Der Wind und Wellen lenkt - Amanda Dykes - E-Book

Der Wind und Wellen lenkt E-Book

Amanda Dykes

4,0

Beschreibung

Der Zweite Weltkrieg hat Spuren bei Robert Bliss hinterlassen. Um die Trauer über den Tod seines Bruders zu verarbeiten, schickt der junge Fischer ein Gedicht an die Lokalzeitung des beschaulichen Küstenorts Ansel-by-the-Sea in Maine. Reaktionen darauf bleiben nicht aus, denn Roberts Worte bewegen die Herzen unzähliger Menschen ... Jahrzehnte später wird Annie Bliss nach Ansel-by-the-Sea gerufen, wo ihr erkrankter Großonkel Robert Hilfe braucht. In seinem Haus entdeckt sie massenhaft Kartons voller Steine. Zusammen mit dem ebenso geheimnisvollen wie faszinierenden Jeremiah Fletcher begibt Annie sich auf Spurensuche. Doch dann verschlechtert sich Roberts Gesundheitszustand, und ein Wettlauf mit der Zeit beginnt ... Eine Glaubensgeschichte, die das Herz berührt und von der ersten bis zur letzten Seite Hoffnung atmet.

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Über die Autorin

Amanda Dykes liebt es, sich bei einer guten Tasse Tee auf die Suche nach den richtigen Worten für ihre Geschichten zu machen, die von der ersten bis zur letzten Zeile Hoffnung atmen. Zum Glücklichsein braucht sie nicht mehr als einen verregneten Tag, Kerzenschein und einen guten Roman, in dem sie sich verlieren kann. Die ehemalige Englischlehrerin hat bereits mehrere kürzere Erzählungen veröffentlicht, die u. a. von Publishers Weekly hoch gelobt wurden. Der Wind und Wellen lenkt ist ihr erster Roman.

www.amandadykes.com

Für Dad und Mom – ihr habt Licht in jede Dunkelheit gebracht.

Landkarte

Ansel-by-the-SeaAnsel-by-the-Sea

Joe’s LandingJoes Anleger

Jenny’s HousJennys Haus

Sailor’s RestSeemannsklause

Everlea EstateEverleas Landsitz

Weg von BlitzDie Meerenge

Ed’s HouseEds Haus

The GablesGiebelhaus

Lies eines geringeren Dichters Lieder,herausgeströmt aus seinem Herzenwie Regenguss aus Sommerwolken,wie Tränen aus den Lidern quellen;der doch durch langer Tage Müheund Nächte, ohne Ruh zu finden,in seiner Seele hören konnteMusik der schönsten Melodien.Henry Wadsworth Longfellow, aus „The Day Is Done“

uv

Im Himmel hat er die Stufen zu seinem Thron gebautund auf der Erde die Fundamente für das Himmelsgewölbe gelegt. Er ruft das Wasser aus dem Meer, und schon ergießt es sich auf die Erde. Sein Name ist „der Herr“!Amos 9,6

Prolog

„In diesem großen alten blauen Meer erzählt jede Welle eine Geschichte.“

Bob sagte mir das vor langer Zeit mit dem rauen Klang einer Stimme, die es gewohnt war, Wind und Wellen zu übertönen.

Ich lachte, den Blick von seiner alten Anlegestelle aus auf die Wellenkämme gerichtet, die sich immer neu aufbauten, dann aber schnell wieder verschwanden, schneller, als ich mit meinen zehn Jahren zählen konnte.

„Zu viele Wellen“, sagte ich. „Das kann nicht sein.“

Sein Lächeln bildete einen Kranz von Fältchen um die blauen Augen und er drückte meine Hand.

„So viele Wellen, Annie. Vergiss das nie.“

Es sollten Jahrzehnte vergehen, bevor ich verstand, wie wahr das ist. So viele Geschichten. In dieser verschlafenen Bucht, wo gebrochene Lebenswege wie die Wellen des unruhigen Meeres heranrollen und am sandigen Strand zur Ruhe kommen und Halt finden und geborgen sind … Nie hätte ich gedacht, dass in dieser Bucht auch für mich so vieles zerbrechen würde.

Und noch weniger ahnte ich, wie viel Schönes dieses Zerbrechen hervorbringen würde.

eins

Ansel-by-the-Sea, Maine

September 1944

In einem Winkel im äußersten Nordosten des Landes splittert Holz, ein Magen knurrt, ein Junge kann es kaum erwarten, dass er endlich achtzehn wird. Schon ist das Holz gehackt, er steht in der Küche, pumpt Wasser in das alte Waschbecken, um sich die Arbeit des Tages von den Händen zu spülen und nach dem Brief zu greifen, der heute eingetroffen ist – Absender: Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Der rote Lack des Küchentisches ist abgeblättert, der Brief liegt darauf wie ein alter Freund, der schon mal hereingekommen ist und es sich bequem gemacht hat, während der Hausherr noch beschäftigt ist. So selbstverständlich liegt der Brief da auf dem Tisch.

Aber an diesem Brief ist nichts selbstverständlich.

Irgendwo auf der Überfahrt über die Bucht hat er im Schiff des Postboten ein paar Wasserspritzer abbekommen. Das ist hier in Ansel-by-the-Sea häufig so, und es ist auch kein Problem. Der Briefträger mit seinen detektivischen Fähigkeiten stellt jede Sendung richtig zu, auch wenn die Adresse nach der Überfahrt oft kaum noch lesbar ist. Heute ist ein Wassertropfen auf den Vornamen des Empfängers gefallen. Bliss kann man noch erkennen, auch der Name des Hauses ist trocken geblieben – im Normalfall reicht dem Briefträger der Familienname, selbst die Adresse, Seemannsklause, braucht er nicht.

Robert Bliss reißt den Umschlag auf, packt den Brief viel zu fest.

EINBERUFUNGSBEFEHL

Das Blut rauscht ihm in den Ohren. Endlich. Seit vier Jahren wartet er auf diesen Tag, seit damals, als er mit den anderen aus dem Dorf die Rede des Präsidenten verfolgt hat. Roosevelt verkündete den Beginn der Mobilmachung. Alle hatten sich vor dem einzigen Fernseher des Ortes versammelt, im Bücher-, Takel- und Köderladen, hatten neugierig die Hälse gereckt und versucht, die Kugeln im Blick zu behalten, die ein Glasgefäß füllten, das auf einem Sockel stand. Jede dieser Kugeln enthielt einen zusammengerollten weißen Zettel, Zahlen standen darauf. Ein Mann hob einen hölzernen Löffel hoch in die Luft, aus dem gleichen Holz geschnitzt wie das Mobiliar des Raumes, in dem vor langer Zeit die Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet worden war, und mischte die Kugeln durch. Langsam und würdevoll bewegte und mischte er sie, bis sie so konfus waren wie die vom Krieg erschütterte Welt außerhalb des eigenen Landes. Das Fernsehbild flimmerte unscharf, doch in großer Klarheit transportierte es das Gewicht des Augenblicks, das dort in Washington auf den Männern lastete, die nun weit mehr als nur Nummern zogen. Nein, hier wurden Lebensläufe neu geschrieben, wurde über Schicksale von Einzelnen und deren Familien entschieden, die für den Krieg ausgewählt wurden.

Das ist vier Jahre her, aber das gleiche Gefühl durchströmt Robert jetzt, das Wissen, dass sich jetzt erfüllt, wofür er geschaffen wurde. Für eine Zeit wie diese.

Er hält den Brief noch etwas länger, spürt deutlich die Sehnsucht, die er tausendfach in seinen Abendgebeten gen Himmel geschickt hat. Nun hat er die Antwort in der Hand. Jetzt, mit achtzehn, würde er gehen. Endlich – und das, obwohl die Einberufung offiziell ausgesetzt war, um die „Produktion an der Heimatfront“ durch den Abzug zu vieler Arbeitskräfte nicht zu schwächen. Er konnte sich nicht mehr freiwillig melden. Doch nun wird er einberufen, wird gebraucht, wird gehen und kämpfen. Beschützen. Das Einzige, worin er jemals gut war.

Sein Daumen streicht über den verrutschten Absenderstempel, oben rechts in der Ecke des Umschlags – die Musterungsbehörde seiner Region.

Der Präsident der Vereinigten Staaten,

Er ist noch nicht bereit, die Anrede zu lesen, sein Blick wandert über das Blatt, bis zum letzten Absatz. HOCHACHTUNGSVOLL, in Großbuchstaben.

Sie haben sich bei Ihrer zuständigen Meldebehörde registrieren lassen, um sich den Bodentruppen oder der Marine der Vereinigten Staaten zur Verfügung zu stellen. Von den für Sie zuständigen Mitarbeitern wurde Ihr Antrag geprüft und Sie wurden zur Ausbildung und zum Dienst innerhalb der amerikanischen Streitkräfte ausgewählt.

Ausgewählt. Ausbildung. Dienst. Robert atmet stoßweise, während er die Worte liest.

Wir möchten Sie deshalb zur Vorstellung beim Musterungskomitee einladen …

Die folgenden Worte sind per Schreibmaschine in den Vordruck eingefügt.

… in der Machias Railroad Station, und zwar morgens um 7.15 Uhr am 17. Oktober 1944.

Er überfliegt den Rest, schließt dann die Augen. Schluckt. Eine Zeile hat er noch nicht gelesen. Etwas in ihm sperrt sich, er will diese Zeile nicht lesen. Es wird sein Name sind. Muss sein Name sein. Sein Magen krampft sich schmerzhaft zusammen. Er ist nicht der Einzige in der Familie, an den dieser Brief gerichtet sein könnte. Möglicherweise steht der andere Name dort.

