Der Werwolf von Paris - Georg Pfeiffer - E-Book

Der Werwolf von Paris E-Book

Georg Pfeiffer

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Beschreibung

Der Spätherbsttag senkte sich in trüben Schleiern auf die Landschaft vor Paris. In trostloser Verlassenheit lag die Heide da, umsäumt von einem kleinen Wäldchen, dessen Bäume nur noch wenige bunte Blätter zeigten. Im Westen brannte das Abendrot und goß sein Purpurlicht über das Land. Wie Blutstropfen funkelten die Wasserläufe, die träge durch die Ebene zogen. Der Himmel umdüsterte sich, schwere, weißgraue Wolken türmten sich auf; es drohte Schnee. Durch das raschelnde Laub des Waldes, das einen feuchten, modrigen Hauch ausströmte, wanderte langsam, müde ein etwa fünfzehnjähriger Junge. Lumpen umhüllten seinen schlanken und doch kräftigen Körper, sein schmales, blasses Gesicht mit den dunkelumränderten Augen war traurig, verhungert. Er hatte das Aussehen eines verwahrlosten Landstreichers, und doch lag ein anziehender Ausdruck in seinem Antlitz. Als er den Waldrand erreicht hatte, blieb er einen Augenblick stehen und starrte nach Westen. Ein heller Schein flog über sein melancholisches Gesicht. Dort lag, vom Licht der untergehenden Sonne mit Purpurglanz bestrahlt, Paris das Ziel seiner Sehnsucht. Silhouettenartig hoben sich die Türme und Giebel der Riesenstadt vom Himmel ab, überragt von dem altehrwürdigen Dom von Notre-Dame. "Paris", flüsterte der Junge wie andächtig, "der heiligen Jungfrau sei Dank. Ich habe Paris erreicht." Wochenlang war er durchs Land gezogen, von Ort zu Ort sich durchbettelnd, hungernd und frierend, wenn die Gaben der Mitleidigen einmal spärlich flossen oder er kein Heulager bekam und unter freiem Himmel übernachten mußte. Antoine François Desrues hatte schon im dritten Lebensjahr seine Eltern verloren und war von Verwandten aufgenommen worden, die sich seiner aber bald wieder entledigten. Er war dann von einer Hand in die andere Hand übergegangen. Seine Pflegeeltern ließen den Jungen arbeiten, bis er fast zusammenbrach. Der kaum Elfjährige ersetzte einen Knecht, bekam aber nicht satt zu essen trotz der schweren Arbeit. Nie hörte er ein …

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Georg PfeifferDERWERWOLFVONPARIS

1Heimatlos

Der Spätherbsttag senkte sich in trüben Schleiern auf die Landschaft vor Paris. In trostloser Verlassenheit lag die Heide da, umsäumt von einem kleinen Wäldchen, dessen Bäume nur noch wenige bunte Blätter zeigten. Im Westen brannte das Abendrot und goß sein Purpurlicht über das Land. Wie Blutstropfen funkelten die Wasserläufe, die träge durch die Ebene zogen. Der Himmel umdüsterte sich, schwere, weißgraue Wolken türmten sich auf; es drohte Schnee.

Durch das raschelnde Laub des Waldes, das einen feuchten, modrigen Hauch ausströmte, wanderte langsam, müde ein etwa fünfzehnjähriger Junge. Lumpen umhüllten seinen schlanken und doch kräftigen Körper, sein schmales, blasses Gesicht mit den dunkelumränderten Augen war traurig, verhungert. Er hatte das Aussehen eines verwahrlosten Landstreichers, und doch lag ein anziehender Ausdruck in seinem Antlitz.

Als er den Waldrand erreicht hatte, blieb er einen Augenblick stehen und starrte nach Westen. Ein heller Schein flog über sein melancholisches Gesicht. Dort lag, vom Licht der untergehenden Sonne mit Purpurglanz bestrahlt, Paris, das Ziel seiner Sehnsucht. Silhouettenartig hoben sich die Türme und Giebel der Riesenstadt vom Himmel ab, überragt von dem altehrwürdigen Dom von Notre-Dame.

»Paris«, flüsterte der Junge wie andächtig, »der heiligen Jungfrau sei Dank. Ich habe Paris erreicht.«

Wochenlang war er durchs Land gezogen, von Ort zu Ort sich durchbettelnd, hungernd und frierend, wenn die Gaben der Mitleidigen einmal spärlich flossen oder er kein Heulager bekam und unter freiem Himmel übernachten mußte.

