn. Er hatte ihr zu Anfang so manches Mal beigestanden und sich des Öfteren Zeit genommen, ihr zuzuhören, wenn sie nicht weiterwusste, obwohl er beim Rauschgiftdezernat und sie bei der Kripo war. Seine Ratschläge waren gut, manche passten nicht zu ihrem Arbeitsstil. Während Elina Wiik es vorzog, sich langsam voranzuarbeiten, weil das Analysieren in ihrer Natur lag, war Stensson ein Mann der Tat.

Viele Kollegen hielten ihn für eigenwillig und fanden, dass er häufig außerhalb der Regeln agierte. Er war ein Freund dessen, was man in der Sprache der Polizei proaktive Tätigkeit nannte. Das hieß eingreifen, bevor ein erwartetes Verbrechen begangen wurde, in der Hoffnung, es vereiteln zu können.

Was Stensson anging, bedeutete dies regelmäßige Besuche, die man kaum Höflichkeitsbesuche nennen konnte, bei einer ausgewählten Gruppe von Menschen. Individuen, von denen er zu wissen meinte oder annahm, dass sie sich mit Rauschgifthandel beschäftigten, obwohl es keine konkreten Hinweise gab. Sie sollten sich nicht in Sicherheit wiegen und sich ständig bewusst sein, dass Stensson ein Auge auf sie hatte.

Im Lauf der Jahre hatte es viele Klagen wegen Schikanen gegeben, und er war häufig kritisiert worden, auch innerhalb des Polizeikorps, weil sein Verhalten undemokratisch war. Kritik pflegte er mit einer Gegenfrage zu begegnen: »Und ist es vielleicht demokratisch, mit anzusehen, wie diese Armleuchter in aller Ruhe die Vergiftung unserer Jugend planen?« An dieser Stelle endete jede vernünftige Diskussion, weiter kamen sie nie.

Mehrere Male hatte der Kriminaldirektor Stensson bremsen müssen. Aber niemand konnte seine Effektivität leugnen und nur wenige wussten, dass er im Lauf der Jahre zusammen mit seiner unendlich geduldigen Frau Pflegeeltern für eine ansehnliche Zahl von verirrten Jugendlichen gewesen war, Jungen und Mädchen, die er erst als Polizist niedergeschlagen und denen er dann viel Zeit gewidmet hatte, um sie wieder aufzurichten und sie auf den richtigen Weg zu bringen.

»Komm mal einen Augenblick zu mir, wenn du Zeit hast«, sagte er. »Ich muss was mit dir besprechen.«

»Klar«, antwortete sie und folgte ihm in sein Zimmer. Es war ein wenig größer als die anderen Dienstzimmer auf dem Flur, da Kjell Stensson der Chef des Rauschgiftdezernats war.

»Wie geht’s dir und wie kommst du mit deinen derzeitigen Aufgaben zurecht?«, fragte er.

»Danke, gut, ich bin sehr zufrieden – aber hör mal, wenigstens du solltest wissen, dass man bei einem Verhör nicht zwei Fragen gleichzeitig stellt«, sagte sie lachend. »Da riskiert man, dass man nur auf eine von beiden eine Antwort bekommt. Auf die unverfänglichere.«

»Dies ist ja kein Verhör. Vielleicht sollte ich nicht mit dir darüber reden, vielen in diesem Haus gefällt es nicht, wenn man aktive Werbung in anderen Korridoren betreibt. Aber im Dezernat wird es eine vakante Stelle geben und darüber solltest du mal nachdenken.«

»Du möchtest also, dass ich für dich arbeite?«

»Das hab ich nicht gesagt. Könnte sein, dass ich Doppelfragen stelle, aber du schließt zu schnell Schlüsse daraus und das ist viel schlimmer für einen Polizisten. Vielleicht wollte ich dich ja nur bitten, mir jemanden zu empfehlen.«

Er grinste.

»Eins zu eins«, sagte Elina.

»Aber du hast Recht. Ich möchte, dass du dich um den Posten bewirbst.«

Elina Wiik schwieg eine Weile. Sie wusste, dass Stensson sie für eine gute Polizistin hielt, dennoch war sie überrascht. Sie überlegte, ob sie Witze über Ablösesummen machen sollte, ließ es dann aber.

»Rauschgift ist nicht gerade mein Ding«, sagte sie stattdessen.

Kjell Stensson fiel ihr ins Wort.

»Rauschgift ist niemandes Ding. Oder sollte es nicht sein. Aber in unserem Bezirk gibt es mehr weibliche Süchtige als früher. Bei jeder Ermittlung stoße ich auf sie. Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass Mädchen so viel rauchen. Wusstest du das? Nikotin ist die Einstiegsdroge zum Rauschgiftmissbrauch. Wer keinen Tabak raucht, fängt nie mit Hasch an. Und das ist wahrhaftig kein so harmloses Rauschgift, wie Journalisten und Politiker behaupten.«

Er verlor sich in einer Art Selbstgespräch.

»Als ob das eine Art Cola light wäre«, brummte er. Dann wandte er sich wieder an Elina Wiik und machte einen neuen Anlauf.

»Ich hab heimlich gelesen. Deine Verhöre in Fällen von Misshandlung. Du bringst die Frauen zum Reden. Obwohl man merkt, wie ängstlich und unwillig sie anfangs sind. So was brauchen wir speziell hier. Viele der Mädchen, die bei uns landen, machen sich vor Angst fast in die Hose. Vor uns und ihren Drogenkumpels da draußen, die ihnen den Stoff besorgen und sich in Naturalien bezahlen lassen. Im Augenblick hab ich nur männliche Polizisten im Dezernat. Alles prima Jungs, na ja, fast alle, aber die wissen nicht, wie sie sich einem siebzehnjährigen Mädchen gegenüber verhalten sollen, um sie zum Reden zu bringen. Die Verhöre fangen häufig damit an, dass die Mädchen schreiend behaupten, der Polizist habe sich an ihnen vergriffen, und enden damit, dass sie nach ihrer Mama heulen.«

»Kann ich noch mal darüber nachdenken? Auf jeden Fall freue ich mich über das Angebot.«

»Denk drüber nach«, sagte Stensson. »Aber nicht zu lange.«

Sie erhob sich und ging hinaus auf den Flur. Mit ihrem Ausweis öffnete sie eine weitere Tür, um auf ihren Korridor zu gelangen. Er war leer und bisher schien noch niemand gekommen zu sein. »Kriminalassistentin Elina Wiik«, stand an der vierten Tür von links.

Yes, sometimes you’re such an ass, dachte sie zum hundertsten Mal, als sie sich auf ihren Bürostuhl setzte.

