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St. Rhémy, ein Bergdorf im Aostatal, während des ersten Weltkriegs: Die junge Fiamma kennt sich mit Heilkräutern aus. Deshalb bitten die Dorfbewohner sie heimlich um Hilfe, während sie die "Hexe" in der Öffentlichkeit meiden. Der einzige Lichtblick in Fiammas einsamem, kargem Leben ist der junge Raphaël, mit dem sie eine tiefe Freundschaft verbindet. Als Raphaël Gefühle für Fiamma empfindet, die sie nicht erwidern kann, zieht er in den Krieg und fällt kurz darauf. Fiamma ist untröstlich, auch wenn ihr Herz längst Raphaëls Bruder Yann gehört. Doch dieser ist fest davon überzeugt, dass Fiamma um ihren Geliebten trauere, und hält sich deshalb von ihr fern …
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Veröffentlichungsjahr: 2019
Buch
Saint Rhémy, ein Bergdorf im Aostatal, während des ersten Weltkriegs: Die junge Fiamma, die allein in einem Haus im Wald lebt, kennt sich mit Heilkräutern aus. Deshalb bitten die Dorfbewohner sie heimlich um Hilfe, während sie die »Hexe« in der Öffentlichkeit meiden. Der einzige Lichtblick in Fiammas einsamem, kargem Leben ist der junge Raphaël, mit dem sie eine tiefe Freundschaft verbindet. Doch dann empfindet Raphaël Gefühle für Fiamma, die sie nicht erwidern kann. Kurz darauf zieht Raphaël in den Krieg und fällt. Fiamma ist untröstlich, doch ihr Herz gehörte schon immer einem anderen …
Roman
Aus dem Italienischen übersetzt vonKatharina Schmidt und Barbara Neeb
Für meine Eltern
Im Mitleid, das nicht dem Hass weicht,
Mutter, habe ich die Liebe gelernt.
Fabrizio De André
Im tiefsten Winter fand ich heraus, dass ich, tief in mir, einen unsterblichen Sommer mit mir trug
Albert Camus
Im Anfang waren wir Vögel, wir hatten Flügel und flogen jeden Tag hoch über den Wipfeln der Bäume und den Gipfeln der Berge, um Nahrung zu suchen. Wir waren Vögel, und wenn der Winter kam, zogen wir in die wärmeren Länder. Sobald erste Anzeichen des Jahreszeitenwechsels zu erkennen waren, wenn die Blätter an den Bäumen langsam gelb wurden und Würmer und andere Erdgeschöpfe sich in ihre Höhlen zurückzogen, verließen wir das Land und zogen in ein anderes.
Einmal, als wir lange Zeit nichts zu fressen hatten, kamen wir in eine Gegend, die reich an Getreide war, so reich, wie wir es noch nie erlebt hatten. Wir fielen in diese Felder ein und fraßen uns so satt und schwer, dass wir uns nicht wieder in die Lüfte schwingen konnten. So ruhten wir in dieser Nacht auf dem Boden zwischen Gras- und Getreidehalmen aus.
Am nächsten Morgen flogen wir nicht etwa fort, sondern hörten auf unsere Mägen und fraßen wieder. Wir blieben auf diesem Feld. Mit jedem Tag wurden wir schwerer, wir konnten nicht mehr fliegen und mussten, um von einem Ort zum anderen zu gelangen, auf unseren Beinen hüpfen. Schließlich begannen die Blätter an den Bäumen, sich wieder gelb zu verfärben, die Würmer und die anderen Geschöpfe auf der Erde verkrochen sich in ihre Höhlen, der eisige Winterwind hob an zu blasen, doch wir konnten uns nicht mehr in die Lüfte schwingen.
Das Gras lichtete sich, und die Getreidehalme vertrockneten. Als wir beobachteten, wie die anderen Wesen eifrig hin und her eilten, fingen auch wir an, Körner aus den Halmen zu schütteln, häuften sie auf und schoben sie in Erdlöcher. Die Federn unserer Flügel verkrusteten, verklebten und fielen langsam aus. Allmählich nahmen sie die Form von Armen und Händen an. Und da wir nicht mehr in der Lage waren wegzufliegen, gruben wir Höhlen in Flussufer und Bergflanken.
Wir sind Vögel. Unsere Arme sind zwei Flügel. Jedes Mal, wenn wir ein Gebirge sehen, packt uns der Wunsch, seine Gipfel zu erreichen; aber wir können nicht mehr fliegen, daher müssen wir laufen, wenn wir dort hinaufwollen. Doch eines Tages wird das Volk Kalo, das Volk der Zigeuner, seine Flügel wiedererlangen.