Nur das Ticken der Uhr ist in der Stille zu hören, während deutscher Bombenhagel das britische Festland überzieht. Er hebt den Blick, muss den Anfang des Briefes lesen.

An –

Die Tür fliegt auf, Robert fährt zusammen. Instinktiv verbirgt er den Brief hinter seinem Rücken. Es ist sein Bruder Roy, der mit einem halb verspeisten Apfel in der Hand hereinstürmt und ihm kauend zugrinst. Die Zwillinge sind identisch, mit zwei Ausnahmen: Roy kam zwei Minuten früher auf die Welt. Und Roy trägt neuerdings einen schlichten Ring an der linken Hand. Sosehr Robert sich dagegen wehrt, noch immer brennt etwas entsetzlich in seinem Inneren, jedes Mal, wenn er ihn sieht.

„Kommst du mit?“, fragt Roy. „Wir gehen Muscheln suchen.“

Robert faltet den Brief so beiläufig wie möglich zusammen, will die Aufmerksamkeit nicht darauf lenken. „Wir?“

„Du, ich, Jenny. Und …“ Roy holt tief Luft, seine Schultern sind gerade und breit. Es steckt etwas von dem kleinen Jungen in ihm, irgendein aufregendes Geheimnis. „Und noch jemand. Verrate ich nicht. Wirst du noch rechtzeitig mitkriegen. Gehen wir!“

Robert nickt, steckt den Brief in die Gesäßtasche. Wenn möglich, vermeidet er diese Ausflüge mit dem frisch vermählten Paar. Aber wegen dem Brief – Roy soll nicht in dessen Nähe bleiben, je weiter weg von dem Brief, desto besser. In dem Moment erstarrt Roys Lächeln. Er sieht den leeren Umschlag auf dem Tisch.

Zwei lange Schritte, er greift danach, dreht ihn um, ohne ihn vom Tisch zu heben. Nicht zu übersehen, der Absender ist das Kriegsministerium.

Eine dunkle Welle schwappt über die beiden. Sie wissen: Es gibt nur zwei Menschen, an die dieser Brief gerichtet sein kann. Und so stehen sie sich gegenüber, erstarrt, Auge in Auge.

Robert presst den Kiefer zusammen.

Roy deutet auf seine Gesäßtasche: „Der Brief?“

Bleischwer ist das Blatt jetzt, als Robert es herausbefördert.

Roy schnappt danach, entfaltet es, liest von der ersten Zeile an – sein Gesicht wird kalkweiß.

Roberts Herz sinkt. Er sieht jetzt nicht den Brief, aber lesen kann er ihn im Gesicht seines Bruders. Und es ist nicht, was er erhofft hatte.

Wieder öffnet sich quietschend die Tür, dieses Mal nicht so ungestüm. Das kann nur Jenny sein, niemand schließt die Tür so behutsam wie sie. Sechs Wochen liegt die Hochzeit nun zurück, doch sie hat immer noch das Strahlen einer Braut. So hätte Mutter es gesagt, diese Redewendung war von ihr.

„Arm wie Kirchenmäuse und reich wie Könige“, war Jennys Kommentar, als Roy die Eheringe präsentierte. Er hatte sie aus dem Holz eines alten Baumes geschnitzt, ein Stück, das seine Eltern vor Jahren auf dem Berg gefunden hatten.

Roberts Blick ruht auf Jenny, die jetzt hinter ihrem Mann erscheint, den Muschelkorb aus Holz und Draht in der Hand. Der frische Wind hat ihre Wangen rosig gefärbt, sie sieht noch schöner aus als sonst – die Art von Schönheit, die einem Mann den Atem rauben kann. Robert senkt den Blick.

„Hast du es ihm gesagt?“ Sie legt ihre Hand in Roys Hand. Robert zwingt sich hinzuschauen. Er muss das sehen, muss sie so sehen. Mit Roy zusammen. Seine Augen müssen es aufnehmen, sein Herz muss sich das anschauen, damit seine Seele es begreifen kann. Sie gehört jetzt zu Roy. Für immer.

„Ich …“ Roy starrt sie an, als wäre er einen ganzen Ozean weit von ihr entfernt. Sie drückt seine Hand und plaudert unbekümmert. Ihre melodische Stimme klingt wie Musik, sie ist begeistert, redet schnell, füllt die Stille aus, die mit dem Brief entstanden war.

„Ihr könnt es euch vorstellen“, sagt sie, „eure Mutter war begeistert. Roy, du hättest sie sehen sollen.“ Ihr Lachen ist wie helles Glockenläuten. „Sie ging direkt zum Auto und fuhr nach Machias, zu Mrs Laughlin, wegen Wolle. Sie sagt, sie muss sofort anfangen, eine Decke zu stricken …“ Sie redet weiter, ihre Hand ruht jetzt auf ihrem Bauch. Bleischwer legt es sich auf Robert. Sein Blick wandert von Jenny zu Roy, bleibt dann bei dem Brief hängen. Dann sieht er Roy an. Ein Baby. Roy wird Vater – und hat einen Brief in der Hand, der sein Todesurteil werden kann.

Sein Bruder weicht seinem Blick jetzt nicht mehr aus. Alles verblasst, sie sind wieder zehn Jahre alt und schauen aufs Meer. Ein Sturm zieht auf, so groß wie der ganze Himmel. Dad muss in die Stadt fahren, Mama holen, bevor der Sturm losbricht. „Bleibt zusammen, Jungs“, befiehlt er mit seiner tiefen Stimme und entschwindet ihren Blicken. „Bleibt im Haus, geht nicht raus, wenn der Sturm da ist, lasst euch gegenseitig nicht aus den Augen.“ Robert hatte damals versagt. Dieses Mal durfte sich das nicht wiederholen.

Jenny hat aufgehört zu reden, der Glanz ist von ihren Wangen verschwunden, ihr Lächeln ist erloschen. „Was ist los?“, fragt sie und sieht ratlos von einem Bruder zum anderen, die etwas verbindet, was sie nicht weiß.

Roy schüttelt den Kopf. „Nichts. Ich sag es dir später.“ Er bemüht sich zu lächeln, schafft es schließlich und zieht Jenny an sich heran, so nahe, bis ihr Kopf auf seiner Schulter ruht.

Und dann gehen die drei zusammen los, wie immer. Von klein auf sind sie zusammen zum Muschelsuchen gegangen. Wie Tausende von Malen davor graben sie bei Miltons Farm die Schätze aus. Jenny schüttelt den siebartigen Korb, Roy beackert mit seiner großen Harke den Meeresboden und grinst dabei in Jennys Richtung, als wäre sie aus purem Gold, während sich in Roberts Brust angesichts dieser Ungerechtigkeit ein dunkler Abgrund öffnet.

„Warum seid ihr denn so still?“ Diese kleinen Sommersprossen-Spritzer über ihrer zierlichen Nase bohren den Stachel nur noch tiefer in sein Herz. Um ihretwillen, für sie … auch jetzt, er versucht, so etwas wie ein Lächeln zu bewerkstelligen. Verstümmelt und gezwungen fühlt es sich auf seinem Gesicht an, wahrscheinlich erinnert sein Aussehen gerade an einen aufgeblähten Kugelfisch. Sie lacht ihr silberhelles Lachen, und etwas von der Härte in ihm schmilzt.

Er weiß, egal, was passiert ist – und sein Blick wandert zwischen ihr und seinem Bruder hin und her, diesem Mann, der keiner Fliege etwas zuleide tun kann –, er weiß es mit absoluter Sicherheit: Er ist bereit, für diese beiden alles, absolut alles zu tun.

„Trefft ihr euch heute Abend?“, fragt Jenny die Brüder und löst ihre Hand von Roy. „Es ist doch eure Geburtstagstradition, aber ich habe noch gar nicht mitgekriegt, dass ihr darüber geredet hättet, deshalb war ich mir nicht sicher …“

Roy schaut Jenny an, saugt ihren Anblick auf, in sich ein Wissen, wovon sie noch nichts ahnt. Jede Minute, die er ab jetzt ohne sie verbringt, ist verschenkte Zeit, jetzt, wo die Uhr tickt und der Einberufungstermin näherrückt. Wenn er heute Abend auf die Insel geht und dort die alte Geburtstagstradition aus Kindheitstagen mit seinem Bruder wieder aufleben lässt, verliert er kostbare Zeit mit seiner Braut.

„Vielleicht lassen wir es dieses Jahr ausfallen, hab ich mir überlegt“, sagt Roy deshalb, schaut Robert an und sein Blick ist klar: Bitte, du musst das verstehen.

Robert versteht alles, nie hat er etwas besser verstanden als das, und so fleht er innerlich, Roy möge ihn nicht hassen für die nächsten Worte, die er gleich sagen wird. Aber es gibt nur diesen einen richtigen Weg.