Antoine François Desrues hatte schon im dritten Lebensjahr seine Eltern verloren und war von Verwandten aufgenommen worden, die sich seiner aber bald wieder entledigten. Er war dann von einer Hand in die andere Hand übergegangen. Seine Pflegeeltern ließen den Jungen arbeiten, bis er fast zusammenbrach. Der kaum Elfjährige ersetzte einen Knecht, bekam aber nicht satt zu essen trotz der schweren Arbeit. Nie hörte er ein freundliches Wort, niemals trocknete eine mitleidige Hand die Tränen, die der Junge nachts auf seinem Lager im Stall weinte. So wuchs er auf, ohne alle Erziehung, vernachlässigt körperlich und geistig, und mit ihm wuchs ein Haß gegen seine Peiniger auf und die quälende, zehrende Sehnsucht nach Freiheit, Reichtum, Glück. Als er eines Tages wegen eines geringen Versehens bei der Arbeit blutig geschlagen wurde, beschloß er zu fliehen. Ohne Geld, nur ein paar zerlumpte Kleider und einige Nahrungsmittel im Rucksack tragend, stahl er sich heimlich aus dem Haus und lief die ganze Nacht durch trotz seiner schmerzenden Glieder nach Norden, nach Paris. Viele Wochen wanderte er so durchs Land und fragte sich zurecht nach der Hauptstadt, die in seiner Phantasie als eine Welt von Reichtum, Glanz, Freude, als wahres Paradies lebte. Dort wollte er den Kampf ums Dasein aufnehmen. Er hatte kein festes Ziel, keine bestimmte Absicht, nur daß er ein reicher Mann werden wollte, das stand fest bei ihm. Und Paris war seiner Meinung nach die Stadt, wo das Geld auf der Straße liegt, wo jeder arme Teufel sein Glück findet. Wenn ihn seine müden, wunden Füße nicht mehr tragen wollten, wenn sein leerer Magen brannte und schmerzte, dann sagte er wie eine Zauberformel vor sich hin: »Ich muß nach Paris!« und raffte sich mit eiserner Energie auf und zog weiter …

So kam er bis Neuilly, wo er die letzte Nacht geschlafen hatte; am nächsten Tag erblickte er endlich gegen Abend die Türme von Paris. Er stand nahe am Ziel. Noch heute wollte er einziehen in das gelobte Land seiner Träume und Hoffnungen.

Aber merkwürdig, jetzt so nahe am Ende der Wanderung, drohten ihn die Kräfte zu verlassen. Die Wochen des Hungerns und Überanstrengens rächten sich. Totmüde sank er am Waldsaum in das verdorrte gelbe Gras nieder. Er besah seine nackten, blau gefrorenen Füße, die bluteten und schmerzten. Tränen drangen aus seinen Augen. Er mußte ruhen; seine Selbstbeherrschung verließ ihn und mit aller Energie konnte er den matten Körper nicht weiter zwingen.

Das Abendrot war verglommen. Die Türme der Stadt versanken im Nebel, der milchig-weiß aus dem Seinetal quoll. Der Himmel hatte sich nun ganz umzogen mit den grauen Wolken, die dem armen Jungen Furcht vor Schnee einflößten. Er hatte noch kein Obdach; würde er heute Paris noch erreichen?

Ein heulender Windstoß fuhr durch die kahlen Wipfel. Ein Haufen welker Blätter wirbelte im tollen Reigen davon. Der Knabe sprang auf, knickte aber mit einem Wehelaut wieder zusammen. Jetzt merkte er, daß sein rechter Fuß nicht nur verwundet war, sondern auch start angeschwollen. Eine bleierne Mattigkeit lag ihm in den Gliedern, die langsam und steif sich bewegten. Aber mit Hilfe eines dicken Stocks, den er auflas, glückte es ihm doch, langsam weiter zu humpeln. Der Nachtwind hatte sich aufgemacht und rannte und raschelte im Herbstlaub. Eisig kalt pfiff er durch des Jungen zerlumpte Kleider auf die bloße Haut. Der Nebel, der jetzt die Heide ganz mit seinen weißen Leichentüchern verhüllt hatte, war undurchdringlich. Er konnte sich nicht zurecht finden und mußte befürchten, ganz vom Weg abzukommen. Da gab er es auf, heute noch Paris zu erreichen. Kein Dorf, kein Haus weit und breit, wo er um ein Obdach hätte bitten können. Es half nichts; er mußte im Freien bleiben.