Die Zugreise war lang gewesen, zuweilen hatte ich gedacht, sie würde nie enden, aber die letzten Kilometer an Bord dieses schäbigen Fuhrwerks, das sich mit etlichen Mühen den Berg hinaufkämpfte, hatten mir endgültig jegliche Kraft geraubt. Ich seufzte, während ich die beeindruckenden Steinriesen betrachtete, die rings um mich aufragten, und umklammerte fröstelnd die Ecken meines Koffers. Obwohl es Juli war, lag die Temperatur hier deutlich unter der, an die ich gewöhnt war. Ich dachte an die drückende Hitze Roms zurück, an das träge Chaos, das in der Stadt herrschte, und an den endlos weiten Himmel, der sich über ihren Ruinen erstreckte. Hier musste er sich seinen Raum gegen die Berge erstreiten, und es kam mir vor, als befände ich mich in einem riesigen Felstrichter. Man sah keinen Horizont; wohin auch immer ich meine Aufmerksamkeit wendete, stellten sich die Silhouetten der Berggipfel meinem Blick entgegen, einige schneebedeckt, andere grün bewaldet.
»Dauert es noch lange?«, fragte ich Bernard, den Mann, der mich vom Bahnhof in Aosta abgeholt hatte und nun das Fuhrwerk lenkte. Er hatte mich bei meiner Ankunft mit einem knappen Gruß bedacht, um danach in düsteres Schweigen zu verfallen.
»Nein, Hochwürden, nicht mehr lange«, antwortete er mit einem seltsamen Einschlag. Mein Französisch war ausgezeichnet, aber im Aostatal, so hatte man mir erklärt, bedienten sich die Menschen des patois, und das war mir nicht sehr vertraut.
»Dort liegt das Dorf.« Mein Charon hob einen Arm und deutete auf eine Senke zwischen zwei Bergen, in der ich meinte, eine kleine Ansammlung von sich aneinanderdrängenden Häusern mit einem schmalen, darüberragenden Kirchturm zu erkennen. Ich beugte mich aus dem offenen Fuhrwerk, um besser sehen zu können. Es dämmerte bereits, und der Himmel über den Gipfeln wirkte wie ein großer, in seinen Farben umgekehrter Bluterguss in Tönen von Gelb bis Violett, die demnächst in dunkelstes Blau übergehen sollten. Bald würde die Nacht hereinbrechen, und ich dankte stumm dem Herrn dafür, dass er mich heil und gesund zu meiner neuen Heimstätte geführt hatte, zu diesen Menschen, die ich mir als schlicht und arbeitsam vorstellte, und die zu leiten und im Glauben an Gott zu vereinen meine Aufgabe sein würde.
Ächzend bewegte sich das Fuhrwerk durch die verlassenen Gassen des Dorfes vorwärts. Die Hauptstraße war so eng, dass die Häuser auf beiden Seiten sich einander entgegenzurecken und beinahe zu berühren schienen. Die alte Kirche im klassizistischen Stil wirkte seltsam unpassend inmitten dieser einfachen Häuser aus Holz und Stein. Sie stand auf einem winzigen Platz, der diesen Namen eigentlich nicht verdient hatte, und wurde schier erdrückt von den uralten Gebäuden, deren Fenster auf den Kirchplatz gingen.
Das Fuhrwerk hielt vor der mächtigen Treppe, die zur Kirche hinaufführte. Die Wohnung des alten Pfarrers lag gleich nebenan. Bernard kletterte vom Bock, reichte mir eine Hand, um mir beim Aussteigen zu helfen, dann lud er meinen Koffer ab.
»In den nächsten Tagen wird weiteres Gepäck eintreffen«, informierte ich ihn in der Annahme, dass es seine Aufgabe sein würde, dieses abzuholen. Der Mann nickte nur als Antwort und grunzte etwas Unverständliches dazu.
Wir gingen zur Haustür, und genau in dem Moment, als Bernard klopfen wollte, ging die Tür auf. Auf der Schwelle konnte ich die Gestalt einer jungen Frau erkennen.
»Ach, da seid Ihr ja. Ich habe die Hufe auf dem Pflaster gehört«, sagte sie, öffnete die Tür weit und forderte uns auf einzutreten. Sie trug eine weiße Schürze über ihrem Kleid, die blonden Haare waren zu zwei Zöpfen geflochten, die über den Ohren zu Schnecken aufgerollt waren.
»Willkommen, Hochwürden, es ist mir eine Freude, Euch kennenzulernen. Ich bin Marie, ich kümmere mich um den Haushalt«, stellte sie sich vor.
Die junge Frau wirkte geradeheraus und hatte einen festen Händedruck. Ihr Gesicht war gerötet, und ich nahm an, dass sie gerade in der Küche zugange gewesen war, weil ein köstlicher Geruch das Haus erfüllte. Mein Magen knurrte, wie ich voller Scham bemerkte. Ich hatte seit dem Morgen nichts mehr zu mir genommen, und für einen Mann von meiner Statur war dies ähnlich wie für andere tagelanges Fasten.
»Guten Abend, Marie«, stammelte ich und drehte verlegen meinen Hut zwischen den Händen.
»Wollt Ihr nicht ablegen? Ich zeige Euch dann gleich Eure Unterkunft«, sagte sie.
Marie schien niemand zu sein, der gern Zeit verlor. Sie nahm meinen Mantel und meinen Hut an sich und eilte durch den Flur davon, bei jedem Schritt, den sie machte, bebte ihr üppiger Busen. Ich konnte ihr nur schweigend folgen.