„Nein“, sagt Robert. Von dem harten Klang des Wortes selbst erschrocken, stottert er hilflos, wie so oft. „Ich dachte – nun, lass es uns machen.“ Er fühlt wieder dieses Kugelfisch-Lächeln auf seinem Gesicht. „Bitte, um der alten Zeiten willen. Nur noch ein Mal.“

Die letzten Worte treffen Roy mehr, als Robert beabsichtigt hat. Das Schweigen ist lang, Jennys Blick wandert ratlos von einem zum anderen. „Dann macht es doch einfach“, sagt sie und streichelt wieder über ihren noch flachen Bauch. „Man weiß ja wirklich nicht, wie oft ihr das noch zusammen tun könnt.“

Der Satz ist lieb und harmlos gemeint, aber Robert zuckt innerlich zusammen. Er wird sich dem entgegenstellen. Falls heute Abend alles so läuft, wie er es sich vorstellt, werden die gemeinsamen Tage von Roy und Jenny nie enden.

zwei

Robert taucht die Ruder tief in den nachtschwarzen Atlantik. Dann zieht er sie zu sich heran und die Barke kommt der zerklüfteten Küste hinter seinem Rücken etwas näher. Die burgähnliche Silhouette einer kleinen Insel zeichnet sich in der Ferne ab, mit Brüstungen aus Kieferkronen und einer Hügelkette als Wall. Es liegt eine Dringlichkeit in seinen Bewegungen, entschlossen kämpft er sich vorwärts.

Mit einem langen Blick über die Schulter sucht Robert die Küste ab und entdeckt die Laterne an einem niedrigen Ast. Ihr Licht fällt auf ein an den Strand gezogenes Ruderboot. Einmal mehr hat sein Bruder ihn geschlagen. Von Geburt an ist Roy ihm immer einen Schritt voraus. Wahrscheinlich steht er schon oben auf dem Hügel und zündet das Feuer an, das zu ihrer nächtlichen Feier gehört. Eigentlich hätten sie es schon vor einer Woche tun sollen, als wirklich ihr Geburtstag war, aber als verheirateter Mann hat Roy nun andere Prioritäten als früher. Heute ist der erste Abend, an dem ihr Treffen zeitlich möglich ist.

Kieselsteine knirschen unter dem von Sonne und Wasser gebleichten Boot, Robert springt an Land, zurrt die Leine an dem zerklüfteten Stamm einer jungen Zeder fest und schreitet in die von Kiefernduft erfüllte Nacht.

Das hier war schon immer ihr Revier, hier fühlten sie sich unabhängig und frei. Im Alter von neun Jahren hatten sie begonnen, die Insel mit ihren Booten anzusteuern, hinterließen ihre Namen auf Felsen, besiegelten geheimnisvolle Versprechen mit feierlichen Ritualen – der Spucke-Handschlag war eines davon –, sie schliefen im Freien und ihre Träume waren größer als die Weite des Himmels. Unter einem Felsen hatten sie eine alte Holzkiste versteckt. Lieber hätten sie dafür als Versteck eine Höhle gehabt, wie sie es bei Tom Sawyer gelesen hatten, aber die gab es auf der Insel nicht. Die Kiste barg ihre Schätze, geheime Verträge und Landkarten, die sie in ein altes Notizbuch gekritzelt hatten.

Aber dann brach der Krieg, der auf der anderen Seite des Meers tobte, auch in ihre Welt ein und beendete abrupt ihre Kindheit. Aus ihren Spielen waren Strategien geworden, Landkarten wurden in die Erde geritzt. Ihre Insel war kein Ort kindlicher Abenteuer mehr, nun trauerten sie hier um ihren Vater. Der Krieg hatte ihre Familie erreicht, ihren Vater geraubt. Für Alastair Campbell MacGregor Bliss war es von höchster Bedeutung gewesen, seiner Familie ein Vorbild an Mut und Glaubenskraft zu sein. Das war er auch, bis zu seinem letzten Atemzug.

Dieses Erbe wird Robert heute ehren und fortführen. Natürlich kommt er auch, um mit seinem Bruder das Feuer zu entzünden und die üblichen Spiele zu machen, aber doch ist heute alles anders. Roberts Herz klopft vernehmlich, während er daran denkt. Er ist mit dem Entschluss hierhergekommen, das Schicksal seines Bruders zu wenden. Eher wird er diese Insel nicht wieder verlassen.

Mit diesen Gedanken stürmt Robert den steilen Weg hinauf, tritt auf die Lichtung, spürt unter den Füßen die trockene, harte Erde und sieht seinen Bruder im Lichtschein kauern. Roy sitzt auf einem Stein auf der anderen Seite des Feuers, den Kopf über die Knie gebeugt, die gefurchte Stirn von den flackernden Schatten der Flammen wie ausgemeißelt. Mit den Fingern reibt er die Haut zwischen den Augenbrauen – genau wie Dad das immer tat, wenn ihn etwas wirklich Bedrohliches belastete. Kein Wunder, dass Roy manche Verhaltensweisen von ihrem Vater übernommen hat, schließlich haben die beiden unzählige Stunden zusammen im Bootsladen verbracht. Das hat Roy zu Dads Ebenbild gemacht.

„Hey“, sagt Robert. Entschlossen schüttelt er die altvertraute Eifersucht ab, die ihm immer zusetzt, wenn er an die Beziehung zwischen Vater und Bruder denkt, und tritt ins orangerote Licht.

Roy richtet sich ruckartig auf, das Lächeln auf seinem Gesicht erscheint zu schnell. „Wird auch langsam Zeit!“ Ein Scheit knackt, Funken sprühen.

Das unerwartete Geräusch von statisch aufgeladenem Vinyl, gefolgt von aufbrausenden Orchesterklängen einer Big Band und dann Frank Sinatra: Stardust. Es kommt so unerwartet und wirkt so deplatziert hier draußen in der lauen Septembernacht, dass Roberts Kopf erschrocken herumfährt. Wo kommt das her? Ein Plattenspieler mit Handkurbel steht da, nicht sehr stabil, auf einem Stein, seinen trichterförmigen Lautsprecher leicht zur Seite geneigt wie ein neugieriger Hund mit schief gelegtem Kopf.

„Um alles in der Welt -!?“

„Ach, der.“ Roy schaut ein bisschen einfältig. „Jenny kam gestern mit mir zusammen her. War ihre Idee.“ Er geht zum Grammofon, zieht eine Hand aus der Hosentasche – auf der Hose ist noch der Staub der Sägemühle zu sehen – und hält die LP an.

„Lass ruhig“, wirft Robert ein.

Also kurbelt Roy und Robert denkt an das Mädchen, das dieses Grammofon hierhergebracht hat. Das passt zu ihr. Diese Insel hat Jenny schon immer ebenso gehört wie ihnen, auch wenn Grund und Boden rein rechtlich zum Besitz der Bliss-Familie zählen. All die Jahre ist Jenny mit ihnen über diese Felsen geklettert, viele missglückte Abenteuer waren halb so schlimm, weil sie dabei war. Jenny war so selbstverständlich Teil ihrer Welt, dass Robert sein halbes Leben lang praktisch nicht über sie nachgedacht hat. Sie gehörte zu seinem Leben wie der Atem, mit dem er seine Lungen füllte. Doch eines Tages reichte er Jenny die Hand, zog sie von dem muschelübersäten Strand in die Höhe – eine Geste, die vollkommen alltäglich war –, und plötzlich gingen in seiner Seele die Lichter an. Kleine Dreckspritzer hatten sich zwischen ihre Sommersprossen gemischt, die blauen Augen leuchteten hinter den dunklen Haarsträhnen, die bis zum Unterkiefer reichten und das Gesicht verdeckten. Jenny warf ihren Kopf zur Seite und drehte das Gesicht nach oben, spitzte die Lippen und pustete die Haare weg – eine ihrer typischen Bewegungen. Als sie ihn dann anlächelte, zog seine Brust sich zusammen und ihm blieb der Atem weg. Ihr Blick schien ihn zu durchbohren, als könnte sie sein Innerstes sehen. Da wusste er, für Jenny Thomas würde er alles tun, er würde von nun an alles daransetzen, dass sie eines Tages Jenny Bliss sein konnte.

Das Dumme war nur, dass sie damals erst dreizehn waren. Eigentlich fast noch Kinder. Doch nachdem die Jahre ins Land gegangen waren und die Zeit endlich gekommen war, um es ihr zu sagen, da suchte Robert zu lange nach den passenden Worten. Er drehte und wendete die Sätze in seinem Kopf und wartete auf den richtigen Moment, so lange, bis Roy plötzlich auch bemerkte, was Robert schon längst wusste. Das Mädchen aus der Nachbarschaft war mehr als die Spielkameradin von einst – Roy fand die Worte schneller und so wurden Roy und Jenny ein Paar. Robert hatte in der folgenden Zeit häufig das Bedürfnis, aufs Meer zu fahren, sooft es irgend möglich war.

Jenny sagte gern, Roy sähe aus wie eine jüngere Ausgabe des umschwärmten Schauspielers Gregory Peck. Zu Robert sagte sie das nie. Dabei waren sie identische Zwillinge! Natürlich, Roy war „der mit den Grübchen“, wie sie oft sagte. Er war auch der, an dem der Geruch frisch gefällter Kiefernstämme haftete, während Robert nach Hummerködern und Salzwasser roch. Zu einem wie ihm sagten die Mädchen nicht solche Sachen.

„Also …“ Roy schlägt seinen offenen Flanellmantel zurück, steckt die Hände in die Hosentaschen. Alles ganz normal und unbeschwert, als hätten sie nicht vor ein paar Stunden diesen Brief erhalten. „Dann wollen wir mal, oder?“ Grinsend schlägt er Robert auf die Schulter und fängt an, Steine zu der schroffen Felskante zu tragen, wo die Insel steil zum Meer hin abfällt. Neun Steine für jeden, macht zusammen achtzehn, so würden sie gleich die Anzahl ihrer Lebensjahre feiern.

Das hatte ihnen immer Spaß gemacht, sie warfen Steine ins Meer und mit jedem Wurf dachten sie sich eine Mutprobe aus – eine lustige, alberne Herausforderung, die sie geschafft haben mussten, bevor das neue Lebensjahr zu Ende ging –, doch heute passte das nicht. Heute nicht.