Lange sah er suchend sich um, kein geeigneter Platz zeigte sich ihm. Endlich kroch er unter einen Brückenbogen, der über einen trockenen Graben führte. Hier war er wenigstens vor dem Wind etwas geschützt … Seinen Rucksack als Kopfkissen nehmend, streckte er sich lang aus und wühlte sich, so gut es ging, in das welke Laub ein. Morgen würde er in Paris schlafen. Dann war alles Leid vorbei, dann begann ein besseres Leben. Mit diesem Gedanken, der ihn über Hunger und Frost tröstete, schlummerte er ein und träumte von einer herrlichen, goldschimmernden Stadt, deren schönster Palast sein Eigentum war, in dem er reich, mächtig, geachtet lebte, ein kleiner Fürst. Ein heller Schein glitt im Traum über das blasse, müde, vergrämte Gesicht des Betteljungen …

Trüb und schwer hingen die Wolken am folgenden Tag über dem Land. Vereinzelt fielen Schneeflocken. Ein eisiger Wind heulte über die Ebene, die letzten bunten Blätter von den Bäumen reißend und sie im Wirbeltanz umhertreibend. Desrues war erst spät erwacht. Trotz der strengen Kälte hatte er die Nacht fest geschlafen. Nun stand er auf, um seine Wanderung nach Paris fortzusetzen. Der trübe, dunstige Morgen verschleierte die fernen Türme, so daß er die Stadt nicht sehen konnte. Daß er aber auf dem richtigen Wege war, merkte er an dem allmählich lebhafter werdenden Verkehr. Auch kam er an zahlreichen Häusern, Gastwirtschaften und Gehöften vorbei, die die Nähe des Zentrums verkündeten.

Trotz seiner schmerzenden, bloßen Füße marschierte er wacker, um möglichst frühzeitig in Paris anzukommen. Nun führte ihn sein Weg durch endlos lange, graue Vorstadthäuserreihen. Staunend schob sich der Knabe durch das Menschengewühl und mußte acht geben, um nicht von einem der zahlreichen Fahrzeuge erfaßt zu werden. Solch ein Leben hatte er noch niemals gesehen. Immer wieder blieb er vor einem Schaufenster stehen und bewunderte die ausgelegten Waren, die ihm alle kostbar und prachtvoll erschienen. Aber schließlich wurde er von dem vielen Schauen müde und auch der Hunger, den er anfangs über die vielen neuen Eindrücke vergessen hatte, meldete sich quälend wieder.

Hier und dort fragte er vor, um ein Almosen bittend, aber meist wies man ihn barsch ab. »Elendes Bettelvolk!« schimpfte ihn ein Mann, »kann man vor euch Lumpen denn gar keine Ruhe haben?!« Ein Anderer warf ihm die Tür vor der Nase zu: »Weg da, Bengel, du willst bloß eine Diebsgelegenheit ausspionieren!« Und ein dritter drohte ihm: »Pack dich, Gassenjunge, oder ich übergehe dich dem nächsten Sergeant de ville (Schutzmann)! Arbeite etwas, dann hast du nicht nötig zu betteln!«

Der arme Junge verlor den Mut und war dem Weinen nah. Ach, er hatte sich in seinen phantastischen Träumen das Leben in Paris so ganz anders vorgestellt. Wie wenig schön war doch die rauhe Wirklichkeit. Was nutzten ihm die vielen Herrlichkeiten in den Läden, da er keinen Sou in der Tasche hatte? Und was machte ihm das Bewundern und Bestaunen aller Neuigkeiten für Freude, wenn ihn der Hunger so unbarmherzig quälte und seine wunden Füße auf dem Steinpflaster erneut zu bluten begannen und schmerzhaft brannten? Auf dem Land hatte er doch wenigstens öfters eine mitleidige Seele gefunden, die ihm Essen geschenkt hatte oder ein warmes Plätzchen im Heu gönnte. Aber die Pariser schienen alle hartherzig zu sein. Er verlor den Mut, noch weiter zu bitten und schlich verzweifelt an den Häusern entlang, ohne irgendein Ziel zu haben und ohne noch einen Blick auf die fremdartige Umgebung zu werfen, die ihm zuerst so anziehend gewesen war.

Da hörte er plötzlich eine Stimme, die ihn anrief: »Wie ist es, Junge, willst du dir ein paar Sous verdienen?« Erstaunt sah er auf. Ein altes Mütterchen in guter, aber altmodischer Kleidung stand vor ihm, ein großes Paket unterm Arm. Sie forderte den Knaben auf, den Packen nach ihrer Wohnung zu tragen. Desrues war gern bereit und lief hinter der Alten her, die schnell davontrippelte. Vor einem kleinen, sauberen Häuschen, in dessen Erdgeschoß sich ein Woll- und Weißwarenladen befand, blieb sie stehen, schloß das Tor auf und hieß ihren Begleiter eintreten.