Sie führte mich in ein kleines, anheimelndes Zimmer. Die Wände waren holzgetäfelt, und aus Holz waren auch der Fußboden, das Bett, der Kleiderschrank und die Betbank unter dem Fenster. Ein schlichter, aber wohnlicher Raum, so ganz anders als das, was ich bisher gewöhnt war. Meine Gedanken wanderten zurück zu den hohen Decken der eleganten Wohnung in Rom, in der ich meine Kindheit verbracht hatte, zur majestätischen Pracht der barocken Kirchen, in denen ich mein Studium absolviert hatte. Zu all dem Gold, den Stuckverzierungen und den Heiligenstatuen aus Marmor. Zu den Säulen des Petersplatzes im Licht des Sonnenuntergangs. Es gab eine einzige, eine ganz bestimmte Stelle, von der aus man alle Säulen hintereinander sehen konnte.
Ich schluckte und versuchte, diese Gedanken aus meinem Kopf zu vertreiben. Sie gehörten der Vergangenheit an, Saint Rhémy war nun meine Gegenwart: ein vollkommen anderes Umfeld als das, aus dem ich kam. Es war mein ausdrücklicher Wunsch gewesen, all das hinter mir zu lassen, um beweisen zu können, wie ernst ich meine Aufgabe nahm. Wie stark mein Glaube war. Das wollte ich vor allem mir selbst beweisen, und je härter die Umstände waren, unter denen ich arbeiten müsste, desto mehr würde mein Geist gefestigt.
Marie ließ mich allein, damit ich die wenigen Dinge einräumen konnte, die ich mitgebracht hatte, doch zuvor erinnerte sie mich noch daran, dass das Abendessen in wenigen Minuten auf dem Tisch stehen würde. Ich grübelte kurz darüber nach, wo ich die Dinge, die ich mir aus Rom hatte nachschicken lassen und die in ein paar Tagen eintreffen würden, unterbringen sollte. Es handelte sich vor allem um Bücher. Ohne Bücher fühlte ich mich verloren. Zweifelnd sah ich mich in dem kleinen Raum um. Auf dem Nachtschränkchen neben dem Bett lag eine alte Bibel, die unheilverkündend knisterte, als ich versuchte, sie aufzuschlagen. Offenbar hatte seit Jahren keiner mehr darin geblättert, und so schloss ich sie schnell wieder, da ich fürchtete, die Seiten könnten jeden Moment unter meinen Fingern zerfallen.
Nachdem ich mich kurz präsentabel gemacht und mir die Hände in dem eiskalten Wasser der Schüssel gewaschen hatte, die man mir freundlicherweise hingestellt hatte, ging ich wieder ins Untergeschoss, immer dem Essensduft nach, der das Haus erfüllte.
In dem Zimmer, das wohl der Hauptraum des Hauses sein musste, obwohl es nur von bescheidenen Ausmaßen war, sah ich einen für zwei Personen gedeckten Tisch. In einem Sessel vor dem erloschenen Kamin saß ein Mann, der in eine Decke gewickelt war. Ich war auf der Schwelle stehen geblieben und konnte von dort nur die dünnen weißen Haare erkennen, die auf seinem fast kahlen Schädel wuchsen. Der alte Pfarrer, den ich ablösen sollte, musste schon recht fortgeschrittenen Alters sein. Ein leises Schnarchen drang durch den Raum. Verlegen räusperte ich mich. Ich wusste nicht, wie ich mich bemerkbar machen sollte, ohne ihn zu stören. Zum Glück erschien nun hinter mir Marie, in den Händen ein großes Tablett mit zwei dampfenden Schüsseln und dicken Scheiben gerösteten dunklen Brotes. Sie stellte alles auf den Tisch, während ich nervös meine Finger knetete, dann ging sie zu dem schlafenden Mann und rüttelte ihn sanft an der Schulter.
»Pater Jacques? Es ist Zeit fürs Abendessen, außerdem ist der neue Priester angekommen«, sagte sie ziemlich laut.
Der Mann schrak zusammen, klapperte mit den Lidern und streckte dann eine Hand zur Decke aus, um die Brille aufzunehmen, die ihm von der Nase gefallen sein musste.
»Er ist schon hier?«, krächzte er mit rauer, kehliger Stimme. Dann setzte er sich die Augengläser auf und drehte sich zu mir, um mich eingehend zu betrachten. Er hatte buschige weiße Augenbrauen, eine große Hakennase und blaurot schimmernde Lippen, die so schmal waren, dass sie mehr wie eine Narbe in seinem Gesicht wirkten. »Er ist aber schnell gekommen«, war sein einziger Kommentar, nachdem er mich eine Zeit lang genau gemustert hatte. »Hilfst du mir, Marie?«, fragte er dann die junge Haushälterin. Sie beugte sich über ihn, und es kam mir vor, als würde sie ihn mit ihren kräftigen, wohlgeformten Armen hochheben. Dieser Mann wirkte leichter als ein vertrocknetes Blatt, ein leichter Windstoß hätte genügt, um ihn von den Beinen zu holen. Als er endlich stand und Marie ihm seinen Gehstock gebracht hatte, machte er ein paar unsichere Schritte auf mich zu.