Robert mustert den Bruder. Nie zuvor hat er Roy so gesehen – als kämpfe er, der Unerschütterliche, der für seinen Optimismus bekannt ist, gegen eine Strömung, die ihn mit sich in die Dunkelheit zu reißen droht.

Roy setzt sein Grinsen auf. „Los geht’s“, sagt er und legt Robert den ersten Stein in die Hand. „Du fängst an.“

Robert dreht den Stein hin und her. Roys Hand hat ihn gewärmt. „Können wir reden?“

Roys Kiefermuskeln spannen sich an. „Später.“

Was geht in Roy vor? Diese Tradition, dieser Überrest aus ihrer Kindheit, wird er plötzlich zu einer Art von Rettungsring?

Robert hat seinen Stein immer noch nicht in die tief unter ihnen brausenden Wellen geworfen. Roy holt nun selbst weit aus. „Na schön, dann fange ich an.“

Ist dieses Spiel für Roy so wichtig, weil es ihre Tradition ist? Eine Pflicht, die zu erfüllen ist? So ist Roy, das ist sein Wesen, seine Namenshälfte passt dazu. Ihre Eltern hatten die Zwillinge nach einem schottischen Nationalhelden des frühen 18. Jahrhunderts benannt, der zunächst wie ein Robin Hood von Schottland war, dann aber als Viehdieb zum Geächteten erklärt wurde. Er hieß Rob Roy. Von ihm haben beide Jungs ihre Namen bekommen. Die beiden Seiten dieser Persönlichkeit teilen sie seither unter sich auf: Roy ist der Held und Robert der Spitzbube.

Roy hält mitten in der Wurf-Bewegung inne, er räuspert sich und fängt mit unnatürlich tiefer Stimme an: „Nah und fern, durch Berg und Tal …“

Robert wirft ihm einen schnellen Blick zu: „Dein Ernst?“ Das alte Walter-Scott-Gedicht ist heute schwer zu ertragen.

Roy breitet die Arme aus, fordert ihn heraus. „Na komm, es sind doch nur Worte!“

„Ja, aber es ist Poesie.“

„Na und?“ Roy schlägt ihm mit dem Handrücken gegen die Brust. „Poesie wird dich nicht umbringen.“ Sein Blick wird feierlich. Und es braucht keine Fantasie, um zu ahnen, was unausgesprochen bleibt. Möglicherweise ist es die letzte Gelegenheit, gemeinsam die Worte zu sprechen, die Dad ihnen immer und immer wieder vorgesagt hat, mit all den Geschichten, die er seinen Jungs von Rob Roy und seiner Tollkühnheit erzählt hat.

„Na gut.“ Robert holt Luft und stimmt mit so viel Begeisterung ein, als würde er das Periodensystem der Elemente aufsagen. „Nah und fern, durch Berg und Tal …“

Roys Stimme ist der von Dad zum Verwechseln ähnlich. Jedes Wort ist ein Funke, den sie in die Dunkelheit hineinsprechen.

„… wird in Menschen tausendmal helles Feuer heiß entfacht, wo man an Rob Roy gedacht.“

Dann ist es ganz still.

Roy schleudert den ersten Stein in die Dunkelheit hinaus, hinunter in die kesselförmige Bucht, wo die Wellen sich laut tosend an den Felsen brechen. Der Stein pfeift durch die Luft und landet hoch aufspritzend weit draußen im Meer.

„Andere werfen am Geburtstag Konfetti in die Luft.“ Zögernd schaut Robert auf den Stein in seiner Hand.

„Ayuh“, pflichtet Roy bei und gebraucht das in Maine typische Wort für „ja“, das so sehr zu den Menschen hier gehört wie der salzige Geschmack in der Luft. „Für Leute wie uns gibt’s kein Konfetti. Wirf jetzt deinen Stein.“ Damit tritt er einen Schritt zurück, um Robert mehr Raum zu geben.

„Um was soll es gehen?“

Roy steckt die Daumen in die Gürtelschlaufen. „Du legst nächsten Sonntag in der Kirche etwas in die Kollekte. Mit etwas meine ich aber Geld, dieses Mal bitte keine Schnecken.“

Robert grinst. „Ich bin ja keine sieben mehr.“

„Stimmt, jetzt wo du es sagst …“

„Pass auf!“ Robert holt zum Wurf aus. „Wetten, du traust dich nicht, die Kuh von Mrs Jenson anzufassen?“ Platsch. Beide wissen, dass das niemals passieren wird.

„Ich will, dass du den Schuppen reparierst, in den du reingefahren bist.“ Roy grinst. Wirft. Platsch.

Eine Pause entsteht. Als hätte der ganze Abend – vielleicht auch ihr ganzes Leben – nur auf diesen Augenblick abgezielt.

Robert nimmt seine ganze Kraft zusammen und wirft, so weit er kann. In weiter Ferne ein Aufklatschen. „Ich will, dass du nicht in den Krieg ziehst.“

Mit einem Schlag verfliegt jegliche Illusion jener lange vergangenen Jungenjahre wie Frostnebel über dem Meer.

„Was?“ Roy fährt herum, stahlblaue kalte Augen fixieren Robert.

„Was ich gesagt habe.“

Roy schüttelt den Kopf. „Wie kannst du so etwas sagen? Soll ich etwa …“ Er sieht sich unsicher um, spricht mit gesenkter Stimme weiter. „Soll ich mich vor dem Wehrdienst drücken?“ Sein Gesicht verdunkelt sich, als hätte Robert ihm ein Messer ins Herz gestoßen. „Hältst du mich für so feige?“

„Nein.“ Schnell stößt Robert das Wort hervor. „Ich meine ... du sollst nicht gehen.“ Er zieht die kalte Luft ein. „Ich mache das. Ich gehe. So etwas gibt es manchmal, dass sie einem Bruder erlauben, anstelle des anderen zu gehen. Oder, wenn nicht …“ Seine Stimme soll unbekümmert klingen, was ihm aber nicht gelingt. „Wir sind Zwillinge. Wir können auch einfach … Namen tauschen. Das hat in der Schule auch funktioniert.“

Roy starrt Robert fassungslos an. „Was redest du da? Du weißt doch ganz genau, dass ich das niemals tun würde! Nicht, nachdem Dad …“

„Bitte.“ Eine Flut unterdrückter Gefühle färbt Roberts Stimme dunkel. „Du hast eine Frau.“ Das Wort Frau bringt er fast nicht heraus. Der Schmerz ist allumfassend. Aber er weiß, dass es so genau richtig ist.

Jenny zu lieben bedeutet, ihr ein Leben mit dem Mann zu ermöglichen, den sie gewählt hat: Roy.

Roys Kiefermuskeln arbeiten. Da holt Robert zum nächsten Schlag aus. „Du hast ein Kind.“

Roys Kinn hebt sich, er richtet den Blick hinaus auf die Bucht. Nur einen Steinwurf weit entfernt steht das Haus, in dem sie beide aufgewachsen sind, unweit davon leuchtet das Licht am Ende von Jennys Anlegestelle. Robert beobachtet ihn voller Angst – er spürt, etwas ist anders. Wenn Robert sonst den Namen Jenny auch nur erwähnt hat, begann Roy sofort, wie ein Leuchtturm zu strahlen. Heute ist das Gegenteil der Fall. Sein Bruder scheint sich innerlich zu verschließen.

Dann spricht Roy und seine Stimme knarzt wie der Boden eines Schiffes, das man über steiniges Ufer zieht. „Denkst du, andere Soldaten haben keine Frauen? Keine Familien? Glaubst du nicht, dass sie genau deshalb kämpfen, weil sie die Menschen, die sie lieben, beschützen wollen?“

Robert weiß das nur zu gut. Genau aus diesem Grund hatte ihr Vater sich damals für den Dienst beim Militär gemeldet. Damals konnten Männer sich noch freiwillig der Armee anschließen. Und genau das war der Grund, warum Robert es noch einmal versuchen musste. „Sohn, pass gut auf die Familie auf.“ Mit diesen Worten hatte Dad ihm als Fünfzehnjährigem in die Augen gesehen, als wäre er ein erwachsener Mann. Damit hatte er ihn zurückgelassen. Robert war nicht der Ältere, aber jeder in der Familie wusste, dass er derjenige von beiden war, der das Feuer der Leute im Nordosten hatte, dieses innere Brennen, das er für seine Kämpfe nutzen konnte.

Steine fallen aus Roys Händen, fallen zu Boden. Aufgebracht geht er an Robert vorbei, kopfschüttelnd, ohne ihn anzusehen. Er wirft Erde auf das Feuer. Eine Wolke aus Staub und Rauch steigt auf und verschlingt den Lichtschein.

Der Rauch beißt in Roberts Lunge, während er die letzten Funken mit Händen voller Erde erstickt. Er muss das Gespräch fortsetzen. Aber Roy stürmt den Pfad hinunter, der jetzt in völliger Dunkelheit liegt, die Steilküste hinab, gefangen zwischen Logik und Pflichterfüllung.

„Warte doch!“ Roberts Schritte dröhnen dumpf, verfolgen Roy. „Hör mir doch zu. Was soll ich denn stattdessen machen? Ich würde immer nur Muscheln aus dem Meer holen. Aber du …“ Roy hält nicht an, nimmt eine dunkle Kurve nach der anderen, ist schon fast am Fuße des Hügels.