Das Zimmer war klein und schmal, ein Regal voller Aktenordner bedeckte die hintere Wand, der Schreibtisch wurde vom Computer beherrscht. Keine Fotos auf dem ansonsten aufgeräumten Tisch, dagegen mehrere Topfpflanzen auf der Fensterbank. Die Vorhänge waren hellgrün gemustert. An der Wand vorm Schreibtisch hingen gerahmte Bilder in gesättigten Farben, Bilder, die sie auf ihren Auslandsreisen im Urlaub gekauft hatte.

Sie dachte an Kjell Stenssons Vorschlag. Arbeit im Rauschgiftdezernat bedeutete lange und viele Nächte in zivilen Polizeiwagen, um den Besuchsverkehr in Wohnungen zu registrieren, in denen Verdächtigte lebten. Wenn genügend Besucher identifiziert wurden, musste man zuschlagen – in der Hoffnung, einen größeren Fang zu machen. Und hinterher Verhöre von einer Klientel, der man häufig jede Silbe aus der Nase ziehen musste, die jungen schreienden Mädchen natürlich ausgenommen, wenn man Stensson glauben konnte.

Viel zu wenig Arbeit mit dem Kopf und viel zu viel mit dem Sitzfleisch, dachte sie. Das war nicht ihr angestrebtes Ziel. Sie wollte Fälle, bei denen die überwiegende Arbeitszeit dafür genutzt wurde, das Verbrechen aufzuklären, nicht um konstatieren zu müssen, wie weit sie schon begangen waren.

Sie hatte allerdings das Gefühl, der Weg bis zu diesem Ziel sei noch weit. Sie wollte komplizierte, schwere Verbrechen. Nach vier Jahren bei der Kripo hatte sie bisher nicht eine einzige wirklich große Aufgabe gehabt, in die sie sich vertiefen konnte. Neben dem begrenzten Teil von Auto- und Wohnungseinbrüchen, also solchen Fällen, die fast immer am Boden der großen »Pyramide« landeten und irgendwann mangels Beweisen und Interesses abgeschrieben wurden, musste sie sich um die meisten angezeigten Fälle von Frauenmisshandlung in der Stadt kümmern.

Es bereitete ihr jedes Mal erneut Schwierigkeiten, einer geschlagenen Frau gegenüberzutreten. Noch schlimmer fand sie die Begegnung mit Kindern, die Opfer von Verbrechen geworden waren. Aber mit wachsender Erfahrung wurde sie immer geschickter, eine Anklage gegen die Täter zu erreichen. Obwohl sie die Bilder von den blau geschlagenen Frauen lange verfolgten, empfand sie ihre Arbeit als sinnvoll. Das war eine entschieden größere Herausforderung, als den größten Teil der Zeit in einem Fahndungsauto herumzusitzen.

Wenn sie anbiss und sich um eine Stelle im Rauschgiftdezernat bewarb, würde der Weg bis zu der Art Verbrechen, die sie am liebsten aufklären wollte, noch länger werden. Da war es schon besser, die Zeit im Kriminaldezernat abzusitzen.

Du bist eine richtige kleine Karrieristin, dachte sie lächelnd.

Sie war schon acht Jahre bei der Polizei in Västerås. Nach Abschluss der Polizeihochschule zunächst als Anwärterin, dann als frisch gebackene Polizistin. Vier Jahre lang hatte sie sich danach die Schuhsohlen auf den Straßen der Stadt abgelaufen, ehe es ihr mit Glück und Geschick gelang, ihr erstes Ziel zu erreichen und Ermittlerin zu werden.

Ein Fall von Frauenmisshandlung hievte sie nach oben. An einem Novemberabend 1997 wollte Elina Wiik gerade ihre Patrouille beenden, als eine schwer misshandelte Frau mit dem Krankenwagen im Zentralkrankenhaus eingeliefert wurde. Die Krankenschwester in der Notaufnahme hatte sofort Alarm geschlagen, und als der Dienst habende Beamte des Reviers sah, dass die Nachtschicht nur aus Männern bestand, forderte er Elina Wiik auf, den Streifenwagen ins Krankenhaus zu begleiten.

Die Frau hatte mit niemandem sprechen wollen, Elina jedoch gebeten zu bleiben. Elina hatte vierzehn Stunden lang an ihrem Bett gesessen, war ein wenig eingedöst, wenn die Frau schlief, und hatte sich meistens still abwartend verhalten, wenn die Frau wach war oder von einem Arzt behandelt wurde.

Allmählich war ein vorsichtiges Gespräch in Gang gekommen. Langsam hatte die Frau von ihren fast unaussprechlichen Erlebnissen erzählt. Es war keine Überraschung für Elina, dass ein früherer Ehemann sie misshandelt hatte. Sie war an den darauf folgenden Ermittlungen beteiligt gewesen und hatte eine entscheidende Rolle dabei gespielt, dass die Frau es wagte, vor Gericht als Zeugin auszusagen. Der Mann wurde zu vier Jahren Gefängnis verurteilt.

Die Chefs waren beeindruckt gewesen von der Hartnäckigkeit der jungen Polizistin in einem Fall, der eigentlich nicht ihrer war. Nach dem Erfolg wurde ihr eine Stelle im Kriminaldezernat angeboten.

Das Erlebnis hatte Elina Wiik davon überzeugt, dass kleine Ermittlungsschritte schneller zum Ziel führen konnten als große. Geduld und Systematik waren ihre Mittel.

Ich wäre wahrscheinlich gut in Ermittlungen von Mordfällen, dachte sie. Wenn ich nur eine Chance bekäme.

Ganz zuoberst in dem Dokumentenkorb auf ihrem Schreibtisch lag eine Plastikhülle mit Verhörabschriften. Sie nahm sie heraus und begann ohne großen Enthusiasmus zu lesen. Es ging um einen einfachen Betrugsfall: Eine arbeitslose Frau hatte versucht, mehr Geld bei der Post abzuheben, als ihr zustand, indem sie eine Zwei vor die Summe von 1227 Kronen gesetzt hatte. Das Elend wurde nur noch dadurch verstärkt, dass die Frau sich nicht getraut hatte, mehr als eine Zwei hinzuschreiben.

Innerhalb weniger Tage musste Elina Wiik ihre Ermittlungsergebnisse beim Bezirksstaatsanwalt abliefern, der die gescheiterte Postbetrügerin routiniert ohne großen Aufwand verurteilen würde. Einen Tag nach dem Urteil würde er die Frau vollkommen vergessen haben. Vermutlich würde er nicht mal unter Folter ihren Namen nennen können.

Um zwanzig vor acht hörte sie Schritte auf dem Korridor und schaute hoch. Der erste Kollege vom Kriminaldezernat war auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz.

Sie sah gerade noch Egon Jönssons Rücken an ihrer Tür vorbeihuschen. Offenbar hatte Jönsson wahrgenommen, dass Elina Wiik den Kopf hob, denn er machte noch einmal einen Schritt zurück und grüßte sie. Elina erwiderte den Gruß. Keiner von beiden lächelte.