»Dann seid Ihr also Don Agape, der Pfarrer aus dem Süden?«, fragte er und sprach das Wort Süden so aus, als wäre es eine Beleidigung. Zumindest kam es mir in dem Moment so vor.
»Ja, Vater. Ich freue mich, Euch kennenzulernen.« Ich trat näher und streckte ihm die Hand zur Begrüßung hin.
Er betrachtete sie einige Sekunden lang mit angewidertem Gesichtsausdruck, dann wandte er sich wieder an die Haushälterin: »Marie, rück mir den Stuhl zurecht! Ich habe Hunger und will mich setzen.«
Marie tat dienstbeflissen, was man so barsch von ihr verlangt hatte. Mit grimmiger Miene setzte Hochwürden Jacques sich zu Tisch.
»Nun, wollt Ihr vielleicht Platz nehmen, Don Agape? Die Minestrone wird sonst kalt, und ich mag sie nicht, wenn sie kalt ist. Dann wird der Käse hart und zäh wie Leim. Schmeckt Euch etwa Leim, Don Agape?«
Eingeschüchtert eilte ich zu Tisch und nahm den Löffel zur Hand. »Nein, natürlich nicht«, antwortete ich und tauchte ihn in die breiige, grünliche Flüssigkeit.
Der alte Mann warf mir einen finsteren, vorwurfsvollen Blick zu. »Zuerst wird gebetet«, sagte er frostig.
Vor Scham wäre ich am liebsten im Boden versunken. Ich legte den Löffel zurück auf die Serviette und faltete die Hände. Don Jacques tat es mir gleich. Er hatte lange, knotige Finger, die wie Vogelkrallen aussahen. Die Haut seiner Handrücken war fleckig und von dünnen bläulichen Adern durchzogen, ein Anblick, bei dem ich unwillkürlich an zum Zerreißen gespanntes Papier denken musste.
»Wir danken dir, Herr, für diese Speise und dass du unseren neuen Pfarrer, Don Agape, heil und gesund zu uns gebracht hast«, sagte er mit seiner kratzigen Stimme, die klang, als würde man mit Fingernägeln über Glas kratzen.
Ich nickte hastig und schloss: »Amen.«
Er räusperte sich. Offensichtlich war sein Gebet noch nicht zu Ende. »Wir hoffen«, fuhr er fort, »dass seine Arbeit in unserer Gemeinde beispielhaft sein möge. Auf dass er uns ein weiser Führer werde, ein liebevoller Bruder und wenn nötig ein strenger Vater.« Nach diesen Worten hob er ein wenig die Lider und warf mir einen kurzen, sprechenden Blick zu. Seinem Verhalten entnahm ich, dass er nicht das geringste Vertrauen in mich hatte. »Amen.«
»Amen«, wiederholte ich mit einem Seufzen. Alle guten Vorsätze, die mich bis zu diesem Moment erfüllt hatten, schienen sich vor dem herrischen Wesen des alten Pfarrers von Saint Rhémy in Rauch aufgelöst zu haben.
Schweigend begannen wir zu essen. Die Suppe war würzig und schmackhaft, das Brot noch warm und der Wein, den Marie uns aus einem Krug einschenkte, kräftig und vollmundig. Ich war nicht an Alkohol gewöhnt und spürte, wie sich mir im Kopf schon nach einem Glas alles drehte. Hochwürden Jacques schlürfte seine Suppe in kleinen Schlucken, ohne einen Laut von sich zu geben.
Nach einigen Minuten des Schweigens fragte ich mich, ob ich eine Unterhaltung beginnen sollte, um diese drückende Stille zu unterbrechen, die über uns lag wie eine Glocke.
Doch das war nicht nötig, der alte Mann sprach mich an: »Ihr kommt also aus Rom. Denkt Ihr, Ihr könnt Euch an eine so ganz andere Wirklichkeit gewöhnen?«
»Ich wüsste nicht, was dagegen spräche.« Ich spürte, wie eine Hitzewelle mir vom Nacken hochstieg, bis meine Wangen gerötet waren. Am liebsten hätte ich mir mit zwei Fingern den Kragen der Kutte geweitet, um besser Luft zu bekommen.
Der alte Pfarrer legte den Löffel auf den Tisch und wischte sich den Mund mit der Serviette ab. Sein Teller war noch so gut wie voll, und er hatte weder das Brot noch den Wein angerührt. Ich fragte mich, ob meine Gier unangebracht gewirkt hatte. Es gab bestimmt nur wenige Dinge, die dieser Mann nicht als ungehörig betrachtete.
»Saint Rhémy ist ein kleiner Ort, das werdet Ihr bald merken. Weiter unten im Tal gibt es noch das Dorf Bosses. Die Gemeinden sind 1782 zusammengelegt worden, und kurze Zeit später wurde unsere Kirche errichtet. In Bosses gibt es ebenfalls eine, San Leonardo, mit einer eigenen Gemeinde«, erklärte er mir würdevoll. »Die Kirche von Saint Rhémy ist dem heiligen Lorenzo geweiht. Ein schöner Bau, findet Ihr nicht auch?« Ohne mir Zeit für eine Antwort zu lassen, fuhr er fort: »Natürlich seid Ihr aus Rom ganz anderes gewohnt.«
»Ich finde Dorf wie Kirche ganz bezaubernd«, gab ich zurück und versuchte, mich entgegenkommend zu zeigen.