Hier unten schlagen die Wellen so laut gegen die Felsen, dass sie das wilde Pochen in Roberts Brust übertönen. Robert hat Roy eingeholt, packt ihn an der Schulter, dreht ihn zu sich um. „Du kannst etwas. Du kannst Schiffe bauen und Mutter helfen.“ Seine Argumente reichen nicht, Roys Gesicht verrät das deutlich. Mit einer ausholenden Geste zeigt er auf Jennys Haus. „Du hast diese Familie.“

Da lässt Roy den Kopf hängen.

Roberts Brust hebt und senkt sich. Atemlos flüstert er: „Ich gehe an deiner Stelle.“

Roy steht vor ihm, in kaltes Mondlicht getaucht, eine plötzliche Bö trifft das Wasser. Kraftvoll steht er da, als würden starke Wurzeln von seinen Füßen direkt in den Granit hineinwachsen. Unerschütterlich. Irgendwo in der Ferne schlägt eine Bojenglocke, hört nicht auf zu läuten.

Robert presst die Lippen aufeinander. Zu viele Sätze wollen heraus. Was auch immer für qualvolle Prozesse in seinem Bruder vor sich gehen, er will sie nicht unterbrechen. Roy atmet flach und schnell.

„Du wirst hier gebraucht“, sagt Robert schließlich. Er spuckt in die Hände und streckt seinem Bruder die Rechte entgegen. Der schluckt. Roy ist offensichtlich hin- und hergerissen. Vielleicht sind sie aus dem Alter herausgewachsen, in dem man sich vor dem Vertragsabschluss in die Hände spuckt, aber die Bedeutung ist unverändert: Sie geben sich ein Versprechen, das nicht gebrochen werden kann. Nur, dass es noch nie zuvor um alles gegangen ist, um Leben und Tod.

Roy ballt die Faust, hebt den Arm und für den Bruchteil einer Sekunde atmet Robert auf. Er lässt sich darauf ein.

Doch dann sieht er, wie Roy sich noch weiter aufrichtet. Den Ausdruck kennt er. Das ist jetzt der Eagle Scout, Jugendleiter bei den Pfadfindern Nordamerikas, der bei seiner Ehre geschworen hat, für Gott und sein Vaterland das Beste zu geben.

Statt in Roberts ausgestreckte Hand einzuschlagen, schlägt Roy seine Faust in seine andere Hand. Er schüttelt den Kopf. „Erinnerst du dich an den Sturm?“

Robert wendet sich ab. Sie haben Tausende von Stürmen erlebt, aber er weiß sofort, welchen Sturm Roy meint. Dad musste in die Stadt fahren, um Mutter abzuholen … und sie beide sollten auf jeden Fall zusammenzubleiben, hatte Dad sie streng ermahnt.

Sie waren zusammengeblieben. Aber sie waren nicht direkt nach Hause gegangen. Robert sah das neue Ruderboot im Wasser liegen, das Vater für Mr Simmons gemacht hatte. Er löste das Tau und sie ließen sich am Strand entlangtreiben, an der lang gezogenen Halbinsel vorbei, wo sich die Bucht zum Ozean hin öffnet. Vier Monate lang hatte Vater an diesem Boot gearbeitet. Für Robert als Zehnjährigen gab es damals nur einen Gedanken, er musste das Boot ausprobieren.

„Dieses blöde Boot“, sagt Robert, „wenn ich dich doch einfach nur heimgebracht hätte, heim und ins Haus.“

Roy schüttelt den Kopf. „Genau das ist der Punkt. Unser ganzes Leben lang hast du dich um mich gekümmert, bist vorangegangen, als wärst du schon mit dieser Verantwortung für mich auf die Welt gekommen. Dad und du, ihr habt immer darüber geredet, wie man auf mich aufpassen muss.“

„Was ich dann damals bei dem Sturm ziemlich vermasselt habe“, sagt Robert. Fast kann er noch den Regen spüren, den Sturm, der an ihnen zerrt und ihre Jacken aufbläht. Robert erinnert sich an den Schrei der Möwe und dass er Mitleid hatte mit dem Vogel, der irgendwo dort draußen über dem Meer gegen den Sturm ankämpfen musste. Je weiter er am Ufer entlangschritt, desto leiser wurde das Rufen der Möwe – bis er sich endlich umdrehte und blitzschnell erkannte, dass er keine Möwe gehört hatte. Es war sein Bruder Roy, der in dem klagenden Tonfall einer Möwe „Hilfe! Hilfe!“ schrie.

Er erinnert sich, als wäre es gestern gewesen, wie glatt die Steine waren, als er in Windeseile den Weg zurückhastete, ohne darauf zu achten, dass seine Knöchel umknickten und Zweige ihn zerkratzten. Roy hing über einem Abgrund, unter ihm schäumte das Meer wie ein hungriges Raubtier. Roy war ausgerutscht und Robert hatte es nicht bemerkt.

„Du warst so stark“, sagt er zu Roy. „Wie du dich da an den Felsen geklammert hast, mitten im Sturm …“

Roys Kiefer mahlen, er schaut in die Ferne. „Ich habe es geschafft, weil ich wusste, dass du kommst“, sagt er. „Du bist immer gekommen. Bis heute.“

Ja, er hatte Roy nach oben geholfen. Aber er hätte Roy überhaupt nicht aus den Augen lassen dürfen. Am Ende war das Boot kaputt, Roberts Ellbogen war ausgekugelt und tat bis heute weh, wenn stürmisches Wetter aufzog, und um Haaresbreite wäre sein Bruder damals gestorben.

Robert hatte sich auf den Felsen gelegt und Roy hochgezogen, während der mit den Füßen an der Klippe vergeblich nach Halt suchte. Als sie Dad später von dem Verlust des Bootes erzählten, konnten sie die grenzenlose Erleichterung auf Dads Gesicht sehen und die Kraft seiner Liebe spüren, als er sie beide in die Arme schloss.

Roy quält die Erinnerung sichtlich, obwohl doch alles gut gegangen war. „Ich habe dich immer um den Blick von oben beneidet.“

„Den Blick von oben?“ Robert versteht nicht, was Roy meint.

„Ja klar, es muss sich doch gut anfühlen, so auf jemanden hinunterschauen zu können, wie du an dem Abend zu mir hinabgeschaut hast, mit dem Bewusstsein, dass du den retten wirst, der da unten hängt. Das ist etwas ganz anderes, als hochzuschauen und zu wissen, dass man es mal wieder vermasselt und dem anderen großen Ärger eingebrockt hat.“

„Was redest du? Du weißt, dass das nicht stimmt.“

„Doch, genau so war es. Ist es noch.“ Er holt tief Luft, schlägt Robert auf den Rücken. „Bruder, jetzt bin ich dran. Du bist ein guter Kerl“, sagt er, „jetzt möchte ich mal versuchen, auch einer zu werden.“

Und damit geht er.

Der Mond steht hoch am Himmel, so hoch, dass es lange nach Mitternacht sein muss. Roy schiebt sein Boot ins Wasser. Alle spielerischen Abmachungen dieses Abends sind vergessen, genau wie der kleine Haufen Steine, der oben auf dem Hügel liegen geblieben ist. Die Zukunft liegt dunkel vor ihm, Roy rudert darauf zu, ohne zu ahnen, was ihn erwarten wird.

Roberts Füße rennen entschlossen über den schmalen Strand, laut knirschen die Steine unter ihm, als hätte sein Körper noch nicht verstanden, was seine Ohren und sein Herz gehört haben. Seine Hände arbeiten wie automatisch, lösen das Boot, er steigt ein. Während er sich von der verlassenen Insel entfernt, dem Ort ihrer Kindheit, steigt ein Gebet aus seinem Innersten auf. Aus aufgewühltem Herzen fleht Robert zu Gott – falls es so etwas wie einen gerechten Gott im Himmel überhaupt gibt –, er möge doch ihn in den Krieg schicken und Roy zu Hause bleiben lassen.

drei

Chicago

Mai 2001

Die Zahlen beginnen vor den Augen von Ann Bliss zu verschwimmen, der Bildschirm scheint zu flimmern, während das Knurren ihres Magens immer lauter wird. Mittagspause. Schnell tippt sie noch die letzten Zeilen ein, es geht um die aktuelle Entwicklung der Kaufgewohnheiten und Konsumtrends der Zwanzig- bis Dreißigjährigen. Dann klappt sie ihr Notebook zu und eilt zielstrebig durch das Labyrinth von Fahrstühlen, hohen Hallen und langen Fluren aus weißem Marmor bis zur Säulenhalle, die den Eingang des Calloway-Gebäudes in Chicago bildet. Wie gewohnt geht sie den kurzen Weg nach nebenan, wo im Erdgeschoss die Filiale einer großen Café-Kette angesiedelt ist. Darüber erhebt sich das Gebäude in den Himmel. Unzählige Stockwerke ragen über dem Café auf, Tausende von Geschichten sind hinter den hohen Mauern eingeschlossen. Es ist, wie Großonkel Bob damals sagte: Jede Welle in diesem großen alten blauen Meer erzählt eine Geschichte.

Mit der Hand auf der Türklinke bleibt sie zögernd vor der gläsernen Fassade stehen, schließt für einen Moment die Augen, erinnert sich. Sie war noch klein, als sie die Tür der Kombüse aufstieß und damit die Schiffsglocke über der Tür in Bewegung versetzte. Der Raum stand voll mit ungleichen Stühlen, die sich um einige Tische gruppierten. Heller Sonnenschein gab dem alten Mobiliar einen fröhlichen Anstrich, Geranienzweige nickten freundlich grüßend aus dem Blechkübel auf dem Tisch in der Ecke, der Bobs Stammplatz war.