Die Kollegen hielten Jönsson, der dreiundvierzig Jahre alt war und schon seit mehr als zehn Jahren im Dezernat arbeitete, für Mittelmaß. Das bedeutete eigentlich nichts weiter, als dass er weder besser noch schlechter als die Ermittler im Allgemeinen war. Die Kollegen sahen das jedoch nicht ganz so. Mittelmaß zu sein war gleichbedeutend mit schlechter als sie, da sich alle für besser als den Durchschnitt hielten.

Elina Wiik hatte beschlossen, keine Meinung von Jönssons Fähigkeiten zu haben, bevor sie nicht gemeinsam an einem Fall gearbeitet hatten. Was bisher noch nicht geschehen war. Ihr Eindruck war allerdings, dass er genauso war, wie gesagt wurde: Mittelmaß.

Zwei Minuten später steckte ihr Chef, Oskar Kärnlund, ein großer Mann, der bald pensioniert werden würde, seinen fast kahlen Schädel durch die geöffnete Tür.

»Guten Morgen, Wiik. Geht’s gut?«, fragte er und ging weiter, ohne die Antwort abzuwarten.

Das wird vermutlich ein ereignisloser Tag, dachte Elina und las weiter in ihren Verhörprotokollen.

»Übrigens, Wiik ...«

Sie hob den Kopf und sah wieder Kärnlund in der Tür.

» ... vergiss die 8-Uhr-Besprechung nicht. Heute Nacht ist einiges passiert.«

3

Eine Minute nach acht schloss der letzte Teilnehmer die Tür zum Besprechungszimmer im ersten Stock. Einige Kriminalbeamte aus Västerås und ein Kriminalkommissar aus Hallstahammar saßen mit am ovalen Tisch. Alle hatten Kaffeetassen vor sich stehen, denn der Raum war auch der Pausenraum des Dezernats.

Oskar Kärnlund kam sofort zur Sache.

»Das Bürgerhaus in Surahammar ist heute Nacht abgebrannt«, sagte er. »Eine Streife von uns ist nachts draußen gewesen und heute in aller Frühe war der erste Ermittler vor Ort. Ihr kennt wohl alle Erik Enquist vom Dezernat in Hallsta?«

Kärnlund zeigte mit der flachen Hand auf den Kollegen und redete weiter, ehe jemand seine Bekanntschaft mit Enquist aus Hallstahammar bestätigen konnte.

»Enquist, erzähl, was bis jetzt bekannt ist.«

»Das ist noch nicht viel«, sagte Enquist und rollte einen Stift zwischen den Handflächen. »Das Gebäude ist total zerstört, und die Leute von der Brandtechnik sind sicher, dass es sich um Brandstiftung handelt. Ein Fenster ist an der Stelle eingeschlagen, wo das Feuer ausgebrochen zu sein scheint. Im Haus wurde eine tote Person gefunden. Stark verbrannt. Glaubt mir, das war kein schöner Anblick.«

»Also Brandstiftung und ein Toter«, sagte Kärnlund. »Und kein Tatverdächtiger, oder, Enquist? Normalerweise wäre dies natürlich ein Fall für das Dezernat in Hallsta, aber es ist kein normaler Fall. Er ist zu groß, und Larsson ist der Meinung, wir sollten eine Spezialgruppe zusammenstellen. Für den Anfang müssen wir die Kerntruppe bilden, obwohl wir genug mit unserem eigenen Kram zu tun haben.«

Larsson, das war Kriminaldirektor Per-Göran Larsson, zugleich Chef der Kriminalabteilung des Verwaltungsbezirks. Nach unzähligen Umorganisationen des Polizeiwesens hatte man sich für ein Modell entschieden, in dem er als Abteilungschef übergreifend die Verantwortung für drei Dezernate des Bezirks hatte: Rauschgift, Wirtschaftsvergehen und Fahndung, und für fünf Kriminaldezernate: Köping, Sala, Fagersta, Hallstahammar und Västerås.

Verbrechen in Surahammar wurden normalerweise vom Dezernat der Nachbarkommune Hallstahammar ermittelt. Handelte es sich jedoch um komplizierte und umfangreiche Ermittlungen, konnte man Spezialgruppen mit Leuten aus mehreren Dezernaten bilden. In der Praxis bedeutete es fast immer, dass das Dezernat in Västerås und sein Chef Oskar Kärnlund die Verantwortung übernahmen.

»Wissen wir etwas über den Toten?«, fragte Kärnlund.

»Nein, nichts«, antwortete Enquist. »Wenn es kein Obdachloser ist, der in dem Haus übernachtet hat, müsste sich eigentlich bald ein Angehöriger melden. Weil von dem Armen nicht viel übrig geblieben ist, wird die Identifizierung Zeit brauchen. Wir wissen ja nicht, mit welchen Zähnen wir vergleichen sollen.«

»Könnte es der Tote gewesen sein, der die Scheibe eingeschlagen und das Haus angesteckt hat, zum Beispiel im Rausch?«, fragte Elina Wiik, die ganz hinten im Zimmer saß. »Wie hoch über dem Boden befand sich das Fenster, und gab es etwas, was darauf hindeutete, dass jemand hineingeklettert ist?«, konkretisierte sie ihre Frage.

Alle wandten sich Enquist zu.

»Ich hab keine Zeit gehabt, mir die Außenwand anzuschauen«, sagte er. »Aber das Fenster lag ziemlich hoch.«

»Wie sieht es mit Zeugen aus?«, fragte Kärnlund.

»Bis jetzt keine«, sagte Enquist. »Aber es muss mindestens einen geben. Der, der die Feuerwehr benachrichtigt hat. Die vom Notruf haben uns die Kopie des Gesprächs gemailt. Ich hab sie hier auf dem Overhead.«

Er stand auf und ging zum Projektor, schaltete ihn an, legte das Bild ein und stellte die Schärfe nach.

Das Telefongespräch war kurz gewesen.

03.36.10: Hallo, ich wollte nur sagen, dass es im Bürgerhaus ziemlich schlimm brennt.

03.36.15: Aha. Um welches Bürgerhaus geht es? Wo?

03.36.21: In Surahammar.

03.36.23: Es brennt also im Bürgerhaus in Surahammar. Hab ich das richtig verstanden?

03.36.29: Ja. Auf der Rückseite qualmt es gewaltig.

03.36.34: Warten Sie am Telefon, bitte.

Enquist zeigte mit dem Stift auf das Wort »bitte«.

»Hier unterbricht die Rettungsassistentin das Gespräch, um die Rettungsdienste zu alarmieren«, sagte er.

03.38.11: Da bin ich wieder. Können Sie mir bitte Ihren Namen nennen und sagen, von wo Sie anrufen? Hallo? Hallo!

03.38.32: (Das Telefongespräch wird abgebrochen.)