Marie kehrte zurück, um Pater Jacques beim Aufstehen zu helfen und ihn zu seinem Sessel zu führen. Draußen hatte sich ein kräftiger Wind erhoben. Ich hörte, wie er im Rauchfang pfiff und draußen gegen die Fensterläden schlug.
»Ich glaube … ich glaube, ich werde mich jetzt zurückziehen«, stammelte ich und trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. Es war ein langer Tag gewesen, noch dazu über alle Maßen anstrengend.
»Ich erwarte Euch morgen, um Euch die Korrespondenz der Gemeinde zu zeigen. Außerdem wäre es nützlich und gern gesehen, wenn Ihr begännet, das Dorf und seine Bewohner kennenzulernen.«
»Natürlich«, erwiderte ich knapp, ziemlich verärgert über seine besserwisserische Art.
Sobald ich in meinem Zimmer war, setzte ich mich mit dem Gebetbuch in der Hand aufs Bett. Mir fielen die Augen zu vor Müdigkeit, es war kalt, und ich konnte es kaum erwarten, unter die Decken zu schlüpfen. Doch ich zwang mich, auf der Betbank niederzuknien, und faltete die Hände vor dem Gesicht. Ich hatte die Fensterläden offen gelassen, weil ich bei kompletter Dunkelheit ein starkes Gefühl der Beklemmung empfand, und aus dieser Position konnte ich die zahlreichen Sterne erkennen, die am Firmament funkelten. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie so viele erblickt, noch dazu so strahlende. Wenn Gott wirklich dort oben im Himmelreich weilte, musste ich ihm in diesem Moment näher sein als jemals zuvor. Die Bergkämme waren spitze Silhouetten, die sich vor dem tintenschwarzen Himmel scharf abhoben.
»Herr, hilf mir, leite mich bei dieser Aufgabe, mach einen guten Hirten aus mir«, sagte ich leise und dachte dabei an Don Jacques und seine herablassende Art. Er hatte die Dorfbewohner als ehrlich und gottesfürchtig beschrieben, als eine geschlossene Herde, als ob es zwischen ihnen keine Unterschiede geben könnte. Als ob sich in ihren Herzen keine Laster oder Leidenschaften verbergen würden. Oder Geheimnisse. Alle hatten doch Geheimnisse.
Ich vergrub das Gesicht in den Händen. Trotz der Kälte waren sie glitschig vor Schweiß. »Herr, gib mir die Kraft, an meine Entscheidung zu glauben. Zu glauben, dass es die richtige Entscheidung war.«
Es war fast schon Abend, und das Licht über den Wiesen wurde langsam schwächer. Die Sonne ging hinter den steilen Gipfeln unter, und der Schatten der Berge legte sich dunkel über das Tal.
Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und beobachtete die Tagelöhner, die nur noch schwach mit der Sense ausholten. Ihre Arme hatten nicht mehr den kräftigen Schwung der ersten Tagesstunden. Die Frauen folgten ihnen mit den Rechen und häuften das frisch geschnittene Gras auf. Später, wenn es getrocknet war, würden sie auch dieses binden und dafür die Ernte in kleine Bündel, die balon, aufteilen. Ich sah, wie meine Mutter sich die Halme vom Rock schüttelte und meine Schwester Agnés sich stöhnend auf den Stiel ihres Rechens stützte. Unter dem Tuch auf ihrem Kopf quollen zerzauste Haarsträhnen hervor, ihr Gesicht glänzte vor Schweiß.
Bevor es dunkel wurde, mussten wir die bereits gebundenen balon eingebracht haben, sonst würde das Heu, mit dem wir unsere Tiere fütterten, durch die Feuchtigkeit der Nacht verderben. Die Luft kühlte sich bereits ab, und innerhalb weniger Stunden würden die Temperaturen stark absinken.
Mit einem Wink lenkte ich die Aufmerksamkeit der Männer auf mich. »Für heute ist’s genug. Wir haben gute Arbeit geleistet«, sagte ich und bewegte meine Finger, die von der langen Arbeit mit der Sense schmerzten. Ich spürte auch meinen Rücken wegen der gekrümmten Haltung, in der ich den ganzen Morgen und den größten Teil des Nachmittags verbracht hatte. Der Juli war der arbeitsreichste Monat im gesamten Jahr und das Heumachen eine harte Arbeit. Allein hätte ich die Ernte nie einbringen können, deshalb hatte ich zwei Helfer eingestellt, Saisonarbeiter, die pro Tag bezahlt wurden. Noch ehe die Sonne hinter den Bergen hervorkam, begannen wir mit dem Mähen. Das war die beste Zeit des Tages, dann hatten die Arme noch Kraft und die Sense war scharf.