Früher hatte man in diesen Räumen Angelköder verkauft. Dann wurden die Wände weiß getüncht, innen und außen, und eine Küche wurde nachträglich angebaut. So war das einzige Lokal in Ansel-by-the-Sea entstanden, wo man das ganze Jahr über etwas Anständiges zu essen bekam. Drei Dinge waren hier immer im Angebot: der atemberaubend schöne Blick auf den idyllischen Hafen von Maine, stapelweise heiße Pfannkuchen, die in Ahornsirup aus heimischer Produktion schwammen, dazu die neuesten Geschichten, roh und unbehandelt wie die Planken des Kais, an dem die Kombüse sich befand.

Würde Annie heute, nach so vielen Jahren, wieder die Kombüse betreten, Bess würde sie bestimmt mit dem gleichen Satz begrüßen wie einst: „Schön, dass du da bist.“ Und das mit Bess’ typischem Akzent des Nordostens, der für Annie nach frischer Luft und alten Hollywood-Filmen klang, ohne harte Konsonanten und mit dieser leicht verwaschenen Aussprache. Mit dem Pfannenwender in der Hand würde sie Annie herbeiwinken und gleich darauf einen hellbraunen Pfannkuchen im zischenden Fett umdrehen.

Aber es ist zwei Jahrzehnte her, seit Ann zuletzt in Maine bei ihrem Großonkel war. Mit diesem abschließenden Gedanken stößt sie die Tür zum Café auf und erinnert sich selbst daran, dass ihre Heimat jetzt hier ist.

Sie taucht ein in den Geruch von Kaffee und Gebäck und mischt sich unter die Kunden in ihren dunklen Anzügen. Viele sitzen aufrecht auf den harten Stühlen, Laptops aufgeklappt, überfliegen die neuesten Artikel der Chicago Tribune, des Wall Street Journals oder des Time Magazine.

Ann bestellt, die junge Frau hinter der Theke lässt ein pseudo-frisches Gebäckstück in eine braune Papierhülle gleiten und hängt einen Teebeutel in den Pappbecher. Als alles fertig ist, ruft sie Anns Namen auf, im Tonfall eines Dozenten, der die Anwesenheit der Teilnehmer seines Steuerseminars abhaken muss.

Ann bedankt sich, nimmt das Wechselgeld und steuert den einzig freien Tisch an. Hier sitzt niemand, weil man von hier aus keine Aussicht auf die Skyline hat. Aber sie muss die Hochhäuser nicht sehen, sie erscheinen ihr wie die Gitterstäbe ihrer Welt. Ja, sie lebt freiwillig in dieser Gefangenschaft – es gibt derzeit keinen anderen Weg. Aber eines Tages wird sie sich freikaufen und das tun, was sie wirklich will. Falls sie noch einmal den Mut dazu aufbringen wird. Um ihr Ziel zu erreichen, hatte sie zwei Universitätsabschlüsse gemacht und dabei ein schwindelerregend hohes Studentendarlehen aufgehäuft, das sich langsamer abbauen lässt, als Granit zu Staub zerfällt. Darauf folgten drei Berufsjahre, in denen sie ihren Urlaub verfallen ließ und sich keinen einzigen Tag krank meldete. Das alles hat sie gern getan, um eines Tages dort anzukommen, wo sie leben und arbeiten will: Sie träumt davon, zu anthropologischen Themen Feldforschung zu betreiben; Menschen in ihrem natürlichen Kontext zu beobachten und zu befragen, das ist ihr Ziel. Irgendwann einmal.

Doch dieses Ziel ist wieder in weite Ferne gerückt. Das Einzige, was sie im Moment täglich sehen kann, sind die Menschen in diesem Café. Für Ann sind auch sie interessant, jeder hier verfügt über einen Schatz von Geschichten. Ann sieht viele Fragen in den beschäftigten Gesichtern. Sogar in der mechanischen Stimme und dem gelangweilten Blick des Mädchens hinter dem Tresen erspürt sie einen Grund für diese Leblosigkeit.

Bewusst achtet sie darauf, niemanden zu lange zu fixieren, nur flüchtig schweifen ihre Blicke, unauffällig bewegen sich ihre Intel-blauen Augen von einem zum anderen. Judy und Jim, die jungen Kollegen im Büro, haben ihre Augenfarbe so benannt. Sie, die Computerspezialisten in der angesehenen Designerfirma, finden es lustig, ihre Informatiker-Fachsprache auf alles Mögliche anzuwenden. Als Anthropologin passt Ann nicht zu den IT-lern, und was sie dort macht, hat auch wenig mit ihrem Beruf zu tun. Ihr Forschungsfeld ist der urbane Dschungel von Chicago. Statt Grundfragen der Zivilisation studiert sie Konsumenten. Kaufgewohnheiten anstelle von Glaubensüberzeugungen und Traditionen.

Aber das wird nicht so bleiben, tröstet sie sich selbst. Fürs Erste ist sie einfach froh, diese Stelle zu haben – eine feste Anstellung –, bis der katastrophale Ruf, den sie sich bei ihrem letzten Job eingehandelt hat, hoffentlich eines Tages verblasst sein wird.

Sie greift in ihre Segeltuchtasche und befördert Laptop und Zeitung hervor. Auf das feine Piepsen des Computers, das sich unauffällig unter die Geräuschkulisse des Cafés mischt, folgt ein Geräusch, das eher in den Cafés vor hundert Jahren üblich war.

Das Rascheln von Zeitungspapier.

Sie sitzt nun so gerade, dass jeder Wirbel sich einzeln gegen die starre Lehne des hellen Holzstuhls drückt, streicht sich eine kastanienbraune Haarsträhne aus dem Gesicht, nippt an ihrem Becher und wärmt sich daran.

Diese Lektüre, die jede Woche einmal im Briefkasten ihres Appartements steckt, kommt aus dem weit entfernten Maine. Vielleicht hat die Zeitung etwas Gischt abbekommen, dort im Norden, am Anfang der langen Reise, vom Meer bis zu ihr? Sie schließt die Augen, der Geschmack der Vergangenheit ist salzig. Sie sieht das kleine Mädchen wieder vor sich, das seine Hand in die grobe Hand des Seemanns gelegt hat.

Schnell blättert sie um, das Rascheln der Zeitung zieht einige Blicke an. Mit einer geübten Bewegung schlägt sie die erste Seite nach hinten um, keiner soll den Titel sehen: Rusty Joe’s – Tausch und Verkauf.

Der erste Teil sind Anzeigen aus den Rubriken Vermischtes, Tiere, Fahrzeuge und Immobilien, das interessiert sie kaum. Nur beim Thema Viehzucht verweilt sie kurz, schmunzelt, wo es heißt: Ziege gesucht. Biete Hummerfallen oder überzählige Salzwasserstiefel. Ihr Lächeln ist eine Mischung aus Stolz und Vergnügen, gewürzt mit einer Prise Einsamkeit. Ach ja, Maine.

Sie blättert weiter und kommt schließlich zu dem Teil, der sie betrifft. Boote. Bevor sie die drei Anzeigen liest, die durch viereckige Einrahmungen hervorgehoben sind, kramt sie in ihrer Tasche nach einem Blatt, auf dem Zeitungsausschnitte aufgeklebt sind. Das Papier sieht aus wie die Hausaufgabe eines Grundschulkindes. Sie liest einige der aufgeklebten Nachrichten, lächelt vergnügt, einmal lacht sie laut auf.

Die Anzeige vor vier Wochen, so typisch für Bob, mit dem Humor eines Großvaters, der ihr so vertraut und vom Herzen her so nahe ist.

Vermisst: Murmeln. Irgendwo im Bootshaus. Hilft jemand einem alten Mann beim Suchen? B.

In der folgenden Woche ihre Anzeige:

Gefunden: Murmeln des alten Mannes. Waren aus Versehen in einer Hummerfalle. Einschreiben folgt.

Und sie hatte ihm ein Tütchen mit Murmeln geschickt, eingepackt in eine Landkarte, die sie selbst vom Hafenstädtchen Ansel gezeichnet hatte. Damit hatte sie ihr Versprechen, ihm keine Briefe zu schicken, nicht gebrochen, beruhigte sie sich selbst. Wobei sie bis heute nicht verstand, was das Problem zwischen Bob und ihrem Vater war. Jedes Mal, wenn sie einen Brief für Bob zur Post brachte, überschattete diese düstere Traurigkeit das Gesicht ihres Vaters. Damals – es war schon sehr lange her – hatte sie beschlossen, einen anderen Weg zu finden, um in Kontakt mit ihrem Großonkel zu bleiben. Ohne damit anderen Menschen wehzutun. Sie war damals erst zehn, aber sie begann, den Rasen der Nachbarn zu mähen. Mit dem Geld, das sie dafür bekam, konnte sie dann Anzeigen aufgeben. Sieben Dollar und fünfzig Cent bezahlte sie jede zweite Woche dafür. Ihre erste Anzeige hatte sie auf eine grüne Karteikarte gekritzelt und per Post direkt an Rusty Joe’s geschickt.

Falls es überhaupt irgendwie möglich war, ihren Großonkel zu erreichen, dann auf diesem Weg, hatte sie sich überlegt. Abgesehen von seiner abgenutzten Bibel war Rusty Joe’s Bobs häufigste Lektüre, obwohl viele gefüllte Bücherregale die Wände seines Hauses zierten. Und so war es geblieben und die Anzeigen flogen durch dieses Schlupfloch hin und her wie Tischtennisbälle, die die Zeit überbrückten.