»Nach Angaben der Notrufzentrale hat die Person von einer Telefonzelle in der Fußgängerzone in Surahammar angerufen«, sagte Enquist. »Das Bürgerhaus liegt in der Fußgängerzone; wir können also feststellen, dass er vor Ort war. Dann könnte er natürlich mehr gesehen haben, als er gesagt hat. Ich habe mit der Dienst habenden Rettungsassistentin gesprochen.«

Er blätterte in seinen Notizen.

»Sie heißt Siv Skarp. Sie sagt, es muss eine Männerstimme gewesen sein, obwohl sie nicht ganz sicher ist, nachdem sie das Band noch einmal abgehört hat. Sie weiß nicht, warum das Gespräch abgebrochen wurde.«

»Das müssen wir alles herausbekommen«, sagte Kärnlund und wandte sich an Egon Jönsson, der links von ihm saß.

»Jönsson, du leitest die Gruppe. Enquist soll dazugehören, ich hab mit Hallstahammar gesprochen. Und du, Niklasson, bist auch dabei. Ihr drei bildet bis auf weiteres die Spezialgruppe. Anfangs wird Wiik euch helfen, sie nimmt die Hinweise entgegen und kann im Revier Surahammar sitzen, solange es nötig ist.«

Er sah Elina Wiik an. Dann glitt sein Blick weiter zu den anderen.

»Wer keine akuten Aufgaben hat, meldet sich bei Jönsson, um bei einer Türklopfaktion nach Zeugen suchen zu helfen. Dieser Fall hat im Augenblick Priorität.«

Eine Weile war es still im Raum. Egon Jönsson lehnte sich mit zufriedener Miene zurück. Jan Niklasson, der einige Jahre älter war als Elina und schon ein wenig länger zum Dezernat gehörte, saß mit aufgestützten Ellenbogen am Tisch, das Kinn auf die gefalteten Hände gestützt.

Elina war enttäuscht, dass sie nicht zur Gruppe gehören sollte. Nur die Hinweise aufzunehmen bedeutete, dass die anderen die interessantere Arbeit hatten. Die Analyse des Materials. Genau das, was sie tun wollte.

»Wenn ich es richtig verstanden habe, stand das Gebäude schon in Flammen, als die Feuerwehr kam?«, fragte Niklasson, als ob er etwas sagen müsste, um seinen auserwählten Platz in der Gruppe zu rechtfertigen. »Das scheint mir darauf hinzudeuten, dass an mehreren Stellen Feuer gelegt wurde. Es ist ja ein großes Gebäude. Wie sonst konnte sich das Feuer so rasch ausbreiten?«

»Wir wissen ja nicht, wie lange es schon gebrannt hat, bevor der Alarm einging«, sagte Enquist. »Aber ich erinnere mich an eine Fernsehsendung nach dem Diskothekenbrand in Göteborg vor einigen Jahren. Man hat ein ähnliches Unglück in Irland rekonstruiert. Es ging unheimlich schnell, nachdem das Feuer erst einmal ausgebrochen war. Hatte etwas mit dem Erhitzungseffekt unter der Decke zu tun.«

Kärnlund stemmte die Handflächen auf den Tisch zum Zeichen, dass er sich erheben wollte.

»Wenn niemand mehr Fragen hat, wollen wir mal anfangen. Im Augenblick sind die Identifikation des Toten und Zeugenaussagen am wichtigsten. Eure Rapporte erwarte ich spätestens um drei, ich werde mich persönlich drum kümmern. Alle Medien wollten bereits Auskunft haben. Verweist die Leute an mich, falls ihr draußen angesprochen werdet. Wir müssen die Kontrolle darüber behalten, welche Informationen an die Öffentlichkeit gelangen.«

Drei der anderen Kriminalbeamten meldeten sich für die Befragungsaktion. Die Gruppe, sechs Männer und eine Frau, versammelte sich in der Garage des Präsidiums. Sie verteilten sich auf vier Polizeiwagen. Zehn Minuten vor neun bogen sie auf den Parkplatz südlich von der Fußgängerzone ein, weniger als hundert Meter vom Bürgerhaus entfernt. Eine große Menschenansammlung stand vor der Absperrung und betrachtete die Verwüstung. Elina Wiik sah einen alten Mann weinen.

»Es ist beschämend, beschämend«, hörte sie ihn vor sich hin murmeln, als sie an ihm vorbeiging.

Sie hoben die Absperrbänder und betraten die Fußgängerzone. Ein uniformierter Polizist kam heran und salutierte kurz.

»Jönsson, Kriminalpolizei«, sagte Egon Jönsson, als ob das Vertrauen, eine Spezialgruppe leiten zu dürfen, schon einen Karriereschritt aufwärts bedeutete. »Haben sich Zeugen bei Ihnen oder einem Ihrer Kollegen gemeldet?«

»Nein«, antwortete der Polizist. »Vielleicht weiß Widell etwas, der steht dahinten. Er ist der Rettungsleiter.«

Die ganze Gruppe ging zu Kent Widell, dessen Augenlider schwer waren nach der Arbeit in der Nacht und am Morgen. Widell begrüßte Jönsson.

»Jetzt ist alles gelöscht«, sagte er. »Was da noch qualmt, ist nur Wasserdampf. Für die Spurensuche gibt es natürlich viel Arbeit. Der Tote wird gerade abtransportiert.«

Sie wurden von einem Mann, der etwa sechzig Jahre alt sein mochte, unterbrochen.

»Entschuldigung, wenn ich störe«, sagte er. »Ich heiße Evert Bergman und bin Sekretär beim Verein vom Bürgerhaus. Unser Büro ist ... war ... sozusagen hier.«

Er drehte sich zu den Überresten des Gebäudes um und schwieg eine Weile. Sein Gesicht verzog sich wie im Schmerz, meinte Elina Wiik zu erkennen.

Kein Wunder, dachte sie, sagte jedoch nichts.

»Da ist etwas, das beunruhigt mich besonders«, sagte Evert Bergman. »Es geht um Karl Johansson, unseren Hausmeister. Er hätte normalerweise um acht zur Arbeit erscheinen müssen. Seltsamerweise steht sein Auto auf dem Parkplatz, aber niemand scheint ihn gesehen zu haben. Ich habe herumgefragt. Und er meldet sich nicht an seinem Handy. Ich kann mir kaum vorstellen, dass er nicht hier wäre nach dem Schrecklichen, das passiert ist.«

Widell und die Männer von der Kripo sahen einander an.

»Wo wohnt der Hausmeister? Sagten Sie, er heißt Johansson?«, fragte Niklasson und wandte sich Evert Bergman zu.

»Er wohnt in Virsbo und pendelt jeden Tag mit dem Auto. Ich hab auch bei ihm zu Hause angerufen, aber da meldet sich niemand.«

»Könnte Johansson einen Grund gehabt haben, gestern Abend in Surahammar zu bleiben?«, fragte Enquist. »Und zum Beispiel im Bürgerhaus zu übernachten?«

»Nicht soweit ich weiß. Im Haus gab es keinen Schlafplatz. Warum fragen Sie das?«

»Wo steht sein Auto?«, fragte Egon Jönsson. »Können Sie es uns bitte zeigen?«

Bergman führte Jönsson und Enquist zum selben Parkplatz, wo die Polizeiwagen standen.