Mit von der Sonne verbrannter Stirn und schmerzenden Gliedern machten wir uns auf den Heimweg, die Heubündel trugen wir auf dem Rücken. Immer dem Lauf des Baches folgend stiegen wir ins Tal hinab. An einer Stelle, wo das Wasser schäumend ans Ufer klatschte, beugte Agnés sich hinunter, um sich den Nacken und die Wangen zu kühlen.
»Du wirst dir einen Schnupfen holen«, schimpfte unsere Mutter verärgert. Ich bemerkte, dass sie dabei nicht Agnés ansah, sondern die beiden Tagelöhner überwachte.
Agnés hatte die Hände zu einer Schale geformt und trank daraus. Ein Wasserrinnsal lief ihr den Hals entlang, und sie wischte es achtlos mit dem Handrücken weg. Meine Schwester kam allmählich in das Alter, in dem es Zeit wurde, einen Ehemann zu finden, die Männer sahen sie schon auf eine Weise an, die mir überhaupt nicht gefiel. Als ich allerdings versucht hatte, mit ihr über das Thema zu sprechen, hatte Agnés mich mit wenigen Worten zum Schweigen gebracht: »Wen soll ich denn heiraten? Einen alten Kerl? Die jungen sind alle in den Krieg gezogen, da ist keiner mehr im Tal.«
Ihre Worte strömten eine solche Bitterkeit aus, dass ich nicht gewusst hatte, was ich ihr darauf antworten sollte. Denn zu den jungen Männern, die nicht zurückgekehrt waren, nicht einmal als in eine fadenscheinige Fahne gehüllte Leiche, gehörte auch unser Bruder Raphaël.
Raphaël, der an einem sonnigen Tag mit einem Lächeln auf dem Gesicht gegangen war, in der naiven Begeisterung seiner zwanzig Jahre. Die Rabenfeder an seinem Hut hatte tintenschwarz geglänzt an jenem Tag. Dem letzten, an dem ich ihn gesehen hatte.
Sein Verlust hatte ein tiefes Loch zurückgelassen, und ich versuchte, darin zu überleben. Das war schwer, manchmal erschien es mir sogar unmöglich; doch das Leben ging trotz allem weiter, und für mich gab es kein Entkommen.
Agnés hatte dennoch Unrecht. Nicht alle jungen Männer waren fortgegangen. Ich hatte es nicht geschafft. Ich war ein kaputtes Spielzeug, ein Rohstoff, mit dem nichts anzufangen war. Instinktiv ging meine Hand zu meinem linken Bein. Selbst nach all den Jahren schmerzte es noch. Doch mehr als alles andere brannte in mir das Schuldgefühl. Wäre mein Bein gesund gewesen, würde mein Bruder vielleicht noch leben. Vielleicht wäre ich statt seiner gestorben. Alles in allem wäre mir das lieber gewesen.
Wir setzten unseren Weg fort. Der Himmel hatte einen düsteren Lavendelton angenommen und am Horizont war keine einzige Wolke zu sehen. Diese Nacht würde kalt, aber sternenklar sein.
Als wir die ersten Häuser erreichten, war es beinahe dunkel. Aus den steinernen Schornsteinen stiegen Rauchsäulen auf, der eine oder andere wärmte schon das Abendessen auf. Der Bauernhof meiner Familie lag weit entfernt von der Ortsmitte, eigentlich schon am Waldrand.
Sobald wir die Umzäunung unseres Hofes erreichten, ging ich mit den Tagelöhnern zum Stall, um dort die Heubündel abzulegen. Als wir ihn betraten, hoben die Kühe, die wir nicht auf die Alm getrieben hatten, kauend die Köpfe aus den Futtertrögen. Ein stechender Geruch nach Mist vermischte sich mit dem süßlicheren des Heus. Die Luft hier drinnen war lau und angenehm. Ich hatte diesen Geruch schon immer gemocht, wenn ich ihn wahrnahm, fühlte ich mich zu Hause. Wir stellten die Bündel ab, und ich zahlte die Tagelöhner aus.
Beim Verlassen des Stalls löste ich das Lederband, das ich beim Heumachen immer um den Arm trug. Es war abgenutzt, die Lederstreifen waren dünn wie Papier und kurz vor dem Zerreißen. Für das kommende Jahr würde ich mir ein neues besorgen müssen. Ich massierte die gerötete Haut am Handgelenk, dort, wo das Leder gerieben hatte, und holte meine Pfeife aus der Tasche. Vor dem Abendessen gönnte ich mir immer ein wenig Tabak. Das tat ich gern zu dieser Stunde, wenn die ersten Sterne am Himmel leuchteten und ich mich leer vor Erschöpfung fühlte. Lupo, unser Hütehund, trottete hinter mir her, bis er auf einmal stehen blieb, die Ohren aufstellte, misstrauisch schaute und ein tiefes Knurren ausstieß. Ein finsteres Grollen.
Jemand kam den Weg zu unserem Hof herauf. Zwischen den Schatten der Dunkelheit konnte ich kaum etwas ausmachen. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte, die Gestalt zu erkennen. Sie war angezogen wie eine Frau, hatte aber die Statur eines Mannes. Als sie näher kam, erkannte ich das schwarze Gewand, von dem sich der blütenweiße Kragen abhob: Es war der neue Pfarrer.