Neugierig sah sich Desrues in dem behaglichen Stübchen um. Die Alte hieß ihn das Pater ablegen und forderte ihn auf, sich zu setzen. »Du wirst hungrig sein, Gosse (Junge), und müde. Ich werde dir einen Teller Suppe geben. Warte nur ein paar Minuten!« Dankbar nickte der Junge und ließ sich das warme Gericht mit wahrem Wolfshunger schmecken. Mitleidig sah ihm die Frau zu und musterte die Lumpen, die er trug, seine bloßen, schmutzigen, wunden Füße. Dann fragte sie ihn nach seinem Namen, woher er komme, was er treibe …? Desrues schüttete der guten Frau sein ganzes Herz aus und berichtete unter Tränen von seiner Wanderung, seinen Hoffnungen und den bösen Erlebnissen, die er bisher in Paris gehabt.

Die gute Alte hörte ihm kopfschüttelnd zu. Was gab es doch für merkwürdige Dinge in der Welt. Der arme Junge! Er hatte doch so gute, kluge Augen … Und stand ganz allein im Leben, so jung noch und verwaist, elternlos, heimatlos … Ihr Herz schwoll an von Mitleid. Dann kam ihr plötzlich ein guter Gedanke. Sie war alt und verwaltete ihr kleines Geschäft ganz allein mit Hilfe einer Verkäuferin. Wie, wenn sie den Jungen zu sich ins Haus nahm? Er konnte ihr eine rechte Hilfe und Stütze sein, Botengänge erledigen, das Gärtchen pflegen, kurzum, Ladenjunge und Laufbursche ersetzen. Dafür wollte sie ihm Kost und Logis geben. Ohne langes Bedenken sagte sie dem Knaben ihren Vorschlag. Mit funkelnden Augen sprang er auf und sah staunend, halb ungläubig die alte Frau an. Erst als er merkte, es sei kein Scherz, kam die rechte Freude über ihn. Er hatte also den ersten Schritt auf der Leiter getan, die nach oben führte. Er hatte ein Dach über’m Kopf, sein Essen, brauchte weder zu hungern noch zu frieren, Trinkgelder würde es wohl auch manchmal geben, er konnte sparen und sich langsam emporarbeiten. Blitzschnell schossen die Gedanken durch seinen Kopf, dann küßte er in stürmischer Freude der Alten die welke, runzelige Hand und rief: »Die heilige Jungfrau lohne Ihnen Ihre Güte! Madame, ich danke Ihnen innig! Ich will mich Ihres Vertrauens würdig zeigen!«

2Der Weg zum Reichtum

So war Desrues zu der Witwe Barnot in der Rue St. Viktor gekommen. Die Jahre gingen. Die alte Frau hatte noch niemals bereut, den Knaben aufgenommen zu haben. Er war fleißig und verrichtete alle ihm aufgetragenen Dienste mit größter Pünktlichkeit. Unermüdlich lief er treppauf, treppab, rannte in die Stadt zu den Kunden, half im Laden der Verkäuferin, putzte und fegte das Häuschen blitzblank und pflegte den Garten mit viel Geschick und Glück. War er abends fertig mit seinen Arbeiten, dann hockte er in der Küche hinterm Herd und las. Alle Bücher, die er erwischen konnte, verschlang er gierig. Von seinen kleinen Ersparnissen – er erhielt Taschengeld und auch öfters Trinkgelder – kaufte er sich nur Bücher, und die gute Madame Varnot wunderte sich oft über die Gelehrsamkeit ihres Hausburschen. Die Kunden lobten seinen Diensteifer und seine gewandten, feinen Manieren. Er wußte sich wie ein Junge aus vornehmer Familie zu benehmen. In seinen einfachen, aber sauberen Kleidern sah man ihm nicht mehr den zerlumpten, barfüßigen Gassenjungen an, als der er nach Paris gekommen war.

Was aber besonders von allen Leuten gelobt wurde, war seine Frömmigkeit. Der würdige Abbé Lahousse stellte ihn allen anderen jungen Menschen als Muster hin. Er fehlte nie im Sonntagsgottesdienst, kam regelmäßig zur Beichte, betete fleißig den Rosenkranz, kurzum, er war sehr religiös. Lahousse gab dem Jungen, den er liebgewonnen hatte, viele Bücher, um dessen Lesehunger zu stillen und nahm sich überhaupt seiner an. Er erteilte ihm in freien Stunden kostenlosen Unterricht, was Desrues sehr beglückte, und lobte seinen hellen Kopf, seinen Fleiß und Ausdauer.