»Der da.« Evert Bergman zeigte auf einen roten Saab.

Jönsson beugte sich vor und schaute in den Innenraum. Dann prüfte er die Türen und ging um das Auto herum. Sein Blick blieb am rechten Vorderrad hängen.

»Der hat einen Platten«, sagte er.

»Seltsam«, sagte Evert Bergman leise zu sich selber und runzelte die Stirn. »Das versteh ich nicht. Was kann da passiert sein?«

»Wir haben einen Toten im Haus gefunden«, sagte Jönsson an Bergman gewandt, der zusammenzuckte. »Die Leiche ist sehr verbrannt, es wird also eine Weile dauern, ehe wir sie identifiziert haben. Vielleicht ist der Hausmeister über Nacht geblieben, weil sein Auto einen Platten hatte?«

Bergman presste die Hände gegen die Brust. Er zitterte am ganzen Körper.

»Ich ... ich weiß nicht.« Mehr brachte er nicht hervor.

Er fummelte an seinem Handy herum. Enquist nahm ihn am Arm und lotste ihn zurück zu Widell und den Kripobeamten.

»Ich habe Herrn Bergman erzählt, dass wir eine Leiche gefunden haben«, sagte Jönsson.

Kent Widell hielt ein Schlüsselbund in einem weißen Stofffetzen hoch.

»Einer der Spurensucher hat es an der Stelle gefunden, wo der Körper gelegen hat«, sagte er.

Evert Bergman machte einen Schritt vorwärts und starrte auf die Schlüssel.

»Die gehören Johansson«, stellte er fest. »Nur er läuft mit so vielen Schlüsseln im Haus herum. Das muss bedeuten ... Guter Gott, der arme Johansson.«

Elina Wiik legte vorsichtig eine Hand auf Bergmans Schulter.

»Wir können nicht ausschließen, dass Johansson die Schlüssel gestohlen wurden«, sagte sie. »Aber das ist wohl unwahrscheinlich. Hatte Karl Johansson Angehörige?«

»Nein«, antwortete Evert Bergman. »Er hat allein gelebt und hatte keine Kinder. Seine Eltern sind tot, soweit ich weiß.«

»Wir müssen uns ein bisschen ausführlicher mit Ihnen unterhalten«, sagte Egon Jönsson zu Bergman, »über die Tätigkeit im Haus und anderes, am liebsten sofort. Können Sie mich zum Polizeirevier begleiten?«

»Ja, natürlich«, antwortete Bergman und sah verwirrt aus.

Jönsson wandte sich zu Niklasson um.

»Ich übernehme dieses Verhör«, sagte er. »Du kannst die Türklopfaktion organisieren. Und Wiik richtet die Hinweisannahme im Revier ein.«

Sie wollten schon gehen, als sie Widells Stimme hörten.

»Warten Sie mal!«, rief er. »Einige Ladenbesitzer in der Fußgängerzone möchten ihre Geschäfte öffnen. Für mich ist das in Ordnung, solange ihr den Brandplatz abgesperrt haltet.«

»Ich werde dafür sorgen«, sagte Jönsson und ging mit energischen Schritten weiter auf das Polizeirevier zu.

4

Aus dem Gespräch mit Evert Bergman ergab sich, dass das Bürgerhaus mehrere Organisationen beherbergt hatte. Im linken Flügel hatten die Arbeiterbewegung, eine Abteilung des Metallverbandes und einige kleinere Verbände ihre Büros gehabt. Im rechten Flügel war die Gemeindebibliothek untergebracht. Die Räume dazwischen waren an ein Restaurant verpachtet. Der Inhaber hieß Greger Hedåsen. Dann gab es noch einen großen Versammlungsraum, der für Konferenzen und Feste benutzt wurde.

In den letzten Monaten hatte Hedåsen im Versammlungsraum freitags eine Disko veranstaltet. Bergman hatte sich darüber gefreut, dass viele Jugendliche gekommen waren. Außerdem hatte die Vermietung etwas Geld in die Kasse gebracht. Die wirtschaftliche Lage des Bürgerhauses war angespannt und hing ganz und gar von den Beiträgen der Kommune ab. Da die Sozialdemokraten an der Macht waren, war die Unterstützung eigentlich nie in Frage gestellt worden.

Aber Surahammar war eine Abwanderungsgemeinde mit verringertem Steueraufkommen und in den letzten Jahren war der Beitrag gekürzt worden. Erhöhte Mieteinnahmen waren also dringend nötig, hatte Evert Bergman Egon Jönsson nachdrücklich erklärt.

Auf die Frage, wer einen Grund haben könnte, einen Brand im Bürgerhaus zu legen, hatte Bergman keine Antwort. Soweit er wusste, gab es keinen Angestellten oder ehemaligen Angestellten, der sich ungerecht behandelt fühlen könnte. Den Gedanken an eine politische Tat, gerichtet gegen die Arbeiterbewegung, wies er von sich.

Jönsson bekam eine Liste mit allen Personen, die sich häufig in den Räumen der Arbeiterbewegung aufhielten, Angestellte und Vertrauensleute. Evert Bergman zählte die Namen aus dem Gedächtnis auf.

Jönsson wollte Greger Hedåsen bitten, ihm eine entsprechende Liste für das Restaurant zur Verfügung zu stellen. Dann war da noch die Bibliothek; aber um die würde man sich zum Schluss kümmern. Alle, die sich täglich im Haus aufgehalten hatten, mussten verhört werden, ob ihnen vor dem Brand etwas aufgefallen war. Das würde eine langwierige Arbeit werden.

Elina Wiik hatte sich im Empfangsraum des Polizeireviers eingerichtet. Er war klein und normalerweise leer, da das Revier nur montags zwischen neun und vierzehn Uhr geöffnet hatte. Ein Schild verwies alle anderen Angelegenheiten an die Polizei in Hallstahammar.

Aber jetzt kam es darauf an, schnell Kontakt zu eventuellen Zeugen aufzunehmen. Elina Wiik hoffte auch, etwas über die Verhältnisse um das Bürgerhaus herum aufzuschnappen.

Man soll das Gerede der Leute nicht unterschätzen, dachte sie. Und auf das Unausgesprochene achten. Das, was dicht unter der Oberfläche eines Redestroms liegt.

Eine Weile hatte sie erwogen, ein Schild mit der Aufschrift »Hinweisannahme« aufzuhängen mit einem Pfeil, der auf das Polizeirevier zeigte, hatte es sich dann aber anders überlegt. Das Risiko, Lotto- und Totospieler anzuziehen, war zu groß.

Die Eingangstür wurde geöffnet. Elina hob den Blick und sah in ein Gesicht, das von einem großen runden Brillengestell beherrscht wurde.