»Ihr müsst Yann Rosset sein«, sagte er. Sein Atem ging schwer, und er presste sich eine Hand gegen die Seite, die ihn ziemlich zu schmerzen schien.
»Der bin ich«, antwortete ich und runzelte die Augenbrauen.
Er holte ein Taschentuch aus seinem Gewand und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ganz schön steil zu Euch herauf, nicht?«, sagte er und deutete mit dem Kopf auf den ansteigenden Pfad, den er gekommen war.
»Kommt mir nicht so vor«, erwiderte ich, während ich meine Pfeife stopfte und sie anzündete.
Der Mann wartete ab, bis ich fertig war, dann streckte er mir die Hand hin. »Ich bin Don Agape, der neue Pfarrer.«
Ich drückte sie nicht gerade überzeugt. Natürlich hatte ich gewusst, dass er kommen würde, aber ehrlich gesagt wirkte er auf mich zu jung. Vielleicht war mein Erstaunen auch der Tatsache geschuldet, dass ich bisher nur alte und weißhaarige Pfarrer kannte. Dieser Mann war groß und stämmig, doch seine Hand fühlte sich weich und verschwitzt an und sein Händedruck schlaff. Zudem hätte ich geschworen, dass ich einen Akzent wie seinen noch nie gehört hatte. Er musste von weit her kommen, aus dem Süden höchstwahrscheinlich.
Einer wie der, dachte ich, wird es nicht lange hier in den Bergen aushalten, die gnadenlos und grausam sein konnten gegen Menschen, die sie nicht genug kannten, um sie zu fürchten. Niemand wusste das besser als ich. Ich hätte darauf gesetzt, dass er es höchstens bis zum ersten Schnee aushielt, dann würde seine ganze Begeisterung erstarren wie der Atem zwischen seinen Lippen, und er würde sich vielleicht einen nicht ganz so lebensfeindlichen Ort wählen, um seine Schäfchen um sich zu scharen.
»Ich mache gerade die Runde durch alle Häuser, um mich vorzustellen«, erklärte der Pfarrer mit einem Lächeln, das ich nicht erwiderte.
»Da werdet Ihr nicht lange brauchen, Hochwürden. Hier oben sind wir nur eine Handvoll Christenmenschen.«
»Ja, ich nehme an, dass ich schon alle kennengelernt habe. Bis auf Euch und Eure Familie.« Er nahm den Hut ab, kratzte sich an der Stirn und setzte ihn wieder auf. Lupo schnupperte misstrauisch am Saum der Soutane, wobei sich der Pfarrer sichtlich unwohl fühlte.
»Lupo, Platz!«, rief ich den Hund hart zu mir. Ich sog einen Mundvoll Rauch ein und stieß ihn langsam wieder aus. Eine durchsichtige Wolke erhob sich in die sich verdunkelnde Abendluft.
»Meine Mutter wird sich freuen, Eure Bekanntschaft zu machen«, sagte ich, nachdem wir eine Weile geschwiegen hatten.
Das schien Don Agape wachzurütteln, der in den Anblick des Tannenwaldes jenseits der Umzäunung unseres Hofes versunken war. »Hier ist es so friedlich«, sagte er leise. »Und so still …«
»Ja.«
Die Leute hier sind genauso still, hätte ich ihm am liebsten gesagt. Niemand spricht mehr als das Notwendigste. Die Leute hier gleichen den hohen Gipfeln, die uns umgeben, sind genauso verschlossen und zäh. Und Ihr seid ein Priester, der nicht von hier kommt und zu viel redet. »Folgt mir bitte ins Haus. Die Frauen werden Euch gern etwas zu trinken anbieten, und wenn Ihr zum Abendessen bleiben wollt …« Ich unterbrach mich mitten im Satz. Mit zusammengekniffenen Augen sah ich zu einer schlanken Gestalt hin, die am Waldrand aufgetaucht war. Sie war kaum zu erkennen, da die Dunkelheit schon die Berggipfel erfasst hatte, aber ich musste sie nicht sehen, um zu wissen, um wen es sich handelte. Sie kam jeden Abend, immer um die gleiche Zeit. Stand dort und betrachtete den Bauernhof, der allmählich vom Blau der Nacht verschlungen wurde, dann drehte sie sich um und verschwand im Wald.
Der Pfarrer hatte bemerkt, dass mich etwas abgelenkt hatte, und richtete seinen Blick auf den Punkt, dem meine Aufmerksamkeit galt. Er musste die Gestalt ebenfalls bemerkt haben, denn er runzelte die Augenbrauen. »Wer ist diese Frau?«, fragte er verwundert.
Ich sah sie an: Die langen zerzausten Haare fielen ihr bis über die Schultern, und auch wenn es jetzt fast ganz dunkel war, wusste ich, dass in ihnen der Widerschein der Flammen war. Ihr schlichtes, an mehreren Stellen geflicktes Kleid bedeckte nicht einmal ihre Knöchel. Bevor sie im Schatten der Bäume verschwand, neigte sie kaum merklich den Kopf, und ich umklammerte meine Pfeife so fest, dass meine Fingerknöchel weiß hervortraten. Ich hätte sie gern davongejagt, so wie man es mit einem wilden Tier tut, hätte ihr gern gesagt, wie sinnlos und unerträglich es war, dass sie jeden Tag hierherkam. Stattdessen blieb ich wie jeden Abend stehen und beobachtete sie, bis sie sich umdrehte und zwischen den Bäumen verschwand. Nur das Rauschen der Blätter an den Zweigen füllte nun die Stille der Nacht.