Von ihm, vor zwei Wochen:

Gesucht: Flachländer, um nach Muscheln zu graben. Diese städtischen Gauner sind nicht zu ertragen. B.

Letzte Woche dann ihre Botschaft:

Gesucht: Seemann, der keine Anzeigen mehr dichtet.Reimen hat oft schon den Sinn vernichtet. Besser, er verzichtet.

Eine Nachricht folgte auf die andere, zwei Ordner stehen mittlerweile in ihrer Wohnung, voller Blätter mit Zeitungsanzeigen, so lange geht das zwischen ihnen schon hin und her. Und das alles, obwohl sie mit diesem Verwandten nur einen Sommer verbracht hat und der sie doch besser kennt als irgendjemand sonst.

Mit einem tiefen Atemzug wendet sie sich schließlich der neuesten Ausgabe des Rusty Joe’s zu. Zwei der Anzeigen haben wirklich mit Booten zu tun, die jemand verkaufen will. Aber direkt dazwischen liest sie:

Komm heim, Annie. Bess.

Und plötzlich ist Anns Gesicht dasjenige, das eine Geschichte erzählt. Der Blick, mit dem sie auf die Nachricht starrt, hat das Potenzial, die ganze Welt zum Stillstand zu bringen.

Seit zwanzig Jahren hat niemand Annie zu ihr gesagt. Es kann nur einen Grund dafür geben, dass Bess ihr schreibt. Nur einen Grund, warum Bob es nicht selbst tut.

Irgendetwas muss ihm zugestoßen sein.

Alles, was um sie herum geschieht, weicht zurück, versinkt im Schweigen. Sie hört nur noch ihren Puls und das Rascheln des Papiers, auch das nur wie aus weiter Ferne und vor dem Hintergrund verworrener Bewegungen. Irgendwie gelingt es ihren Händen, die Tasche zu packen. Sie ist schon halb aus der Tür, als sie sich noch einmal umdreht und das Tablett auf den Tresen stellt, mit zitternden Händen und unsicher, ob ihre Beine sie tragen werden.

Mit viel Kraft schafft sie es, die Tür gegen den Wind und das Vakuum im Raum aufzustoßen. Wie betäubt setzt sie einen Fuß vor den anderen, geht zwischen Hochhäusern und über Straßen aus Asphalt, bis sie in einem Flugzeug sitzt, das sie nach Ansel-by-the-Sea bringen wird.

vier

Ann starrt durch den Mittelgang nach vorn, während der Bus sich der Haltestelle nähert. Ob Jona sich im Bauch des Fisches so gefühlt hat? Voller Ungeduld hinauszudürfen und zugleich voller Angst vor dem, was ihn draußen erwartet? Aber als Jona den Fisch verlassen musste, war sein Weg nicht mit Holzfällern verstellt, so wie hier. Manche sind bärtig, die meisten tragen karierte Flanellhemden, passend zum Farbspektrum der Landschaft von Maine. Alle wollen in die Wälder im Norden. Anns Haltestelle ist die letzte am Meer, danach kommen die Wälder, die sich auch jenseits der Grenze ausdehnen, wo Kanada beginnt.

Ann zupft an ihrem Nadelstreifenanzug. Hätte sie sich gestern doch einfach noch die Zeit zum Umziehen genommen, bevor sie zum Flughafen fuhr, ärgert sie sich zum hundertsten Mal. Sie hatte Kleidung, Bücher und Waschzeug in einen Koffer geworfen, aber nicht daran gedacht, ihre Bürouniform auszuziehen. So kämpft sie sich nach draußen, im Nadelstreifenanzug, mit bangem Herzen und dem schweren Koffer in der Hand, angestrengt bemüht, nicht über die schweren Stiefel der Holzfäller zu stolpern.

Endlich steht sie mit ihrem Gepäck am Straßenrand der Route 191. Der Bus fährt wieder an, stößt eine Diesel-Ruß-Wolke aus, wirbelt Staub auf.

Sie sieht ihm nach, dann schließt sie die Augen und hört es – das ferne Rauschen des Ozeans unten im Hafenbecken. Tief atmet sie die Meeresluft ein, dann dreht sie sich langsam um und lässt den Blick umherschweifen.

Dieser Anblick! Die grünen Hänge fallen zum Meer hin ab, der Hafen ist gekrümmt wie zu einem Lächeln. Weiße Häuser säumen die Küste, alles liegt ruhig zu ihren Füßen, unbewegt, bis auf das unermüdliche Anlaufen der Wellen gegen den Strand. Vor der Küste sind viele kleine Inseln ins Meer gestreut. Sie reichen bis hin zu den Rändern der beiden Halbinseln, die sich draußen im Meer fast berühren und diese sichere Bucht umschließen, die einer Oase gleicht. Seeleute steuern den Ort an als Versteck vor einem Hurrikan, ein geschützter Winkel, wo sie vor Anker gehen können, bis der Sturm vorbeigezogen ist.

Mit aufgeregtem Herzklopfen geht Ann die Straße hinunter und auf den Ortskern zu, betrachtet die kleinen Inseln, die den Eingang der Bucht markieren. Beinahe kann sie hören, wie Bobs Freund Arthur die Geschichte von der berühmten Fahrt des alten Joe an diesen Ort erzählt. Als der in einer stürmischen Nacht vor diesem Teil der Küste unterwegs war, hörte er den Satz: Kopf hoch, Josef Krause. Jener unvergessene Satz, der den Gründer des Städtchens bewogen hatte, mitten im Sturm Ausschau zu halten, bis er den Blitz sah, der die Durchfahrt erhellte und ihm so den Weg zu dem Ort wies, der seine neue Heimat werden sollte.

„Kopf hoch, Ann Bliss“, flüstert sie und beginnt den Abstieg entlang der gewundenen Straße. Es fühlt sich so normal an, hier zu sein, viel selbstverständlicher, als wenn sie zu ihrer Wohnung in Chicago geht. Gleichzeitig fühlt sie sich entsetzlich fremd in dieser Welt.

Auf der Hauptstraße angekommen, zögert sie. Wenn sie hier rechts abbiegt, führt der Weg sie zum Ende der Bucht und zur Seemannsklause – Bobs Haus. Aber dorthin kann sie noch nicht. Zuerst will sie sich Gewissheit verschaffen. Stundenlang hat sie nun darüber nachgedacht, im Taxi, im Flugzeug und im Bus, aber ihr fiel keine andere Erklärung ein. Bess hätte nicht in Bobs Namen geschrieben, wenn Bob das auch selbst hätte tun können. Bestimmt wartet hier eine schlechte Nachricht auf sie. Sie weiß es. Trotzdem ist da auch immer noch ein Fünkchen Hoffnung …

Also geht sie links weiter, die Hauptstraße hinunter, an den Fassaden entlang, die Ann wie der mittelalterliche Kern einer deutschen Stadt vorkommen. Ihr Koffer lässt sich nur mühsam über das alte Kopfsteinpflaster mit den vielen Schlaglöchern ziehen, die wohl eine Folge des kalten Winters sind. Die abschüssige Straße verläuft kurvig hinunter bis zum Meer, die Häuser daran wirken ebenso alt wie der Weg und haben ebenso ihren eigenen Charme. Die Giebel schauen auf die Grünfläche in der Ortsmitte, die weißen Mauerflächen sind von dunklen Fachwerkbalken eingerahmt, darüber die geschwungene Silhouette der Strohdächer. Vor den Fenstern sind dunkle Blumenkästen in vielen frohen Farben frisch bepflanzt.

Marktstraße heißt dieser Weg und man könnte erwarten, hier Kurzwarenläden, Bäckereien und eine bunte Mischung kleiner Geschäfte zu finden. Aber die verwitterten Schilder über den Türen sprechen eine andere Sprache.

Joes Hummer-Imbiss. Im Fenster ein Zettel mit dem Hinweis: Winterpause. Ab Juni wieder geöffnet.

Basar der kleinen Preise. Im Schaufenster: Geschlossen.

Bücher-, Takel- und Köderladen. An der Tür eine Notiz: BTK geschlossen.Bin beim Angeln, darunter steht: brb. Na so was. Ansel-by-the-Sea ist nicht gerade ein Zentrum des elektronischen Fortschritts, aber die moderne Vorliebe für Abkürzungen hat sich anscheinend auch hier schon durchgesetzt: BTK für „Bücher-, Takel- und Köderladen“, brb für „be right back“ – „bin gleich wieder da“.

Das nächste Haus, Steuerbord Immobilien, die Anlaufstelle für alle, die auf der Suche sind nach Scheunen, Heidelbeerfeldern, Ferienhäusern oder historischen Kapitänsvillen, ist dunkel und offensichtlich unbewohnt.

Mit ihrem Koffer überwindet Ann Meter um Meter des Kopfsteinpflasters und von Laden zu Laden fühlt sie sich einsamer. Nicht nur, dass die Geschäfte alle geschlossen sind. Der ganze Ort ist totenstill. Niemand, der mit dem Hund spazieren geht, niemand, der ein Fahrzeug repariert oder ein Boot streicht, um es auf die kommende Saison vorzubereiten – für die Touristen und zum Hummerfang.

Um sich gegen dieses Gefühl der Verlassenheit zu wehren, greift sie nach ihrem Handy, möchte mit irgendeinem Menschen in Kontakt treten. Aber sie hat keinen Empfang. Nicht einmal ansatzweise. Verbindung zur Außenwelt? Fehlanzeige.