»Es ist furchtbar«, jammerte die Frau. »Entsetzlich. Unser Bürgerhaus. Wie kann jemand so was machen, ein richtiger Frevel! Sie müssen versprechen, den Täter zu fassen.«

Elina versprach es. Auf dem Weg hinaus hielt die Frau einem Mann mit zurückgekämmtem dickem weißen Haar die Tür auf. Elina erkannte ihn wieder, er hatte in der Menschenansammlung vor der Absperrung gestanden. Er war es, der beim Anblick des abgebrannten Gebäudes geweint hatte.

»Sind Sie Polizistin?«, fragte er.

»Ja, das bin ich.« Sie stand auf und reichte ihm die Hand. »Ich bin Kriminal ... Mein Name ist Elina Wiik«, sagte sie.

»Aha«, sagte der Mann.

Er erzählte vom ersten Mal, als er im Bürgerhaus in Surahammar gewesen war, im Mai 1935. In dem alten Haus, das wie eine Burg ausgesehen hatte, das abgerissen worden war. Das allererste Bürgerhaus von Surahammar war ein kleines rotes Haus aus Holz gewesen, südlich der Gemeinde, das vor einigen Jahren ebenfalls abgerissen worden war.

»Eine Zeit lang hatten wir hier drei Häuser gleichzeitig«, sagte er. »Jetzt haben wir gar keins mehr. Ich kann nicht verstehen ...«

Der Mann beendete den Satz nicht.

Elina Wiik begriff, dass sie heute viele traurige Sozialdemokraten würde anhören müssen. Solange sie mich nicht von der Arbeit abhalten, macht es nichts, dachte sie. Vielleicht erfährt man ja auch nebenbei etwas Wichtiges.

Ihr fiel es nicht schwer, die Gefühle der Menschen zu verstehen. Der Mann vor ihr war vielleicht zehn Jahre älter als ihr Vater. Botwid Wiik war sein ganzes erwachsenes Leben lang Parteimitglied gewesen und hätte vermutlich auch geweint, wenn das Bürgerhaus von Barbaren zerstört worden wäre.

Im letzten Jahr hatte ihr Vater seinen siebzigsten Geburtstag gefeiert, und Elina war aufgefallen, wie wenig gebrochen er war trotz seines harten Lebens. Botwid Wiik war im Schwedisch sprechenden Teil von Österbotten geboren und als Kriegskind nach Schweden gekommen. Er war bei seinen Pflegeeltern geblieben und zwanzig Jahre lang Wald- und Hafenarbeiter in Norrbotten gewesen, bevor er nach Stockholm zog und sich zum Metallarbeiter umschulen ließ.

Der Grund für seinen Umzug hieß Maria, Elinas Mutter, die er auf einer Parteikonferenz kennen gelernt hatte. Da die Liebe groß und Maria alles nördlich von Gävle fremd gewesen war, hatte ihr Vater seine wenigen Besitztümer genommen und war nach Süden gezogen. Mit Mitte sechzig hatte er sich pensionieren lassen, da war er Vorarbeiter in der Werkstatt gewesen. Jetzt zog er Blumen in seinem Reihenhausgarten in Märsta und las Bücher. Er ging immer noch zu den Parteiversammlungen.

Elina verlor sich ein Weilchen in ihren Gedanken an den Vater. Ihr stärkstes Gefühl für ihn war Zärtlichkeit, und sie wünschte, sie würden sich öfter treffen. Mit ihrer Mutter, die bedeutend jünger war als ihr Mann, hatte sie ein eher kompliziertes Verhältnis gehabt, besonders in der Jugend. Aber seitdem Elina ihr eigenes Leben führte, verstanden sie sich gut.

Die folgenden Stunden waren genau so, wie Elina Wiik vermutet hatte. Viele erregte Menschen wollten mit der Polizei über das sprechen, was passiert war. Der eine oder andere entwickelte Verschwörungstheorien. Einige Personen waren Zeugen des Brandes gewesen, sie waren vom Lärm der Feuerwehr aufgewacht und hatten aus dem Fenster geschaut. Diesen Leuten hörte sie besonders genau zu. Aber niemand schien etwas zu wissen, was die Ermittlungen vorantreiben könnte.

Sie schrieb Namen und Adressen auf. Jönsson musste entscheiden, ob jemand von ihnen eingehender verhört werden sollte.

Um eins kam Niklasson zum Revier.

»Hunger, Wiik? Wir haben was auf die Schnelle gegessen; wenn du dich also jetzt stärken möchtest, kann ich dich eine Weile ablösen.«

»Ja, danke.« Elina stand sofort auf. »Was ist bei der Umfrageaktion an den Türen herausgekommen?«

»Wir haben viele angetroffen, die aufgewacht und nach draußen gegangen sind. Aber niemand scheint etwas Verdächtiges gesehen zu haben. Alle scheinen ganz und gar von dem Schauspiel gefangen gewesen zu sein. So ein großes Maifeuer hat hier wahrscheinlich noch niemand gesehen.«

Es war der 3. Mai und dieser Kommentar war nicht einmal deplatziert. Elina Wiik fühlte sich trotzdem beschämt und sah zu Boden.

Papa und all den Menschen, die heute Morgen hier waren, hätte das nicht gefallen, dachte sie. Hoffentlich redet er nicht so mit den älteren Leuten, die hierher kommen.

Aber sie behielt es für sich.

Sie verließ das Polizeirevier und suchte nach einer Salatbar oder etwas Ähnlichem. Fastfood wollte sie nicht. Mein Körper mag das nicht, hatte sie sich eingeredet. Außerdem war sie sehr zufrieden mit ihrer Figur; die wollte sie sich nicht durch Hamburger und Fritten verderben.

Nördlich der Fußgängerzone gab es zwei Kebablokale, die auch Salate anboten. Sie ging in das eine und bestellte sich die sättigendste Variante. Nachdem sie bezahlt hatte, fragte sie, ob man sich irgendwo draußen hinsetzen und essen könnte, und wurde zum Mitgårdspark hinter der Fußgängerzone verwiesen. Dorthin ging sie und setzte sich auf eine Bank. Auf der Nachbarbank saßen zwei offensichtlich betrunkene Männer.

Zwei Überbleibsel aus einer untergegangenen Fabrikgesellschaft, dachte sie.

Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel, es war ein Gefühl, als sei der Sommer schon da. Als sie hinter sich schaute, sah sie gelbe Häuser aus Holz mit Gärten, die in zartem Grün leuchteten. Vor ihr lag das Bürgerhaus. Vom Gebäude war nur ein Skelett aus Ziegelsteinen übrig geblieben.

Nach fünfzehn Minuten kehrte sie zurück zum Revier.

»Jönsson ist unterwegs, um mit den Angestellten des Hauses zu sprechen«, sagte Niklasson. »Und demnächst kommt jemand von der Spurensuche aus der Stadt. Keine Ahnung, wer es ist. Ich mach jetzt mal weiter und klappere die Wohnungen ab.«

Niklasson erhob sich und ging hinaus.