»Niemand«, sagte ich als Antwort für den Pfarrer, doch meine Augen waren immer noch auf die Stelle gerichtet, an der sie bis eben gestanden hatte. »Das ist niemand.«
Wilder Knoblauch, Wermut und Stängel von der Engelwurz, auf deren Wurzeln ich bis zum Herbst würde warten müssen. Mein Korb quoll förmlich über vor Kräutern.
Die Blüten der Kamille musste man abends an trockenen Tagen sammeln. Ich knipste die Köpfchen mit den Fingernägeln von den Pflanzen ab und bewahrte sie in meiner Handfläche auf. Der Duft, den sie verströmten, hüllte mich ein und stimmte mich heiter.
Mit dem Korb unter dem Arm stieg ich am Bach entlang hinauf zum Wald. Inzwischen war es beinahe dunkel, aber ich brauchte kein Licht, um mich zurechtzufinden. Ich kannte jeden Weg, jeden Stein, jedes Stück Baumrinde. Ich war dort oben geboren, zwischen den Rottannen und den Birken. Seit neunzehn Jahren war dieser Wald mein Zuhause.
Die Hütte tauchte aus den Schatten der Nacht auf. Auf den ersten Blick wirkte sie verlassen, die grauen Steine waren mit Moos bewachsen, und auf dem Dach fehlten einige Ziegel. Die Holztür knarrte, als ich sie öffnete, und ein intensiver Duft nach getrockneten Blüten und wilden Beeren kroch in meine Nasenlöcher. Ich stellte meinen Korb auf einem Schemel ab und zündete die Öllampe an. Ein schwacher Lichtschein spiegelte sich in den Holzbalken der Decke und auf dem Boden aus festgestampfter Erde wider. An Annehmlichkeiten war ich genauso wenig gewöhnt wie daran, Gesellschaft zu haben.
Das Haus, in dem ich nun allein wohnte, seit meine Mutter vor zwei Wintern gestorben war, war klein und ungemütlich, aber ich hätte an keinem anderen Ort leben können. Der Wald war die einzige Welt, die ich kannte, der einzige Platz, an dem ich mich sicher fühlte. Ich war an die strengsten Temperaturen gewöhnt und hätte nie auf die Freiheit verzichtet, die mir dieses Leben gewährte.
Und doch lastete manchmal die Einsamkeit schwer wie ein Stein auf mir, besonders seit er fortgegangen war.
Ich kuschelte mich in den durchgesessenen Sessel, die einzige Sitzgelegenheit in der Hütte. Ich hatte ihn in der Nähe des Dorfes gefunden, er musste jemandem gehört haben, der beschlossen hatte, sich seiner zu entledigen, ihn aber nicht verbrannt, sondern einfach am Waldrand fortgeworfen hatte. Es hätte auch ein Geschenk für mich sein können, aber da war ich mir nicht sicher. Ich hatte bis zum Abend gewartet, ehe ich ihn doch unter einigen Mühen zur Hütte schleppte. Nun hatte ich mich darin zusammengerollt und starrte ins Feuer, das sich in den Rindenstücken festsetzte, die ich ihm hingeworfen hatte. Ein warmer Duft nach Pilzen hatte sich im Raum ausgebreitet, und auf den Holzstücken im Feuer hatten sich Blasen aus Harz und Feuchtigkeit gebildet. Die knackenden Flammen verbreiteten eine schwache Wärme.
Ich lehnte die Stirn gegen die Knie und seufzte. Wie jeden Abend war ich bis zur Umzäunung des Rossetschen Bauernhofes gekommen und hatte nicht den Mut gefunden weiterzugehen. Seit der Schnee im April geschmolzen war, tat ich nichts anderes, als immer wieder dorthin zurückzukehren, wo ich schon einmal gewesen war. Ich wusste, dass es keinen Zweck hatte, dass sie mich höchstwahrscheinlich wegjagen würden, ohne mich anzuhören. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass ich es ihnen schuldete, da sie Raphaëls Familie waren, und Raphaël war der einzige Freund, den ich jemals gehabt hatte.
...Ende der LeseprobeDie Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Dentro soffia il vento« bei Neri Pozza Editore, Vicenza.
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Wunderraum-Bücher erscheinen im
Wilhelm Goldmann Verlag, München,
einem Unternehmen der Random House GmbH.
1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2019
© der Originalausgabe 2016 Neri Pozza Editore S.p.a.
© der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
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This edition published in agreement with the author
through MalaTesta Lit. Ag., Milano
Umschlaggestaltung und Konzeption: buxdesign / München
Umschlagmotiv: Rekha Garton / Trevillion Images
Redaktion: Christina Neiske
BH · Herstellung: Han
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-23380-8V002
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