Unsicher lässt Ann ihren Blick über den Hafen schweifen und entdeckt mit Erleichterung eine Reihe von Booten, die draußen auf dem Meer aufgetaucht sind und auf den Eingang der Bucht zusteuern. Sie tanzen auf den Wellen auf und ab, während sie den Bojen ausweichen, als wären sie Schiffchen, die ein Weber über seinen Webrahmen bewegt.

Ein Blick auf die Uhr, erst 17.30 Uhr. Das ist noch zu früh für die Hummerfischer, besonders wo heute das Wetter so klar und ruhig ist. Außerdem würden sie sicher nicht alle gleichzeitig in den Hafen zurückkehren.

Unten am Wasser stapeln sich Hummerfallen auf langen Anlegestegen, rechteckige Drahtkörbe, die eigentlich repariert werden sollten. Zwei oder drei Leute wären normalerweise an jedem Steg beschäftigt. Aber die einzigen Menschen, die zu sehen sind, stehen auf den Booten und lenken ihre Schiffe in die Bucht.

Weiße Möwen kreisen am strahlend blauen Himmel, wenigstens ihr Rufen ist zu hören, tröstlich und vertraut. Da erhebt sich ein leichter Wind und weht einen Hauch von Pfannkuchen und Ahornsirup zu Ann herüber. Der Duft tröstet ihre Seele. Vielleicht sind einfach alle bei Bess.

Also weiter, klappernd und rumpelnd zieht sie ihren Koffer über das Pflaster, müde passiert sie den letzten und längsten Pier, der weit in den Hafen reicht. Endlich steht sie vor der Kombüse. Sie holt tief Luft, stößt die Tür auf, die Schiffsglocke schrillt.

Aber an der Theke hocken keine alten Seeleute. Es gibt keine Touristen an den Tischen. Und in der Ecke, an seinem Stammplatz? Ob Bob da sitzt? Sie dreht sich langsam um, rechnet fast damit, dass er seine Hand zum Gruß hebt, um dann zu ihrer Begrüßung kräftig auf den Tisch zu schlagen. Sie sieht sein Lächeln mit all den Fältchen um die Augen, tausend Lachfalten, die ihn immer freundlich schauen lassen.

Aber auch dieser Tisch ist leer. Ihre Augen brennen. Das Atmen tut weh.

Sie geht in die Ecke, zu dem Tisch. Das war ihr Tisch, der von Bob und von ihr. Ein Umschlag lehnt an dem blechernen Geranienkübel. Das weiße Papier sieht aus, als wäre jemand draufgetreten, ein paar eingetrocknete Kaffeeflecken zieren die Ecken. Sie will gerade danach greifen, da ist hinter dem Tresen eine Stimme zu hören.

„Kommen Sie rein“, sagt die Stimme, ohne dass die Sprecherin sich zeigt, „schön, dass Sie da sind.“ Aber die Stimme klingt alles andere als erfreut. „Sie können sich überall hinsetzen, nur nicht an den Tisch in der Ecke.“

Anns Hand zuckt zurück, sie schaut unwillkürlich, ob irgendwo Kameras installiert sind. Ein paar alte Bojen hängen von der Decke herunter, blau, grün, gelb und rot gestrichen, Deko, deren Farbe teilweise schon wieder abgeblättert ist. Woher weiß die Stimme, an welchem Tisch sie steht?

Schnell geht sie zum Nebentisch, setzt sich mit dem Rücken zum Hafen. Eine Frau taucht auf. Zum ersten Mal, seit Ann die Anzeige gelesen hat, lächelt sie ein tiefes, frohes Lächeln. Bess Stevens.

„Wie viele darf ich Ihnen bringen?“ fragt Bess und meint das einzige Menü, das auf ihrer Speisekarte steht. Sie ist älter geworden, natürlich. Die schwarzen Locken sind mit silbernen Strähnen durchsetzt, werden aber immer noch, wie damals, von einem bunten Tuch zurückgehalten, das am Hinterkopf verknotet ist. Sie besaß schon immer diese raue Schönheit, dazu ein robustes Wesen, gepaart mit herber Freundlichkeit. Sie ist Ansel in Person.

Ann war ein schüchternes Mädchen an einem fremden Ort, als sie zum ersten Mal diesen Raum betrat. Doch immer war es Bess gelungen, die Einsamkeit zu vertreiben, mal durch den Trost frischer Pfannkuchen, mal mit Sätzen, die Anns Gefühle genau auf den Punkt brachten. „Mädchen, kümmere dich nicht um die alten Blesshühner“, sagte sie oft in Bezug auf die Fischer am Tresen. Dann kam sie näher, beugte sich zu Ann und flüsterte augenzwinkernd hinter vorgehaltener Hand: „Na ja, ab und zu kannst du ihnen auch mal zuhören. Ein paar Sachen wissen sie schon. Aber verrate ihnen nicht, dass ich dir das gesagt habe.“

Bess gab Ann dieses tröstliche Gefühl dazuzugehören, damals, als es für sie keinen Ort auf der Welt gab, wohin sie gehörte. Die Kombüse wurde auch ihr erster Arbeitsplatz. Hier lernte sie, Pfannkuchen zu wenden. Diese Kunst war eines der Wunder dieses Sommers für sie.

Bess wartet mit gezücktem Stift, Notizblock in der Hand, und endlich sieht sie Ann an. „Eine Portion Pfannkuchen?“

Ann schüttelt die Erinnerungen ab. „Ja“, antwortet sie und wirft einen schnellen Blick aus dem Fenster. Die Boote haben den Eingang der Bucht passiert. Dort irgendwo liegt die Seemannsklause. „Vielen Dank“, stammelt Ann, „ich …“ Sie weiß nicht weiter. Was soll sie sagen? Ich bin hier wegen der Annonce? Tauschen und Verkaufen?

„Ja?“ Bess mustert sie jetzt mit schmalen Augen, erkennt sie nicht. Ann verliert den Mut. Aber andererseits – wie soll Bess sie auch erkennen? Sie haben sich ein halbes Leben lang nicht gesehen, ihre Freundschaft ist ewig her. Damals war sie ein schlaksiges Mädchen in abgeschnittenen Jeans.

„Bitte noch eine Tasse Kaffee.“ Sie hätte gern noch ein Wunder dazu bestellt – das Wunder, dass Bob erscheint. Inzwischen ist sie sich ziemlich sicher, dass dafür nicht weniger als ein Wunder nötig ist.

Bess nickt und verschwindet in der Küche. Ann schaut hinaus zum Hafen. Die Boote sind vor Anker gegangen, verabschieden sich mit ihrem Tanz auf den Wellen von den Hummerfischern, die jetzt in Ruderboote umgestiegen sind. Ebbe und Flut wirken sich in Ansel deutlich aus, zweimal täglich steigt und fällt das Wasser um dreieinhalb Meter, da bringt kein Fischer sein Boot zu nahe ans Land. Die Boote sollen schnell sein, um die Hummerfallen abzufahren, dafür haben alle einen Außenbordmotor. Aber Bob war so oft wie möglich mit Ruderboot unterwegs und hatte auch ihr das Rudern beigebracht. Wie schön hatte es sich angefühlt, selbst zu bestimmen, wohin man fährt! Zum ersten Mal in ihrem Leben gab sie damals selbst die Richtung vor.

Eins der Ruderboote steuert den Anleger ganz in der Nähe an, verschwindet aus Anns Blickfeld. Das nächste folgt, dann ein drittes. Allem Anschein nach hat die ganze Truppe nur eines im Sinn: nach einem langen Arbeitstag bei einem Kaffee zusammenzusitzen und zu reden, wie immer. Ann wird nervös, versucht, die Angst zurückzudrängen, will fliehen. Sie kann jetzt nicht einer ganzen Gruppe von Männern gegenübertreten, die sie vielleicht erkennen, während sie noch gar nicht weiß, was mit Bob eigentlich ist.

Die Hintertür ist ihre Rettung. Schnell legt sie genug Münzen auf den Tisch, um ihre Bestellung zu bezahlen. Ein Kopf taucht am Ende des Stegs auf, direkt bei der Leiter, die dort hinunter zum Wasser geht. Ein Mann steigt herauf, dreht sich um, reicht einem anderen die Hand. Dieser hilft dem Nächsten. Immer mehr Männer steigen herauf, immer größer wird Anns Panik.

Sie huscht durch den Raum, zur Hintertür, umfasst den Türknauf, will hinaus.

Ein unterdrückter Schrei lässt sie herumfahren, Metall schlägt auf Metall. Ann eilt zurück und um die Ecke. „Was ist passiert?“

Bess wirbelt herum, ihre blauen Augen sind schmal, schwimmen in Tränen, die Augenlider sind rot. „Alles in Ordnung. Ich bringe Ihnen gleich Ihren Kaffee.“ Sie nimmt die Hand aus dem fließenden kalten Wasser und greift nach einer frischen weißen Tasse. Doch der Schmerz lässt sie zusammenzucken, die Tasse rutscht ihr aus der Hand.

„Der Kaffee kann warten“, sagt Ann, „haben Sie sich verbrannt?“ Sie macht einen weiteren Schritt auf Bess zu und bückt sich, um die Hand besser sehen zu können. Den warnenden Blick von Bess ignoriert sie, das hat sie damals schon gelernt.

„Es ist nichts“, beharrt Bess.

Ein leicht verbrannter Geruch macht sich bemerkbar, Rauch steigt aus der Pfanne auf. Der Pfannenwender liegt auf dem Boden, Bess will sich bücken, Ann ist schneller.