Ein Journalist der Vestmanlands Länstidningen kam und fragte nach dem Stand der Ermittlungen. Elina Wiik verwies ihn auf die Pressekonferenz, die später am Nachmittag in Västerås stattfinden sollte.

Zehn Minuten nach zwei wurde die Tür geöffnet und ein Junge trat ein, der hinter dem Tresen des Empfangs kaum zu sehen war. Elina Wiik schaute auf, sagte aber nichts. Der Junge sagte auch nichts, schließlich brach Elina das Schweigen.

»Ja?«, sagte sie in fragendem Ton.

»Ich war das, der angerufen hat.«

»Wie bitte, was hast du gesagt?«

»Ich hab angerufen heute Nacht. Also die Feuerwehr.«

Im Bruchteil einer Sekunde waren alle anderen Gedanken aus Elina Wiiks Gehirn wie weggeblasen.

»Wann hast du angerufen und von wo?« Sie ließ ihn nicht aus den Augen.

Eine Frage zu viel, konnte sie gerade noch denken, da antwortete der Junge schon:

»Es war fünf nach halb vier, von der Telefonzelle in der Fußgängerzone.«

Zwei Richtige von zwei Möglichkeiten, dachte Elina. Im Radio hat er das nicht gehört. Und er hat eine etwas mädchenhafte Stimme. Es ist der richtige Junge.

Sie spürte eine leise Bewegung im Magen.

»Komm herein und setz dich«, forderte sie ihn auf und richtete den Notizblock auf dem Tisch aus.

Am liebsten hätte sie ihn sofort verhört, aber sie wusste, das war Jönssons Sache.

»Der Reihe nach«, sagte sie. »Wie heißt du?«

»Peter Adolfsson. Ich wohne an der 252, der Landstraße auf der anderen Seite vom Kanal. Soll ich erzählen, was ich gesehen habe?«

»Später. Ein Kollege wird sich um dich kümmern. Warum warst du nachts um diese Zeit unterwegs?«

»Ich bin Zeitungsbote. Morgens um halb vier hol ich die Zeitungen vorm Büro der Länstidningen ab. Sonntags natürlich nicht, da gibt’s ja keine Zeitung. Und als ich mit dem Fahrrad in die Fußgängerzone fuhr, hab ich gesehen, dass es brennt, und hab angerufen.«

»Das hast du sehr gut gemacht. Würdest du bitte hier warten, mein Kollege ist im Augenblick nicht da. Er will sich bestimmt ausführlicher mit dir unterhalten. Es wird noch eine Weile dauern, das verstehst du hoffentlich.«

»Ich verstehe«, sagte Peter mit ernster Miene. »Ich bin bereit, zu erzählen, was ich weiß.«

Der Junge spricht einen Dialekt, dachte Elina, vielleicht aus Schonen, jedenfalls irgendeinen Dialekt aus dem Süden. Warum wurde das nicht bei unserer Morgenbesprechung erwähnt? Die Rettungsassistentin von der Leitzentrale muss das doch gehört haben. Es ist mindestens genauso wichtig wie zu wissen, dass er eine helle Stimme hat.

Sie nahm den Telefonhörer ab, rief Egon Jönsson auf seinem Handy an und erzählte ihm, was passiert war. Jönsson sagte, er werde innerhalb von fünf Minuten im Revier sein.

Als Erstes schaute Jönsson in Elina Wiiks Notizblock, als er kam.

»Du heißt also Peter Adolfsson und bist Zeitungsbote«, sagte er. Das klang eher wie eine Feststellung und nicht wie eine Frage. »Lass uns in das Zimmer dort gehen, ich möchte deine Zeugenaussage gern auf Band aufnehmen.«

Er führte den Jungen zu einem der Hinterzimmer. Dann kehrte er zu Elina zurück.

»Jetzt übernehme ich«, sagte er. »Kümmere du dich um die Leute hier, falls noch welche kommen. Und ruf Enquist an, ich möchte, dass er bei dem Verhör dabei ist. Adolfsson muss solange warten, bis er kommt.«

Jönsson sah auf die Uhr.

»Ich ruf inzwischen Kärnlund an und erstatte ihm Bericht«, murmelte er vor sich hin.

Oskar Kärnlund hatte die Pressekonferenz auf drei Uhr festgesetzt. Peter Adolfssons Auftauchen könnte vielleicht bedeuten, dass sie in den Ermittlungen einen Schritt vorankamen, aber das konnte er den Journalisten nicht sagen. Eine Bestätigung, dass es sich bei dem Toten im Bürgerhaus um den Hausmeister Karl Johansson handelte, hatte er auch noch nicht bekommen. Sie hatten den Medien nicht viel zu sagen.

Die Pressekonferenz war gut besucht. Außer der Vestmanlands Länstidningen, die drei Reporter und einen Fotografen geschickt hatte, waren Fernsehteams zur Stelle. Das eine Team war vom regionalen Nachrichtensender, das andere von TV4. Das Lokalradio war mit zwei Leuten vertreten, beides junge Frauen. Eine von ihnen wollte direkt senden, die andere wollte Interviews für die späteren Nachrichtensendungen machen. Außerdem war der Redakteur der Sendereihe »Die Arbeit« von P1 da, ein Programm, das von Västerås gesendet wurde. Er wollte Geräusche zu einem Beitrag über das Arbeitsmilieu der Polizei aufnehmen. Stockholms Abendzeitungen hatten Reporter und Fotografen geschickt, aber von den Morgenzeitungen des Landes ließ sich kein Journalist blicken.

Oskar Kärnlund begrüßte sie.

»Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass wir einen Toten im Gebäude gefunden haben«, sagte er dann. »Die Person ist stark verbrannt und bis jetzt konnten wir sie noch nicht identifizieren. Unsere Spurensicherung sowie die des Rettungsdienstes vor Ort arbeiten fieberhaft daran, um die Brandursache herauszufinden. Es ist allerdings noch zu früh, um zu sagen, zu welchem Ergebnis sie kommen werden. Sonst gibt es in diesem Augenblick nicht viel zu berichten. Aber ich will gern auf Fragen antworten, wenn ich es kann.«

Mehrere Leute erhoben ihre Stimme, aber wie üblich gewann der Polizeireporter der Länstidningen den Kampf ums Wort.

»Deutet schon etwas darauf hin, dass es sich um Brandstiftung handelt?«, fragte der Reporter.

»Unseren derzeitigen Ermittlungsstand kann ich nicht kommentieren«, sagte Kärnlund. »Aber wir arbeiten jedenfalls mit der These Brandstiftung.«

»Haben Sie einen Verdacht oder sehen Sie einen Zusammenhang mit früheren Brandstiftungen in Surahammar?«, fuhr der Reporter fort.

»Sie denken an die Brände, die sich vor einigen Jahren ereignet haben? Die alte Kirche, die 1998 abgebrannt ist, der Västsura Herrenhof und einiges mehr. Das ist jetzt drei Jahre her, eine Verbindung kann also nicht ohne weiteres hergestellt werden. Die Fälle sind außerdem ungelöst, liefern uns also keine direkte Spur. Aber wir schließen natürlich nichts aus. Wir werden die Ergebnisse der technischen Untersuchungen im Bürgerhaus mit den Erkenntnissen früherer Brände vergleichen.«

Es folgten mehrere Fragen nach dem Toten, der gefunden worden war. Nach zwanzig Minuten, als die Fragen zu versiegen schienen, ertönte von den hinteren Stuhlreihen eine laute und deutliche Stimme, die viele im Raum kannten. Es war die von Ernst Gunnarsson, dem Redakteur von »Die Arbeit«.

»Im Entree vom Bürgerhaus fand eine Ausstellung gegen Rassismus statt«, sagte er. »Ich weiß zufällig, dass es eine kleine Gruppe von Neonazis beeinflusste Jugendliche im Ort gibt. Haben Sie die verhört?«

Oskar Kärnlund schwieg eine Weile, als würde er darüber nachdenken, was er antworten sollte. Von den Neonazis wusste er nichts. Die Sicherheitspolizei hatte keinen Ton darüber verlauten lassen, und soweit er wusste, waren in Surahammar keine rassistisch oder politisch geprägten Verbrechen vorgekommen.

»Ich kann Ihnen leider nichts darüber sagen, wen wir verhört haben«, antwortete er und stützte die Handflächen auf den Tisch, das übliche Zeichen, dass es jetzt Zeit war, sich zu erheben. Aber Gunnarssons Frage löste einen Sturm von weiteren Fragen der beiden Reporter von den Stockholmer Abendzeitungen aus, die eine neue Tendenz für ihre Artikel witterten. Als diese beiden begriffen, dass sie von Dezernatchef Kärnlund nicht mehr erfahren würden, verließen sie rasch die Pressekonferenz und fuhren mit ihren Autos nach Surahammar. Es kam darauf an, als Erster die Nazibrut zu finden.

Kurz nach sechs beschloss Elina Wiik, nach Hause zu fahren. In der letzten halben Stunde war niemand mehr gekommen. Sie sah, dass die Fußgängerzone fast menschenleer war. Jönsson war schon vor zwei Stunden gegangen. Elina war neugierig, was das Verhör von Peter Adolfsson ergeben hatte, aber da Jönsson Adolfsson hinausbegleitet hatte und danach nicht mehr zurückgekehrt war, hatte sie ihn nicht fragen können.

Während sie ihre Sachen einpackte, kamen Niklasson und die drei anderen Kriminalbeamten, die an der Türklopfaktion beteiligt gewesen waren.

Wie auf Bestellung, dachte Elina.

Sie hatte keinen Schlüssel zu einem der beiden Autos, die noch da waren, nachdem Jönsson weggefahren und Enquist mit seinem Auto nach Hallstahammar aufgebrochen war.

»Wir hören jetzt auf«, sagte Niklasson. »Du kannst mitfahren, Wiik.«

Auf dem Heimweg berichtete Elina von ihrem Eindruck, den sie von Peter Adolfsson hatte. Niklasson sagte, ihre Aktion habe nichts ergeben, was sie weiterbrächte. Dann schwiegen sie. Elina sah Niklasson von der Seite an, während er fuhr.

Vermutlich um die fünfunddreißig, dachte sie, hübscher Kerl. Möchte wissen, ob er verheiratet ist. Dann dachte sie an Martin und musste lachen. Niklasson war vor ihren Augen geschrumpft.

»Worüber lachst du?«, fragte Niklasson.

»Nichts«, antwortete Elina und schlug die Beine übereinander. »Gar nichts.«

5

Die Uhr im Stadthausturm schlug jede Stunde, nicht damit die Einwohner wussten, was die Stunde geschlagen hatte, denn schon das kleinste Kind, das Zahlen lesen konnte, besaß eine Armbanduhr, sondern um gleichsam zu vermitteln, dass alles ruhig war. Dass die Obrigkeit über die Ihren wachte. In dieser Beziehung unterschied sich das Stadthaus von Västerås nicht vom Polizeipräsidium.

Genau wie das Präsidium war das Stadthaus ein graues Viereck. Aber während das Polizeigebäude verschlossen wirkte, öffnete sich das Stadthaus für die Allgemeinheit. Die Eingangstreppe weitete sich zu einem kleinen Platz. Die Steinfassade ließ das Gebäude lebendig wirken. In Västerås sprachen die Häuser zu den Bewohnern der Stadt.

Als Egon Jönsson sich den Betonmauern des Präsidiums näherte, schlug die Stadthausuhr sieben. Er kurbelte das Seitenfenster seines Volvo 740 hoch, parkte vor dem Eingang und ging hinein. Es war Freitag, der 4. Mai. Man hatte ihm eine Abschrift vom Verhör mit Peter Adolfsson versprochen, obwohl er das Band erst gestern kurz nach vier abgeliefert hatte. Jetzt hatte er noch eine Stunde Zeit, darüber nachzudenken, was nun zu tun war. Bei der 8-Uhr-Besprechung musste er seine Beschlüsse bekannt geben. Er würde zweifellos die Hauptperson der Besprechung sein.

Er erreichte mit Hilfe seines Ausweises den Korridor des Kriminaldezernats und ging zum Postfach. Die Abschrift steckte in einem Kuvert. Auf dem Weg zu seinem Zimmer öffnete er den Umschlag. Er setzte sich auf seinen Bürostuhl und begann zu lesen. Es war eine wortgetreue Abschrift dessen, was gesagt worden war.

Frage: Du, Peter, wirst wegen des Verdachts der Brandstiftung im Bürgerhaus in Surahammar als Zeuge verhört. Mein Kollege, Kriminalkommissar Erik Enquist, ist dabei, um zu helfen. Wollen wir mit den Angaben zur Person beginnen? Kannst du mir bitte deinen vollständigen Namen und deine Adresse nennen? Antwort: Ich heiße Peter Bertil Adolfsson und wohne in Åsen hier bei Surahammar. Es ist das Dorf an der 252 auf der anderen Seite vom Kanal. Meine Adresse ist Box 5, Åsen, Surahammar. Die Postleitzahl kenne ich nicht.« F: Wie alt bist du? A: Ich wurde am 23. April 1983 geboren. F: Dann bist du also gerade achtzehn geworden. Kannst du uns ein bisschen mehr von dir erzählen, bei wem du wohnst, von deinem Beruf und so weiter? A: Ich wohne bei meinen Eltern, zusammen mit einem Bruder und einer Schwester. Wir sind hierher, warten Sie mal, vor bald vier Jahren gezogen. 1997. Ich arbeite als Zeitungsbote.